Was ist das Leben anderes als eine Sammlung von Geschichten? Folgen wir den Spuren eines Reliquienprüfers im Mittelalter, dem Weg eines Inquisitors in ein altes Dorf oder einer jungen Frau in den Sommer ihres Lebens.
Die Geschichten erzählen von ihren Schicksalen und Errungenschaften. Begeben Sie sich auf eine Reise in andere Zeiten.
Über den Autor:
Thom van Winkel, Jahrgang 1973, stammt aus dem sagenreichen Rheingau. Nach vielen Jahren gelesener Fantasy wuchs der Wunsch nach eigenen Welten und führte zur Erschaffung einer weitverzweigten Sammlung von Kurzgeschichten und Manuskripten in unterschiedlichen Fantasy-Genres. Über Jahre hinweg schrieb er für seine Familie umfangreiche Geschichten, die er auch vertonte. Parallel dazu fand er bei Lesungen im Rahmen eines "Creative Writers"-Kurses ein größeres Publikum. Die Arbeit an einem eigenen Buch war nur eine Frage der Zeit.
Derzeit lebt Thom mit seiner Familie und einem silberhaarigen Bulldog in der Südheide. Das Schnarchen des Bulldogs übertönt sein Tippen.
Gernot von Karst rückte den hölzernen Schemel an den Tisch und setzte sich. Tinte, Feder und Papier lagen bereit für seine Arbeit. Ein Krug mit gewässertem Wein und ein Becher standen daneben.
Auf seiner Anreise war er nur knapp einem Steinschlag entgangen. Sein treuer Esel hatte den Tod gefunden. Ein Fakt, der ihn länger an dieses Kloster band, als ihm lieb war. Er betrachtete den Gegenstand vor ihm auf dem Tisch und dann die kleine Gestalt, die ihm gegenüber saß.
Gernot war von kräftiger Statur. Wehrhaft mochte man ihn nennen. Der Mann, den er vor sich hatte, war das genaue Gegenstück. Klein und drahtig, mit wirrem schwarzem Haar und einem verfilzten Bart. Das Auffälligste an ihm waren die Augen. Von brauner Farbe bei genauer Betrachtung, doch im Schein der Kerze wirkten sie, als würden Flammen in ihnen züngeln.
Yussuf war sein Name. Ein Diener des Ritters, der hier verstorben war und eine Reliquie aus dem Heiligen Land zurückgelassen hatte. Es oblag Gernot, sie auf ihre Echtheit zu überprüfen. Sein Herr, der Fürst von Barsenburg, war ein engagierter Sammler von sakralen Stücken. Hatte er in seinem Leben schon manche Grausamkeit begangen, hoffte er, durch das Anhäufen der heiligen Gegenstände nach dem Tod Beistand für seine Seele zu erlangen. Viele Fälschungen waren im Umlauf. Wenn Gernot zurückblickte, konnte er nicht genau sagen, wie viele angebliche Fingerknochen des heiligen Petrus schon vor ihm gelegen hatten.
„Du bist dem Kreuzritter hierher gefolgt, Yussuf?“ Gernot nahm die Feder zur Hand.
„Nein, Herr, ich habe ihn hierhergebracht. Es war sein letzter Wunsch, unter Leuten seines Glaubens zu sterben.“
„Weißt du, woran der Ritter gestorben ist?“ Eine ansteckende Krankheit stellte eine Gefahr dar.
„An einer Pfeilspitze in der Brust, Herr. Sie ist ihm ins Herz gedrungen.“ Yussuf verzog das Gesicht zu einem unglücklichen Grinsen.
„Die Klosterbrüder haben nicht von einer Verletzung gesprochen.“ Gernot betrachtete den Mann argwöhnisch.
„Es war eine alte Verletzung. Der Heiler hat den Schaft entfernt, die Spitze ist verblieben. Ein bedauerlicher Fehler.“ Er faltete die Hände wie zum Gebet.
„Was weißt du über diesen Gegenstand?“ Gernot legte die Feder beiseite und nahm das kelchähnliche Gebilde in die Hand. Es schien alt, doch das Material hatte seinen Glanz behalten. Unbekannte Schriftzeichen zierten die Außenseite. Ein Deckel aus rotgoldenem Metall schloss die Oberseite ab. Es war schwer. Er kippte es ein wenig und bemerkte, dass sich der Inhalt bewegte.
„Mein Herr fand es in den Ruinen des ehemals prächtigen Al‘ Harim. Es ist ein heiliges Gefäß, das die Asche der Herzen vieler Helden und Könige enthält. Ich habe geschworen, dem zu folgen, der es in Besitz nimmt. Wünscht Ihr, es für Euch zu beanspruchen?“ Yussuf legte den Kopf schief und blickte Gernot eindringlich an.
„Ich werde es in Besitz nehmen, bis ich seine Echtheit überprüft habe. Danach bringe ich es meinem Herrn.“
„So sei es. Ich werde Euch folgen.“ Yussuf senkte demütig den Blick.
Gernot drehte das Relikt in seinen Händen. Er war in der lateinischen Schrift unterrichtet worden. Er hatte von einem Gelehrten Einblick in die griechischen Sprachen erhalten. Diese Schriftzeichen waren ihm fremd. Er war sich sicher, dass es sich nicht um ein christliches Artefakt handelte. Nichtsdestotrotz würde der Fürst Interesse daran hegen.
„Kannst du mir etwas über diese Stadt erzählen, in der das Gefäß gefunden wurde?“
„Wenn Ihr es wünscht, dann bin ich gerne bereit.“ Yussuf rückte näher an den Tisch heran.
„Ich wünsche es.“ Gernot nahm wieder die Feder auf, um sich Notizen zu machen.
„Das prächtige Al’Harim war umgeben von einer Oase. Die Menschen kamen von weit her, um seine Bauten zu bewundern. Der Markt war gefüllt mit Spezereien und Weinen aus weiter Ferne. Ein gütiger Sultan herrschte dort. In der Nacht wurde die Stadt von den Winden der Wüste liebkost.“ Er hatte die Augen geschlossen. Sein Gesicht spiegelte Sehnsucht nach diesem Ort wider.
„Was hat die Stadt zerstört?“ Der Reliquienprüfer ergriff den Weinkrug.
„Man sagt, es war ein einzelner törichter Wunsch.“ Yussuf schüttelte bedauernd den Kopf.
„Aber was hat es mit diesem Relikt auf sich? Wo kommt es her?“ Der Wein war sauer und kaum genießbar. Am Hof des Fürsten waren selbst die Diener besseres gewohnt. „Ich wünschte, in diesem Krug wäre ein ordentlicher Wein.“ Er schob angewidert den Becher von sich. Yussuf sprang von seinem Stuhl auf.
„In den Vorräten des verstorbenen Ritters sind zwei Flaschen Wein aus meiner Heimat. Süß und samtig, wie ein Kuss der Wüste. Wünscht Ihr, dass ich sie hole?“ Er verneigte sich tief.
„Hol sie und bring einen zweiten Becher mit.“ Die Aussicht auf einen guten Wein hob Gernots Stimmung.
„Euer Wunsch ist mir Befehl.“ Yussuf trat zur Tür. „Ich existiere, um zu dienen.“
Am frühen Morgen riefen die Glocken zum Gebet. Gernot erwachte mit schmerzendem Schädel. Der Wein war stärker, als er erwartet hatte. Yussuf hatte manche Geschichte aus seiner Heimat zum Besten gegeben. Die Zeit war verflossen, und sie hatten sich angetrunken zur Ruhe gelegt.
„Ich wünschte, dieser Krach würde aufhören.“ Der Reliquienprüfer versuchte, seine Ohren mit dem dünnen Kissen zu bedecken. Yussuf regte sich im Schlaf. Er murmelte etwas, dann herrschte plötzlich Ruhe. Gernot seufzte und sank auf die Pritsche zurück.
Kurz darauf hörte er einen Tumult im Gang. Verärgert erhob er sich. Es war mit dem Abt abgesprochen, dass er nicht an den Gebeten teilnahm. Warum der Aufruhr?
Er öffnete die Tür und hielt einen der vorbeilaufenden Mönche auf.
„Was ist los?“ Er hatte etwas barscher gefragt, als er es beabsichtigte. Der Gottesmann blieb stehen.
„Bruder Thesophius ist beim Schlagen der Glocke gestürzt. Er hat sich mit dem Glockenseil stranguliert.“ Er wartete nicht auf Fragen und lief weiter.
Gernot blickte ihm mit saurer Miene hinterher. Die Erfüllung seines Wunsches nach Ruhe hatte er sich anders erhofft. Yussuf tauchte neben ihm auf.
„Ihr seht verärgert aus Herr. Wünscht Ihr, dass ich Euch erheitere?“
Gernot schüttelte den Kopf. „Dafür haben wir keine Zeit. Ich bin mit dieser Reliquie nicht einen Deut weiter.“
Als er zwei Stunden später die Versuche aufgab, das Gefäß zu öffnen, wartete Yussuf in der Tür. „Ihr müsst hungrig sein, Herr. Wünscht Ihr, dass ich Euch etwas zu Essen bringe?“
Gernot hob wütend den Kopf. „Nein. Ich wünschte, ich könnte diese Schriftzeichen lesen.“
Der kleine Mann schüttelte bedauernd den Kopf. „Manchmal ist zu viel Wissen nur belastend. Aber ein Wunsch ist ein Wunsch.“
Der Reliquienprüfer verstand nicht, was der Diener damit sagen wollte. Er war kurz davor, das Artefakt in eine Ecke zu werfen. Er drehte es in seinen Händen, und auf einmal ergaben die Zeichen einen Sinn. Voller Verwunderung begann er zu lesen.
„Hütet Euch, Pilger, dies ist der Kelch eines Dschinns. Seine Schatzkammer und sein Gefängnis. Er ist daran gebunden. Er wird Euch bitten, es zu tragen. Er wird Euch fünf Wünsche erfüllen. Danach werden Euer Herz und Eure Seele ihm gehören. Wenn der Kelch gefüllt ist, wird er frei von allen Fesseln sein. Fürchtet diesen Tag. Fürchtet den Dschinn.“
Das Relikt rutschte ihm aus der Hand und fiel polternd auf die Tischplatte.
Gernot blickte auf, und für einen Moment stand nicht mehr Yussuf in der Tür, sondern ein Wesen aus der Hölle. Seine Haut war rot wie Zinnober. Die Augen lodernde Flammen. Haare und Bart bewegten sich, als seien sie aus Würmern geformt. Das Ding lächelte und entblößte eine Reihe scharfer, spitzer Zähne.
„Hat das Wissen Euer Herz beruhigt, Herr? Ihr könnt Euch wünschen, zu vergessen, was Ihr erfahren habt.“ Er deutete eine spöttische Verbeugung an.
Gernot überlegte rasch. Wie viele Wünsche hatte dieser Dämon ihm schon erfüllt?
„Es waren vier, Herr.“ Yussuf stand wieder vor ihm, doch ein Hauch des Monsters haftete weiterhin an ihm.
„Du hast mich hereingelegt.“ Gernot sprang von seinem Schemel auf.
Der Dschinn schüttelte ärgerlich den Kopf. „Nein, Herr, ich habe Euch gefragt, ob Ihr den Kelch besitzen möchtet. Ihr habt bejaht. Ich erfülle die Wünsche des Trägers. Ich halte mich an die Regeln.“
„Ich werde keine Wünsche mehr äußern. Dieses Ding wird sein Ende in einer tiefen Grube finden.“ Etwas wie Triumph schwang in seiner Stimme mit.
Yussuf wiegte bedauernd den Kopf hin und her. „So wird es nicht gehen, Herr. Ich bin an Euch gebunden, der Kelch an mich. Ihr könnt uns nicht trennen.“ Er schnippte mit den Fingern, und das Relikt erschien in seiner Hand. „Der Sultan von Al‘ Harim hatte ähnliche Gedanken. Was für eine Verschwendung. Versucht es gerne, doch ich werde immer da sein, sobald Ihr etwas wünscht.“
Wut kroch in Gernot hoch. „Du hast gesagt, du existierst nur, um zu dienen.“
„Ja, Herr, aber ich sprach nie von euch.“ Er stellte den Kelch behutsam zurück auf den Tisch.
Gernot hatte lange überlegt, doch dann war ihm eine Idee gekommen. Ein Wunsch war übrig, er würde ihn sich zunutze machen.
„Yussuf, falls das überhaupt dein Name ist, komm her. Ich habe meinen letzten Wunsch zu äußern.“
Der Dschinn stand augenblicklich neben ihm. „Ich lausche, Herr.“
„Ich wünsche, dass ich dir nie begegnet wäre.“ Yussuf verzog das Gesicht, als habe er in eine saure Frucht gebissen. „Ein garstiger Wunsch, glaubt Ihr doch, mich der Belohnung zu berauben. Doch ist es meine Pflicht, ihn zu erfüllen.“
Gernot spürte einen brennenden Schmerz in der Brust, dann wurde es dunkel um ihn.
Als sein Blick sich wieder klärte, fand er sich auf dem Rücken seines Esels.
Er ritt den Bergpfad zum Kloster hinauf. Er kannte diesen Moment, er hatte ihn schon erlebt. Die ersten Steinbrocken fielen von der Felswand herab. Er spornte sein Reittier an. Im nächsten Moment traf ihn etwas an der Schulter und riss ihn vom Rücken des Tieres. Der Esel schrie in Panik und rannte. Gernot versuchte, sich aufzurappeln. Ein weiterer Steinbrocken traf seinen Kopf. Er schwankte, dann stürzte er über die Kante des Weges in die Tiefe.
Der Herr von Barsenburg war über die Gäste erstaunt, die Wochen später vor seiner Tür standen. Einen Mönch mit einer Botschaft und ein struppiges Männlein hatte der Diener hereingeführt.
Der Fürst öffnete den Brief und las ihn.
„Eine Schande um Gernot. Er war ein fähiger Mann. Ihr bringt mir das versprochene Relikt?“ Der Mönch nickte.
Der Fürst zog eine Augenbraue in die Höhe. „Könnt Ihr nicht sprechen, Mann?“
Die struppige Gestalt schob sich an dem Bruder vorbei. „Er hat ein Schweigegelübde abgelegt, Herr. Was für ein langweiliger Reisegenosse. Man nennt mich Yussuf. Ich folge jenem, der den Kelch besitzt. Wollt Ihr ihn für Euch beanspruchen? Es ist ein heiliges Gefäß. Es enthält die Asche der Herzen vieler Helden, Könige und eines Narren.“
Er rannte. Der Wald hatte begonnen, sich zu lichten. Bald würde er die Bäume hinter sich gelassen haben. Alte Eichen, Hainbuchen und Hasel standen in seinem Weg, immer wieder stolperte er in dem dichten Unterholz.
Noch vor einer Woche hatte er die gefürchtetste Räuberbande in dieser Gegend angeführt. Gemeinsam hatten sie das ganze Gebiet der Waldmark für sich beansprucht. Nur selten waren die Häscher des Fürsten ihnen gefolgt. Silas und seine Männer hatten immer wieder eindrücklich gezeigt, dass dies keine gute Idee war. Trickreich hatte er sie in Hinterhalte laufen lassen und dann ihre zerschlagenen Körper an der Fassbrücke abgeladen, als Zeichen für die Bauern und Adligen. Doch jetzt war er auf der Flucht.
Es hatte vor etwa zwei Wochen begonnen. Einige seiner Männer waren nicht von ihren Beutezügen zurückgekehrt. Zuerst hatte Silas gedacht, die Narren wären dem Fürsten in die Fänge geraten. Er hatte als Warnung ein paar Bauernhöfe anzünden lassen. Furcht war das Mittel, mit dem man ganze Landstriche beherrschte. Doch jetzt war er es, der sich fürchtete.
Nach und nach schmolz die Anzahl seiner Männer. Immer mehr Leute waren in den Wald gezogen und nicht zurückgekehrt. Als die ersten sich weigerten, in kleinen Gruppen loszuziehen, weil sie fürchteten, man könne ihnen auflauern, hatte er nicht mehr die Augen davor verschließen können, dass man ihm den Krieg erklärt hatte.
Er hatte seine Männer um sich geschart. Er war auf die Jagd nach ihrem Gegner gegangen. Schon bald hatten sie Spuren gefunden und waren ihnen gefolgt. Doch wie es schien, erwartete man sie. Immer wieder wurden Männer von Pfeilen getroffen oder gerieten in geschickt gestellte Fallen. Ihr Gegner war ihnen immer einen Schritt voraus, gerade außer Sicht, doch mit einer Spur, der sie leicht folgen mochten.
Und wir sind ihr gefolgt und wie die Lämmer zur Schlachtbank gerannt. Er biss sich wütend auf die Lippe und brach sich Weg durch ein Haselgestrüpp. In einiger Entfernung sah er den Waldrand. Wenn er erst die Bäume hinter sich hatte, würde es seinen Verfolgern nicht mehr so leicht fallen, sich zu verbergen. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken.
Ein sirrendes Geräusch ließ ihn sich zu Boden werfen. Nur knapp neben ihm bohrte sich ein Pfeil in den Stamm eines Baumes. Hastig rollte er sich zur Seite und suchte Schutz hinter einer Eiche. Seine Hände tasteten nach den Wurfmessern. Drei waren übrig, er rechnete sich gute Chancen aus.
Langsam richtete er sich auf und zog zwei der Messer hervor.
„Silas Neunfinger.“ Er erschrak beim Klang der Worte. Die Stimme schien einer Frau zu gehören, und sie musste in der Nähe sein. Er warf einen kurzen Blick um den Baumstamm. Niemand war zu sehen.
„Was willst du, Weib?“ Er brauchte mehr Deckung.
„Auf deinen Kopf ist eine hohe Belohnung ausgesetzt, Silas. Der Herr der Gegend hat es nicht gerne, wenn man seine Bauern drangsaliert.“ Die Stimme kam näher.
Silas spannte seine Muskeln an und wartete. Komm nur, Schätzchen, dann werde ich deinen Kopf zum Fürsten schicken. Und die deiner Gefährten.
„Ihr habt meine Männer getötet. Das sollte dem Fürsten reichen. Allein bin ich keine Gefahr. Vielleicht können wir verhandeln. Ich habe einige Säcke Beute versteckt. Ihr lasst mich laufen, und ich gebe euch das Gold und komme nie wieder in diese Gegend.“ Er bemühte sich, seine Worte nicht wie ein Flehen klingen zu lassen, doch es gelang ihm nicht.
„Und du wirst dich in einer anderen Gegend niederlassen und dort rauben, morden und brandschatzen? Ich kenne deine Geschichte, Silas. Mit vierzehn hast du den ersten Mord begangen, und kein Jahr später hast du in Erinas einen Bauernhof überfallen und fast alle getötet, bevor du das Haus angezündet hast. Ich denke, an deinen weiteren Werdegang wirst du dich selbst gut genug erinnern. Sag mir, warum hast du damals diesen Weg gewählt?“
Du willst reden? Wahrscheinlich schleichen sich deine Kumpane gerade an mich heran. Aber gut, das kannst du haben.
Er würde Zeit schinden, er würde ihnen das geben, was sie wollten und auf seine Chance warten.
„Wie viele seid ihr? Fünf? Sechs? Ich habe genug Gold, um euch einen beachtlichen Lohn zu zahlen, wenn ihr mich laufen lasst. Der Fürst kennt mein Gesicht nicht, es fällt nicht auf, wenn ihr ihm einen anderen Kopf bringt.“ Er spähte über den Waldboden und suchte nach verräterischen Schatten.
„Ich bin allein. Für Pack wie euch braucht es kein Heer. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet, Silas. Warum hast du damals mit dem Töten begonnen?“
Ein sanftes Rascheln in einem Haselstrauch ließ ihn aufhorchen. Mit einer schnellen Bewegung schleuderte Silas eines seiner Messer. Ein dumpfes Geräusch verriet ihm, dass der Dolch sein Ziel gefunden hatte. Sofort schickte er eine weitere Klinge hinterher. Ein Rascheln in der Hasel verkündete, das ein schwerer Leib zu Boden gegangen war.
Silas trat langsam aus seiner Deckung heraus. Er wartete einen Augenblick, dann näherte er sich dem Strauch.
„Du willst wissen, warum ich damals begonnen habe zu töten? Weil es mir Spaß bereitet hat. Weil ich die Macht genossen habe, zu entscheiden, wer lebt und wer stirbt. Und du bist falsch informiert. Ich habe damals in Erinas alle getötet. Kein einziger hat überlebt.“ Hohn schwang in seiner Stimme mit. Er schob das Blätterwerk der Hasel beiseite und blickte in das Gesicht eines seiner Männer. Er war gefesselt, geknebelt, und zwei Dolche ragten aus seiner Brust.
„Du irrst dich, Silas, meine Mutter hat damals überlebt, nachdem du sie vergewaltigt hattest. Wie es scheint, läuft die Gewalt in unserer Familie. Aber glaub mir, Vater, es ist nichts Persönliches.“
Die Worte wirkten wie ein böser Traum, doch der gefiederte Schaft, der seine Brust durchschlug, war schrecklich real.
Als das erste Eis über die angrenzenden Berghänge kroch, wussten die Bauern, dass dies kein gewöhnlicher Kälteeinbruch war. Die Sommervögel waren erst vor kurzem weitergezogen, und ihre Felder standen in voller Frucht. Eilig schickte man einen Boten, um die Schamanin ins Dorf zu rufen.
Als der Abend sank, hatten die Ältesten sich in der Ratshalle versammelt und warteten. Ein stetiges Raunen und Murmeln erfüllte die Luft, bis der Klang silberner Glocken die Männer zum Verstummen brachte.
Die Schamanin trat langsam in den Saal, hinter ihr folgten die Jungfrauen des Dorfes. Die Männer senkten den Blick, als die Alte an ihnen vorüber schritt und sich auf dem hohen Stuhl des Dorfführers niederließ. In ihren krallenartigen Händen trug sie den Stab des Wissens. Silberglocken und die Federn von Sommervögeln schmückten ihn. Eine Weile ließ sie ihren Blick über die Anwesenden gleiten, dann hob sie zum Sprechen an.
„Die Zeichen sind eindeutig. Ein Winterbiest hat sich von seiner Herde getrennt. Ein junges Tier, doch das macht es nicht ungefährlich. Wenn es dem Bergpfad folgt, dann erreicht es die Felder, bevor wir die Ernte eingebracht haben. Die Lager sind noch nicht gefüllt genug, als dass wir diesen Verlust überstehen könnten.“
Die Männer murmelten wieder zueinander.
„Dann kommt der Winter also einmal mehr, um uns zu holen“, krächzte einer der Ältesten. Das Stimmengewirr hob an, bis die Schamanin ihren Stab auf die Erde schlug und die Glöckchen zum Läuten brachte.
„Wir werden das Ritual vollziehen, so wie es schon die Vorväter taten. Wir versuchen, unser Schicksal zu wenden. Es ist an der Zeit, die Auswahl zu treffen.“
Der Dorfführer hob den Blick. Seine älteste Tochter stand in der Reihe. Er hatte sich Söhne erhofft, die ihm den Acker pflügten, doch stattdessen hatte er Töchter bekommen, die dazu verdammt waren, auf einen solchen Moment zu warten.
Der Blick der Schamanin traf seinen, und er senkte den Kopf, wissend, dass es ihm nicht zustand, ihre Wahl in Frage zu ziehen.
Die alte Frau wandte ihren Blick dem Mädchen zu.
„Bist du bereit, dich dieser Aufgabe zu stellen?“ Die junge Frau nickte knapp. Dies würde ihr letzter Abend im Dorf sein, nach all den Jahren, die sie hier verbracht hatte.
„Dann geh, nimm Abschied. Wenn der Morgen anbricht, werden wir dem Biest entgegenziehen.“
Als die Sonne schon hoch am Himmel stand, hatte die Gruppe den Ritualkreis in den Bergen erreicht. Nur ein Weg führte von den Frostebenen hinab ins Tal, und das Winterbiest würde ihm folgen.
Die junge Frau trat in den Kreis und wartete. Vor vielen Jahren hatte ihre Tante an dieser Stelle gewartet. Ihr Vater hatte oft davon erzählt. Stolz hatte in seiner Stimme mitgeklungen, denn für lange Zeit hatte sich kein Winterbiest mehr gezeigt.
Nun war es wieder soweit. Sie spürte Nervosität in sich aufsteigen, als die Schamanin mit den Ältesten die rituellen Lieder anstimmten. Ein kalter Wind blies ihr entgegen, und im nächsten Moment sah sie, wie sich ein mächtiger Leib auf den Pfad schob.
Nur die Kinder und Jungfrauen konnten die Winterbiester sehen. Warum dem so war, wusste sie nicht, doch beim Anblick des großen, filzigen Dings neidete sie den Männern ihre Kurzsichtigkeit.
Frost breitete sich auf dem Boden aus, wo das Biest einen klauenartigen Huf setzte. Reif überzog die kargen Büsche, die an den Seiten des Pfades wuchsen. Der Körper des Wesens schimmerte im Licht. In seinem dichten, bläulichen Fell wirbelten Eiskristalle auf, wenn es sich bewegte.
Sie nahm ihren Bogen und griff nach dem einzigen Pfeil in ihrem Köcher. Die Alten waren froh darüber, dass sie diese Waffe gewählt hatte. Der Sonnenstein, aus dem die Spitze bestand, war ein seltenes Gut. Man sagte, dass er aus der Eierschale der Sommervögel entstand, sobald diese geschlüpft waren und ihre Nester nicht mehr glühten. Ein winziges Stück, doch es hatte die Kraft, ihr Schicksal zu wenden. Wenn sie versagte, fiel ihr Dorf dem Winter zum Opfer. Die Herde würde das verirrte Jungtier suchen, anstatt ihrem normalen Weg zu folgen. Und auf ihrem Weg würde sie alles zu Eis gefrieren.
Das Wesen war zu ihr in den Kreis getreten. Einen Augenblick verharrte es und starrte sie aus Augen an, die so kalt waren wie gefrorene Seen. Es zögerte, auch sie hob nicht ihren Bogen.
Ein Leben gegen das vieler, ein fairer Tausch, wie es schien, dennoch verspürte sie Mitleid mit der Kreatur. Es schnaubte, und sie fühlte, wie die Kälte an ihr emporkroch. Langsam hob sie den Bogen und legte den Pfeil auf. Das Biest schien zu ahnen, was sie vorhatte. Es versuchte, rückwärts zu scheuen, doch der Gesang der Alten band es an den Kreis, wie auch sie gebunden war. Es schüttelte sich, wollte losstürmen, doch in diesem Moment schnellte der Pfeil von der Sehne und drang in den Körper des Winterbiests.
Es schrie, als die Spitze des Pfeils seine Haut durchdrang und dabei wie ein Funke zu glühen begann. Im nächsten Augenblick bebte der mächtige Leib, dann schmolz er wie der letzte Schnee des Jahres.
Sie beobachtete das Schauspiel, bis der Körper genug zerfallen war, um die Reste aufzusammeln. Die Alten schoben ihr einen Korb in den Kreis, und sie nahm einige Lappen und wischte die Flüssigkeit auf. Nach einer Weile hatte sie das Behältnis gefüllt.
Die Schamanin beobachtete sie schweigend, dann verneigte sie sich vor ihr, und die kleine Gruppe begab sich auf den Rückweg zum Dorf.
Ihre Aufgabe war es, die Überreste des Biests in die Frostebene zu tragen. Die Herde würde sie finden und den Bereich meiden. Und dann stand es ihr frei, zu gehen, wohin sie wollte. Man hat ihr Geld und Lebensmittel als Tribut eingepackt.
Der Gedanke an Freiheit schreckte sie kurz, doch er war um vieles besser als ein Leben im Dorf.
Der letzte Schnee knirschte unter den Hufen des Pferdes, als Inquisitor Sebin in die Stadt einritt. Der Frühling war endlich gekommen, und die Pässe in den Bergen waren wieder frei von Schnee.
Er lenkte das Pferd über den breiten Weg, der ihn zur Kirche bringen würde. Das Dorf war wie all die anderen, die er auf seinen Reisen schon besucht hatte. Kleine, niedrige Häuser, ein Brunnen auf dem Marktplatz und direkt daneben die Kapelle. Man hatte sie vor einigen Jahren errichtet, als die Kirche die ersten Priester in diese Region ausgesandt hatte. Trotz ihrer Bemühungen stank es noch nach den alten Religionen, die wie Unkraut im Boden verankert waren. Er war gekommen, um dieses Übel auszumerzen.
Er erreichte den Brunnen, zügelte sein Pferd und stieg ab. Ein seltsam verkrüppelter Baum stand neben der Wasserstelle. Jemand hatte ein hässliches Gesicht hineingeschnitzt. Er schätzte, dass dieses Ding dem Schutz vor bösen Geistern diente.
Aberglaube. Er würde dafür sorgen, dass man den Baum fällte, bevor er das Dorf wieder verließ.
Bis auf einen Knaben, der ihn mit großen Augen beobachtete, war kein Mensch auf der Straße zu sehen. Wahrscheinlich waren die Bauern auf den Feldern, um ihre Böden für die Saat vorzubereiten. Er band das Pferd am Baum fest und stieg die hölzernen Stufen zur Kirche hinauf. Die Tür war verschlossen, und der Inquisitor schlug mehrmals dagegen, niemand antwortete ihm.
„Junge, komm her.“ Er stieg die Stufen hinab und wartete. Zögerlich kam der Knabe zu ihm.
„Ich suche den Priester. Schaff ihn her, und zwar schnell. Aber vorher sagst du mir, wo das Gasthaus ist.“
Er gab sich keine Mühe, Freundlichkeit in seine Stimme zu legen. Diese Bauern verdienten sie nicht. Der Junge starrte ihn immer noch an, dann hob er langsam einen Arm und deutete eine abzweigende Gasse hinunter. „Der Mistelkrug, Herr. Dort runter, Ihr werdet ihn nicht übersehen.“ Dann rannte er los.
„Ich erwarte den Priester in diesem Gasthaus. Er soll sich beeilen!“ brüllte der Inquisitor ihm nach. Ungehalten spuckte er auf den Boden. Selbst die Luft roch wie eine Horde Ungläubiger und hinterließ einen üblen Geschmack auf seiner Zunge.
Der Priester traf keine halbe Stunde später im Schankhaus ein. Er war ein dürres Männlein von vielleicht vierzig Jahren. Graue Haare hingen ihm in Strähnen ins faltige Gesicht, und der Inquisitor fragte sich, wie ein Mann der Kirche sich so hatte gehen lassen können. Der Alte verneigte sich tief vor ihm und wartete.
„Wo habt Ihr gesteckt? Eure Pforten sollten immer offenstehen, Fater Ramus.“ Er wies auf einen Holzstuhl. „Die Kirche hat Eure Botschaft erhalten. Man hat mich sofort informiert, doch der Winter hat meine Anreise verzögert. Mein Name ist Meister Sebin, ich bin hier, um mich um die Hexe zu kümmern, von der Ihr berichtet habt.“ Er musterte den Alten eingehend, während dieser sich setzte.
„Ich, ich denke, das ist nicht mehr notwendig. Sie ist erfroren. Die brave Dorfgemeinschaft hat sie in den Wald getrieben.“ Er rieb sich nervös die Hände. Zu nervös, wenn es nach dem Gespür des Inquisitors ging.
„Und was ist mit ihrem Leichnam geschehen? Ihr habt ihn doch sicherlich gesehen, oder?“ Sebin beugte sich über den Tisch und brachte sein Gesicht näher an das des Priesters heran.
„Sie war stocksteif gefroren. Wir haben sie in ein Grab gelegt und mit den Ritualen der Kirche begraben. Von ihr geht keine Gefahr für die Gläubigen des Dorfes aus.“ Fater Ramus ratterte die Worte herunter, als habe er sie auswendig gelernt.
„Dann macht es Euch nichts aus, sie für mich auszugraben, oder? Es wäre doch eine Schande, wenn ich meine Reise umsonst gemacht hätte.“ Die Stimme des Inquisitors war zu einem Flüstern herabgesunken.
Der Priester starrte ihn mit offenem Mund an, dann nickte er schwach. „Ich, ich werde ein paar der Bauern fragen. Morgen früh zeige ich Euch die Stelle.“
Sebin schüttelte knapp den Kopf. „Die Sonne steht noch einige Stunden am Himmel. Holt ein paar der Burschen von ihren Feldern, wir machen uns sofort auf den Weg.“
Fater Ramus brachte ihn zu einem Stück Land außerhalb des Friedhofs. Kein Stein zierte den Boden, nur ein kleiner Hügel aufgeworfener Erde, in den man ein hölzernes Kreuz gesteckt hatte.
„Ich gehe und hole die Bauern, Herr.“ Mit einer schnellen Verbeugung begab sich der Priester wieder auf den Weg.
Sebin betrachtete das Grab. Er bezweifelte, dass sich die Leiche der Hexe hier befand. Vielmehr vermutete er, dass der Priester ihn belogen hatte. Er kannte nur nicht den Grund.
Etwas raschelte hinter ihm, und er war nicht erstaunt, eine alte Frau zu sehen, die langsam auf ihn zukam. Ihr langes Haar war weiß, und sie hatte Perlen und Knochen hineingeflochten.
„Ich vermute, dies soll dein Grab sein.“ Er griff unter seinen Umhang und zog einen Dolch hervor. Silberne Intarsien prägten den Knauf, und die Klinge war mit Weihwasser gesegnet. Er stand unter dem Schutz der Kirche, er brauchte keine Zauberei zu fürchten.
Die Alte blieb stehen und schüttelte mitleidig den Kopf. „Nein, mein Grab wird anderswo liegen. Aber es ist ein ruhiges, ein schönes Fleckchen.“ Sie deutete auf den Grabhügel, und Sebin sah die Spitzen von Krokussen, die sich ihren Weg aus dem Erdreich bahnten.
„Was hast du mit dem Priester gemacht?“ Er würde sich nicht von ihr ablenken lassen.
„Ich habe mit
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Thom van Winkel
Bildmaterialien: Thom van Winkel
Cover: Thom van Winkel
Lektorat: Kristina Steffens
Korrektorat: Kristina Steffens
Satz: Thom van Winkel
Tag der Veröffentlichung: 24.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2590-8
Alle Rechte vorbehalten