ELLEN
Ellen sitzt wie jeden Tag in ihrem Zimmer. Sie lebt, klein und unscheinbar. in ihrer eigenen, finsteren Welt. Keinen lässt sie herein und kein Wort kommt über ihre Lippen. Sie sitzt in einem bequemen Sessel und schaut auf ihre zarten Hände. Eine abwehrende Aura umgibt sie.
„Wie“, fragst Du, „war Ellen denn schon immer so?“ Nein, Ellen war ein fröhliches, immer auf der Suche nach Abenteuern und lebenshungriges Mädchen. Flirtete gern und war sehr beliebt. Sie wurde eine attraktive und selbstbewusste junge Frau. Liebenswert und natürlich. Was geschehen ist? Nun, das zu erklären ist gar nicht so einfach.
Um einen Einblick in Ellens Leben zu bekommen, schauen wir durch ihre dunklen, leeren Augen in ihr innerstes Selbst. Wir sehen Ellen den Gang durch Ihre Seele entlang schreiten. Sie hält vor einer Kammer tief hinten in ihrer Seele, die dritte Tür rechts. Die Tür zu dieser Kammer ist verschlossen durch zwei Vorhängeschlösser. Lange steht Ellen vor dieser Tür, abgeschreckt durch Warnsignale „Achtung Lebensgefahr", "Betreten auf eigene Gefahr" und riesigen Stoppschildern, unschlüssig, voller Angst. Die Schlüssel hierzu bewahrt sie in zwei anderen Kammern auf. Um an diese Schlüssel zu gelangen, muss sie sich den für sie, schwersten Herausforderungen stellen.
In der ersten Kammer steht sie ihrer Hoffnung gegenüber. "Hey altes Haus" begrüßt sie ihre Hoffnung, "Mensch, wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen, wie geht's dir?" Erschreckt starrt Ellen diese an, denn sie ist so schrecklich dünn geworden. Das letzte Mal als sie noch nicht in Kammer eins eingesperrt war, war sie rund und wohl geformt. Jetzt ist sie ein dünnes, unscheinbares, kleines Weibchen. Nicht mehr schön und ansehnlich sondern hässlich und verkümmert. Ellen fragt sie: "Sag, was ist mit dir geschehen? Du hast dich so verändert." Die Hoffnung sagt ihr nun, dass sie lange nichts mehr zu essen bekommen habe. Es fehle ihr an einer Portion Zuspruch. Dafür würde die Hoffnung alles tun. Sabbernd und zittrig kommt die Hoffnung auf Ellen zu gekrochen. Sie bräuchte doch nur ein wenig davon. "Gib mir was ich brauche" sagt die Hoffnung, "dann bekommst du auch den Schlüssel". Ellen denkt an ihre Zukunft, nicht zu weit natürlich, nur soviel, dass sie genug hat um ihre Hoffnung zu nähren. "Behalte deine Augen immer offen, verschließe sie nicht vor dem was dich in der Zukunft erwarten wird. Gebe mich nicht auf, damit ich nie wieder hungern muss" sagt die nun dickbäuchige Hoffnung liebevoll zu ihr.
Bei der zweiten Kammer angelangt, denkt Ellen zuerst, dass es hier ein Leichtes wäre den Schlüssel zu holen, denn hier sieht sie zuerst gar nichts. Erst als sie sich auf die Suche in dieser Kammer nach dem Schlüssel macht, entdeckt sie in einer dunklen Ecke ein kleines, zitterndes Mädchen. Langsam geht Ellen auf sie zu und fragen wer sie denn sei. Ängstlich drückt es sich noch tiefer in die Ecke und flüstert leise: "Ich heiße Mut". Ellen erkennt entsetzt wie klein und hilflos ihr Mut ist. "Helf mir meine Angst zu verlieren" fleht das Mädchen Mut sie an, "dann bekommst du auch den Schlüssel!" Ellen setzt sich auf den Boden und redet lange mit dem Mädchen Mut. Sie erklärt ihr, dass sie nichts fürchten muss, was draußen geschieht oder was passieren kann. Das Mädchen Mut hört sich die Worte gut an. Nach einiger Zeit, kommt das Mädchen Mut langsam ein Stück aus Ihrer Ecke hervor und fragt Ellen warum sie denn dann zugelassen habe, dass sie so ängstlich geworden ist. Ellen solle ihr doch vormachen wie man durchs Leben geht ohne Angst zu haben.
Ermutigt, durch ihre eigenen Worte, sagt Ellen entschlossen zu ihrem Mut: "Gib du mir den Schlüssel und ich werde mutiger sein als ich es jemals war". Das Mädchen Mut kommt als wunderschöne Frau aus ihrer Ecke. Sie legt Ellen den Schlüssel mit einem glänzenden Anhänger in die Hand. "Behalte diesen Anhänger immer in deinem Herzen, damit ich nie wieder ein kleines ängstliches Mädchen werde".
Die beiden Schlüssel in der Hand, gestärkt durch Mut und Hoffnung macht sich Ellen wieder auf den Weg zurück, zur dritten Tür rechts. Die Schlüssel drehen sich butterweich in den Schlössern. Mit einem Ruck ist die Tür geöffnet.
Ellen betritt vorsichtig die Kammer, die Eindrücke überwältigen sie. Verschwommen sieht sie, dass sie so vieles in die Kammer gesperrt hat. Vorsichtig tastend, wagt sie sich weiter hinein in ihre Kammer. Hier erblickt sie zwischen staubigen Kisten einen alten Sessel und einen Fernseher. Zögernd geht sie zu einer der Kisten und öffnen sie. Sie enthält eine Vielzahl unbeschrifteter Videokassetten. Mit zittrigen Händen nimmt sie eine Kassette und hält sie fest umklammert. Weit entfernt ruft Frau Mut Ellen zu, dass sie nicht zulassen soll, dass sie wieder klein und verängstigt wird. So legt Ellen die Videokassette in den Rekorder und schaltet den Fernseher ein.
Eine warmherzig lächelnde Frau, Ellen kennt sie nicht, erscheint in dem Film ihres Lebens. Sie steht unter einer alten Weide und winkte Ellen zu. Die Sonne scheint. Es ist ein so schöner Tag. Ellen steht auf und geht langsam zu der Frau. Sie ist so wunderschön. Ellen schmiegt sich an die Frau und fragte wer sie denn sei. Die Frau flüsterte lächelnd "Ich bin die Liebe", doch plötzlich verzerrt sich das Lächeln der Frau zu einer Fratze, die Liebe zerfällt zu Staub und alles um Ellen herum zerspringt.
Ellen sieht sich um. Nichts erinnerte mehr an einen schönen Sonnentag. Dunkel ist der Raum. Dunkel, unheimlich und kalt. Ellen bekommt Angst. Sie will raus. Sie will die dritte Tür hinten rechts schließen. Für immer. Sie denkt nicht an Mut und Hoffnung. Sie versucht die Tür zu finden, doch sie sieht nichts. Sie schreit: „Ich will hier raus!!“ Erst leise grollt es in einer Ecke, erst leise dann laut. Sie spürt eine greifbare Substanz. Irgendetwas war in der Kammer. "Wer ist da?" ruft Ellen in die Dunkelheit, "Wo bin ich?" Zischend antwortet es ihr aus der Dunkelheit "In den Überresten deines Herzens, es zersprang in tausend Einzelteile!" Ellen erschrak. Vor ihr stand ein riesiger, hässlicher Mann. "Wer bist du? Warum ist mein Herz so dunkel und unheimlich? Warum ist es zersprungen?" fragt Ellen. Der riesige, hässliche Mann grinst hämisch: "Ich bin der Schmerz, das Leid, die Not, ich mache dir das Leben schwer. Ich nehme dir alles was dich glücklich macht". Der Schmerz schüttelt sich vor Lachen und zeigt hinter Ellen.
Ellen beginnt zu weinen. Sie dreht sich nicht um, doch sieht das Fenster. Sie schiebt die Vorhänge der Erinnerung zur Seite und sieht erschüttert auf ihr Auto.
Sie fuhr mit Mark die Landstraße entlang. Sie waren so glücklich. Die Sonne schien, das Dach des Cabrios war offen, sie spürte den Wind in ihrem Haar. Sie hatte die Liebe ihres Lebens singend und gut gelaunt neben sich und ihr Kind unterm Herzen. Mark konnte das Auto, das in der Kurve auf ihrer Fahrbahn auf sie zukam nicht sehen, geschweige denn ausweichen. Sie erinnert sich an ein Kreischen, ein Knall, an Dunkelheit.
Sie verlor ihr Kind, den Mann den sie liebte, die Hoffnung, den Mut.
Doch Ellen hat sich mit Dir auf die Reise begeben, raus aus der Finsternis, raus aus der Angst. Immer den leuchtenden Anhänger in Ihrem Herzen. Raus aus der Vergangenheit, mit einem hoffnungsvollen Blick auf die Zukunft.
Wir verlassen Ellen mit einem Lächeln auf dem Gesicht und dem Foto ihres Liebsten in ihren Händen.
Tag der Veröffentlichung: 27.03.2009
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