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Lonely Soldier


Tagsüber hörte man keine Schüsse. Nicht hier. Nur ihr Nachklang schwang im eingeschüchterten Zwitschern der Vögel mit, der Geruch von lang erloschenem Feuer lag in der Luft, während die Sonne lachte, weil es am Ende nur ein Tag wie jeder Andere war. Meine verhältnismäßig kümmerliche Sammlung von Schusswaffen hing schwer an dem sporadischen Waffengurt, der zumindest seinen Zweck erfüllte. Sie klapperten leise und ich fragte mich, wie viele von ihnen überhaupt noch funktionsfähig waren. Wie reife Äpfel hatte ich sie von den leblosen Körpern toter Soldaten gepflückt, den jungen Männern, die hinter der blutroten Uniform standen, nicht ins Gesicht geblickt. Ich hatte nicht gewagt, sie auszutesten, denn jeder Schuss war kostbar und könnte mein Leben retten.
Beinahe lief ich in ein Spinnennetz, das direkt auf Augenhöhe zwischen zwei schmalen Ästen hing und ich spielte mit dem Gedanken, es belanglos mit der Hand wegzuwischen, als bilde es nicht die komplette Lebensgrundlage eines anderen Lebewesens. Als hätte ich das Recht dazu, die harte Arbeit eines kleinen Tieres zunichte zu machen, nur, weil ich mir zu fein war, einen Schritt zur Seite zu gehen. Aber ich entschied mich in dem Moment um, in dem das feine Netz unter der flüchtigen Bewegung meiner Hand erzitterte. Erst jetzt erblickte ich die Spinne im Zentrum des Gewebe. Es war ein natürlicher Reflex, Tiere zu vermenschlichen, und die Spinne erschien mir so, als müsse sie sich mit aller Kraft an den dünnen Fäden festhalten. Ich fokussierte mich ganz auf das Spinnentier und deren Kunstwerk, sodass alles Andere um mich herum in meinem Blickwinkel verschwamm. Das Grün der Blätter, Braun der Baumstämme und Orange des Waldlaubes verschwammen zu einzelnen milchigen Flecken, aus dem urplötzlich ein blutroter Punkt herausstach.
Ich blinzelte ein einziges Mal, wodurch sich mein Blickfeld komplett veränderte. Das Spinnennetz verschwamm und alles, was dahinter war, war auf ein Mal klar und deutlich sichtbar. Ein kleiner Bach floss über eine Lichtung, die frei von vergilbtem Laub war. Und zwischen dem saftig grünem Gras – es regnete seit einigen Monaten mehr, als es sollte – erhob sich der unverkennbar blutrote Stoff der Soldaten, die ihr Leben für die Regierung gaben. Blutrot,

schoss es mir augenblicklich durch den Kopf. Das spart die Reinigungskosten.


Der Soldat schien sich nicht zu bewegen und sofern ich es von meinem Blickwinkel aus beobachten konnte, lag er zur Hälfte im Strom des schmalen Baches. Ein dünner Ast zerbrach unter meinen Schritten, als ich mich vorsichtig aus meiner Deckung schlich und das Geräusch kam so überraschend, das ich nicht nur selbst zusammenzuckte, sondern ebenfalls eine pechschwarze Krähe verschreckte, die dem leblosen Soldaten gefährlich nah gekommen war und sich nun laut krächzend aus dem Staub machte. Ich blieb probeweise für einige Sekunden auf dem Fleck stehen, atmete nur flach und wagte es kaum zu blinzeln.
Während ich meine nächsten Schritte wagte, fuhr meine Hand automatisch zu einer der Waffen um meine Hüfte. Sollte der Soldat am Leben und bewaffnet sein, musste ich schnell reagieren können. Denn seine Order war es, auf alles zu schießen, was keine rote Uniform trug. Zumindest, wenn man sich so weit draußen befand. Hier, wo theoretisch niemand mehr leben durfte. In den letzten verwilderten Waldstücken. Fernab von den Ruinen der großen Städte, die sich der Regierung verweigert hatten.
Aber nichts regte sich. Er war entweder tot oder bewusstlos und ich wusste nicht, was mir lieber war. Meine Schritte wurden unvorsichtiger, dafür aber schneller. Nur ein paar Mal sah ich mich um, glaubte nicht wirklich an eine Falle. Das war es nicht wert. Die Regierung war so von sich überzeugt, dass sie nicht daran glaubten, irgendwer könnte tatsächlich hier draußen überleben. Und letztendlich war ich auch der Einzige aus meiner Familie, der es geschafft hatte.
Am Ende kniete ich neben dem Soldaten im noch leicht feuchten Gras. Er lag auf der Seite und war von mir weggedreht. Dunkelbraunes Haar klebte ihm feucht an den Wangen und da, wo es nicht im Wasser hing, war es mit ausgetrocknetem Blut verklebt. Rote Striemen färbten auch ein paar Steine, die aus dem Wasser herausragten. Normalerweise hätte ich an dieser Stelle seine Taschen durchsucht und hätte ihn der Natur überlassen. Vielleicht lebte er noch und wäre irgendwann wieder zu sich gekommen. Vielleicht war er bereits tot und irgendein Raubtier hätte sich eine Jagd erspart. Aber seine Anwesenheit hier draußen war nicht normal. Und ich musste wissen, was er hier zu suchen hatte. Denn, wenn die Truppen nun weiter in die Wildnis eindrangen, konnte ich nicht mehr hier bleiben.
Erschreckend routiniert packte ich den Soldaten am Oberarm und drehte ihn auf den Rücken. In diesem Moment war es ohnehin zu spät, mich wegzudrehen und ich war gezwungen, ihm direkt ins Gesicht zu sehen. Die Verletzung, der das ganze Blut entstammte, befand sich am Haaransatz und rötliche trockene Tränen zogen sich über seine Stirn. Er schien noch recht jung zu sein. Aber letztendlich nicht jünger, als ich erwartet hatte. In die Hochburgen des Bürgerkrieges schickte man nur die jungen Dinger. Diejenigen, die austauschbar waren. Weil sie dachten, wenn man sie in eine Uniform steckte und ihnen eine Waffe in die Hand drückte, waren sie von der Regierung respektierte Soldaten, wenn sie eigentlich nur hier waren, um die Rebellen hinzuhalten. Während die wahren, ausgebildeten Soldaten für wichtigere Zwecke gebraucht wurden.
Noch während ich meine Augen nicht von dem Gesicht des Jungen reißen konnte, griffen meine Hände nach seinem Handgelenk, wo ich tatsächlich einen Puls erfühlen konnte. Wenn auch nur schwach. Ich stieß einen erstickten Laut aus und ließ seine Hand wieder ins Gras fallen. Er lebte. Und vielleicht lag es in meiner Hand, für wie lange noch. Sofort war ich mit meinen Bewegungen vorsichtiger geworden, als bestehe Gefahr, ihn aufzuwecken. Dabei musste man kein Arzt sein, um zu erahnen, dass er nicht nur friedlich schlief.
Schritt für Schritt knöpfte ich seine Uniformjacke auf. Nur so weit, dass ich eine Hand unter den Stoff schlüpfen lassen konnte und in einer schmalen Innentasche genau das fand, wonach ich gesucht hatte. Als ich meine Hand wieder hervorzog, hielt ich ein kleines Stück Plastik in den Händen. Sein digitaler Ausweis. Ich hatte keinen zentralen Key für persönliche Dokumente, aber ich hatte den Jungen. Ein schwarzer Fleck in der Größe eines Fingerabdrucks befand sich auf der rechten unteren Seite der Karte. Ich ergriff erneut die Hand des Jungen, um seinen Daumen auf eben diese Fläche zu pressen und erhielt sofort das erwartete Ergebnis. Ein Passfoto des Jungen erschien großflächig auf der kleinen Karte, minimierte sich dann wieder etwas und blieb zur Dekoration oben rechts in der Ecke stehen, während sich nach und nach Buchstaben auf der rechten Seite bildeten und die Identität des Jungen zu erkennen gaben. Leise murmelte ich die Worte, die vor mir auftauchten. „Elijah Dale Griffith. Geboren am 4. Mai 2145. Bürger der Klasse Alpha. Offizier der Jugendarmee....“ und die letzten Worte hallten noch lange in meinem Kopf nach. „...infiziert durch den gelben Virus“
Ich war einer infizierten Person noch nie so nahe gekommen. Ich wusste, für was die Klassifikationen der Viren standen. Der gelbe Virus war nicht ansteckend. Ich war außer Gefahr. Er konnte nur vererbt werden, oder direkt injiziert werden. Allerdings hatte ich nicht gewusst, dass auch die Offiziere der Experimente der Regierung ausgeliefert waren. Oder trug er etwa das Gegenmittel bei sich? Fahrig und plötzlich alle Furcht vergessend, riss ich auch noch die restlichen Knöpfe seiner Uniform auf, durchsuchte seinen Waffengurt bis auf den letzten Zentimeter und fand absolut nichts. Man hatte ihm also tatsächlich dem Virus überlassen. Vielleicht, weil man ihm als Soldat ohnehin nicht mehr viel Zeit gegeben hatte.
Meine Enttäuschung nicht verbergend löste ich die Waffen von seinem Gurt und befestigte sie an meiner eigenen Halterung, legte meine Hand dann in meinen Schoß, um meinen nächsten Schritt zu durchdenken. 16 Jahre alt, die Augen hatte er geschlossen. Lange Wimpern, auf die ein Mädchen eifersüchtig gewesen wäre. Ein kleiner Knick in den Augenbrauen, sodass er automatisch einen ernsten Eindruck machte. Selbst dann, wenn er eigentlich friedlich aussehen müsste. Die Lippen waren ungewöhnlich voll für einen Jungen und vielleicht war es das feminine Etwas, das ihn so unglaublich jung und schutzlos aussehen ließ.
Ich hatte ihn als einen Soldaten wie jeden Anderen eingestuft und auch so behandeln wollen. Aber jetzt hatte er einen Gesicht, einen Hintergrund. Ich hatte glauben wollen, dass seine Hände auf Kommando getötet hatten, dass er stolz darauf war, die Marionette der Regierung zu sein. Alles, was ich jetzt sah, war ein Junge, dessen Schicksal bereits besiegelt war. Der gelbe Virus war unberechenbar. Er konnte von Psyche bis innere Organe überall zuschlagen und der Zeitpunkt war unvorhersehbar. Ich konnte sein Leben sowieso nicht retten, konnte ihm höchstens mehr Zeit geben, indem ich mein Bestes gab, dass er nicht an seinen Verletzungen starb.
Ich hatte drei freie Betten und genug Verpflegung. Vielleicht war er nützlich. Vielleicht wusste er etwas. Vielleicht war ich nur noch immer benommen von dem Rauch, den ich letzte Nacht eingeatmet hatte. Irgendeinen Grund musste es geben, dass ich tatsächlich ins offene Messer lief, mir den Jungen – Elijah – über die Schulter warf und mich auf den Weg zu dem Schutzbunker meiner Familie begab.

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Tag der Veröffentlichung: 01.12.2012

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