„Sie sind ein toughes Mädchen, Lorelai. Sie schaffen das schon. Kommen sie wieder, wann immer sie wollen, ihr Job wartet hier auf sie!“
Das war der letzte Satz, den Ken Radcliffe, freundlich lächelnd, gesagt hatte, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie eine Pause auf unbestimmte Zeit nehmen wollte. Zuerst war er etwas geschockt gewesen, weil er dachte, es wäre ein versteckter Hinweis darauf, dass sie den Job komplett schmeißen wollte. In den vergangenen Monaten hatten einige ihrer Kollegen diesen Weg beschritten, und es wäre ein schwerer Verlust für Big Apple Publicity gewesen, wenn Lorelai Cartwright das Unternehmen verlassen hätte. Doch, als sie ihm ihre Geschichte verschämt erzählt hatte, entspannte er sich. Lorelai würde die Firma nicht verlassen, sie brauchte nur eine Auszeit. Nach allem, was ihr Exverlobter abgezogen hatte, war sie momentan nicht in der Lage, Werbekampagnen an Luxuslabels zu verkaufen beziehungsweise diese zu entwerfen. Es war ihr ein wenig peinlich gewesen, Mr. Radcliffe, einen, der beiden Geschäftsführer um dieses Gespräch zu bitten, aber sie musste es tun – wollte sie ihren Job später wieder aufnehmen können.
Sie saß auf einem großen schwarzen Ledersessel in Radcliffes lichtdurchflutetem Büro, dessen Wände mit moderner Kunst und Kampagnen, die die Firma entwickelt hatte, gespickt war und von dem sie bislang immer gedacht hatte, es wäre einer dieser wenigen Orte auf Erden, wo man sich einfach wohlfühlen MUSSTE, weil alles so hell, freundlich und leicht wirkte. Doch dieses Mal kam sie sich irgendwie mickrig vor und fühlte sich wie eine Amöbe. Sie hatte gerade im Berufsleben immer versucht, zu einhundert Prozent professionell zu sein und manchmal sogar insgeheim andere verurteilt, die sich aufgrund eines privaten Umstandes zu sehr hatten gehen lassen. Und jetzt war es gerade ihr selbst passiert, dass sie ihr Privatleben ins Berufsleben hatte eingreifen lassen. Jetzt war es gerade ihr passiert, dass sie den einen Teil ihres Lebens nicht aus dem anderen heraushalten konnte.
„Ein toughes Mädchen“, dachte sie während die helle Morgensonne ihr Gesicht erwärmte und Mr. Radcliffe ein Notiz in seinen Kalender eintrug, würde die Flinte nicht ins Korn werfen. „Ein toughes Mädchen würde nicht in die Pampa ziehen. Ein toughes Mädchen würde der ganzen Situation hier den Stinkefinger zeigen und weitermachen. Ich bin kein toughes Mädchen."
„Ich danke Ihnen, Mr. Radcliffe“, sagte sie dennoch. Für einen kurzen Moment hatte sie überlegt, einen Rückzieher zu machen. Radcliffe zu sagen, dass sie NICHT nach Red Oak gehen würde sondern dass sie in New York bleiben würde und mit der Situation klarkommen lernen würde. Es gab immerhin noch die Möglichkeit, sich einen Seelenklemptner zu suchen und ihm das Herz auszuschütten. Doch sie brachte die Worte nicht über die Lippen und wusste, dass es ohnehin die falsche Entscheidung wäre, zu bleiben. Zumindest vorerst. Ihr Herz hatte ihr gesagt, dass sie nach Red Oak sollte. Und dieses Mal würde sie darauf hören. In ihrem Bauch hatte sich eine unmögliche Leere ausgebreitet. Ein Gefühl, nicht zu wissen, wohin der Weg führte und was richtig und was falsch war. Ihr Herz war schwer und ihr Magen fühlte sich flau an. Aber nicht das gute Flau, das man empfand, wenn man in Disneyland mit der Space-Mountain-Achterbahn fuhr oder in den paar tausendstel Sekunden, bevor man jemanden das erste mal küsst, sondern diese Flau, das man empfindet, wenn man am Ende seiner Kräfte angelangt ist und keine Motivation für nichts mehr aufbringen kann. Wenn man nicht mehr weiß, wie es am nächsten Morgen weitergeht. „Es ist bestimmt nicht für immer. Nur für…die nächste Zeit“, sagte sie, wohl mehr, um sich selber zu beruhigen, als Radcliffe, während sie auf ihre schlanken Beine hinunterblickte, die in schwarzen Stöckelschuhen steckten.
„Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen“, entgegnete Radcliffe und schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln. Dass sie Hauptthema eines Essens mit seinem Geschäftspartner sein würde, war ihr klar. Aber besser, Hauptthema zu sein, als von dem zweiten Geschäftsführer, Craig McCain, der weniger verständnisvoll und abgebrühter war, als Radcliffe, persönlich ausgefragt und mit hochgezogenen Augenbrauen argwöhnisch gemustert zu werden.
„Mr. Park sagte, sie könnten einige ihrer Projekte via Homeoffice erledigen?“
„Das ist richtig – ich habe auch schon mit Walter vom Netzwerkdienst gesprochen. Man wird mir in Red Oak einen Onlinearbeitsplatz einrichten, sodass ich den größten Teil meiner Arbeit von dort aus erledigen kann. Die meisten Besprechungen kann ich bestimmt auch online abhalten – oder via Telefonkonferenz. Ich denke, der Ausfall sollte nicht sehr groß sein – moderner Technik sei dank!“
„David Park ist ja sonst auch noch mit Ihren Projekten vertraut?“
„Korrekt, David hat sämtliche Zugänge und Passworte zu meinen Akten und ist mit allen Projekten auf aktuellstem Stand vertraut! Außerdem….in Red Oak gibt es Telefon und ich denke, sie haben dort sogar schon Internet“, setzte sie grinsend hinzu. Mittlerweile hatte sie einen Teil ihrer Fassung zurückgewonnen und war etwas aus dem tiefen Loch hervorgekrochen, in dem sie sich versteckt hatte.
„Red Oak“, wiederholte Radcliffe und grübelte kurz nach, „noch nie davon gehört. Wo liegt das?“
„Sie sind bestimmt nicht der einzige, der Red Oak nicht kennt, Mr. Radcliffe“, sagte Lorelai, „es ist eine kleine Stadt etwa fünfzehn Meilen südlich von Dallas mit knapp fünftausend Einwohnern. Ein kleines, verschlafenes Städtchen, das schon mal den Eindruck vermittelt, dass die Zeit dort stehen geblieben ist. Es ist also keine Bildungslücke, Red Oak nicht zu kennen!“
„Nun, Miss Cartwright, dann bleibt mir nur noch, ihnen alles Gute zu wünschen. Ich hoffe, sie haben eine gute Zeit in Red Oak. Vergessen sie uns nicht und kommen sie mir ja wieder!“ Ken Radcliffe stand von seinem Sessel auf, ging an dem massiven buchengefertigten Tisch vorbei und reichte Lorelai freundschaftlich die Hand.
Dieses Gespräch hatte sie vor zwei Tagen geführt. Jetzt saß sie mit gemischten Gefühlen in der 737, die vom JFK nach Forth Worth ging und sie nach Hause bringen sollte. Nach Hause nach Red Oak im Bundesstaat Texas, wo sie einst als quirliges, pferdefanatisches Mädchen auf der Farm ihrer Großeltern aufgewachsen war und niemals daran gedacht hatte, in einem Designerkleid von Donna Karan einmal fünfzehntausend Fuß über der Erde zurück nach Hause zu fliegen.
Lorelai Cartwright war vor einigen Monaten neunundzwanzig Jahre alt geworden und arbeitete als Salesmanagerin bei Big Apple Publicity, einem Marketingunternehmen das in ganz Nordamerika Kampagnen für Luxuslabels entwarf und vermarktete. Vor mittlerweile acht Jahren war sie von Red Oak, Texas nach New York gekommen, um Karriere zu machen. Die einzige Karriere, die in Red Oak auf sie gewartet hätte, wäre eine Hochzeit mit spätestens dreiundzwanzig gewesen (wobei sie mit dreiundzwanzig wahrscheinlich schon als schwer vermittelbarer Ladenhüter gegolten hätte), mit einem jungen Mann, mit dem sie idealerweise bereits auf der High School oder noch besser im Kindergarten, gewesen war. Jetzt, mit neunundzwanzig hätte sie mindestens drei Kinder, wahrscheinlich aber bereits fünf, und immer noch denselben Mann, der entweder auf einer Farm in der Nähe oder aber in einer der Fabriken in Dallas arbeiten würde. Diese Art von Karriere hatte Lorelai schon immer sauer aufgestoßen. Sie wollte nie eine dieser Soccer-Mums sein (eigentlich wollte sie gar keine Mum sein, weil sie mit Kindern nicht besonders gut konnte), deren einziger Lebensinhalt es war, mit den anderen Müttern über die aktuellen Windelmarken, Babybrei und die unterschiedlichen Farben von Kinderkotze zu diskutieren. Sie hatte immer schon hinaus in die Welt gewollt und konnte sich schon mit fünfzehn nicht damit abfinden, dass sie dieselbe Laufbahn erwartete, wie die Mädchen vor sechzig Jahren.
Als sie mit einundzwanzig Jahren bei Big Apple Publicity als Sekretärin zu arbeiten begonnen hatte, wusste sie sehr schnell, dass dies ihre Welt war. Im Eiltempo kletterte sie die Karriereleiter – die richtige Karriereleiter, nicht die Red-Oak-Version davon – hinauf und stieg sehr schnell von der Assistentin zur Junior Project Managerin auf bis sie 2007 zur Sales-Managerin im Upper-Class-Level befördert wurde. Seit diesem Zeitpunkt war sie für die ganz großen Kampagnen der bekanntesten Labels in ganz Nordamerika zuständig. Unter ihr hatte sie ein Team von fünfzehn Personen. Für ein Mädchen aus Red Oak (und wahrscheinlich auch für jedes andere Mädchen aus jeder anderen Stadt der Erde) war dies eine großartige Karriere. Im letzten Jahr hatte das New York Business Magazine einen zweiseitigen Artikel über Lorelai und ihre steile Karriere gebracht. Bei der letzten Weihnachtsfeier hatte Ken Radcliffe anklingen lassen, dass er und sein Partner Craig McCain darüber nachdachten, Lorelai zur Partnerin der Firma zu machen – in spätestens drei Jahren.
Die Firma war indirekt aber auch dafür verantwortlich, dass es Lorelai jetzt so schlecht ging und in den ersten Tagen der Trennung hatte sie tatsächlich den Gedanken gehabt, dass es wohl das beste gewesen wäre, niemals eine Bewerbung an Big Apple Publicity zu schicken – dann hätte sie Rob niemals kennen gelernt.
Über das Unternehmen hatte sie ihren Ex-Verlobten, Robert Walters das erste Mal gesehen, der als Investmentbanker und Marketingleiter bei einer der Banken arbeitete, mit denen Big Apple Publicity Geschäfte machte, und für die es die landesweiten Plakatkampagnen, Werbe- und Radiospots entwickelte. Rob war Mitte Dreißig und wohl der Prototyp dessen, was man einen Womanizer nannte. Mit seinem markanten Gesicht, den immer perfekt gestylten, dunklen Haaren, dem perfekt sitzenden Anzug, vielmehr aber mit seiner offenen Art, mit Frauen umzugehen, hatte er schon die eine und andere Sekretärin bei B.A.P. abgeschleppt. Rob hatte daraus nie einen Hehl gemacht und die Frauen konnten sich wenigstens nicht beklagen, wenn er sie nach einer Nacht wieder abservierte. Das Arschloch-Gehabe stand ihm gut, es kam bei den Ladies an und das wusste er auch. Jede einzelne von ihnen hatte den Drang, aus dem bösen Rob den romantischen Rob zu machen, der alles für sie tat, sein Lotterleben für die Gemeinsamkeit aufgab und mit dem sie alt werden konnte.
Das erste Projekt, das Lorelai bei B.A.P. alleine abwickelte, war eine kleine Plakatkampagne mit einem Radiospot besagter Bank, die aber nur in Nebraska ausgestrahlt werden sollte. Obwohl Rob für gewöhnlich diese kleinen Projekte nicht selbst betreute, ließ er es sich nicht nehmen, den Nebraska-Spot abzuwickeln, als er erfahren hatte, dass eine junge Frau, die erst vor kurzem bei B.A.P. zu arbeiten begonnen hatte, dafür zuständig war. Es dauerte nicht lange, bis Robert Gefallen an Lorelai gefunden hatte, und ihr einen Platz ganz oben auf seiner „To-Do-Liste“ – er sprach Freunden und Kollegen immer von seiner „To-Do-Liste“, wenn er gewisse Frauen, die er noch nicht herumgekriegt hatte, unbedingt noch „abschießen“ wollte – gegeben hatte, nicht etwa allein, weil sie attraktiv war, sondern vielmehr wegen ihrer bissigen Art. Sie war jemand, der seine Ziele mit Nachdruck verfolgte und für gewöhnlich bekam, was er wollte. Schon allein aus diesem Grund war die quirlige Prinzessin mit den pechschwarzen Haaren – er hatte ihr den Spitznamen Schneewittchen gegeben, und scheute, provokant, wie er war, auch nicht davor zurück, sie mit diesem Namen anzusprechen – äußerst reizvoll für ihn. Als sie es dann schaffte, dem eher altmodischen Direktor der Bank eine Kampagne zu verkaufen, die komplett neue Wege beschritt und obendrein auch noch vierzig Prozent teurer war, als die veranschlagte Version davon, war es um Rob geschehen. Er brauchte fast drei Wochen, in denen er jeden Tag bei ihr im Büro anrief, E-Mails schrieb, Blumen, Pralinen und kleine Teddybären schickte und sogar des Öfteren Nachrichten bei den beiden Geschäftsführern hinterließ, bis sie endlich in ein Abendessen einwilligte.
Zu diesem Zeitpunkt war Rob längst nicht mehr an nur einer Nacht mit Lorelai interessiert. Aus dem Abendessen, zu dem sie sich eigentlich nur hatte hinreißen lassen, weil es ihr peinlich war, wenn McCain und Radcliffe wieder einmal mit einem Post-it vor ihrer Nase wedelten, auf welches sie Robs Nachricht für sie aufgeschrieben hatten, und sie grinsend dazu zu überreden versuchten, ihm wenigstens ein Essen zu gewähren, wurde ein ernsthafte, sechs Jahre dauernde Beziehung.
Zu Weihnachten 2007 hatte Rob Walters ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ganz schlicht und einfach, als sie zu zweit unter dem Weihnachtsbaum saßen und sich gegenseitig ihre Geschenke überreichten. Er war vor ihr auf die Knie gegangen, hatte ein kleines, rotes Samtschächtelchen mit einer goldenen Verzierung darauf aus seiner Hosentasche geholt und sie mit Tränen in den Augen gefragt, ob sie ihn heiraten wolle und ihn damit zum glücklichsten Mann der Welt machen würde. Sie hatte – ebenfalls mit Tränen in den Augen ja gesagt und war in seine Arme gefallen. Am nächsten Tag waren sie zu Robs Eltern nach Long Island gefahren und hatten die frohe Botschaft dort verkündigt. Lorelais Familie, bestehend aus ihrer Mutter Marge und ihrer Großmutter Ellen hatte sie bei dem Telefonat, das sie immer zu Neujahr führten, darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie in absehbarer Zeit heiraten würde, und dass sie unbedingt wollte, dass ihre Mum und ihre Grandma an der Hochzeit teil nahmen. Ellen hatte darauf geantwortet, dass sie selbstverständlich nach New York kommen würden, wenn die Hochzeit stattfinden würde, doch sie hatte genauso gut wie ihre Enkelin gewusst, dass dies eine Lüge war. Lorelai hatte ihrer Mutter und ihrer Großmutter schon des Öfteren Einladungen nach New York geschickt. Zweimal hatte sie sogar Tickets gekauft und per Boten nach Red Oak bringen lassen, doch die Flugscheine waren jedes Mal wieder zurückgekommen. Und kurz darauf war ein entschuldigendes Telefonat aus Red Oak eingetrudelt, in welchem ihre Großmutter oder ihre Mutter unter Vorhaltung irrelevanter Tatsachen zu entschuldigen versuchte, dass sie – dieses mal – nicht kommen konnten, beim nächsten Mal aber ganz bestimmt in die große Stadt fliegen würden. Kelly Fisher, eine ehemalige Schulfreundin von der High School, zu der Lorelai noch ab und zu Kontakt hatte, hatte ihr kurz darauf erzählt, dass Ellen Cartwright im Supermarkt erklärt hatte, dass sie niemals auch nur einen Fuß in ein Flugzeug geschweige denn nach New York setzen würde, weil sie die Stadt nicht ausstehen konnte. Und weil sie ihr ganzes Leben in Red Oak verbracht hatte und es auf ihre alten Tage nicht verlassen wollte. Lorelai gegenüber hatte sie diese Einstellung nie erwähnt, ganz im Gegenteil hatte sie hin und wieder behauptet, bestimmt bald in die Stadt zu kommen und ihre Enkelin zu besuchen.
Lorelai hatte schon beim ersten mal, als die Tickets zurückgekommen waren, gewusst, dass weder ihre Mutter noch ihre Großmutter jemals nach New York kommen würden, aber als sie von der Hochzeit erzählte, und Ellen ihr Kommen zusagte, war es, als würde man jemanden Fragen, wie es ihm geht, und dieser jemand würde mit "es geht mir gut" antworten, obwohl ihn vielleicht etwas belastete, nur, damit beide zumindest vorübergehend ihren Seelenfrieden hatten.
Lorelai lächelte kurz, als sie in Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Rob versank. Die vielen Abende, die sie mit Pizza und Wein auf der Couch verbracht hatten, die Reisen quer durch die Staaten und nach Europa, einfach der gemeinsame Alltag mit ihm, den sie so sehr geliebt hatte. Das alles war jetzt jäh zerbrochen.
Es war an einem Donnerstag im Mai gewesen. Donnerstag war der Abend, an dem Lorelai für gewöhnlich mit ein paar Kolleginnen auf einen After-Work-Drink in die Cocktailbar in der 93. Straße ging und selten vor elf nach Hause kam.
Sie hatte schon die vergangenen beiden Tage mit einer Frühlingsgrippe gekämpft und fühlte sich den ganzen Vormittag über fiebrig und verschnupft, hatte Halsschmerzen und hustete, was das Zeug hielt.
„Hey, wie sieht‘s heut aus mit ein paar leckeren Pina Coladas?“ Sally Friedman steckte ihren Kopf in Lorelais Büro, und Lorelai schrak von dem E-Mail hoch, das sie gerade vertieft gelesen hatte. Es war eine unausgesprochene Regel, dass Sally jeden Donnerstag um kurz vor drei sämtliche Büros abklapperte, und die Truppe lautstark zusammentrommelte.
„Tut mir leid, Sally, ich muss heute passen“, schniefte Lorelai nasal und wischte mit einem Taschentuch über ihre Nase. „Ich glaube, ich brüte irgendwas aus!“
„Du siehst auch echt übel aus, Lori. Ich hab dir doch gestern schon gesagt, dass du am besten zu Hause bleibst. Mach’s dir heut Abend gemütlich und lass dich von Rob gesund pflegen, damit du nächste Woche wieder mit von der Partie sein kannst“, meinte Sally und zwinkerte Lorelai zu. Dann war sie auch schon wieder aus dem Büro verschwunden.
Um halb sieben schaltete Lorelai ihren Computer aus und machte sich auf den Heimweg. Die Kopfschmerzen waren jetzt so stark geworden, dass es sich anfühlte, als würde eine Truppe mit Presslufthämmern ihre Gehirnzellen bearbeiten. In den letzten Stunden hatten selbst das Paracetamol, das Aspirin und das Coricidin, das sie am Vormittag in der Apotheke besorgt hatte, nicht mehr geholfen. Ihr Nacken schmerzte und ihre Stimme war auf dem besten Weg, sich zu verabschieden. Sie fühlte sich so fiebrig an, als würde sie kochen. Das einzige, was sie sich an diesem Abend noch wünschte, war ein heißes Erkältungsbad gefolgt von heißem Tee, ihrem flauschigen Pyjama mit den Teddybären, den sie nur dann heraus kramte, wenn sie – so wie jetzt – krank war und einem Abend, dick eingepackt auf der Couch vor dem Fernseher.
Das Appartement, das sie gemeinsam mit Rob bewohnte, lag in der 63. Straße in einem schicken, modernen Appartementkomplex. Es war ihr Appartement gewesen und Rob hatte, als sie zusammen gekommen waren, mehr und mehr von seinem Zeug angeschleppt, bis sie schließlich beschlossen, dass es vermutlich intelligenter war, wenn er sein Appartement, das ohnehin die meiste Zeit leer stand, aufgab.
Die Wohnung lag im vierundzwanzigsten Stockwerk und bot an klaren Tagen eine wunderbare Aussicht auf Manhattan. Lorelai schloss die Tür auf und bekam einen neuerlichen Hustenanfall, der sich anfühlte als hätte sie ein Paket Nähnadeln geschluckt. Sie warf die Tür hinter sich ins Schloss, schlüpfte im Gehen aus ihren Pumps und verzichtete darauf, sie in den Schuhschrank zu stellen. Ihre Louis-Vuitton-Tasche stellte sie auf dem kleinen Tischchen an der linken Wand unter der Garderobe ab. Ihr war heiß. Sie überlegte, wie hoch das Fieber wohl war, das sie sich mit dieser Grippe eingefangen hatte und beschloss, sich am nächsten Tag krank zu melden und das kommende Wochenende über die Couch nicht zu verlassen. Es brachte nichts, wenn sie halbtot im Büro saß und auch noch die anderen ansteckte. Sie würde das Wochenende über zuhause bleiben, sodass sie am Montag wieder fit genug fürs Büro war.
Sie schlurfte ins Wohnzimmer, vorbei an der großen, weißen Polstercouch und hielt erst einmal inne. Ein dunkelblauer, schmal geschnittener Rock hing halb über der Lehne und wirkte wie etwas Abstraktes, das vollkommen fehl am Platz war. Ein Rock, der ihr nicht gehörte. Zu ihren Grippebeschwerden gesellte sich von einer Sekunde zur nächsten Übelkeit und ein Gefühl von Ohnmacht. Kalter Schweiß hatte sich auf ihrer hellen, jetzt schon bleichen, Stirn gebildet. Sie hielt kurz inne und griff mit ihrer rechten Hand nach der Lehne der Couch, um sich abzustützen. Bestimmt gab es eine Erklärung für den Rock. Vielleicht hatte Rob ihn ihr gekauft und ihn dann auf diese plumpe Art und Weise hier platziert. Doch das würde rein gar nicht zu ihm passen und insgeheim wusste sie auch, dass dieser Rock bestimmt nicht für ihre Augen gedacht war.
Sie hatte Angst, ins Schlafzimmer zu gehen, und ihr Bewusstsein versuchte immer noch, sich gegen das Unterbewusstsein durchzusetzen und ihr einzureden, dass da drin nichts und niemand sein würde. Nur das Schlafzimmer mit dem Bett, aus dem sie heute Morgen gemeinsam aufgestanden waren, das sie, bevor sie ins Büro gefahren war, noch schnell gemacht hatte.
Langsam ging sie einen Schritt auf das Schlafzimmer zu, das direkt hinter dem Wohnzimmer lag. Sie lauschte, konnte aber ob des Verkehrslärms, der von der Straße heraufdrang, nichts hören. Ihre Hand berührte den goldfarbenen Türknauf, wich dann aber wieder zurück.
„Am besten, du gehst jetzt ins Bad, nimmst noch einmal ein, zwei Aspirin, packst dich zusammen und fährst in die 93., die Mädels aus dem Büro sind bestimmt noch dort. Du trinkst ein, zwei alkoholfreie Cocktails, oder noch besser Tee mit Zitrone, und schreibst Rob dann eine SMS, dass du gegen neun zuhause sein wirst, weil du dich nicht gut fühlst. Du wirst kurz nach neun nach Hause kommen, Rob wird dir Tee gekocht haben, dir deinen Bärenpyjama herausgelegt haben und gerade dabei sein, dir ein heißes Bad mit dem Erkältungsbadeöl einzulassen, dass du von seiner Mutter bekommen hast, als du im letzten Herbst krank warst. Der Rock wird verschwunden sein und irgendwann wirst du gar nicht mehr wissen, ob er tatsächlich da gewesen ist, oder ob er nur ein Gespinst deines erkälteten Hirnes war“, dachte sie. Doch kaum eine Sekunde, nachdem sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte, griff ihre Hand erneut nach dem Türknauf, drehte ihn und öffnete die Schlafzimmertür.
Die Szene im Schlafzimmer wirkte im ersten Moment wie aus einer dieser Kinokomödien, in der die Protagonistin ihren Traummann mit einer anderen im Bett erwischte. Und im Prinzip war es auch so. Die Protagonistin erwischte ihren Traummann mit einer anderen im Bett. Rob und das dunkelblonde Mädchen mit dem viel zu grossen Mund, wie Lorelai fand, erstarrten, als die Schlafzimmertür aufging. Das Mädchen, Lorelai schätzte sie auf Ende zwanzig und verstand irrwitziger weise in diesem Moment überhaupt nicht, warum Rob sich eine Affäre gesucht hatte, die genauso alt war, wie sie selbst, schnappte sich einen Polster und verdeckte damit ihren nackten Oberkörper. Sein kurzes dunkles Haar war durcheinander gewuschelt, so wie es auch war, wenn er morgens aufstand. "Baby es ist nicht so wie du denkst", rief Rob, schnappte sich die Bettdecke, wollte sie sich um die Lenden wickeln und auf Lorelai zugehen. Lorelai wehrte ab. "Wie ist es dann", sagte sie verschnupft, monoton und geistesabwesend. Sie war überrascht, wie ruhig sie reagierte. Sie erinnerte sich an ein Gespräch im Kreise ihrer Kolleginnen, welches sich einmal mit der Thematik "In Flagranti erwischen" beschäftigt hatte, und Lorelai war der Meinung gewesen, dass sie wahrscheinlich Amok laufen würde, wenn sie der Mann, den sie liebte, so hintergehen würde. "Ich... sie sie bedeutet mir nichts, Lorelai, das musst du mir glauben!" Rob sah sie verzweifelt an. Lorelais Blick fiel auf die dunkelblonde, die einen Blick aus Enttäuschung und Wut aufgesetzt hatte. Seine Hände kneteten an dem Laken, das er um die Lenden hatte, als wäre es Kuchenteig. Lorelai wandte sich an das geschockte dunkelblonde Mädchen, das immer noch das stahlblaue Satinkissen gegen ihren Oberkärper drückte und kaum zu atmen wagte.
"Du solltest dich besser anziehen und verschwinden", sagte sie zu ihr. "Und du gehst am besten gleich mit. Du hast zwei Stunden um dein Zeug zu packen und aus meiner Wohnung abzuhauen", wandte sie sich an Rob. Mit der linken Hand griff er seine Boxershorts, die auf dem kleinen Nachtk stchen neben dem Bett lagen und schlüpfte unbeholfen hinein.
"Lorelai bitte. Du kannst mich doch nicht rauswerfen. Ich liebe dich. Es steht soviel auf dem Spiel!" Lorelai fühlte sich wie versteinert. Aus dem Augenwinkel nahm wie wahr, wie das dunkelblonde Mädchen, sich immer noch den Polster vor den Körper haltend, in einen dunkelroten Slip schlüpfte, eine weiße Bluse mit schwarzem Muster schnappte und sie sich anzog.
"Ich werde nicht schreien Rob. Ich werde nicht austicken und ich werde nicht weinen. Denn du bist nicht die geringste Emotion wert und Gott weiß, wie übel ich mich heute schon vor dieser Scheißaktion von dir gefühlt habe. Die Zeit läuft. Pack deinen Krempel und verschwinde aus meinem Leben! Alles was in zwei Stunden noch hier ist, fliegt in hohem Bogen aus dem Fenster!"
"Hör mir doch zu", rief er erbost, fast so, als hätte sie ihn betrogen und lief ihr mit eiligen Schritten in den Flur nach. Seine nackten Füße machten dumpfe Geräusche auf dem Fliesenboden. "Ich liebe dich Lorelai, wir sind verlobt. Wir wollen heiraten. Es...sie bedeutet mir gar nichts. Es tut mir leid. Es hätte nicht passieren dürfen, ich weiß. Lorelai!"
Sie blieb im Flur stehen und drehte sich um. Robs Worte klangen beinahe so, als hätte er ihr zwanzig Dollar geklaut oder ihr Auto gegen den nächsten Zaunpfahl gesetzt. Seine Entschuldigung wirkte wie eine leere Hülle aus Worten, ohne einen Sinn dahinter. Ganz langsam ging sie auf Rob zu, bis sie so nahe vor seinem Gesicht war, dass sie das viel zu süßliche Parfum der dunkelblonden an ihm riechen konnte. Ihr wurde erneut übel.
"Verschwinde aus meinem Leben, Rob. Und komm nicht mehr zurück!"
Dann bog sie ins Wohnzimmer ab, nahm den dunkelblauen Rock von der Couch und drückte ihn ihm in die Hände. Wenige Stunden später saß Lorelai in ihrem Bärchenpyjama im Schneidersitz auf der Couch in ihrem Appartement. Sie hatte sich die volle Dröhnung Grippemedikamente gegeben, mehrere Aspirin und Paracetamol, Hustensaft, Schmerzmittel gegen die Halsschmerzen und einen dickflüssigen, rosaroten Saft geschluckt, von dem sie noch nicht einmal wusste, wofür er gut war. Dann hatte sie sich ein eiskaltes Corona aus dem Kühlschrank geholt und es getrunken. Rob war vor etwas mehr als einer Stunde mit einigen Reisetaschen und Plastiktüten verschwunden, in die er eilig sein Hab und Gut hineingeworfen hatte. Sein Freund Ray hatte ihn, ohne lang nachzufragen, abgeholt. Die dunkelblonde war sofort gegangen, nachdem sie fertig angezogen war. Als sie zur Tür hinaus war, hatte sie sich noch einmal umgedreht und Rob gefragt, ob er sie am nächsten Tag anrief.
Rob hatte, als die dunkelblonde verschwunden war, mehrmals versucht, noch einmal mit Lorelai zu reden, doch für sie gab es nichts mehr zu sagen.
"Du solltest deine Zeit nicht damit vergeuden, hier Süßholz zu raspeln sondern deinen Kram zusammenpacken", sagte sie ihm, ins Leere starrend, als er sich auf den Boden vor sie setzte und um Entschuldigung bat. Er versuchte, ihre Hände in die seinen zu nehmen, doch sie entzog sich seinem Berührungsversuch und erschauerte, als sie daran dachte, wo Robs Hände noch vor einer halben Stunde gewesen waren.
"Ach ja, und den hier nimmst du am besten auch mit!" Sie zog den filigranen weißgoldenen Verlobungsring von ihrem linken Ringfinger und erinnerte sich daran, wie glücklich sie gewesen war, als Rob ihn ihr an den Finger gesteckt hatte. Sie warf ihm den Ring vor die Füße. Wortlos hob er ihn auf, betrachtete ihn für zwei Sekunden, steckte ihn in seine rechte Hosentasche und verschwand aus dem Wohnzimmer.
Es wirkte irgendwie irreal auf sie, dass all diese Dinge gerade einmal sechs Tage, noch nicht einmal eine Woche, her waren. Vor sechs Tagen, dachte sie, warst du glücklich verliebt und hättest jeden für verr ckt erklärt, der dir gesagt hätte, dass du in einer Woche nach Red Oak fliegst. Du hast tatsächlich gedacht, zu wissen, wie dein Leben in den nächsten zwanzig, dreißig, vierzig Jahren ablaufen wird. Kurz überlegte sie, ob es vielleicht besser gewesen wäre, an jenem Abend mit den Mädels aus dem Büro in die Cocktailbar zu gehen. Vielleicht hätte Rob die Affäre irgendwann von selbst beendet. Hieß es nicht auch oft, dass Affären für eine Beziehung förderlich waren? Oder hätte sie sich selbst eine Affäre aus Rache zulegen sollen? Frei nach dem Motto "Auge um Auge, Zahn um Zahn". Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass ihr Kopf immer noch dröhnte und hämmerte und sich anfühlte, als wäre er von einem LKW gestreift worden. Die Idee, von New York zumindest eine Zeitlang weg zu gehen, kam ihr Sonntagvormittag. David Park hatte sie angerufen und gefragt, was denn in sie gefahren sei, dass sie Rob einfach so vor die Tür setzte. David und Rob kannten sich von der Uni und waren zwar keine guten Freunde, aber allemal gute Bekannte.
"Mann, Lorelai, er ist das totale Wrack. Hat die letzten drei Tage bei mir auf der Couch gepennt und ist jetzt zu seinen Eltern weitergezogen. Was hast du mit ihm gemacht", fragte David und wirkte verständnislos.
"Ich dachte, ihr wart gemeinsam auf der Uni, Dave", sagte Lorelai mit gelangweiltem Unterton. Sie hatte irgendwie vermutet, dass Rob, um seinen Ruf wenigstens halbwegs zu retten, eine komplett andere Geschichte auftischen würde, als eigentlich passiert war. Zumindest vorübergehend. Er konnte gar nicht so dumm sein und davon ausgehen, dass er mit seinem Lügenmärchen durchkam, wo doch bekannt war, dass er kein Kind von Traurigkeit war. Ihre Stimme war wieder zurückgekehrt und die Grippe hatte sich auch fast zur Gänze verzogen. Wahrscheinlich hatte ihr Körper beschlossen, dass der Herzschmerz schmerzhafter war, als die Grippe, und wollte sich nun auf diesen konzentrieren.
"Wie meinst du das?"
"Hat er dir auch von der kleinen dunkelblonden erzählt, der er unsere Laken gezeigt hat, als ich nach Hause gekommen bin?"
Am anderen Ende der Leitung herrschte betretenes Schweigen.
"Das hätte ich mir denken können. Oh Lorelai, es tut mir so leid!" David wirkte beschämt. "Aber er hat seine Version der Geschichte so so real rübergebracht. Und er hat wirklich am Boden zerstört gewirkt. Ich hab wohl vergessen, dass er immer schon ein großartiger Märchenonkel war, was solche Situationen angeht!"
"Schon gut, du hast ja nichts gemacht!"
"Was hast du jetzt vor, ich meine, privat kannst du ihm aus dem Weg gehen, aber im Büro? Seine Bank ist einer unserer größten Kunden und die Sommerkampagne steht kurz vor Abschluss, da wird es sich nicht vermeiden lassen, mit ihm in Kontakt zu sein."
Daran hatte Lorelai noch gar nicht gedacht. Es würde eine mittlere Sensation im Büro sein, wenn aufkam, dass sie sich von Rob getrennt hatte.
"Ich habe nicht die geringste Idee, David, ich habe nicht den blassesten Schimmer!"
"Du weißt doch, dass du anrufen kannst, wenn du reden willst oder sonst etwas brauchst?"
"Danke, das weiß ich. Bitte Grüße Rachel von mir!"
"Mach ich. Kopf hoch. Und halt die Ohren steif!"
Es war ein typischer Frühlingssonntagnachmittag in New York. Um zwanzig Minuten nach zwei fiel Lorelais Blick auf die Digitaluhranzeige ihres DVD-Players und ihr fiel ein, dass sie, wäre dies ein gewöhnlicher Sonntag-Nachmittag gewesen, wohl gerade mit Rob irgendetwas unternehmen würde. An einem normalen Frühlingssonntag wären sie gegen acht aufgestanden, dann eine Runde im Central Park gelaufen und gegen elf zum Brunch bei Tristans, zwei Blocks weiter, gegangen. Sie hätten auf der Terrasse gesessen, gegessen, wahrscheinlich wie so oft ber die Hochzeit gesprochen und ber so manche Leute gelästert. Später wären sie nach Long Island zu seinen Eltern gefahren oder rüber nach Coney Island. Am Abend hätten sie sich Pizza bestellt und das Wochenende bei einem guten Film ausklingen lassen. Stattdessen saß sie verheult auf der Couch und fühlte sich so verloren wie noch nie.
Ihr Kopf war schwer und schmerzte von all den Tränen, die sie an den vergangenen Tagen vergossen hatte. Irgendwann war doch alles über sie hereingebrochen, obwohl der erste Abend ohne Rob erstaunlich ruhig und emotionslos verlaufen war. Das Aufwachen am Freitag war - jetzt im Nachhinein betrachtet - das Schlimmste gewesen. Irgendwann gegen drei Uhr früh war sie, halb auf der Couch hängend, in einen unruhigen Schlaf gefallen und um kurz vor sechs wieder aufgewacht, als die Sonne aufging, die ersten paar Autos das allmorgendliche Hupkonzert starteten und hin und wieder ein Vogel zwitscherte. Als sie die Augen an diesem Freitagmorgen öffnete und in den ersten Sekunden gar nicht wusste, warum sie auf der Couch lag und nicht neben Rob im Bett, waren das die angenehmsten Augenblicke des Tages. Erst nach und nach erinnerte sie sich wieder an die Ereignisse des vergangenen Abends. Dies war auch der Augenblick, als die ersten Tränen ihre Wangen hinunterliefen und für einige Tage gar nicht mehr aufhören wollten. Warme, helle Sonnenstrahlen schienen jetzt, am Sonntagnachmittag durch das große Panoramafenster zu ihrer linken auf die Couch und wärmten sie. Wie ein Geistesblitz schoss ihr plötzlich ein, dass sie morgen im Büro wahrscheinlich allen Rede und Antwort zu stehen hatte. David Park war ein netter Kerl, aber Lorelai kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er auch jemand war, der Neuigkeiten und gerade solche Neuigkeiten schnell unters Volk bringen würde. Und selbst, wenn David es nicht tat, würden die anderen über kurz oder lang mitbekommen, dass es zwischen Lorelai und Rob vorbei war. Sie sah all die Gesichter vor sich, die so taten, als seien sie mitf hlend und bezweifelte nicht einmal, dass einige von ihnen es wirklich waren. Viele andere würden hinter ihrer mitfühlenden Fassade aber mit Sicherheit auch Schadenfreude verbergen. Es war ein offenes Geheimnis, dass einige ihrer Kolleginnen ihr die Beziehung zu Rob nicht g önnten. Ihnen allen würde sie in weniger als vierundzwanzig Stunden wieder und wieder die Geschichte erzählen müssen, warum sie und Rob Walters sich am Wochenende getrennt hatten. Immer und immer wieder würde sie diese furchtbaren Augenblicke in Gedanken erleben müssen, wie sie den Rock im Wohnzimmer gefunden hatte. Die Tür zum Schlafzimmer öffnete und wie Rob und die Dunkelblonde zu Salzsäulen erstarrten. Sie war sich sicher, für die nächsten Tage Gesprächsthema Nummer eins zu sein. Sie würden beim Mittagessen über sie reden, beim Kaffeeklatsch, oder wenn man sich zufällig am Kopierer traf. Sie würden still werden, wenn Lorelai an ihnen vorbei ging oder den Raum betrat. Einige würden sagen, dass sie schon immer gewusst hatten, dass Rob keiner war, der für immer bei einer Frau blieb. Andere würden sagen, dass sie selber schuld war, sich überhaupt auf ihn eingelassen zu haben.
Mit ein, zwei Tagen weiterem Kranksein würde diese Sache auch nicht abgewendet werden. Ganz im Gegenteil, sie würde sich verschlimmern, indem ihr dann auch noch nachgesagt werden würde, dass sie wahrscheinlich einen Zusammenbruch hatte. Das arme Mädchen, das dachte, diesen großartigen Typen gezähmt zu haben, dem jetzt die Rechnung präsentiert wurde - in all ihrer Härte. Sie sog Luft durch den Mund ein und bemerkte, dass ihre Nase immer noch verstopft war. Dann fiel ihr Blick auf den Kamin, wo ein Foto aus ihrer Kindheit in einem goldenen Rahmen stand. Das Bild - es war 1988 aufgenommen worden - als Lorelai gerade acht Jahre alt gewesen war zeigte sie auf ihrem Pony "Stardust" gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrem Großvater, die neben dem Pony standen. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem es aufgenommen worden war. Ein warmer Augustabend in den Sommerferien, als sie gerade von einem kleinen Ausritt zurückgekommen. Ihre Mutter hatte ihr verboten, alleine mit dem Pony auszureiten, doch ihr Großvater hatte für sie ausgehandelt, dass sie sich zumindest innerhalb der Grundgrenzen, die zu der Farm gehörten, alleine mit dem Pferd bewegen durfte.
Lorelai hielt inne. Als Kind hatte sie die Farm geliebt. Die Pferde waren ihr ein und alles gewesen und als kleines Mädchen konnte sie sich nicht vorstellen, ihre geliebte Farm, ihr Zuhause, jemals zu verlassen. An den meisten Tagen war sie bereits bei Sonnenaufgang in den Stall gelaufen, hatte geholfen, die Pferde zu füttern und war dann neben Stardust in dessen Box gestanden und hatte ihn angehimmelt. Sie hatte Reitstunden genommen und auf der Farm mitgeholfen, wie es für ein kleines, achtjähriges Mädchen eben möglich war. Ihr Großvater, Henry Cartwright war 1999 gestorben und seit diesem Zeitpunkt war die Pferdezucht auf der Farm kontinuierlich eingeschränkt worden, da weder ihre Mutter noch ihre Großmutter recht viel Ahnung davon hatten. Lorelai hatte kurz einmal überlegt, den Zuchtbetrieb weiterzuführen, doch irgendwann war ihr dann klar geworden, dass sie hinaus in die Welt wollte, anstatt in Red Oak zu bleiben. Zwar wäre es ein großer Wunsch von ihr gewesen, wenn die Farm den Zuchtbetrieb hätte weiterführen können, doch irgendwann war sie sich darüber klar geworden, dass es noch etwas anderes gab, was in ihr brodelte und drängte. Und das fand sie bestimmt nicht in Red Oak. Sie wollte Karriere machen und über die Grenzen der Kleinstadt hinauskommen. Lange Zeit war sie in der Luft gehangen, was ihre Zukunft betraf. Sollte sie in Texas bleiben und ihrer Großmutter und ihrer Mutter den Herzenswunsch, die Farm weiter zu führen, erfüllen oder sollte sie auf ihr eigenes Herz hören und in die große weite Welt hinaus? Als sie ihre Bewerbung im Jahr 2001 an Big Apple Publicity in New York gemailt hatte, hatte sich noch nicht einmal damit gerechnet, überhaupt eine Antwort zu erhalten. Umso überraschter war sie dann gewesen, als keine zwei Stunden später ein Anruf kam, und ihr eine Sekretärin in überschwänglichem, beinahe zu freundlichem Ton erklärte, dass der Personalchef am Donnerstag in Dallas sein würde und sie gerne kennenlernen möchte.
Einen Monat später bezog sie ihr kleines drei ig Quadratmeter großes Appartement in Queens und konnte immer noch nicht fassen, dass sie den Job wirklich bekommen hatte.
Sie war seither, seit mehr als acht Jahren, nicht mehr in Red Oak gewesen. Zwar gab es hin und wieder Besprechungen in Austin und Dallas, doch selbst dann hatte sie es nicht geschafft, ihrer Vergangenheit ins Auge zu blicken. Nicht einmal Rob hatte sie ihrer Familie vorgestellt. Er hatte zwar gar nicht so selten mit seiner Schwiegermutter in Spe und seiner Schwiegergroßmutter in Spe telefoniert, doch persönlich kennen gelernt hatte er sie nie. Nicht, dass sie es sich nicht hatte vorgenommen, es hatte eben einfach nie wirklich gepasst. Lorelai lachte sarkastisch bei dem Gedanken, es habe nie gepasst , sodass der Mann, der im Flugzeug neben ihr sß sie kurz fragend anblickte. Acht Jahre lang hatte es nicht gepasst, sich kurz Zeit für seine Familie zu nehmen. Sie waren in Europa gewesen, aber für diese eine Stunde im Flugzeug nach Dallas hatten sie keine Zeit gehabt. Wenn sie ehrlich war, hätte sie mehr als nur einmal die Möglichkeit gehabt, der Farm einen Besuch abzustatten, doch irgendetwas in ihr hatte sich ständig geweigert. Irgendetwas in ihr wollte nicht mit der Vergangenheit konfrontiert werden. Vielleicht wollte sie auch nicht, dass all ihre Freunde von früher sahen, wie sehr sie sich verändert hatte. Das quirlige Mädchen, das in Jeans, Shirts und Hemden herumgelaufen war, war verschwunden und einer jungen Frau gewichen, deren Kleiderschrank nur Designerkleider enthielt und die sich nicht für viel Geld in Jeans und ein ausgeleiertes Hemd stecken lassen würde.
Sie erinnerte sich daran, dass ihre Großmutter genauso wie ihre Mutter wahnsinnig enttäuscht gewesen war, als Lorelai ihnen eröffnet hatte, dass sie die Farm verlassen würde. Beide hatten insgeheim gehofft, dass sie die Farm, und somit das Vermächtnis ihres Großvaters weiterführen würde, und beide waren durch ihren Weggang wie vor den Kopf gestoßen. Zwar war Lorelai der Aufbruch nach New York niemals zur Last gelegt worden, aber seither gab es einen störenden Punkt, einen Knacks zwischen ihr und ihrer Familie. Wahrscheinlich war dies mit ein Grund, warum sie in den vergangenen Jahren nicht nach Red Oak zurückgekehrt war.
Dann dachte sie an die schönen Dinge, die der Westen ihr die ersten einundzwanzig Jahre Ihres Lebens geboten hatte. Sie dachte an die Ausritte in der Abenddämmerung, die Abende auf der Veranda hinter dem Haus bis es dunkel war, die gemeinsamen Essen zu Mittag in der großem, gemütlichen Küche, Ihre Familie, die Grillfeiern, die fast jeden Sonntag mit so vielen Freunden und Bekannten auf der großen Wiese hinter dem Farmhaus stattgefunden hatten, ihre Freunde und an die hübsche kleine Stadt Red Oak selbst, in der man ab und zu das Gefühl hatte, die Zeit wäre vor einhundertundfünfzig Jahren stehen geblieben und der Wilde Westen würde noch in der Blüte seiner Zeit stehen. Dort war sie glücklich gewesen. Und mit einem Mal war ihr klar geworden, dass sie zurück nach Hause musste. Zurück nach Red Oak.
Die Maschine war planmäßig gelandet und gemeinsam mit den anderen Passagieren drängte Lorelai sich durch die schmale, mit rotem, nicht mehr ganz so sauberen Teppich ausgelegte Gangway zum Gepäckförderband. Sie war etwas aufgeregt, was ihre Mutter und ihre Großmutter wohl sagen würden, wenn sie auftauchte. Sie hatte sich nicht angekündigt. Am Abend zuvor hatte sie einfach ein paar Sachen zusammengepackt und den erstbesten Flug gebucht, den sie auf der Homepage von American Airlines gefunden hatte. Sie hatte nur einen Samsonite mit ihren Habseligkeiten aus New York mitgebracht. Die Klamotten, die man in der Stadt trug, würden hier am Land nur für Gerede sorgen, und auf der Farm ihrer Großeltern würden Labels wie Louis Vuitton, Calvin Klein, DKNY, Paco Rabanne und Hugo Boss nicht wirklich die passendste Garderobe sein. Außerdem wollte sie so schnell wie möglich raus aus New York, jede Sekunde, die sie mit packen verbracht hätte, wäre eine überflüssige Sekunde gewesen.
Etwa eine halbe Stunde später saß sie hinter dem Steuer eines schwarzen Audi TT (als sie beim Avis-Stand gewesen war, hatte sie kurz überlegt, ob sie den TT mieten sollte. Red Oak war ein kleines, verschlafenes Nest, in dem jeder jeden kannte und in dem die üblichen Gefährte Pick Ups waren, die entweder von Ford oder Chevrolet vor einer Million Jahren gebaut worden waren. Würde sie mit einem Sportwagen dort ankommen, würde das Gerede höchstwahrscheinlich als imaginäre Kühlerfigur mitfahren, doch Avis hatte neben dem TT an diesem Nachmittag nur noch einen Ford E-Series und einen Transit Connect, sodass sie sich doch für den TT entschied. Egal, was die anderen davon halten mochten) und fuhr die Interstate Richtung Red Oak entlang.
Im Radio lief KFWR, ein Sender, den Lorelai seit ihrem Weggang nicht mehr gehört hatte. Johnny Cash schmetterte sein "Walk the Line". Sie fühlte sich in der Zeit zurückversetzt, und wenn ihr jemand gesagt hätte, es wäre neunzehnhundertsiebenundachtzig statt zweitausendneun, so hätte sie das sofort geglaubt.
Diese Straße war sie bestimmt schon eine Million Mal langgefahren. Links und rechts neben der Fahrbahn gab es Wiesen und Felder, soweit das Auge reichte. Allein die kurze Strecke vom Flughafen bis zur Interstate säumten wohl mehr Grünflächen, als sie in ihren acht Jahren in New York gesehen hatte.
Dallas war die nächst größere Stadt im Umkreis von Red Oak, das neben einem Tante-Emma-Laden, einem alten Autokino und einem Community-Center, in welchem die Polizei, die Post, ein Arzt und das Gemeindeamt vereint waren, nicht sehr viel mehr zu bieten hatte. Sie erinnerte sich daran, dass sie, als sie ein kleines Mädchen gewesen war, jeden Samstag Vormittag mit ihren Großeltern und ihrer Mutter in die Grapevine Mills Mall gefahren war, wo die Familie einen großen Wocheneinkauf tätigte und Lorelai ab und zu (nein, eigentlich fast immer) ein Spielzeug bekam. Bei dem Gedanken an diese Erinnerung schmunzelte sie.
Bei der Ausfahrt 410 fuhr sie ab und bog dann auf den Industrial Boulevard. Je näher sie Red Oak kam, umso weiter fühlte sie sich in der Zeit zurückversetzt. Kaum etwas hatte sich hier verändert, mal abgesehen davon, dass einige 2007-er Pick ups links überholten, die es vor zwanzig Jahren bestimmt noch nicht gegeben hatte.
Hier war ihr Zuhause, hier konnte sie zu sich selbst finden und einen Neuanfang beginnen. Die Straßen, die Häuser und die Baumgruppen neben den Straßen sahen noch genauso aus, wie sie es in den Achtziger Jahren getan hatten, als Lorelai stolz auf dem Beifahrersitz des Ford ihres Großvaters gesessen und ihn bei diversen Besorgungen begleitet hatte. Als sie Jeans, ein rosarotes T-Shirt mit einem Pferdekopf darauf getragen hatte und ihre Haare zu zwei Z pfen zusammengebunden waren und von Pferdehaarspangen gehalten wurden. Die Trucks rauschen immer noch genauso an einem vorbei, wie sie es neunzehnhundertsiebenundachtzig getan hatten.
Die Farm lag außerhalb von Red Oak etwa zehn Autominuten vom Stadtzentrum entfernt. Zu dem Land, das Lorelais Ururgroßvater vor gut einhundertundzwanzig Jahren gekauft hatte, gehörten fünfzehn Hektar Wald und ein kleiner Flussarm, der in Form eines Baches hinter dem Gästehaus verlief und von dem ein Ableger in einem kleinen See mündete, der beinahe in der Mitte des Waldes lag. Es war ein wundersch nes Stück Land und jetzt, und wo Lorelai auf dem Weg dorthin war, konnte sie sich kein schöneres Fleckchen Erde vorstellen.
Das Zentrum des Grundstücks war das große Farmhaus mit der einladenden Veranda und den sauberen Holzstufen die hinauf zur Eingangstür führte. Links und rechts vor dem Haus gab es zwei großzügige Koppeln die wie aus einem Bilderbuch mit immer weißen Latten eingezäunt waren. Zwischen den beiden Koppeln verlief ein breiter, von Buchen gesäumter Schotterweg, der direkt zum Haupthaus, wo er in einem kleinen Vorplatz endete, oder aber daran vorbei und rechts zu dem großen Stallgebäude führte. Hinter dem Stallgebäude erstreckten sich noch einmal sieben große Koppeln, die sich nordwärts bis zu dem Flussarm säumten, der ebenfalls zu dem Land von Lorelais Großeltern gehörte. Etwa fünfzig Meter neben dem Stallgebäude stand das Gästehaus, das Henry Cartwright Anfang der Achtziger Jahre gebaut hatte. Damals hatten die Cartwrights oftmals Besuch von Verwandten gehabt, die dann in dem Haus, in dem es zwei Zimmer, eine Küche und ein Bad gab, wohnten, da es zu dem Zeitpunkt nur ein Hotel in der Stadt gab und es noch nicht üblich war, seine Verwandtschaft ins Hotel abzuschieben. Es war ein hübsches kleines Haus, von dessen hinterer Veranda aus man direkt auf den Fluss sah und von wo aus man wunderschöne Sonnenuntergänge betrachten konnte. Hinter dem Gästehaus führte ein Trampelpfad, der von mannshohem Gras gesäumt war, hinein in den Wald um eine Biegung und zu dem See.
Lorelai bog auf den Schotterweg, ein der zur Farm führte. Der Sand knirschte unter den breiten Reifen des TT und wirbelte kleine Staubwölkchen auf. Einige Pferde grasten auf den Koppeln, hoben neugierig den Kopf, als der Wagen auf das Haus zu fuhr und widmeten sich dann wieder Wei klee und Honiggras.
Lorelai überlegte. Zu ihrer linken und ihrer rechten weideten insgesamt etwa zehn Pferde. Soweit sie sich erinnern konnte, hatten ihre Großmutter und ihre Mutter damals alle Pferde bis auf vier verkauft. Auf der Koppel zu ihrer linken sah sie außerdem zwei Fohlen, ein Fuchsfarbenes mit Blesse und weißen Beinen und ein schwarzes mit einem Stern, die neben ihren Müttern standen und die ersten Grashalme ihres Lebens kosteten.
Vielleicht hatten Ellen und Marge die Pferdeboxen vermietet. Lorelai konnte sich jedoch nicht daran erinnern, dass ihre Großmutter oder ihre Mutter jemals bei einem Telefonat erwähnt hatten, dass sie wieder mit der Pferdehaltung angefangen hatte. Oder vielleicht doch? Lorelai war vieles entgangen, seit sie in New York lebte. Oftmals hatte sie die Freisprechfunktion ihres Handys angemacht, während sie mit ihrer Mutter oder ihrer Großmutter telefonierte, das Handy weggelegt und alle paar Sekunden ein "Mhm in den Raum geworfen, während am anderen Ende der Strippe die letzten Neuigkeiten des Westens übermittelt wurden. Sie hatte tatsächlich gedacht, Red Oak wäre Vergangenheit und würde sie nicht mehr interessieren. Ein Kleiner Stich durchfuhr ihr Herz. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie die Pferde und die Farm wirklich vermisst hatte. Sie hatte Pferde schon geliebt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und fragte sich jetzt, wie sie die Farm jemals hatte verlassen können. Sie war zu Hause.
Lorelai stellte den Motor des TT vor dem Haupthaus ab, atmete einmal tief durch, öffnete die Wagentür und stieg aus. Die Farm wirkte ungewohnt ruhig und verlassen. Irgendwo in der N ähe zwitscherten Vögel. Warme Sonnenstrahlen streichelten ihre von der Klimaanlage des Wagens gekühlte Haut. Sie atmete die klare, frische Luft ein und lauschte der Stille hier draußen. Es war ungewohnt für sie, nichts außer dem Zwitschern der Vögel zu hören. Die vergangenen acht Jahre waren Straßenlärm, egal ob von Autos, Bussen, Alarmanlagen, Sirenen oder aufgebrachten Menschen, ihr ständiger Begleiter gewesen. Irgendwann hatte sie sich an die störenden Nebengeräusche eines Lebens in New York gewohnt, so wie Menschen, die neben Bahngleisen wohnen, sich an die Zuggeräusche gewöhnen, sodass die Umstellung auf hier enorm war. Sie ging einige Schritte auf die Koppel, die sich direkt vor dem Haupthaus befand, zu und erinnerte sich zurück, als sie ein junges Mädchen gewesen war. Es war kaum ein Tag vergangen, an dem es hier nicht hoch her ging. Da waren Pferdebesitzer und Trainer, Geschäftspartner ihres Großvaters, Reitschüler, Verwandte, Bekannte und Freunde, die dem Anwesen Leben einhauchten und genau das war mit ein Grund, warum sie die Farm so sehr liebte. Weil sie Leben bedeutete. Jetzt lag das komplette Anwesen ruhig da und wirkte verlassen, so als wären die Pferde die einzigen, stillen Bewohner.
Das Haupthaus wirkte überhaupt nicht wie das Haus, in dem Lorelai so lange gelebt hatte. Ihr fiel als erstes auf, dass die Eingangstür geschlossen war. Seit sie sich zurückerinnern konnte, war die Eingangst r des Haupthauses immer offen gewesen, sofern es draußen nicht so kalt war, dass man sich "den Arsch abfriert", wie ihr Großvater immer gesagt, und daraufhin jedes Mal eine Rüge von ihrer Großmutter erhalten hatte. Ihr Großvater sagte, Freunde waren hier immer willkommen und sollten nicht durch geschlossene Türen aufgehalten werden.
Lorelai ging auf die Koppel, die rechts direkt vor dem Haupthaus lag zu, und versuchte, die Pferde anzulocken, indem sie leicht auf den Zaun klopfte, ein paar Grashalme abrupfte und die Hand hinein streckte. Es dauerte nicht lang, bis ein großer, brauner Wallach interessiert aufsah und sich dem Zaun näherte. Es war ein schönes Tier. Bestimmt zwanzig Zentimeter gr er als die brigen. Sein braunes Fell glänzte in der Sonne, als wäre es mit goldenen Fäden versponnen. Die großen, schwarzen Pferdeaugen blickten Lorelai neugierig an. Seinen hübschen Hechtkopf zierte ein Stern und eine kaum erkennbare Schnippe.
"Du kommst also aus Europa", sagte sie, als sie das Brandzeichen für Holsteiner Pferde, eine Sportpferderasse, die in Norddeutschland gezüchtet wurde, auf seinem rechten hinteren Schenkel sah. Das geschwungene "H" in einem Wappen. Darunter eine Zahl. Das Brandzeichen war nur ganz schwer auszumachen, aber den Brand erkannte sie dennoch sofort.
"Da hast du aber einen verdammt weiten Weg hinter dir!"
Der Braune stand etwa einen Meter vom Zaun - und von Lorelais Hand - weg. Den Kopf streckte er so weit wie möglich nach vorne, um an ihre Hand zu kommen, dennoch bewegte er sich keinen Millimeter nach vorne. Er wollte sich die Möglichkeit, zu fliehen, offen lassen.
Lorelai kletterte auf die unterste Sprosse des weißen Lattenzaunes, dann auf die zweite und schwang den Fuß schließlich gekonnt, und genauso, wie sie es früher an die millionenmal getan hatte, über die dritte, sodass sie auf dem Zaun sitzen konnte. Die Stöckelschuhe, die sie trug, waren dabei absolut kein Hindernis.
Die weichen Nüstern des Pferdes fühlten sich warm an. Sanft streichelte Lorelai darüber und jetzt schien auch der Braune seine Skepsis etwas verringert zu haben. Zaghaft machte er erst einen und dann noch einen Schritt auf sie zu, bis er schließlich vor ihr stand.
"Du bist aber ein ganz hübscher", sagte sie, während sie seinen feinen Kopf streichelte und das Pferd ihre Jeanstaschen nach Leckereien absuchte. Es musste einen hohen Teil Vollblut in sich vereinigen, dachte Lorelai bei sich, während sie es betrachtete. Der Kopf war etwas hechtförmig, wie es sonst nur bei englischen und arabischen Vollblütern vorkam. Sie erinnerte sich, gelesen zu haben, dass in der Holsteiner Zucht seinerzeit jede Menge Vollblüter eingesetzt worden waren, um das schwere Arbeitspferd etwas zu veredeln.
"Miss, kann ich Ihnen helfen? Schon mal was von Landfriedensbruch gehört" eine herrische Männerstimme lies sich hochschrecken. Sie drehte auf dem Zaun, schwang die Beine herum und kletterte davon herunter. Als sie wieder auf der Erde stand, wischte sie sich die Handflächen an ihren Gesäßtaschen ab. Der braune Wallach machte ebenfalls kehrt und trabte ein paar Schritte vom Zaun weg, ehe er stehen blieb, sich erst neugierig umsah und sich dann wieder dem Gras widmete. Das Lächeln, das Lorelai eben noch auf den Lippen gehabt hatte, erstarb. Vor ihr stand ein großer Mann mit schwarzen, kurzen Haaren und auffallend grünen Augen. Er trug dunkelblaue Jeans, Cowboystiefel und ein kariertes Hemd und wirkte auf den ersten Blick - und für Lorelais Augen, die ein typisches Red-Oak-Farmeroutfit nicht mehr gewohnt war - wie eine Parodie auf Lucky Luke. Zweifellos aber ein beraus attraktiver Mann. Diese Art Attraktivität, die nicht so aalglatt und geschniegelt war, wie die Typen aus der Großstadt oder aus Hochglanzmagazinen, viel mehr eine Art Attraktivität, die auf Raubeinigkeit des guten alten wilden Westens schließen ließ - der Lonesome Rider, der Mann mit Ecken und Kanten, der aber noch viel Reizvoller war, als Calvin Kleins aktuelles Männermodel.
"Landfriedensbruch", wiederholte sie und überlegte insgeheim, ob sie mittlerweile so verrückt war, irgendwo falsch abgebogen zu sein und auf einer falschen Farm gelandet zu sein.
"Ja, Landfriedensbruch. So nennt man es, wenn man ungebeten herumlungert!"
"Wer zum Teufel sind sie", fragte Lorelai langsam, inzwischen sicher, dass dies die Farm ihrer Großeltern war und hegte immer mehr Abneigung gegen den Cowboy.
"Der Besitzer dieser Farm. Und jetzt bitte ich sie, zu gehen oder ich rufe den Sheriff!"
Lorelai konnte sich ein sarkastisches Lachen nicht verkneifen.
"Also zum einen sind sie mit Sicherheit nicht der Besitzer dieser Farm. Das sind meine Großmutter, Ellen Cartwright und meine Mutter, Marge Cartwright. Und zweitens - sie sind mindestens einen Meter Fünfundachtzig groß und wiegen mit Sicherheit mindestens hundertachtzig Pfund. Brauchen sie tatsächlich die Hilfe des Sheriffs, um mich hier wegbringen zu lassen? Kommen sie sich bei so einer Aussage nicht unsagbar blöd vor?"
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2011
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