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3.


Honey war sich nicht vollkommen sicher, ob sie jemals wieder einen Fuß vor die Kirchentür setzen konnte, doch momentan hoffte sie nur inständig, dass sie diese Gedanken um ihre bange Zukunft für wenigstens eine Zeit beiseite schieben könnte, um ein paar erholsame Stunden Schlaf zu ergattern. Nun, der Schlaf wollte sich nicht so zeitig einstellen wie sie es gern gehabt hätte, sodass Honey nach zwei weiteren geschlagenen Stunden endlosen Nachgrübelns, den dunkelblauen Herrenbademantel anzog, den sie sich von dem eisernen Haken an der Tür stibitzte, den weichen Gürtel um ihre schlank geschwungenen Hüften schlang und sich zur Küche begab. Unsicher tappte sie im Dunkeln mit den Händen voraus umher, bis sie sich im Wohnzimmer wähnte, um von dort aus durch die schmale Schiebetür in die kleine Küche zu gelangen, die gleichzeitig das Esszimmer und die Garderobe darstellte. Vage erinnerte sich Honey an ihre liebevolle Mutter, die leider sehr früh verstorben war. Hatte sie ihr nachts nicht immer eine heiße Milch zu Bett gebracht, wenn sie nicht einschlafen konnte? Honey schaltete das Licht ein und spähte in den geräumigen Kühlschrank um nach Besagtem Ausschau zu halten. Mal sehen, was es hier so alles gab. John schien ein wahrer Marmeladenliebhaber zu sein. Sie fand Jogurts, Butter, Sahne, Schokolade, Karotten, eine Gabel? Käse, Orangensaft und die Milch. „Sie können wohl auch nicht schlafen wie ich sehe“, kam es verschlafen und rau von der Tür her. Die Milchpackung entglitt Honey´s Hand und unterwarf sich dem Gesetz der Schwerkraft indem sie laut platschend auf dem Garderoben-Esszimmer-Küchenboden aufschlug. Entgeistert starrte Honey John an, der nur mit einer Pyjamahose bekleidet, im Türrahmen lehnte und sich gähnend durch die Haare fuhr. Sie hatte einen Priester wohl noch nie in bloßer Pyjamahose gesehen, was sich als selbstverständlich erwies, wenn man bedachte, dass sie Kirchen bis jetzt nur von außen bewundert hatte. Diese Innenausstattung mit der sich die Kirche schmückte, die nun so lebhaft vor ihr stand und sich mit einem Arm am Türrahmen abstützte, war in jedem Falle bewundernswert. Äußerst bewundernswert! Zum wiederholten Male fragte Honey sich, wieso ein so gutaussehender, athletischer, junger Mann das Amt eines Pfarrers wählte. Das kühle Nass, das gemächlich ihre Füße umfloss holte Honey aus ihrer Erstarrung zurück. „Ja,... äh nein, meinte ich. Also, Genau!“, stotterte sie verwirrt, beugte sich schnell zu dem Hauskater hinunter der sich an der Milch gütlich tat und kraulte diesen hinter den Ohren, um diesen peinlichen Moment irgendwie zu überbrücken.
„Sie wirken verwirrt“, lächelte John, stieß sich ruckartig vom Türrahmen ab und begab sich langsamen Schrittes gemütlich in die Küche. „Hübscher Bademantel. Steht Ihnen“.
„Danke ich,… also es tut mir wirklich Leid was mit Ihrer Milch passiert ist, ich…“
„Keine Sorge, wir sind uns nicht sonderlich nahe gestanden“, warf er vergnügt ein.
„ich werde gleich morgen...“
„...einkaufen gehen? Davon würde ich aufgrund der Situation in der Sie stehen abraten. Es sei denn Sie wollen ihren Wohnsitz wirkich auf den Friedhof verlegen...“, witzelte er. Nach kurzem Überlegen fügte er zerknirscht hinzu: „Ach tut mir leid ich bin schon wieder so unhöflich, Sie müssen verstehen ich hatte schon sehr lange nicht mehr eine so... menschliche Gesellschaft. Ich lebe schon seit mindestens drei Jahren allein in einer Beziehung mit diesem verfressenen, alten Kater, und...“, erstaunt blickte er auf sie hinab. „...Und es ist wahrhaft ein Wunder, dass er sich gerade von Ihnen kraulen lässt. Normalerweise kann er Frauen nicht ausstehen. Haben sie öfter mit Katzen zu tun?“, fragte er verwundert und beugte sich zu dem Tier hinab, um ihm ebenfalls den Rücken zu streicheln.
Honey hatte nun ihre übliche Fassung wiedergewonnen. „Nein eigentlich nicht. Machen Sie sich bitte keine Sorgen um ihrer angeblichen Unhöflichkeit, mit mir können Sie ganz offen sprechen, ich werde schon Bescheid geben, falls mich etwas stören sollte. Sie sagen, dass Sie schon länger keine menschliche Gesellschaft hatten. Haben Sie denn als Pfarrer nicht andauernd mit den gerade menschlichsten Menschen zu tun, wenn diese zu Ihnen zur Beichte, oder mit ihren Sorgen kommen?“. Interessiert schaute sie zu ihm auf und war froh über die plötzliche Wendung des Gesprächsthemas. John nahm seinen flauschig dicken und wohlig schnurrenden Kater auf den Arm und steuerte Richtung Waschraum. Dieser bestand aus lediglich einer Waschmaschine, die in einer Ecke der Küche deponiert worden war und auf der sich nun ordentlich allerlei Putzzeug tummelte, während ein anlehnender, abgenutzter Besen dem kümmerlichen Bild den letzten Schliff gab. Während er sprach nahm John einen Lappen in die Hand, drückte Honey den immer noch schnurrenden Kater in die Arme und begann den kleinen Milch-See aufzuwischen. Dabei wrang er die aufgesogene Milch in dem Futternapf von Kaptain aus. „Bedauernswerterweise wurde diese abgelegene Kirche hier in den letzten Jahren nur sehr selten, wenn überhaupt besucht. Ich bin praktisch hier nur der Hausmeister. Ich habe auch schon ganz vergessen wie man eine richtig ordentliche Messe überhaupt abhält, geschweige denn, was für Aufgaben ein wahrer Pfarrer eigentlich hat. Dieses Priestergewand das Sie gestern an mir gesehen haben ist sehr praktisch für die Gartenarbeit und in so einem Haus, halte ich es irgendwie auch für nur angemessen es zu tragen“.
„Hm“, machte Honey nachdenklich. „Das ist wahrhaft bedauernswert das mit ihren Gästen“, haben Sie keine Freunde? Familie? Etc. die Sie eventuell vermissen könnte?“
„Mein Vater hat diese Kirche hier gebaut. Vor etwa fünfzehn Jahren starb er an einer Drogenvergiftung und hinterließ mir diese Kirche sozusagen als Erbe“.
„Oh das tut mir schrecklich leid für Sie!“.
Als er in ihrem lieblichen Gesicht das aufrichtige Bedauern sah, fügte er schnell hinzu: „Nein, nein das muss Ihnen nicht leid tun, wir hatten eigentlich keine wirkliche Beziehung zueinander“. Aus irgendeinem unersichtlichen Grund, konnte John es nicht ertragen sie so traurig zu sehen, deshalb lenkte er das Gespräch geschickt von sich ab, um ihr nicht auch noch die traurige Geschichte auftischen zu müssen, die er und seine Mutter in dieser schweren Zeit durchmachen mussten, in der sein Vater dem Alkohol und den Drogen verfallen war. Dies hatte letztendlich auch noch seine geliebte Mutter mit in den Tod gerissen, die ihren Mann immer so sehr geliebt hatte.
„Und was ist mit Ihnen? Haben Sie Verwandte?“
„Verwandte habe ich nicht direkt aber Eltern natürlich schon. Ich bin ein Einzelkind und durfte in einem sehr liebevollen Zuhause aufwachsen. Meine Mutter starb schon sehr früh an einer erblich bedingten Herzkrankheit. Das hat mein Vater dann nie überwinden können. Seitdem ist er sehr still und zurückgezogen geworden. Nicht dass er sich nicht um mich gekümmert hätte, aber ich glaube er fühlt sich sehr einsam seit Mamas Tod. Und das er jetzt im Alter so gebrechlich geworden ist, liegt wohl auch zum Teil daran. Er war sonst immer so fit und sportlich wissen Sie“.
„Was macht ihr Vater denn jetzt?“
Honey hatte nicht vorgehabt, vor einem fremden Mann, auch wenn er ein Priester war, loszuheulen. Vor allem wollte sie diesem netten, hilfsbereiten, jungen Mann nicht zu sehr zur Last fallen. Sie hatte ohnehin schon genug Probleme gemacht mit der ganzen Art und Weise wie sie hier erschienen war. Eigentlich hatte sie sagen wollen, dass es nicht so wichtig sei. Eigentlich hatte sie sagen wollen, dass sie ihn nicht mit ihrer Familiengeschichte nerven wollte, doch als Honey ihren Mund öffnete um zu sprechen, brach es aus ihr heraus. Sie fing an zu schluchzen wie ein kleines Kind.
„Heeey was ist denn los?“ Erschrocken nahm er ihre freie Hand in die seine. „Habe ich etwas Falsches gesagt? Bitte verzeihen Sie mir ich wollte Sie keinesfalls verletzen!“. Sanft brachte er sie ins Wohnzimmer und setzte sich mit ihr auf die Couch.
Als Honey sich nicht beruhigte, nahm er Sie in einen Arm und streichelte beruhigend über ihre Hand.
„Was halten Sie davon, ich mache Ihnen erst einmal eine heiße Milch...“.
Daraufhin schluchzte Honey noch intensiver. Ratlos drückte John Honey an sich und beschloss einfach nichts mehr zu sagen, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Er würde mit seinem Gerede ja doch nur alles verschlimmern. Nach etwa zehn Minuten konnte sich Honey soweit fassen, dass sie John mit ihren großen, braunen Augen ansah und erkannte in welch unangenehme Lage sie ihn nun gebracht hatte. Erschrocken griff sie sich vor den Mund.
„Oh, Verzeihung, ich wollte nicht...“.
„Sie müssen sich für gar nichts entschuldigen“, fiel er ihr barsch ins Wort. Dann fuhr er etwas sanfter fort: „Wenn Sie etwas bedrückt ist es doch nur verständlich wenn das auch mal an die Oberfläche kommt. Sie sind nur ein Mensch und nebenbei bemerkt eine sehr starke Frau wenn man bedenkt, was Sie gestern alles durchgemacht haben und wie Sie trotz allem ihre Fassung bewahrt haben. Ich bewundere Sie. Wirklich!“. Einige Minuten herrschte Stille. Dann flüsterte Honey kaum hörbar: „Danke“.
„Was halten Sie von einer Tasse Tee? Dann können Sie mir auch gerne erzählen was Sie bedrückt, das ist schließlich mein Job“, zwinkerte John. „Wenn Sie wollen versteht sich. Und anschließend überlegen wir, wie es mit Ihnen weitergeht. Haben Sie eigentlich schon die Polizei verständigt?“. Sanft dirigierte er Honey, während er sprach, zurück auf einen Stuhl in der Küche und stellte eine Kanne heißes Wasser auf.
„Die Polizei? Nein, nein, Sie müssen mir versprechen, dass Sie nicht die Polizei rufen", gehetzt sah sie John flehend an. "Bitte! diese Typen haben allerlei gegen mich in der Hand, sie halten mich für verrückt, weil...“. Honey erzählte John ihre ganze Geschichte wie Sie aus der Anstalt geflohen war, wie schrecklich man Sie dort behandelt hatte als wäre Sie wahrhaftig eine Verrückte und weshalb sie verfolgt wurde. John hörte geduldig und aufmerksam zu, bereitete währenddessen den Tee und setzte sich dann zu ihr. Als Honey fertig war, ging er vor ihrem Stuhl in die Hocke, sodass er mit ihr auf gleicher Augenhöhe war, nahm abermals ihre Hand in die seine und sah ihr durchdringend in die Augen.
„Wenn das wirklich stimmt, was Sie mir da eben erzählt haben, und ich glaube Ihnen, dann ist das eine wirklich grauenhafte Geschichte und es tut mir sehr Leid für Sie, dass Sie etwas Derartiges durchmachen mussten, doch ich verspreche Ihnen hiermit, dass Sie in meiner alten Kirche wohnen können, solange Sie nur wollen und bis wir einen Plan ausgetüftelt haben, wie wir das Ganze wieder in Ordnung bringen können. Ich muss Ihnen ehrlich gestehen, ich habe zwar noch keinen blassen Schimmer oder etwaige Ahnung wie dieser aussehen könnte, aber ich werde Ihnen helfen. Sie können sich auf mich verlassen Honey!“. Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, strich er mit dem Daumen über ihren Handrücken, drückte fest noch einmal ihre Hand und stand auf.
Überwältigt und verwundert, dass ein wildfremder Mann ihr seine Hilfe anbot und dazu noch Obdach und Sicherheit versprach, fiel Honey ihm in die Arme und bedankte sich mit einer solchen Überschwänglichkeit, dass John für einen kurzen Moment glaubte er habe sich tatsächlich eine Verrückte ins Haus geholt. Doch da ließ Sie ihn schon wieder los und sagte mit Tränen in den Augen: „Sie sind ein guter Mensch John. Vielen, vielen Dank! Sie wissen überhaupt nicht wie sehr Sie mir helfen! Ich verspüre wieder so etwas wie Hoffnung und diese glaubte ich schon lange verloren. Ich versichere Ihnen, ich werde mich bei Ihnen revanchieren, sobald sich mir die Möglichkeit dazu bieten wird und vielleicht auch alles wieder in Ordnung sein wird, wie Sie sagen. Vielen, vielen Dank John!“. Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht sah sie ihn an.
„Keine Ursache Honey“, sagte John mit einem lässigen Zwinkern. Doch im Innern war ihm garnicht so gelassen zumute wie er sich gab. Was hatte er sich da nur eingebrockt? Auch wenn es nach außen hin so scheinen mochte als hätte er alles im Griff, wusste John selbst nicht wie er Honey Sicherheit bieten wollte. Er war doch nur ein einsamer Mann im Priestergewand der mit seinem Kater in einer alten Kirche hauste. Doch es war ihre Hilflosigkeit die in ihm den Beschützerinstinkt weckte, der nun so lange geschlummert hatte und nur darauf wartete ein holdes Weib in Not zu retten. Der Ritter in ihm war erwacht. „Ich glaube wir sollten langsam wieder zu Bett gehen, wir haben morgen immerhin einen großen Plan auszuhecken und werden dafür all unsere vereinten Kräfte und unsere Konzentration gebrauchen können“.
„Ja, allerdings“, stimmte Honey ihm nickend zu. Sie räumte ihr Geschirr zur Spüle und trat auf die Tür zu. „Gute Nacht John“.
„Gute Nacht Honey“, sagte er und wandte sich ebenfalls zum gehen. Gemeinsam schritten sie noch in das Wohnzimmer in dem John schlief. Dann ging Honey ins Schlafzimmer, drehte sich jedoch noch einmal um bevor sie die Tür schloss. „John?“
„Ja?“, fragte er und wieder einmal staunte er über ihre großen braunen Augen die so perfekt mit ihrem schönen, zarten Gesicht und ihren schwarzen dicken Haaren harmonierten, die wellig ihren Rücken hinabflossen. Sie sah aus als wäre sie einem Märchen entsprungen. Als wäre sie Schneewittchen entsprungen. Wie konnte man ein so wunderschönes, zartes Geschöpf für verrückt erklären und einfach einsperren? Er wurde von einer anfliegenden Wut-Welle gepackt, doch da flüsterte Honey schon wieder mit ihrer beruhigend, zarten Stimme und einem glücklichen Lächeln: „Danke!“.
Angesichts des Glückes, das sich in ihrem lieblichen Gesicht wiederspiegelte, vergaß John sofort seine Wut und konnte nur noch mit einem charmanten Lächeln kontern. Dann verschwand Honey´s Gesicht hinter der Tür, die sich mit einem leisen Klicken schloss. John begab sich ein wenig benebelt und gähnend wieder auf seine Couch, um in einen traumlosen und unbequemen Schlaf zu fallen.

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Tag der Veröffentlichung: 04.08.2012

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