Otto Friedrich Bachmann von Trubschachen i/E Schweiz
Bauernsohn
Josef Maletzki von Graudenz Polen
Deserteur
Agrafena Leontiew von St. Petersburg Russland
russische Adelige
Atemberaubende Weite, klirrende Kälte und Schönheit unvorstellbarer Reichtum das ist Russland, eine Region wie ein eigener Kontinent. Die Natur ist erbarmungslos, das Leben hier steckt voller Gefahren. Und doch zieht Russland die Menschen seit Jahrhunderten in seinen Bann. In der russischen Weite machen sie sich auf die Suche nach Glück - und nach Wissen Es waren Deutsche, die sich im 18. Jahrhundert als erste Siedler in die unwirtlichen Gebiete vorwagten.
Russland umfasst ein riesiges Gebiet zwischen dem Ural und dem Pazifik gegen Osten, sowie die Ostsee im Westen. Gigantische unberührte Natur und uralte Kulturen locken auch heute noch Glücksjäger und Wissenschaftler in den Osten und Westen Russlands. Doch der Reichtum ist Segen und Fluch zugleich, denn der Abbau von Öl, Gas und Nickel in der Schatzkammer Russlands zerstört ganze Landstriche.
Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so viel unberührte Natur wie in Russland. Unzählige Braunbären, Wölfe und Leoparden sind hier heimisch. Im Baikalsee lebt die einzige Süsswasser-Robbe der Welt. Und im fernen Osten leben die letzten Exemplare des legendären sibirischen Tigers.
Temperaturen zwischen minus 40 Grad und plus 35 Grad sind in Russland möglich.
Zu dieser Zeit wollten auch wir unser Glück in Russland versuchen. Auch wir wurden zu Glücksjäger. Doch hatte Russland das Glück nicht für uns bereit, das wir suchten.
Irgendwann vernahmen wir, dass in Russland im Wolgagebiet Männer gesucht wurden, um eine Siedlung aufzubauen. Sie sollten das Land zu bewirtschaften sowie Vieh und Ackerbau betreiben.
Wir, das waren Josef Maletzki ein Kraft strotzender Mann. Die Sonne und der Wind hatten seine Haare flachsblond gefärbt. Sein Antlitz war kantig man konnte aber auch, Herzlichkeit sowie aber auch Härte erkennen. Die beiden grünen Augen welche unter den buschigen Augenbrauen fast klein wirkten sahen was auch immer, ja man wäre geneigt zu sagen, dass er einen Adlerblick hatte. Das ins Auge stechende an ihm war die Nase. Sie hatte die Form der Nase von Cyrano de Bergerac. Unter seinem Oberhemd steckte ein muskulöser Oberkörper. In der Regel trug er Manchester-Hosen und ein farbiges Baumwollhemd.
Ich Friedrich Bachmann war einen halben Kopf kleiner als er. Meine Haare waren dunkelbraun und meine blauen Augen konnten blitzen, wenn ich einen Schabernack machte. Auch ich war kräftig, aber wenn wir freundschaftlich unsere Kräfte massen ging ich immer als Loser vom Platz. Mein ovales Konterfei war von langen Berg-Wanderungen in der Schweiz und in Deutschland sonnengebräunt. Meine Arme und mein Oberkörper waren von schwerer Beschäftigungen gestählt.
Mit einem mageren Wissen, sowie einem Dekret der Zarin wollten wir dieses Unterfangen in Angriff nehmen. Mehr wussten wir nicht. Für den Fall, dass wir also gehen würden, gingen wir in das Nichts. Was würde uns erwarten? Wie war es mit der Sprache? Es waren viele Fragen welche uns in Anspruch nahmen und immer wieder verwarfen wir den Plan. Oft sprachen wir darüber, aber jedes Mal wenn wir die Komplexität sahen verliess uns der Mut. Eines Abends kam Meissner der Gutsherr und zugleich auch unser Meister in die Wohnstube. Er hatte fast schon ergraute Haare und Ratsherrenecken. Sein Angesicht war durch die viele Feldarbeit braun gebrannt. Die Augen hatten nichtsdestotrotz einen gütigen Blick. Er war zu jedem Menschen gut bemerkte er aber, dass irgendeiner seine Güte ausnutzte war es schnell mit der Gemütlichkeit dahin.
Er hob ein Manifest (siehe Anhang) der Russischen Zarin in die Höhe und erläuterte: »Wenn jemand sich bereit erklärt, im Wolgagebiet eine neue Siedlung aufzubauen, so bekommt er den Boden geschenkt. Ich habe hier ein Dekret in dem dies versprochen wird. Geht doch, dass ihr das schafft traue ich euch zu. Ihr wart ja auch bei mir erfolgreich.
«Nur ahnte er nicht im Entferntesten, was sich zurzeit in Russland abspielte. Leider zu unserem Unglück!
Da Maletzki und ich immer noch Heisssporne waren, beschlossen wir an diesem Abend das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Wir beabsichtigten unser Glück in den Wolga-ebenen zu versuchen. War doch ich und Maletzki unabhängig voneinander vor dem ersten Weltkrieg jeder an seinem Ort erfolgreich. Wir hatten an vielen anderen Stellen unseren Mann gestanden, also konnten wir mit Zuversicht dies auch im Wolgagebiet tun.
Wir sollten einem Trugschluss unterliegen. Noch wussten wir nicht, was alles auf uns zukommen sollte. Hätten wir es gewusst, wir hätten nicht einen Fuss nach Russland gesetzt.
Wir wussten nicht, dass in Russland ein furchtbarer Bürgerkrieg tobte. Wir wussten auch nicht, dass eine extreme Hungersnot das Land fest m Griff hatte. Und noch weniger wussten wir, dass das Kaiserliche Dekret ausser Kraft gesetzt war und die Zarenfamilie liquidiert wurde.
Maletzki und ich begannen zu planen, was wir alles mitnehmen sollten, um in den Wolga-ebenen zu bestehen. Es verging kein Abend wo wir nicht die Köpfe zusammensteckten. Sehr oft war auch Meissner bei uns welcher uns mit Ratschlägen unterstützte. Wir machten also alles bereit um die Expedition erfolgreich durchzuführen.
In Ermangelung über die Kenntnisse, wie die politische Konstellation war und ohne Vorahnung über das Schreckliche, was uns in den Wolganiederungen erwartete, traten wir unsere Expedition an.
1917 hiess Petersburg noch Petrograd und war die Hauptstadt Russlands. Die gefürchteten Kosaken, die dem Zaren Nikolaus II. gehorsam ergeben waren, bewachten die bedeutsamsten Gebäude der Stadt. Im März 1917, Angesichts der Tatsache, als es bekannt wurde, dass es kein Brot mehr gab und der Hunger immer grössere Ausmasse annahm, gingen die Frauen von Petrograd auf die Strasse. Ihnen schlossen sich alsbald auch Männer an. Es sollte im eigentlichen Sinne nur eine Demonstration sein, die mehr Nahrungsmittel forderte. Diese wurde aber durch Heckenschützen, die beliebig von den Dächern in die wehrlose Menschenmenge schossen, blutig niedergeschlagen. Die erste Russische Revolution vom März 1917 war beendet, bevor sie begonnen hatte.
Die erste Russische Revolution vom März 1917 war beendet, bevor sie begonnen hatte.
Der im schweizerischen Exil lebende Lenin, Wladimir Iljitsch sah seine Gunst der Stunde gekommen. Er wollte die Macht im Zarenreich übernehmen. In einem verplombten Eisenbahnwagen fuhr er von Zürich nach Petrograd. In diesem Bahnwagen schrieb er die April-Thesen:
»Alle Macht den Räten«
und
»Nieder mit den Imperialisten«.
Von seinem Balkon aus rief er der jubilierenden Menge zu:
»Friede«,
»Land«
und
»Brot«.
Innenpolitisch war Russland erschüttert, Zum Überfluss verlor es eine Schlacht nach der anderen, an der Westfront gegen Deutschland. Das russische Volk war kriegsmüde, sie wollten Frieden, gleichzeitig ihr Land auch nicht den Deutschen kampflos hergeben. Am 4. Juli 1917 folgte die Juli-Revolution. Die Soldaten verweigerten den Befehl, auf die eigenen Landsleute zu schiessen. Der Umsturz der provisorischen Regierung war das Ziel. Die Leute, die sich zusammengefunden hatten, zogen zu Lenins Balkon und wollten ihn hören, doch dieser sagte nur einige nichtssagende Sätze. Enttäuscht zog die Menge weiter und wurde dann unter Feuer genommen. Und auch so endete die Juli-Revolution, bevor sie richtig begann.
Da das Militär immer grössere Verluste an der Westfront gegen Deutschland hinnehmen musste, ernannte Lenin Raskonikov zum Heeresführer. Nun kamen andere Aussagen von Lenin:
»Alle Macht den Räten« und
»Alle Macht den Bolschewiki«.
Lenin wurde von den Räten wieder mit dem Verdacht angezweifelt, dass er nur die Vorteile für sich sah. Die Menschen in Russland wollten eine demokratische konstituierte Versammlung. Sie wollten Wahlen, das Volk sollte entscheiden. Die Wahlen fanden statt, doch erhielten die Bolschewiki nur ein Viertel aller Stimmen, also nur ein Viertel der Macht. Lenin musste zu anderen Mitteln greifen. Während der verfassunggebenden Versammlung machten die Bolschewiki einen solchen Tumult, dass es nicht möglich war, etwas zu entscheiden. Lenin hatte somit die Versammlung zu seinen Gunsten gesprengt.
Mährend Während der Oktober-Revolution 1917 in Russland sicherten die Bolschewiki ihre Macht unter anderem durch die im Dezember 1917 gegründete Tscheka ab. Die Tscheka war die gefürchtete Geheimpolizei Russlands Sie konnten verhaften, foltern und töten, vor allem verfolgte sie die obere Klasse. Es war die Geheimpolizei Lenins. Dies alles konnte sie ohne eine Verurteilung vor Gericht tun. Lenin wollte die alleinige Führung. Deshalb war der Geheimdienst überall und allgegenwärtig. Was Lenin am meisten fürchtete, war eine Gegenoffensive im eigenen Land, denn ihm drohte eine militärische Niederlage an der Westfront gegen das Deutsche Reich. Das bolschewistische Russland stellte eine schlagkräftige Armee auf. Leonid Trotzki wurde ihr Armeeführer und sollte diese Armee gegen die Deutschen zum Sieg führen. Doch die hauptsächliche Gefahr für Lenin drohte nicht von Deutschland, sondern aus dem Osten.
In den Monaten Mai, Juni und Juli 1918 marschierten von Sibirien her tschechische Legionen, die dort interniert waren. Die Kampfstärke betrug etwa 40 000 Mann. Schon bald sollten diese die Transsibirische Eisenbahn unter ihre Kontrolle bringen. Immer mehr Russen schlossen sich diesen Aufrührerischen an. Für die Bolschewiken eskalierte die Situation. Entlang der Bahnstrecke kollaborierten die Bolschewiken. Die Aufständischen, mittlerweile bereits etwa 200 000 Mann stark, näherten sich langsam der Jekaterinburg, in der sich seit Frühjahr 1918 die Zarenfamilie aufhielt. Lenin liess die Zarenfamilie dorthin deportieren. Er hatte Angst, dass die Zarenfamilie befreit und als Integrationsfiguren aufgebaut würde.
In der Nacht zum 17. Juli 1918 wird die Familie Romanow geweckt. Es gebe "Unruhen in der Stadt", heisst es. Zar Nikolaus II., seine Gattin Alexandra Fjodorowna, die Töchter Olga (23), Tatjana (21), Maria (19), Anastasia (17) und Thronfolger Alexej (14) werden in den Keller des Ipatjew-Hauses in Jekaterinburg geführt, wo sie seit der kommunistischen Machtergreifung gefangen gehalten werden. Was die Zarenfamilie nicht weiss: Ein Exekutionskommando ist auf dem Weg, um die Familie zu töten. Zwanzig lange Minuten dauert das Blutbad. Die bolschewikischen Todesschützen schiessen auf die Romanows und deren vier Bedienstete. "Direkt ins Herz", so lautet die Anweisung des Befehlshabers des Exekutionskommandos Jakow Jurowski. Doch an den Körpern der Zarentöchter prallen die Kugeln ab. Erst mit Bajonetten schaffen es die Soldaten, auch sie hinzurichten. Was aber hatte die Mädchen scheinbar unverwundbar gemacht? Juwelen, in die Korsagen der Mädchen eingenäht, hatten die Kugeln abgehalten. So wollten die Romanows einen Teil ihres Vermögens ins Exil retten.
Immer mehr Menschen schlossen sich nun den Rebellen an. Sie rückten gegen die Tore von Moskau vor, an der Wolga entlang nach Kazan. Kazan fiel nach kurzem Kampf den Konterrevolutionären in die Hände. Das Regime um Lenin begann zu wanken.
Als letzte Option Lenins wurden wieder die Matrosen von Kronstadt geholt. Zu der damaligen Zeit waren diese die am besten ausgebildeten Soldaten, die Russland hatte. Schon bei der Oktober-Revolution kämpften sie an vorderster Front, nun sollten sie auch hier für Lenin, Kazan zurückerobern. Sie reisten mit der Eisenbahn Richtung Kazan. Die letzten 300 Kilometer legten sie auf Wolga-Schiffen zurück. Auf den Schiffen wurde der zur Befreiung von Kazan führende Einsatz geplant. Es sollte ein Kampf ohne Rücksicht auf Verluste werden. Am Schluss eroberten die Bolschewiki die Stadt zurück.
Die vier Jahre Weltkrieg waren auch für Russland vorbei, aber im Landesinneren tobte noch ein erbitterterer Bürgerkrieg. Dieser sollte mehr Opfer fordern, als der gesamte Weltkrieg Russland gekostet hatte. Es war ein Machtkampf zwischen den Roten und den Weisen Generälen. Der Bürgerkrieg war in Russland durch die weiten Strecken und durch die Eisenbahn mobil. Die Weisen Armeen wurden von den Siegermächten unterstützt. Amerika, England und Frankreich versorgten die Konterrevolutionäre mit Lebensmitteln und Waffen. Nach der Beendigung des Bürgerkrieges fiel die Bilanz ernüchternd aus. 90 Prozent der Toten waren Zivilisten, Millionen starben an Hunger und Epidemien.
Um die Städte zu ernähren, wurden die Bauern gezwungen, die Getreidevorräte zu diktierten Preisen abzugeben. Wer sich weigerte oder Getreide versteckte, wurde auf der Stelle erschossen. Ganze Dörfer gingen in Flammen auf. Auch Saatgetreide, das für das nächste Jahr gedacht war, wurde beschlagnahmt. Russland erlebte eine Hungerkatastrophe, die durch den Krieg und die Dürre verschärft wurde. Trotzki sagte einige Zeit später:
»Wir haben den Bürgerkrieg gewonnen und unser Land verloren. «
Russland stand an einem Abgrund. Der Winter war der schlimmste, es gab nichts zu essen, Fabriken schlossen, Menschen hungerten und starben an den Folgen der Hungersnot. In diese grauenerregende Zeit in Russland fuhren wir nichts ahnend hinein.
Die Reise sollte Maletzki und mich über Graudenz und Olsztyn nach Grodino, einem russischen Garnisonsbahnhof, führen. Von dort via Minsk Richtung Don nach Barizhan, das direkt an der Wolga liegt. Von hier aus würde es in nördlicher Richtung stromaufwärts gehen.
Wir nahmen an, dass wir an keinem Ort auf Widerstand stossen würden, doch wir hatten die Lage in Russland zu diesem Zeitpunkt auf der ganzen Linie falsch eingeschätzt. Mein Freund und ich hatten keine Ahnung von den Gefahren, die auf uns lauerten.
Gross war unser Selbstvertrauen auf der Expedition. Doch bald sollten wir von der grausamen Wirklichkeit eingeholt werden.
In Grodino angekommen, drängten wir uns durch die Menge, um eine Fahrkarte zu bekommen. Das Dach des Bahnhofes ruhte auf Eisenträger. Nur da wo sich die Billettschalter befanden war der Bahnhof vom rauen Wind geschützt. Im Übrigen pfiff all-überall der kalte Wind durch den Bahnhof. Aber selbst die Schalterhalle wenn man hier das Wort Halle benützen darf, war in einem desolaten Zustand. Vier Jahre Krieg wo der Bahnhof eher Verfall sah als Instandsetzungen hinterliessen Spuren. Glasscheiben liessen sich nur noch erahnen. Auch die Farbanstriche hatten sich mehrheitlich verabschiedet. Die Fahrkarten bis zur russischen Grenze mussten wir in Graudenz kaufen. So standen nun Maletzki und ich auf dem Bahnhof von Grodino. Da wollten wir unsere Fahrkarten für die Russischen Staatsbahnen lösen.
Es kam uns vor, als ob sich halb Grodino am Bahnhof eingefunden hätte um Fahrkarten zu kaufen. Wir standen in einer nicht übersehbaren Menschenmenge. Es waren Frauen Kinder Männer und sogar Greise auf dem Perron. Alle waren warm angezogen mit Mützen Schals. Nur die Greise hatten nicht diese Art von Kleidern, sie hatten keine, das heisst kaum warme Kleidung, was uns sehr wunderte. Ich fragte Maletzki ob er wisse warum das so sei, aber er wusste es genauso wenig wie ich.
Wir standen in der Warteschlange vor dem Schalter. Es hatte derer fünf, aber die Beamten der anderen vier schauten nur zu. Also liessen wir uns schieben und schoben auch nach vorne. Jeder von uns hing seinen Gedanken nach. Ich fragte mich schon damals, ob wir doch nicht wieder umkehren sollten. Aber wollte ich eine Memme vor Maletzki sein? Nein. Mit dem Wissen von heute wäre ich sie gerne gewesen.
Die Minuten zerrannen und der Fahrkartenschalter schien immer noch gleich weit weg zu sein. Die Station war überfüllt mit Menschen, die ins Don Gebiet wollten. Wir wussten, dass der Zug nur 15 Waggons hatte und viele Leute womöglich auf diesem Bahnhof bleiben mussten Ich schätzte unsere Chance als relativ gross ein, dass wir nicht mit diesem Zug mitfahren konnten. Hatten wir doch noch nicht-einmal Fahrkarten. Unsere Motivation schlug langsam in Resignation um. Es ging nach dem Motto nur die Ruhe kann es bringen. Ich sagte zu meinem Wandergesellen: »Wenn wir hier mit dem nächsten Zug mitkommen, dann sind wir gut! «
Und weiter standen wir uns die Beine in den Bauch. Wir bewegten uns nach dem Motto: jede Stunde einen Meter. Unsere Unterhaltung war jetzt verstummt. Maletzki und ich waren verwundert, als auf einmal die Bahnpolizei auftauchte, um die Ausweispapiere und Ausweise der Reisenden zu prüfen. Als ich meinen Schweizer Pass vorlegte, wanderte dieser von einem Polizisten zum anderen. Jeder schaute hinein, blätterte, schüttelte den Kopf und gab ihn mir wieder zurück. »Mitschewo«, sagte er. Er konnte nichts machen. Da wusste ich, dass er uns als Ausländer taxierte und nun wollte er dies auch honoriert sehen. Wären wir Kolchosbauern gewesen, hätte er gewusst, dass kein Geld zu holen wäre. Er gab mir den Pass zurück mit einer Bemerkung welche ich nicht verstand. Nachdem ich den Pass wieder in Händen hielt drehte ich mich von ihm ab. Zur gleichen Zeit holte ich meinen braunen Geldbeutel hervor, und öffnete ihn. Ich entnahm ihm zehn Rubel und legte sie in meinen Pass. Dann bemerkte ich zum Bahnpolizisten gewandt: „Haben sie das Visum auf der hintersten Seite gesehen?“
Der Bahnpolizist nahm meinen Pass abermals zur Hand und blätterte darin. Als er die hinterste Seite Aufschlug sah er die Rubel. Zuerst schaute er auf die Rubel dann auf mich dann wieder auf die Rubel. Es schien mir eine Endlose Zeit. War dieser Russe nicht Käuflich? Wenn dem so war sah ich ein grosses Problem auf uns zukommen. Noch einmal blickte er mich an. Danach steckte er die gefundenen Banknoten in seine Tasche, klopfte mir auf die Schulter und sagte:
»Ich wusste nicht, dass ich heute noch einen so guten Bruder treffen würde. Komm mit, mein Bruder, wir müssen darauf trinken. « Ich entgegnete ihm: »Ich habe noch einen anderen Freund Josef dabei! « »Oh, das macht nichts. Je mehr wir sind, desto besser sind der Wodka und der Gesang. Hat er auf der hintersten Seite des Passes auch ein Visum«? „Selbstverständlich, “ entgegnete ich ihm. Ich drehte mich schnell zu Maletzki um und sagte: „Joseph schnell zehn Rubel in die hinterste Seite des Passes.“ Er sah mich verständnislos mit grossen Augen an. Ich bemerkte eindringlich: „Joseph der Polizist ist Korrupt.“ „Ahaa“ und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Auch erinnerte ich den Polizisten daran, dass wir noch keine Fahrkarten hätten.
»Also komm mein Bruder, lass sie uns holen. «
Zehn Rubel hatten gereicht, um die Fahrkarten mühelos zu erhalten. Und ich hatte einen Bahnpolizisten zum Bruder. Bis zum Eintreffen des Zuges sprachen wir dem Wodka zu. Selbstverständlich wurden die Kontrollen auf dem Bahnhof eingestellt. Jeder wollte uns mit Wodka begrüssen. Die Soldaten sangen russische Volkslieder und schmierige Witze machten die Runde. Als der Wodka leer war zeigte mir der Russe die Flasche und bedeutete mir, dass er noch eine möchte. Schnell war ich dabei dem Polizisten die Rubel zu geben, so dass dieser eine neue kaufen konnte.
Als dann der Zug einfuhr drängten sich zig Menschen an die Zug Türen. Jeglicher wollte der erste sein. Mein Freund konnte ihm nicht in fehlerfreiem russisch mitteilen, dass dies unser Zug Richtung Don sei.
„Oh“ meinte er „für meinen Bruder mache ich alles.“ Und so kam es, dass drei Bahnpolizisten uns zum Zug begleiteten und zwei Personen aus dem Zug hinauskomplimentierten. Wobei dies noch sehr höflich und gelinde ausgedrückt ist. Es war ein Mann und eine Frau. Ich vermutete, dass sie den Kleidern nach aus dieser Gegend sein mussten Die Frau hatte ein hageres Gesicht, auch die Augen waren eingefallen. Die Haare waren grau und streng nach hinten gekämmt und die Gesichtsfarbe passte zu dem hageren Gesicht dieser Frau. Es war fahl die gesunde Farbe fehlte total. Der ganze Körper verschwand unter einem weiten Rock. Und man konnte keine Körpermerkmale erkennen. Ihr Mann war schlank, er hatte nur noch schütteres Haar. Sein Gesicht war Kantig. Er hatte ein Baumwollhemd an, das schon lange keine Seife mehr gesehen hatte. Unter den Passagieren, die heute diese Strecke nach Osten benutzten, befand sich auch ein höherer Sowjetbeamter. Von ihm erfuhren wir zum ersten Mal über die entsetzliche Hungersnot, die das Wolgagebiet heimsuchte. Es war ein düsterer Zeitabschnitt für Russland. Auf dem Bahnhof von Grodino, der auch als Nachschublager der Bolschewiken diente, wurden wir ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass die Strecke, die wir mit dem Zug fahren wollten, überaus unsicher sei. Der Hauptmann erklärte uns: „Ich brauche jeden Mann hier in Grodino. Die Vorräte müssen bewacht werden, vor den Darbenden und Plündernden. Zumal Grodino nahe an der Grenze sei. Aber 30 Mann kann ich als Abschreckung und die nötigste Bewachung mitgeben.“ Zum Abschluss bemerkte er dann: »Ich werde von diesen 30 Mann keinen einzigen mehr sehen. Für diese Soldaten ist es ein Himmelfahrtskommando. Ich hoffe, dass jeder von euch das weiss. Zumal herrscht in ganz Russland eine grosse Hungersnot und viele Menschen flüchten Richtung Süden oder gegen den Westen. «
Spätestens jetzt war uns klar, dass wir uns auf etwas vollkommen Gefährliches eingelassen hatten. Maletzki schaute mich an, ich Maletzki und unsere Blicke sprachen Bände. Wir wussten jetzt, wenn wir weitergingen währe der Tod und ein grosses Risiko vorhanden.
Trotzki traf die Vorbereitungen für einen bewaffneten Aufstand gegen die Regierung. Lenin bestimmte den 7. November als Beginn des Aufstands. Die Bolschewiken erliessen am 8. November drei Richtungsweisende Dekrete. Unter anderem das Dekret über die Entschädigungslose Enteignung allen Landbesitzes der in privater Hand war. Zu allem Übel musste die russische Bevölkerung noch den Bürgerkrieg mitmachen.
Die Oktober-Revolution führte zum nochmaligen Bürgerkrieg der »Weissen«, also der Sozialrevolutionären Menschenwiki gegen die »Roten«, die Bolschewiki.
In dieser Zeit der Unruhen fuhren wir nichts ahnend mit dem Nachtzug von Grodino nach Minsk, Bransk und Orel. Noch Stunden mussten wir warten bis der Zug eintraf. Pünktlichkeit war zu jener Zeit in den Wirren des Bürgerkrieges ein Fremdwort.
Endlich traf der Nachtzug nach Minsk, Bransk und Orel ein. Auf dem Bahnhof von Grodino drängten sich der Hauptmann Nikolajew und wir zwei durch die Menschenmasse und erkämpften uns unter Puffen und Stossen ein Eisenbahnabteil. Der Hauptmann sass ganz vorn dicht hinter der Lokomotive, wir ganz hinten, eine weitere Vorsichtsmassnahme des Adjutanten. Auch diese konnte Nikolajew nicht verstehen, nahm seinen Flachmann aus der Innentasche und spülte seinen Ärger über den „dummen Adjutanten“ mit reichlich Wodka hinunter. Ich verstaute mein Reisegepäck in der Ablage über mir. Darauf öffnete ich das Fenster des Wagens und goss mir ebenfalls ein Gläschen Wodka ein. Wir sprachen dem Wodka ausgiebig zu und wie wir die nötige Bettschwere hatten, machten wir es uns auf den Sitzen so bequem wie nur möglich. Bald zeigten der Wodka und das eintönige Stampfen der Räder seine Wirkung.
Die Fahrt verlief ruhig, zu ruhig. So ruhig, dass ich allmählich an den Worten des Hauptmanns zu zweifeln begann. Die Räder rollten im gleichmässigen Takt auf den Schienen Richtung Osten. Mein Freund und ich dösten langsam dahin. Sehr oft fuhren unsere Köpfe hoch, in der Meinung, etwas Verdächtiges gehört zu haben. Aber es war immer Fehlalarm. War unser Nervenkostüm so angespannt? Wir wussten es nicht, waren aber dennoch immer froh, dass es keine aussergewöhnlichen Vorkommnisse gab.
Zu normalen Zeiten wäre dies eine eher eintönige Fahrt von kaum mehr als dreihundert Kilometern. Doch nun rechneten wir mit Überfällen der sogenannten Menschewiki. Sie waren immer mit schwertartigen Haumessern bewaffnet. Nach vorne hatten diese eine Krümmung und sie waren auch breiter. Oft fingen diese Banden Züge ab, raubten die Reisenden aus, um sie danach bestialisch zu ermorden.
Der Adjutant der 30 Männer, die den Zug bewachen sollten, war sichtlich nervös. Er hatte eine Pelzkappe an, mit dem roten Emblem der Bolschewiki. Durch das konnte man die hohe Stirn eher vermuten als sehen. Die Nase war einer Adlernase gleich. Seine Augen waren grün und hatten wohl im Zivilleben einen gütigen Ausdruck. Um seinen Waffenrock trug er einen Gurt mit einer Pistole. Seine Füsse steckten in Warmen Bergschuhen mit Gamaschen.
Der Hauptmann Nikolajew war im zivilen Leben ein Grossgrundbesitzer. Er besass eines der grossen Güter in Weissrussland, die man einem Bauern in dieser Gegend enteignet hatte, ohne ihm etwas zu bezahlen. Und da er der Partei linientreu war, erhielt er das Gut. Er hatte wenig Nachsicht für die Freiheitsbestrebungen, für ihn waren alle radikalen Nationalisten Verräter. Für die übergrosse Vorsicht des Adjutanten hatte er nur Verachtung.
»Möchte den Weissrussen sehen, der mir ans Leder will«, knurrte er. Der Hauptmann hatte eine Schirmmütze mit einem roten Band auf dem Kopf. Als er sie abnahm konnte man sein weissgraues Haar sehen. Die Stirne war mit tiefen Furchen überzogen. Die Augenbrauen waren buschig dadurch konnte man die Augen nicht ganz sehen. Es war deshalb fraglich, ob er mit beiden Augen ein volles Gesichtsfeld hatte. Die Nase war kantig, ein spitzes Kinn rundete das Gesicht des Hauptmanns ab. Sein Oberkörper war kräftig gebaut.
Wovon ich aufwachte, weiss ich nicht. Der Zug stand, mehr noch die Nachtbeleuchtung war erloschen. Auch der Ventilator lief nicht mehr und mein verschwitztes Hemd klebte mir förmlich am Körper. Summte da nicht eine Mücke an meinem Ohr? Die Temperatur im Abteil war jetzt rapide angestiegen. Mit einem Ruck sass ich jetzt aufrecht. Ich war hellwach, der Wodka den ich intus hatte war weg. Mein Magen krampfte sich zusammen. Wir konnten nicht das Mindeste sehen, bloss wahrnehmen und das wo wir hörten verhiess nichts Gutes. Dieses Geräusch hatte ich schon einmal gehört. Es war das Johlen einer Menge, ein unheimliches, verworrenes Tosen wie das Brausen der See, doch mit einem drohenden Unterton von Hass. Wir hielten an einer grösseren Station. Auf dem Bahnsteig drängte sich eine wogende Menschenmasse. Die Fäuste wurden geschwungen und allerhand Bewaffnung konnte ich ausmachen. Da war von der Mistgabel über den Knüppel zum Revolver alles vorhanden. Als ich die Szenerie überblickte kroch langsam die Panik in mir hoch. Ich konnte den Mob nicht überblicken zu-viele waren es. In diesem Moment dachte ich an den Hauptmann in Grodino. Er hatte Recht behalten.
»Freies Russland! Freies Russland!“, johlte der Mob.
Ich schloss das Fenster, das ich zuvor geöffnet hatte und rannte zur Tür auf der anderen Seite. Niemand war draussen zu sehen. Unterhalb des Trasses fiel das Terrain in offenes Gelände ab. Ein Revolverschuss krachte. Ein zweiter und dann folgten zwei Schüsse nacheinander. Ich sprang vom Wagen auf die offene Gleisbettung und blickte den langen Zug, der in einer Kurve stand, entlang. Plötzlich schwang Hauptmann Nikolajews Abteiltür auf und eine Handvoll kämpfender Männer stürzten heraus. Ich konnte sehen wie sich der Hauptmann zur Wehr setzte. Mit seinem Revolver hatte er zwei der Aggressoren niedergestreckt. Jetzt wich er zurück, auf den untersten Treppenabsatzes der Waggontüre. Mit einer Hand hielt er sich an dem Geländer fest, welches beim Einsteigen dienlich ist. Mit der freien Hand feuerte er in die ihn attackierende Menge. Die Schüsse waren verstummt und da liefen die Männer auseinander. Zurück blieb nur eine leblose Gestalt. Nikolajew hatte aufgehört zu leben. Wir waren nun auf uns alleine gestellt. Nur der Adjutant war noch da, aber lebte er noch? Wo war er?
Mein Weggefährte und ich kontrollierten unsere Revolver. Kampflos wollten wir uns diesem Mob nicht ergeben. Während wir noch mit dem Laden der Revolver beschäftigt waren, packte mich irgendjemand am Arm. Ich schnellte herum, bereit mein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Dabei erkannte ich aber einen vor Angst schlotternden Eurasier mittleren Alters. Neben ihm stand ebenfalls wie Espenlaub zitternd seine Frau.
»Um Gottes willen, helfen Sie uns. Die Weissen, sie wollen« Der Rest des Satzes war nur ein ständiges Stammeln. »Was geht hier eigentlich vor? « Da er mich nicht verstand, fragte Maletzki ihn auf Russisch:
»Die Weissen und Wegelagerer überfallen den Zug und töten alle Europäer, die nicht zu ihnen gehören. Die Banditen fallen über die Europäer im Zug her. Sie durchsuchen Wagen für Wagen. Wir sind des Todes, helft uns! Was sollen wir tun? « Mit meinen 22 Jahren und ohne jede Erfahrung, wie man mit aufgebrachtem Mob fertig wird, wusste ich keinen Ausweg. Wir hatten keine Chance. Hauptmann Nikolajew war tot und die Forschheit, die von ihm auf mich übergesprungen war, war wie weggeblasen. Der Adjutant war nicht auffindbar, wir waren allein. Ich durfte meine Ausweglosigkeit und Angst nicht eingestehen, nicht einmal mir. Ich war Schweizer, von mir erwartete man Entscheidungen. Wir erklommen rasch wieder unseren Wagen. Anschliessend verbarrikadierten wir Türen und Fenster und setzten uns. Wir ahnten nur im entferntesten, was alsbald geschehen würde.
Ich zündete mir eine Zigarette an, um Gelassenheit zu demonstrieren. Aber die Gelassenheit war nur zur Schau gestellt. In meinem tiefsten Innern hatte ich Angst. Denn so wie die Lage war würden wir alle in diesem Abteil sterben. Auch dem Eurasier hielt ich das Zigarettenpäckchen hin, doch er starrte mich nur verständnislos an. Die Angst hatte ihn völlig übermannt. Meine Abneigung gegen ihn verstärkte sich, als ich in sein aschgraues Gesicht blickte. Kein Mann sieht gerne, wenn seine Angst sich in den Zügen des anderen spiegelt. Ich fühlte mich sehr schlecht und hilflos. Draussen der Mob und wohl bald auch hier. Die Weissen, welche kein Erbarmen kannten vor der Wagentüre. Die Hand welche die Zigarette hielt zitterte und ich fühlte, dass heute unsere letzte Stunde gekommen war. Jetzt war es soweit, wir hörten wie mit Äxten und anderen Gegenständen auf die Waggontüre eingeschlagen wurde. Draussen hieb jemand mit einer Axt gegen die Wagentür, Schlag auf Schlag. Lange würde sie das nicht mehr aushalten. Noch hielt sie stand, wie lange noch? Plötzlich erbebte die Türe unter einem splitternden Krachen!
Rasch überdachte ich unsere Möglichkeiten. Viele hatten wir nicht, aber eine reale Chance sah ich auch nicht. Sollte hier mein Leben zu Ende sein? Wir konnten warten, bis der Mob eindrang und uns abschlachtete. Wir konnten, wie Hauptmann Nikolajew es getan hatte, aus dem Fenster schiessen Oder ich könnte behaupten, dass die Polizei und das Militär bereits unterwegs seien? Eine schwache Hoffnung.
Ich stand auf und ging zur Tür. Der Eurasier krallte sich in meine Arme und wollte mich zurückhalten. In seiner panischen Angst schnatterte er in seiner Heimatsprache. Ungeduldig gab ich ihm einen Stoss, sodass er gegen die Sitzreihen des Wagens taumelte. Dann öffnete ich ein Fenster und sofort hörten die schmetternden Hiebe gegen die Tür auf. Einer der draussen Stehenden hielt die Axt noch mitten im Schwung erhoben. Dicht hinter ihm standen drei weitere Männer, dem Erscheinungsbild nach gleichfalls Anführer. Sie trugen die typische Bekleidung: weisse Hosen, ein weisses Hemd und eine weisse Kappe, dahinter ein Meer von fanatisch lauernden Gesichtern. Ich sprach den mir am nächsten stehenden Rädelsführer an.
Es war ein Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und von der Hautfarbe her mochte er vom Ural kommen. Seine Haare waren braun. Er hatte eine grosse Denkerstirn vermutlich ein Student an der Universität. Seine Augen waren blau und eine scharf geschnittene Nase verlieh dem Gesicht Autorität. Der Mund war schmal vermutlich von dem vielen Leid welches er gesehen hatte. »Sie dürfen hier nicht hinein, « schrie ich ihn an, »das ist ein Abteil der Ersten Klasse« Der junge Mann funkelte mich an und bellte zurück: »Wie können Sie, ein Fremder, es wagen, uns vorzuschreiben, was wir in unserem Land tun dürfen und was nicht? « Wir starrten uns einander an. Er war etwa so alt wie ich. Wäre ich schon älter gewesen und gefestigter in meinen Anschauungen, dann hätte ich wohl anders reagiert. Doch so hatte ich das Gefühl, dass seine Frage berechtigt war. »Und was wollen Sie? «, fragte der Student bösartig. »Wir wollen zum Fluss mitfahren und zwar in diesem Abteil« konterte ich.
Der Student hielt immer noch die Axt in den Händen. Jetzt zog er auf und schlug sie ins Holz der Türe. Unter dem Hieb splitterte die Türe in hundert Stücke. Ich spürte wie ich trotz der kalten Luft zu schwitzen begann. Begann so das Ende von Maletzki und von mir? Eine falsche Bewegung, oder ein falsches Wort könnte unseren Tod bedeuten. Und dieser Tod wäre nicht schnell, er wäre langsam und grauenvoll. Ich sah den Studenten geraume Zeit an und da war etwas in seinen Augen, was mich Hoffnung schöpfen liess Der Student schrie mich an: „Zurück von der Tür, sonst stirbst du hier!“ Hastig trat ich zurück. Mit geschmeidigen Bewegungen, welche einer Wildkatze glichen sprangen die Gondos in das Abteil zu uns empor. Der letzte drehte sich noch einmal um, hierbei sprach er eilends einige Worte zu der abwartenden Menge. Darauf kamen weitere vier Menschewiki die Stufen hoch. Sie mussten wohl die schmutzige Arbeit verrichten.
Ich lag mit meiner Vermutung richtig. Die Haumesser, die zu einer Sichel gebogen waren, hielten sie noch in ihrer Hand. Frisches Blut klebte an den Klingen. Auch ihre Hände waren blutbesudelt. Die weissen Uniformen waren nicht mehr weiss, sie waren verschmutzt mit Erde und Blut. Eine Gänsehaut machte sich auf meinem ganzen Körper bereit. Das nackte Entsetzen überfiel mich. Der Tod war in unseren Bahnwagen eingetreten. Wir waren in diesem Moment überzeugt, dass wir hier sterben würden. Ich glaubte nicht, meine Heimat je wieder zu sehen.
Die vier, uns finster entgegenblickenden Männer, ausgemergelt von Hunger und Verbitterung, drängten sich auch ins Abteil. Auch sie hatten eine weisse Uniform an wie der Student. Nur das Gesicht schaute unter den Kapuzen hervor.
Ihre Augen waren Stumpf, das Leben in ihnen war erloschen. Die vier wollten nur eines, Rache. Narben übersäten die Gesichter. Einige waren noch ganz frisch. Ich vermutete, dass da der Hauptmann welcher jetzt Tot war mitgeholfen hatte. Sie warteten auf die Order, den Befehl der unser Leben beenden würde. Die Hände welche die Haumesser hielten waren hinter dem Rücken. Ein kurzer Anweisung des Studenten und die Haumesser würden aufblitzen, es wäre unser Ende. Hier in Russland in einem Zug. Wie viel hatten wir doch noch vor, das alles würde in diesem Abteil ein Ende finden. Langsam setzte sich der Zug wieder in Bewegung, die aufgebrachte Volksmenge hinter sich lassend. Aber wir waren nach wie vor nicht gerettet, befanden sich doch mehrerer der Aufständischen in unserem Abteil.
»Wo wollt ihr denn hin? « Der Student stellte diese Frage in einem barschen Ton. Die Stimme des Studenten klang noch wütender als bei der Diskussion auf der Treppe. Eingeschüchtert vom Ton der Stimme, sowie von den Henkersknechten sagte ich es ihm. Darauf begann eine Diskussion, die ich nie mehr vergessen werde. Es war eine politische Diskussion über die Bolschewiken und die Sozialrevolution, über die Zaren und die legitime Regierung. Von all dem wusste ich herzlich wenig und im Grunde interessierte mich die Politik in Russland nicht sonderlich.
»Schauen Sie, wir sind Sklaven der Bolschewiken, sie waren es, die unsere Höfe und unser Land wegnahmen. Millionen von uns sind in Lumpen gehüllt und verhungern langsam. Sie haben kein Brot, kein Mehl, keinen Weizen und keinen Roggen. Alles geht nach Petrograd, wir haben nichts. «
Wie viele Stunden wir diskutierten weiss ich nicht, aber mir wurde klar, dass ich weitersprechen musste. Solange wir sprachen würden wir leben. Während unseres Wortgefechts spürte ich immer deutlicher, dass der junge Student seiner Sache nicht ganz sicher war. Er musste offenbar reden, um sich selbst zu überzeugen. Seine Genossen brauchten keine Selbstbestätigung, sie waren schon älter und verhärteter. Diese wollten die Sache hinter sich bringen. Ihr Instinkt trieb sie an, den verhassten Feind auszulöschen. Doch der junge Mann war ihr Anführer. Er hatte studiert, er verkörperte die Zukunft Russlands. Ohne ihn würden sie nichts gegen uns unternehmen. Die Männer mit den Haumessern standen noch immer, schwankend im Rhythmus des schlingernden Zuges zwischen den Abteilen. Das Neurasierpaar kauerte aneinandergedrückt in einer Ecke. Unser Rededuell ging weiter.
Ich kam mir vor, als ob ich zum Tode verurteilt wäre, was ja eigentlich stimmte. Nur mit Reden konnte ich den Tod noch ein wenig aufschieben. Aber wie lange noch? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, wenn ich dem Anführer eine falsche Antwort gab, wäre es um Maletzki und mich geschehen. Beharrlich redete der Student, um selbst an das zu glauben, was er für richtig halten wollte. Und ausdauernd redete ich, um unseren Tod so lange wie möglich hinauszuzögern. Man hörte ausser uns in diesem Abteil nur noch das rhythmische Stampfen der Räder auf den Schienen.
Wenn ich zurückblicke, sehe ich den jungen Russen und mich aus einer ganz anderen Perspektive, in der richtigen Perspektive. Wir spielten damals um Leben und Tod. Nur waren die Karten unausgewogen verteilt. Doch der Elan sowie der Idealismus der Jugend hatten uns noch nicht ganz verlassen, ausserdem glaubten wir an den gesunden Menschenverstand. Ich versuchte, mit dem Mut der Verzweiflung, den Studenten von seiner Abneigung auf die weissen Europäer abzubringen. Er andererseits bezweckte mir mit leidenschaftlichen Argumenten zu beweisen, wie falsch die Methode meiner Landsleute sei.
Dann wendete sich plötzlich das Blatt!
Mit kreischendem und schrillem Getöse hielt der Zug. Von draussen hörte man Kommandos und das Trappeln von Soldatenstiefeln. Die Tür wurde aufgerissen. Vielmehr das was von der Türe noch übrig war. Ein baumlanger Sergeant der russischen Polizei schob sich herein. Der Kopf hatte eine ovale Form. Seine Mütze mit dem roten Band verdeckten die schwarzen Haare nicht ganz, denn sie war nach hinten geschoben. Die Stirne wies einige Narben von Kämpfen auf. Über den grünen Augen waren buschige Augenbrauen, welche dem Gesicht eine gewisse Bösartigkeit verliehen. Unterstrichen wurde dies noch durch die scharf-geschnittene Nase sowie das Kinn. Durch seine Grösse wirkte er schlaksig. Dicht hinter ihm ein Unteroffizier der Bolschewiken, der die Sozialrevolutionäre wie ein hasserfüllter hungriger Wolf an-funkelte.
Beide hatten Pistolen in der Hand, welche sie nur zu gerne benutzt hätten. Durch das Fenster konnten wir sehen, dass im Freien etwa 20 Infanteristen aufgereiht waren. Der Sergeant starrte mich ungläubig an: »Sie sind heil? Der Überfall ist uns gemeldet worden und wir fürchteten, keine Personen mehr unter den Lebenden zu sehen, schon gar nicht Weisse. Ich werde dieses Gesindel jetzt fesseln und zur nächsten Polizeistation bringen. Ich könnte sie jetzt schon hier draussen hinrichten lassen, aber mein Kommandant möchte sie noch verhören. Ich werde dann in ihrem Nahmen Anzeige erstatten.“
Mein Blick wanderte durch den Eisenbahnabteil. Der Eurasier war wie umgewandelt, er hatte nun keine Angst mehr. Der Hass verzerrte sein Gesicht. Ohne ein Wort für mich zog er seine Frau aus dem Abteil, blieb einen Moment vor dem Studenten stehen und sagte ein Wort, das ich hier nicht wiedergeben möchte. Ich betrachtete den Studenten und seine Kumpanen. Die vier mit ihren Haumessern standen apathisch da. Sie würden nehmen, wie es kommt, was ihnen das Schicksal zugedacht hatte. Auch die beiden älteren Individuen hatten diesen schicksalsergeben Gesichtsausdruck. Ob ich sie vor Tribunal brachte oder nicht, das würde ihre innere Haltung nicht ändern. Doch worum es mir ging und was ich gewinnen musste, waren Kopf und Kragen des jungen Studenten. Wieder las ich in seinen Augen die Antwort, Augen, die nicht um Gnade baten, sondern um Verständnis. Da wusste ich, dass meine nächsten Worte entscheidend sein würden. Ich wandte mich dem Sergeanten zu und äusserte: »Dieser junge Mann ist unser Führer durch Russland ans Don Gebiet und an die Wolga. Diese Männer kenne ich nicht. Sie haben mir nichts Böses getan, also werde ich keine Anzeige erstatten. « Der Student blickte mich an und sagte nichts. Noch einmal schaute mich der Sergeant prüfend an und fragte: »Sind Sie da wirklich sicher? Das sind Revolutionäre, sie töten alles was ihnen in den Weg kommt. Ich rate ihnen dringendst, diese anzuzeigen. Dann können wir sie über die Klinge springen lassen« In einem kompromisslosen Ton antwortete ich nun: „Ich habe gesagt, dass dies unser Führer ist und diese Männer uns nichts getan haben. Wieso soll ich sie denn Anzeigen?“ Mit einem Kopfschütteln verliess er unseren Wagen. Der Bolschewik, der nur zu gerne sein bestialisches Amt ausgeführt hätte, funkelte mich zornig an. Darauf drehte er mir den Rücken zu und ohne ein Wort zu sagen folgte er dem Sergeanten. Unversehens hatten wir einen Reiseführer, der uns so gut beschützen würde wie keiner der Soldaten, die noch im Zug waren. Ein Reiseführer, der vor einigen Stunden noch unser erbitterter Gegner war, einer, der uns auf bestialische Art und Weise umbringen wollte.
Geraume Zeit schaute mich der Student an. Er schaute mir tief in die Augen als suchte er dort die Antwort für mein Verhalten. Kein Wort fiel und wären da nicht die Räder des Zuges gewesen es wäre absolute Stille gewesen. Stumm reichte er mir die Hand, diese Geste sprach Bände. Plötzlich konnten wir auch mit den anderen drei Gondos sprechen. Dies musste allerdings mein Freund übernehmen, da ich kaum Russisch sprach. Ausserdem sprachen sie einen Dialekt der Ukraine. Und so kam es, dass mir der Student Sachen über die Ukraine, Weissrussland und die Politik erzählte, die ich noch nie gehört hatte. Für mich war die Fahrt zum nächsten Bahnhof eine tief greifende Geschichtsstunde über Russland und seine Bevölkerung.
Nach weiteren zwei Stunden Fahrtzeit erreichten wir Minsk. Kurz vor Minsk bemerkte der Student: „Kauft euch unbedingt ausreichend Wegzehrung, es ist unbedingt erforderlich mit genügend Proviant diese Reise anzutreten. Auf der langen Reise ist es ein Ding der Unmöglichkeit, etwas Essbares zu kaufen. Unter Umständen müssen wir tagelang auf unsere Weiterbeförderung warten. Mein Weggefährte und ich dankten für seinen Rat. Maletzki meinte: „ich glauben nicht, dass dies so schlimm wird.“ Infolgedessen hielten Maletzki und ich diese Massnahme wohl für etwas übertrieben. Bald sollten wir aber eines Besseren belehrt werden.
Von zugestiegenen Reisenden hörten wir, dass die Hungersnot im Wolgagebiet alles bisher Dagewesene übertraf. Zu allem Übel fielen im Sommer die Ernten aus, was die Situation noch mehr verschärfte. Hunderttausende halb verhungerte und zerlumpte Menschen schleppten sich längs des Schienenstrangs gegen den erlösenden, reichen Süden. Aber unglaublich viele Menschen waren zu schwach. Sie waren anfällig auf Typus und Cholera sowie Windpocken. Mir kamen wieder die 50 Menschen in den Sinn, die damals das Anwesen des Freiherrn von Göttingen verwüstet hatten. Wie mochte es hier sein, wo Hunderttausende hungernde, zerlumpte und frierende Menschen waren? Vor dieser Antwort hatte ich Angst. Ich schob die Antwort und die Wahrheit immer vor mir her. Ich empfand Trauer für diese Menschen, die nichts mehr zu essen hatten. Der Student hatte mir erzählt, warum es zu dieser Hungersnot gekommen war:
Aufgrund eines Dekrets, das bei der Machtübernahme Stalins beschlossen wurde, verstaatlichten die Bolschewiki die Felder der Bauern. Es sollte zur Konsolidierung des Leninismus führen. Die ukrainischen Intellektuellen einer bis dahin beispiellosen Säuberung unterzogen. Doch das ukrainische nationale Bewusstsein konnte nicht zerstört werden. Auf Grund von diesen schrecklichen Schilderungen der Reisenden hielten wir es doch an der Zeit, dem Studenten zu glauben. So deckten wir uns mit reichlichen Esswaren ein. So gesehen waren wir glücklich, als die Bahn endlich wieder in einem bedeutenden Bahnhof eintraf. Da hatten wir zwei Stunden Aufenthalt. In dieser Zeit besorgte mein Weggefährte ebenso ich Proviant. Es waren dies, getrocknetes Fleisch, Salz, Wasser, Wodka, in einem gut verschlossenen Behälter Sacht Schi, also Kohleeintopf sowie Soljanka und Schweinebraten à la Borissow, ein Beutel voll getrocknetem Pumpernickel, eine Karton getrocknete Feigen, einige Pfund Butter und sogar einige Pfund Käse. Auch genügend Salz bekamen wir, das Maletzki gegen Zigaretten und Tabak eintauschte. Je weiter wir nach Russland hineinfuhren, umso mehr wurde uns gewahr, dass wir uns auf ein extremes todbringendes Abenteuer eingelassen hatten. Mein Freund, aber auch ich hörten, dass die Darbenden in ihrer Verzweiflung die Züge überfielen, die Reisenden auf Nahrungsmittel durchsuchten und sie aus den Wagen warfen. Alldem, ungeachtet grassierten Typus und Cholera im Hungergebiet, diese Krankheiten forderte täglich eine grosse Anzahl von Opfern. Die Chancen waren für uns alles andere als Erfolgversprechend.
Die Fahrt nach Minsk dauerte länger als in der Regel. Darauf angesprochen meinte der Student: »Seien Sie froh, wenn Sie es heute bis Minsk schaffen. Viele Züge kommen nicht so weit. « Mein Freund Ursus, so hiess der Student ebenso ich mussten auf der Station im Zentralbahnhof von Minsk lange auf unsere Weiterbeförderung warten. Aus den angekündigten zwei Stunden wurde ein sehr langer Zeitraum. Die drei anderen Gondos, die auch im Abteil waren, sprangen während der Fahrt nach Minsk vor der Stadt im offenen Gelände ab. Ehe sie Absprangen reichten sie uns stumm die Hände, in Kenntnis, dass sie einen Tag länger gelebt hatten. Wie wir auf dem Bahnhof von Minsk ankamen empfing uns eine klirrende Kälte. In der Menschenmenge von Leuten, welche alle auch auf die Weiterbeförderung warteten war kein Schutz gegen den bitterkalten Sturm gegeben. Die Fahrgäste standen auf dem Perron dichtgedrängt, ja man hätte fast sagen können, dass ein Umfallen unmöglich gewesen wäre. Ausschliesslich, die Zeiger der Uhr bewegte sich unentwegt einer neuen Stunde zu. Die Stunden kamen, aber der Zug nicht. Die Menschen hier in Minsk waren alle wärmer angezogen, als in Grodino. Waren doch hier zweistellige Minustemperaturen. Jede Frau und Mann hatten eine warme Kopfbedeckung und Halstuch Kittel und darüber noch einen Mantel. Auch trugen sie Handschuhe, welche sie nur zum Geldzählen abnahmen, um sie dann augenblicklich wiederum anzuziehen. Warmes mehr als gutes Schuhwerk mit Gamaschen und Hosen waren auch bei ihnen zu finden. Wir mussten uns die ganze Nacht auf dem Bahnhof aufhalten, da wir nicht wussten, zu welchem Zeitpunkt es weitergehen würde.
Der Tagesanbruch kam, ebenso aber war immer noch kein Zug eingefahren, der die Abreise in Aussicht gestellt hätte. Aus diesem Grund gingen ich noch einmal Kaffee holen. Der Weg zu dem Russen der Kaffee verkaufte war gekennzeichnet von stossen Flüchen und rempeln. Der Kaffee, oder das wo sich Kaffee nannte wurde in einem grossen zerschlagenen Kessel zubereitet. Unter dem Kessel loderte ein Feuer aus Birkenstämmen. Der Mann, der mir den Kaffee herüber reichte, hatte zottig zusammengeklebtes Haar. Sein Gesicht war oval und ein Vollbart umrundete es. Seine Nase
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: H.P. Bachmann M. Pfenninger Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf auch nur Auszugsweise mit Genehmigung des Verlages oder der Autoren wiedergegeben werden.
Bildmaterialien: ©
Tag der Veröffentlichung: 16.08.2015
ISBN: 978-3-7396-0965-2
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch ist eine Widmung an all die Menschen, die während der Hungersnot und unter den Qualen der gefürchteten Geheimpolizei, den (Chekas) starben.
Ihr Leiden soll nicht vergessen werden.
Die Autoren
Hanspeter Bachmann
Marco Pfenninger