2.
Honey öffnete langsam ihre schweren Augenlider und versuchte mühsam zu erkennen, was sich um sie herum abspielte. In der Ecke dort hinten bewegte sich doch etwas? Dort köchelte eine schwarze Gestalt an einem kleinen Herd, der ihr gerade einmal bis zu den Hüften ging, irgendetwas vor sich hin. Vage erinnerte sich Honey an die gestrigen Ereignisse, bis sie an den Punkt kam, an dem sie bewusstlos geworden war. Was war davor noch passiert? Ach ja genau, die schwarzen Lackschuhe. Die schwarzen Lackschuhe! Oh nein, man wollte sie sicher vergiften! Diese dunkle Gestalt braute doch gerade irgendetwas zusammen! Sie musste fort von hier, fort von der schwarzen Gestalt und das so schnell wie möglich! Und vor allem, so lautlos wie möglich! Ohne auch nur ein Geräusch zu machen, schlug Honey die dicke Daunendecke auf, was sich als eine äußerst schwere Kunst herausstellte. Dann stellte sie ihre nackten Füße auf den kalten aber peinlichst sauberen Holzfußboden. Erst jetzt fiel ihr auf, dass man ihr fürsorglich ein dickes Nachthemd über ihren alten, zerschlissenen Kittel gezogen hatte. Sie dachte nicht weiter darüber nach und beschloss kurzerhand ihn mitzunehmen, da sie ihn sicher noch gut gebrauchen können würde.
So schnell und leise wie es nur ging, versuchte sie vorsichtig die Tür zu erreichen, ohne dass die schwarze Gestalt in der Ecke Verdacht schöpfen konnte und sich gar noch umdrehte. Es war nicht so einfach barfüßig lautlos über einen Holzfußboden zu gleiten, schon garnicht wenn man es eilig hatte. Mit jedem Schritt hafteten ihre Füße am Boden, doch als sie es endlich geschafft hatte, legte sie eine ihrer zarten Hände auf die metallene Türklinke, hoffte inständig, dass die Tür ihre letzte Ölung vor nicht allzu geraumer Zeit genossen hatte und drückte den Griff sanft hinunter. Plötzlich strich etwas Pelziges und Warmes um ihre schlanken Beine und gab schnurrende Geräusche von sich, die es als eine Katze identifizierten.
„Miaaaau!“, klagte sie und rieb ihren dunklen Kopf fest an Honey. Die schwarze Gestalt am Herd drehte sich um. „Na sieh mal einer an. Unser Besuch ist kaum wach und will schon wieder gehen? Wir haben eben einfach kein Glück mit unseren Gästen nicht wahr Captain“. Als das pechschwarze Tier seinen Namen vernahm, lief es schnurstracks auf den Mann zu, der zweifellos sein geliebtes Herrchen zu sein schien und strich nun um dessen Beine. Der Mann wandte sich wieder dem Herd zu und quasselte munter weiter. Dabei schien es, als spräche er mehr mit seinem Haustier als mit Honey… „Jedes Mal wenn wir welche haben, verscheuchst entweder du sie oder… naja, ich. Obwohl man die Typen von gestern Nacht wohl kaum als Gäste betrachten kann. Was die da gesprochen haben war ja wirklich schauerlich“. Er schaute zu seinem Gast und ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen, das sein sowieso schon sehr sympathisches Gesicht noch sympathischer machte. Honey stand immer noch wie versteinert an der Tür. Die Hand immer noch auf der Türklinke. „Na, na. Wir wollen doch nicht etwa so auf die Straße gehen und vor allem nicht mit leerem Magen. Setzen Sie sich doch noch ein Weilchen, danach können Sie auch gerne gehen oder hierbleiben, wie Sie wollen“, lud er sie aufmunternd ein.
Honey beruhigte sich ein wenig. Man wollte sie hier also nicht festhalten. Bei genauerer Betrachtung fiel ihr auf, dass die schwarze Gestalt ein Mann in einem schwarzen Priestergewand mit weißem Kragen war. Dies trug dazu bei, dass sie ein wenig auftaute und der würzige Geruch des frischgebrühten Kaffees und der, der Brötchen taten ihr Übriges. Von wegen Gift. Der Pastor hatte einfach nur himmlisch duftenden Kaffee gemacht. Sie nahm ihre Hand von der Klinke und trat einen Schritt näher zu dem gedeckten Tisch. Ewig schon hatte sie nichts Richtiges mehr gegessen und ihr Magen gab lautstark seine Meinung dazu ab.
„Madam“, der Priester schenkte ihr ein verschmitzt aufmunterndes Lächeln und rückte ihr einen Stuhl zurecht, damit sie sich setzen konnte. Honey lies sich ohne ihn anzuschauen nicht gerade sehr grazil darauf plumpsen und betrachtete mit Staunen den reich gedeckten Tisch. Wurst und Käse verschiedenster Arten waren geschmackvoll auf Teller drapiert. Dazu gab es noch allerlei Frühstücksgemüse. Gurken, Tomaten, Mozzarella standen bereit. Honig, Himbeermarmelade, Stachelbeermarmelade, Maracujamarmelade, Pfirsichmarmelade, Erdbeermarmelade, Erdbeermarmelade mit Vanillegeschmack, Apfel- und Birnenmus. Also man mit der Marmelade konnte man es aber auch übertreiben. Voller Entzücken betrachtete Honey das ganze Obst, das fein säuberlich in mundgerechte Stücke geschnitten und zu einem kleinen Türmchen aufgebaut worden war. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht daran erinnern wann sie zuletzt so etwas Gutes vorgesetzt bekommen hatte. Dieses üppige Frühstück wollte garnicht so recht zum Rest der spärlich-und doch ordentlich bemöbelten Wohnung passen. Mit großen Augen schaute sie zu dem jungen Mann auf, der sie immer noch aufmunternd anlächelte und schluckte. Wie konnte jemand der so jung und attraktiv aussah ein Priester sein?! Doch angesichts des üppigen Frühstücks wollte sie daran keinen weiteren Gedanken verschwenden und griff nach den Brötchen, was sie sofort bereute.
„Oh! Das tut mir wirklich wahnsinnig leid, ich habe vergessen zu erwähnen dass die Brötchen gerade frisch aus dem Ofen kommen, sie sind wohl noch ein wenig zu heiß“, entschuldigte er sich und eilte in das nächste Zimmer und mit einem kleinen Ventilator wieder heraus. Umständlich steckte er ihn ein, stapelte ein paar Bücher und brachte ihn darauf in Position auf die Brötchen, woraufhin Honey schrecklich anfangen musste zu lachen. Es war das erste Lachen seit einer sehr langen Zeit und es tat gut. Sie lachte solange bis ihre Bauchmuskeln anfingen zu schmerzen und sie in das verwirrte Gesicht des jungen Mannes blickte.
„Sie können doch nicht ernsthaft einen Ventilator aufstellen um die Brötchen zu kühlen“, erklärte sie ihm, immer noch leicht zuckend, ihren emotionalen Ausbruch. Honey hatte eine zarte, angenehme Stimme, die den Angesprochenen zuerst ein wenig verwirrte.
„Äh, …also, wieso denn nicht?“, fragte dieser ebenfalls grinsend zurück und setzte sich zu ihr.
„Nun ja,… ich weiß nicht…eben weil dies wohl nicht der Norm entspricht?“, antwortete sie freundlich mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Die Norm überlasse ich gerne Ihnen, ich lebe praktisch“, antwortete er. Als er ihren verdutzten Gesichtsausdruck sah, fügte er schnell hinzu: „Tut mir leid, das war ein wenig ungehobelt, ich habe das nicht böse gemeint“.
„Nein, nein“, reagierte sie schnell. „Ich… äh, also man hat mir nur sehr lange schon nicht mehr gesagt, dass ich zu der Norm zähle“, sagte sie nachdenklich mehr zu sich selbst.
„Sind Sie denn nicht normal?“, fragte er leise lächelnd. Die forsche Frage überraschte sie.
„Ich weiß es nicht, kann ich das denn beurteilen?“, flüsterte sie ihm gespielt mysteriös über den Tisch hinweg zu.
Der fremde Mann ging auf das Spielchen ein, beugte sich so nah zu ihr, als würden sie über ein totbringendes Geheimnis sprechen und fragte ebenso dramatisch leise und mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen zurück: „Ich denke schon, oder denken Sie, Sie sind verrückt?“
„Verrückt?“. Das Wort stich ihr wie ein Messer ins Herz. Verrückt hatte man sie genannt und dann in eines dieser grausigen, umzäunten Gebäude gesteckt, wo es wirklich nur Geisteskranke und wirre Verrückte gab. Verrückt war sie nicht gewesen, nein. Sie hatte nur ihren lieben, alten Vater beschützen wollen, der ganz sicher gestorben wäre, hätte man ihn in dieses Altenpflegeheim gebracht. Man hätte ihn doch auch ganz einfach in seiner vertrauten Umgebung, Zuhause friedlich sterben lassen können, aber dieser verruchte Dr.Weard brauchte das Haus, oder zumindest das Grundstück, als Teil für seine neue Klinik und dafür ging der Typ über Leichen. Und sie, Honey Kendrick, Tochter von Harald Kendrick, wurde als verrückt erklärt und eingesperrt, wo sie ihrem Vater nicht mehr helfen konnte. Was war nur aus ihm geworden? In Dr.Weard´s berühmten und wohl unantastbaren Position war das alles für ihn recht einfach gewesen. Ein Jammer.
„Geht es Ihnen gut?“. Die Stimme des Fremden holte sie in die Wirklichkeit zurück.
„Was? oh ja, ich, ich habe nur nachgedacht, also ich bin nicht der Meinung, dass ich verrückt bin, aber kann das nicht auch ein Verrückter von sich sagen?“, antwortete sie mit einem geheimnisvollen Schmunzeln.
Nun ließ sich von seiner Seite ein tiefes, lautes und ansprechendes Lachen vernehmen. Er lehnte sich genüsslich zurück. „Allerdings, da haben Sie Recht, doch woher können wir dann wissen, wer wirklich verrückt ist?“, fragte er und drehte dabei einen Teelöffel zwischen seinen Fingern. Der Pastor stellte die Frage mit solch einer Ernsthaftigkeit, dass Honey erneut ein Lachen unterdrücken musste.
Nach einigem Überlegen antwortete sie: „Stellt sich damit nicht gleichzeitig auch unweigerlich die Frage darüber, was als die Norm gezählt werden kann? Vielleicht ist gar das Verrücktsein die Norm?“, sinnierte sie, zog dabei leicht die Augenbrauen zusammen und legte einen ihrer schlanken Finger an ihre Lippen.
„Hm, interessanter Gedankengang“. Er dachte noch einen Moment nach, doch dann legte er flach seine großen Hände auf den Tisch und blickte ihr in die Augen. „Fangen wir an? sonst verhungern Sie noch. Ich denke die Brötchen müssten jetzt die perfekte Temperatur haben“. Mit diesen Worten reichte er Ihr eines.
„Danke der Herr“, lächelte sie mit einem belustigten Nicken.
„Gerne die Dame“, sagte er und schnitt dann während er sprach sein Brötchen entzwei. „Ich habe Sie ja noch garnicht gefragt wie Sie heißen, tut mir leid“.
„Honey“, antwortete sie. „Und wie heißen Sie?“.
„John“, sagte er und blickte auf.
„Guten morgen Pater John“, lächelte sie verschmitzt.
„Morgen Honey“, grinste er und biss herzhaft in sein Frühstück.
Texte: Alle Rechte liegen bei mir!
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2012
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