Otto Friedrich Bachmann von Trubschachen i/E Schweiz
Bauernsohn
Christian Meggert von Langenthal Schweiz
Bauernsohn
Josef Maletzki von Graudenz Polen
Deserteur
Agrafena Leontiew von St. Petersburg Russland
russische Adelige
Dieses Buch ist ein historischer Roman, der auf wahren Begebenheiten vor dem ersten Weltkrieg beruht.
Auf dieser Historischen Karte kann man den Weg von Friedrich nachvollziehen von Trubschachen i.E. über Freiburg, Erlangen, Plauen, Chemnitz.
Der Charakter eines Mannes ist sein Schicksal.
Heraklit
1887, eine laue Mai-Nacht. Sie war wie geschaffen für Liebende an der Trub. Die Trub war der Wildbach, der dem Tal den Namen gab. Bei ausgesprochen starken Regenfällen in den nahen Berner Bergen konnte er zum reissenden Wildbach werden. Gar mancher ertrank in seinen Fluten. Die Äcker in der Bachnähe wurden sehr oft überflutet.
Aber heute war es ein Bächlein welches gemächlich in seinem Bachbett dahinplätscherte. Gegenwärtig lud es zum Bummeln ein.
Meine Liebste, sowohl auch ich hielten uns in den Armen und küssten uns innig. Nur der Mond und die Sterne beobachten uns. Diese Mai-Nacht war unsere Nacht die meiner Geliebten und mir. Unsere Zeit war märchenhaft, darüber hinaus wenn ich sie Anblickte war die Sonne in mir. Sie war von grosser Statur, überdies hatte sie blondes Haar, das zu einem Zopf geknöpft war. Ihre blauen Augen konnten hin und wieder einen schalkhaften Ausdruck annehmen. Das war besonders dann der Fall, wenn sie mich neckte. Im ovalen Antlitz war eine kleine Stupsnase, mit der ich sie oft neckte.
Es war unsere Nacht, und weitere schöne Nächte währen gefolgt. Aber da waren zwei Begebenheiten die mein Leben fundamental veränderten.
Die erste Begebenheit war, dass in der Schweiz nicht viele Nahrungsmittel auf den Tisch kamen, aber es war auch keine Hungersnot. Jede Familie war glücklich den Tag ohne grossen Hunger wieder überstanden zu haben. Bei Familien mit Kindern da kehrte der Hunger oft ein und bei vielen war er der stete Gast am Tisch. Das Tal ist eng, die Talseiten sind durch Angst einflössende, steile Felswände gezeichnet. Im Tal Grund fliesst die Trub die rasch über die Ufer treten kann, sobald ein heftiges Unwetter mit viel Regen in den Bergen niedergeht. Und so fristeten die Menschen in diesem Tal ein kärgliches Dasein. Ziel eines jeden Tages war das Auskommen zu haben.
Das zweite folgenschwere Vorkommnis war die Feuersbrunst.
Es war ein heisser Mittwoch im Hochsommer. Wir waren noch dabei Heu für die Wintermonate einzufahren. Da kam der Sohn des Seppen Meier atemlos angerannt. Sprechen konnte er noch nicht so ausser Atem war er. Er deutete mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger in die Richtung wo unser Bauernhof stand. Den blutroten Schein konnten wir bis hierher sehen. Alles fallenlassend, ausserdem zum Hof rennen geschah zur gleichen Zeit. Je näher wir aber kamen desto klarer wurde es, dass das Bauerngut verloren war. Wie teuflische rote Zungen begleitet von teuflischem Grollen frassen sich die Flammen durch das Gebälk.
Das Bauerngut meines Vaters brannte vollkommen nieder. Wir standen vor dem Nichts; mein Vater, Otto Friedrich Bachmann, hatte mit seiner Frau und den sieben Kindern alles verloren, was er hatte.
Der Entschluss zur Auswanderung lag für mich jetzt nahe. Doch wohin?
Das war die grosse Frage, welche ich mir stellte.
Wohin?
In vielen Gesprächen erfuhr ich, dass eine grosse Anzahl preussischer Gutshöfe von erfahrenen Leuten geführt würden, die aus der Schweiz stammten.
Auf den ersten Blick sah man in dem 16-jährigen wortkargen Einzelgänger nicht den Typen, welchem man ein solches abenteuerliches Unternehmen zugetraut hätte.
Er war von mittlerer Statur, zwar robust, aber nicht aussergewöhnlich kräftig gebaut. Dies meinte man zumindest. Doch unter der blauen Arbeiterkleidung steckten stahlharte Muskeln, die er auf langen Bergwanderungen, schwerer körperlichen Beschäftigungen erworben hatte.
Sein freundlicher Charakter und die langen aschblonden Haare liessen auf eine eher wohlwollende Veranlagung schliessen. In seinen Augen glomm Entschlossenheit, ebenso wie die Kinnbacken die innere Kraft verrieten. Nur unerschütterlichen Glaube und eiserne Geisteskraft konnten den Beschluss erklären, welchen er gefasst hatte. Doch als dieser feststand, war er ein noch zurückgezogener junger Bursche geworden.
Die Schicksalswende in seiner Existenz begann an einem verregneten Tag im Mai 1890. Es war der Tag, als er mit einem Bündel über der Schulter sich von Vater und Mutter verabschiedete.
Er sollte an diesem Tag nicht wissen, dass er seine Eltern nie mehr sehen würde. Die Mutter, sie war von der harten Arbeit auf dem Felde und am Hof gebeugt. Ihre Augen funkelten blau und ihre braunen Haare waren hinter dem Kopf zu einem Knoten zusammengebunden. Er spürte ihre Tränen, welche ihr Gesicht Benetzen als sie sich verabschiedeten. Auch seinem Vater erging es nicht besser, nur konnte er seine grünen Augen und sein weiches Gemüt besser beherrschen. Auch er mit einem ovalen Gesicht und braunen Augen wünschte, dass sein sechzehnjähriger Sohn nicht in die Welt hinausging. Aber Friedrich hatte den Entschluss gefasst, also würde er gehen.
Als 16-Jähriger trat ich einen gefährlichen, traurigen, aber auch spannenden Weg an. Ich sollte erst nach 35 Jahren, im Jahr 1922, meine Füsse wieder auf heimischen Boden setzen. Hätte ich gewusst, was in diesen 35 Jahren auf mich zukommen sollte, so würde ich nun glauben, dass ich dann möglicherweise im Emmental geblieben wäre. Mein Ziel war Ostpreussen, denn dort gab es grosse Gehöfte mit grossen Flächen an Grund und Boden. Die Viehbestände zählten zum Teil bis zu 500 Kühe. Auch wusste ich, dass die Grossgrundbesitzer gerne Schweizer zur Verwaltung und Bewirtschaftung ihres Gutes anstellten. Jedoch bis dahin war es noch ein anspruchsvoller langer Weg.
Zu oft würden Hunger und Gefahren mein Wegbegleiter sein.
Zu oft würde ich dem Tod ins Auge blicken.
Da es zu dieser Zeit noch wenige Eisenbahnen gab, darüber hinaus die Kutschen den vornehmen, herrschenden Adligen vorbehalten waren, hatte ich kaum eine Chance zur Mitfahrgelegenheit.
Als ich auf der staubigen Strasse von Trubschachen in die Welt hinausschritt, überdies die alte Holzbrücke über die Trub überquert hatte, blickte ich noch einmal zurück. Zurück auf das kleine Dorf Trubschachen mit den wenigen Bauernhäusern. Ich sah die majestätische Holzbrücke über die Trub. Ihre Eichenbalken welche die Konstruktion zusammenhielten. Die Brücke war mit Schindeln gedeckt, es sollte ein Schutz vor Regen sein, glaubte ich, so dass die Holzplanken nicht so schnell faulen sollten. Zu oft war ich über diese Brücke gegangen, mit Freunden und den Eltern. Heute würde ich das letzte Mal, für lange Zeit über die Brücke gehen. Ich sah die saftigen Wiesen, die schroffen Felsen und den Hof meines Vaters, der niedergebrannt war. Die schwarzen verkohlten Balken welche wie ein Mahnfinger gegen den Himmel ausgestreckt waren. Ich sog das alles in mein Gedächtnis ein darüber hinaus wusste ich, dass überall wo ich sein würde, dieses letzte Bild, diese Erinnerung mich immer begleiten würde.
Brücke in Trubschachen.
Langsam wandte ich mich ab, ausserdem setzte ich meinen Weg fort. Ein letztes Mal kam ich am Gasthaus Bären vorbei. Es war am Dachgiebel mit schöner Bauernmalerei verziert, über der Eingangstür auf einem starken ebenfalls mit Bauernmalerei verzierten Eichenbalken thronte ein kupferner Bär. Auch hier hatte ich schöne und weniger schöne Erinnerungen. In diesem Lokal machten mich Freunde zu einem trinkfesten Mann. Und ich höre heute noch meinen Vater sagen:
»Wer trinken kann, kann auch arbeiten.« Es war der längste Tag bis dahin. Ich glaubte dass dieser Tag sechsunddreissig Stunden hätte.
Hinaus in eine mir unbekannte Welt.
Meine erste Nacht verbrachte ich bei Freunden in Huttwil im Kanton Bern. Wir redeten lange über meine Pläne, was ich tun wollte und wo ich hin wollte, an diesem Abend. Das Hauptthema war das Geld, woher und wie konnte ich auf der Wanderschaft Geld verdienen? Dies war auch eine der grossen Fragen die ich mir gestellt hatte und nicht beantworten konnte. Diese Frage schob ich immer wieder von mir weg denn irgendwie würde es weitergehen.
Ich erhielt eine Fülle guter Ratschläge. Am nächsten Morgen nahm ich Abschied. Es war auch ein Abschied für immer. Denn Damals ahnte ich nicht, dass ich viele meiner Freunde bei meiner Rückkehr nicht mehr vorfinden würde.
In Laufenburg an der deutsch-schweizerischen Grenze fand ich für sechs Wochen eine Anstellung auf einem kleineren Gehöft, um so noch ein wenig Geld für meine Reise zu verdienen. Die Bauersleute waren nicht nur garstig untereinander sie waren es auch gegenüber den Mägden und Knechten. Die Bäuerin konnte zuweilen ganz gemein sein und es machte ihr noch Spass. Sie hatte graue Haare welche zusammengeknotet waren. Im Haar steckte immer eine Art Kamm. Die Augen waren klein und eisgrau. Der Mund übertraf das negative Aussehen dieser Frau locker. Ein schmaler Strich zeichnete sich im Gesicht als Mund ab. Lachfalten suchte man bei ihr vergebens. Sie war stämmig gebaut und hatte auf dem Hof das sagen.
Oft fuhr sie ihren Mann vor anderen Leuten an. Da ich nur für sechs Wochen auf diesem Hof warum noch Geld für meine Reise zu verdienen, konnte ich es ertragen. Für eine längere Zeit wäre ich nicht geblieben. Es war nicht viel, was ich da in diesen sechs Wochen erarbeitete, aber doch konnte ich mich mit diesen 450 Franken noch ein-wenig besser über Wasser halten als zuvor.
Sehr oft erkundete ich Laufenburg, den historischer Stadtteil mit Stadtmauer und Türmen. Zu oberst konnte ich den Bergfried der Grafen von Habsburg noch sehen. Er war aber am zerfallen und nur eine Ruine. Nach diesen sechs Wochen auf dem Hof zog ich weiter. Es war ein heisser Tag, die Sonne brannte schon erbarmungslos auf die ausgetrocknete Erde. Zu lange fiel schon kein Regen mehr. Auf den ausgetrockneten Äckern konnte man die ersten Risse der Trockenheit sehen. In Laufenburg überschritt ich die Brücke nach Deutschland. Es war eine alte Holzbrücke, welche schon bessere Zeiten gesehen hatte. Die Brücke erinnerte mich an jene in Trubschachen.
Auf deutscher Seite angekommen, sah ich den laufenburger Brückenheiligen Nepomuk. Er stand mit einem Kreuz in den Händen auf einem Sockel.
Die Grenzwache hatte bei der herrschenden Hitze keine Lust mich zu kontrollieren. Mit einem freundlichen: »guten Marsch Fremder« liessen mich die Zöllner ziehen.
Der Sommer war nun endgültig ins Land gezogen. Zu allem Überfluss brannte die Sonne unerbittlich auf mein Haupt. Die Luft flimmerte ausserdem hätte ich mich am liebsten an irgendeinem Ort in den Schatten gelegt.
Ich dachte zurück an meine Heimat, an die Berge, an die kühlen Täler mit den Wildbächen ebenso die Wälder. Doch ich war gegenwärtig hier, des Weiteren wollte ich auch nicht zurück. Bei jedem Fluss, ebenso wie Bach trank ich und netzte mich, um die nächste Wegstrecke überstehen zu können.
Als ich aus Laufenburg hinausschritt und tiefer nach Deutschland hinein marschierte ging ich auf einem Feldweg. Man konnte genau sehen, wo die Räder der Heuwagen oder Ochsen-karren ihre Spuren hinterliessen. In der Mitte des staubigen Weges war eine Grasnarbe. Das schlechte auf diesem Weg war, dass kein Bach in der Nähe war. Das Schöne an diesem Weg war, dass links und rechts Bäume standen. Die Kronen mit ihrem grossen Blätterdach hielten die Sonne ab, welches die Temperatur für mich Wandersmann einigermassen wohltuender machte.
Gegen Abend kam ich in Brunnadern, einem 200-Seelen Dorf in der Nähe von Lörrach an. Das Dorf war weit auseinandergezogen. Mein erster Eindruck war der, dass dies eine stille verträumte Ortschaft war. Die Strasse welche durch Brunnadern führte war knapp so breit, dass zwei Fuhrwerke aneinander vorbeikamen. Die wenigen Bauernhäuser konnte man an einer Hand abzählen. Als ich in Brunnadern war sah ich, dass das zweite Haus ein Bauernhaus war. In der Hoffnung, dass ich dort nächtigen konnte ging ich auf das Haus zu.
Schon von weitem sah ich eine gewisse Unruhe auf dem Hof.
Wieso?
Neugierig ging ich dem Bauerngut entgegen. Je näher ich dem Hof kam sah ich was geschehen war. Auf dem Bauerngut war ein Trauerfall. Da wollte ich nicht stören und wandte mich wiederum ab.
Wieder auf der Hauptstrasse, wenn man zu diesem Weg Strasse sagen konnte, ging ich weiter ins Dorf hinein. Beim Dorfbrunnen sah ich fünf Männer stehen, welche miteinander etwas beredeten. Alle hatten blaue oder dunkelblaue Latzhosen an. Ihr Haar war unter schwarzen Filzhüten versteckt, was mir aber am meisten auffiel alle fünf Männer waren gut gelaunt und lachten gerne, das sah ich an den Mundwinkeln. Also die waren genau das Gegenteil von den Bauersleute von Laufenburg. Langsam und freundlich trat ich auf die Männer zu und wartete bis einer mit den Augen mich fixierte. Darauf fragte er: »Unbekannter woher kommst du und wohin willst du?«
Ich erwiderte:
»Ich komme aus der Schweiz und mein Ziel sind die grossen Gutshöfe in Preussen.«
»Da hast du aber noch einen langen Weg vor dir Bursche«, antwortete mir ein anderer. Dieser hatte eine Hakennase und ich glaubte, dass er sicher deswegen einen Übernamen hatte.
»Aber sag, was tust du in Brunnadern, Preussen ist weiter weg,« meinte der Sprecher der Gruppe.
Ich erntete von den fünf Männern Gelächter, aber es war keine Verspottung zu spüren, darum konnte ich es ertragen. Nun musste ich Paroli bieten und antwortete: »und was machen fünf so starke und rechtschaffene Männer um diese Zeit beim Dorfbrunnen?«
Jetzt war es an mir zu lachen und die Männer stimmten ein. Das Eis war gebrochen. Wieder erfragte einer der fünf: »Was führt dich in den verschlafenen Weiler.«
Meine erste Impression war also richtig gewesen. Ich erwiderte:
»Ich suche eine Schlafgelegenheit bis Tagesanbruch. Im Gegenzug helfe ich bereitwillig in der Stallung aus.«
Da sagte einer: »das wäre doch für dich Martin, oder was meinst du.« Der Bauer willigte ein und so waren wir beide zufrieden.
Nach dem Nachtessen sass ich noch alleine auf der Bank vor dem Bauernhaus. Nach einer Weile setzte sich die Bauersfrau zu mir. Längere Zeit schwiegen wir, aber ich merkte sehr wohl, wie sie mich von der Seite anblickte. Langsam spürte auch ich ein leises Knistern zwischen uns.
Das Knistern, wenn sich zwei Menschen mehr zu sagen haben als nur Worte. Meine Gedanken waren bei ihr, und ich sinnierte, was sie wohl wollte? Sie war doch verheiratet. Hatte sie vor aus ihrer Ehe auszubrechen oder ging es ihr nur um ein kurzes Vergnügen?
Meine Gedankengänge sollten bald beantwortet werden, indem sie mit leiser Stimme bemerkte:
»Friedrich, als du auf unseren kargen Hof gekommen bist, wusste ich, dass du ehrlich gesagt der Mann fürs Leben gewesen wärst. Aber leider ging nicht alles so in meinem Leben. Ich heiratete in diesem Dorf einen Mann, ohne dass ich etwas von der Welt sah. Zeitlebens wusste ich nichts anderes. Nun kamst du, du willst nur eine Nacht bleiben, nimm mich mit in die Ferne; ich möchte mit dir gehen.«
Ich schaute sie an und musste feststellen, dass sie eine schöne Frau war. Unter den blonden Haaren leuchteten zwei blaue Augen. Ihr Gesicht war ebenmässig geschnitten, darüber hinaus hatte sie eine kleine Stupsnase, welche ihrem Gesicht etwas Neckisches verlieh. Auch hatte sie einen schönen gleichmässigen Busen, welchen man zu jener Zeit nicht bei allen Frauen fand.
Für mich war jetzt klar, sie wollte mehr, sie wollte mit mir in die Welt. Sie hatte wohl Fernweh bekommen, als ich beim Nachtessen davon erzählte, welche Reise ich vorhatte. Ich konnte mich jetzt nicht mehr zurückhalten, in einem Sturm der Gefühle zog ich sie an meine Brust. Leidenschaftlich küssten wir uns unter dem dunkelblauen Sternenhimmel.
Auf einmal riss sie sich los und flüsterte: »Komm, wir gehen in die Scheune.«
Wir kletterten über eine altersschwache Leiter, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatte auf den Heuboden.
Auf dem Heuboden vergassen wir Raum und Zeit. Wir liebten uns und als ich ins sie eindrang, stöhnte sie leise, aber ich sah in ihren Augen den Ausdruck des Glücks. Noch lange danach lagen wir beieinander und schwiegen, doch trotz des Schweigens waren wir uns nahe, sehr nahe.
Am nächsten Morgen luden mich die Bauersleute noch zu einem reichhaltigen Frühstück ein, welches ich nur zu gerne annahm. Als ich dann zum Aufbruch bereit war, eilte die Bäuerin mit Verpflegung zu mir, sodann wünschte sie mir alles Gute, darüber hinaus fügte sie mit leiser Stimme hinzu, als ob sie selbst Angst vor diesen Worten hätte: »Ich möchte dich wieder sehen. Ich habe dich nur für eine Nacht gehabt, doch es war eine der schönsten. Als ich in deine Augen geblickt habe, war mir klar, dass du mein Mann wärst, wenn ich noch frei wäre. Aber das Schicksal meint es anders mit uns. Darum geh jetzt, ich wünsche dir alles Gute.«
Kein Mensch von uns konnte voraussehen, wo ebenso unter welchen tragischen Umständen wir uns wieder sehen sollten.
Pappeln säumten den Weg, ja sogar ab und zu begleitete mich das Geplätscher eines Baches. Mein nächstes Ziel war Freiburg. Ich wusste, dass dort Züge der Badischen Bahn verkehren. Bedauerlicherweise blieb mir das Glück in dieser Nacht versagt, denn ich fand weder Gehöft noch Unterstand. So schlug ich mein Nachtlager unter einer Linde auf. Doch ich hatte Glück, dass es in jener Nacht nicht regnete. Am folgenden Tag trugen mich meine Füsse Vorwärts gegen Freiburg zu. Schon von weitem sah ich die imposante Stadtmauer. Auch nicht ignorieren konnte man das Münster, das einen 118 Meter hohen Westturm hat. Auch beeindruckte mich der Martinsturm, unter welchem ich durchschritt. Auf dem Münsterplatz waren ein Kaufhaus aus dem Jahr 1600 und das Rathaus zu erblicken. Beim Anblick dieser Bauten, welche ich als junger Bauernsohn aus dem Emmental noch nie gesehen hatte, war ich so fassungslos, dass ich die Zeit ganz und gar vergass. Auf der breiten Marktstrasse war ein ausgelassenes Treiben. Die verschiedensten Waren wurden feilgeboten, Waren, die ich bis jetzt noch nie gesehen hatte.
Ich klapperte in Freiburg unterschiedliche Seitenstrassen und Geschäfte ab, um zu sehen, ob hier noch etwas zu finden sei, was ich auf meiner Reise noch benötigen könnte. Mit meinen wenigen Mitteln konnte ich keine grossen Sprünge machen. Darüber hinaus fand ich dennoch in einer engen Nebenstrasse ein Gemischtwarengeschäft, was die verschiedensten Sachen anbot. Ich fand da zum Beispiel eine Axt, die ich auch zum sägen und hacken gebrauchen konnte. Ich besorgte mir noch eine zusätzliche Wasserflasche ebenso wie einen Lendengurt mit Taschen. Darüber hinaus erstand ich noch ein altertümliches Fernglas. Meine Wegzehrung war knapp bemessen: vier Kilogramm geräucherter Speck, Käse, einige Kilogramm dünn geschnittenes sowie an der Luft getrocknetes Schwarzbrot, Tee und Zucker. Der einzige Luxus, den ich mir erlaubte, waren zwölf Tafeln teure Schokolade. Alle Lebensmittel verpackte ich in einen wasserdichten Beutel. Es entsprach meinem Charakter, mich in Gänze auf mich selbst zu verlassen und mich nur auf das Erforderliche zu beschränken.
Ich wusste, das eine: ob ich es nach Preussen schaffte oder auf meinem Weg scheiterte, niemand sollte mit hineingezogen werden.
Ich suchte den Bahnhof auf, mehr noch informierte mich die Eisenbahn.
Der Stationsvorsteher war einem kühlen Tropfen an diesem heissen Nachmittag nicht abgeneigt und so gingen wir in die Bahnhofskneipe.
Sie war leer und verraucht, die frische Luft war hier ein seltener Gast. Ich roch das Bier und den Korn. Die Wände waren kahl und leer. Die Tische hatten unter anderem schon lange kein Wasser mehr gesehen. Hinter der Biertheke stand ein schmierig angezogener Mann. Seine strähnigen, fettigen Haare fielen ihm in die Stirn. Die Haare hatten dem Kamm schon vor langer Zeit auf Wiedersehen gesagt.
Bei unserem Eintreten bohrte er in seiner Nase und hörte auch nicht auf, als wir uns niederliessen. Mit einem mürrischen Gesicht kam er zu uns an den Tisch, zugleich fragte er nach unseren Wünschen. Ich hinterfragte mich, in welchem Jahr er zuletzt gelächelt hatte.
Es war im Handumdrehen bestellt, zwei Bier und zwei Korn. Der Bahnvorstand sagte mir:
»Genau genommen mag ich Korn gar nicht, allerdings hier muss ich ihn trinken, um die Bazillen zu vernichten.«
Ich bemerkte, dass ich ihn bewundere, weil er die Arbeit als Bahnvorstand was auch immer so gut könne. Das bedürfe doch sicher besondere Fähigkeiten, Züge in Richtung Westen und gegen Osten fahren zu lassen. Ganz bescheiden winkte er ab und bemerkte: »Meine Züge fahren nicht direkt an die Grenze, da muss man schon noch zweimal umsteigen«.
»Ja wo denn?« War meine Frage. Er erläuterte mir, dass die Züge, die hier abfahren, nur bis Erlangen fahren würden. Dort müsse man umsteigen und mit der Sächsischen Staatsbahn bis nach Cottbus weiterreisen. Nach einem weiteren Bier mit Korn wurde er so redselig, dass er mir verriet, dass diese Nacht ein Zug nach Erlangen fahren würde.
Als wir uns auf Wiedersehen sagten sowie er weiter zum Bahnhof zurückging, blieb er auf halbem Weg stehen und deutete mir, ich solle zu ihm kommen.
»Auf dem zweiten Wagen kannst du dich gut halten. Ich komme dann nicht soweit nach vorne, um zu sehen, ob da ein blinder Passagier ist.«
Ich war höchst verlegen. Der Bahnhofsvorsteher hatte mich demnach durchschaut.
Ich holte mir noch einige Lebensmittel vom nahen Markt, verstaute sie in meinen Rucksack und wartete die Dunkelheit ab. Die Stunden wollten nicht verrinnen. Als letzten Endes nach langem Warten die Nacht hereingebrochen war, wurde es nach dem heissen Sommertag wieder etwas kühler.
Ich lag in meinem Versteck unter einem Buschwerk und wartete. Ich musste mich in Geduld üben, während ich auf den Zug, wartete der mich weiter nach Osten mitnehmen sollte. Wenn auch nicht legal, aber immerhin.
Ich war gespannt, auf Grund der Tatsache, ob der Bahnhofsvorsteher sein Wort von heute Mittag halten würde. Lange Zeit blieb mir aber gar nicht zum Überlegen, denn der Zug nach Erlangen fuhr in diesem Augenblick ein. Also setzte ich alles auf eine Karte ich, konnte nur verlieren.
Achtsam schlich ich mich in gebückter Haltung dicht zu dem zweiten Wagen und bestieg ihn ungehindert. Im Wagen sass ein weiterer Mensch, der die Bahn im gleichen Sinne als kostenloses Beförderungsmittel betrachtete.
Er erschrak, wie er mich kommen sah. Aller Voraussicht nach dachte er, ich sei ein Bremser. Es war ein junger Bursche vom Lande, der bis an-hin allerdings auf Lokalbahnen gereist war, wie er mir später erzählte.
Er hatte Angstgefühle und in seinen Augen blitzte die Aggression mir gegenüber. Wieso hatte er Angst, vor was?
Ich ging auf ihn zu und gab ihm die Hand und sagte:
»Ich bin Friedrich und du?«
Seine Worte waren leise, als er sagte:
»Ich heisse Max.«
Irgendetwas war mit diesem jungen Burschen nicht in Ordnung und ich wollte es in Erfahrung bringen. Zeit hatten wir ja ausreichend.
Lange dachte ich über meine Situation nach. Über das Erlebte, seit ich in Trubschachen aufgebrochen war. Ich registrierte, wie mich der Wandersmann mit halb geöffneten Augen beobachtete. Er sagte kein Wort. Was war mit diesem Mann los? Ich beschloss es herauszufinden, darüber hinaus ihm die Angst zu nehmen. Unter dem gleichmässigen Rattern der Zug Räder fragte ich:
»Max, so wie mir scheint hast du vor etwas Angst. Du hast ausgesprochen gewaltige Angst, ich sehe das in deinem Gesicht und in deinen Augen. Willst du darüber sprechen?«
Eine lange Zeit war es still im Bahnwagen. Man hörte nur das ungleichmässige Rattern der Räder. Sie sangen das Lied der Weite und der Freiheit. Das Rattern wurde von seiner leisen Stimme unterbrochen, indem er sagte:
»Ich will dir meine Geschichte und die meiner Verlobten erzählen. Ich bitte dich nur um eines. Unterbrich mich nicht und frage am Schluss auch nicht nach diesem und jenem. Versprichst du mir das?«
Ich versprach es und dann begann der 22-jährige Max mir seine Vergangenheit zu berichten. Und je länger er erzählte, desto besinnlicher und trauriger wurde ich.
»Ich und meine Freundin Clara beschlossen, aus reiner jugendlicher Ausgelassenheit zu sehen, wer von uns beiden länger ohne gültigen Fahrausweis mit der Bahn mitfahren könne. Es dauerte nicht lange, bis wir erwischt wurden. Die Bahnpolizei ging gar nicht sanft mit uns ins Gericht und veranlasste, dass wir in ein Arbeitslager nach Deutschland kamen. Dort mussten wir Eisenerze im Tag bau abtragen. Wir waren damals schon verlobt und die Hochzeit wäre im letzten September gewesen. Als wir in das Lager kamen, war es Mai und alle unsere Träume waren verflogen.
Wir wollten aus dem Lager, das auf dem Silberberg lag, fliehen und den Scharmützel See schwimmend überqueren, um uns dann am anderen Ufer nach Klein Rietz durchzuschlagen. Als Clara und ich um Mitternacht in der Provinz Brandenburg in das Wasser glitten, war die tiefe Bucht schwarz, ruhig und still. Es war uns gelungen, den Wachen und den Polizeihunden zu entwischen. Klein Rietz lag am anderen Ufer des Sees, etwa fünf Kilometer entfernt.
Wir hofften, in etwa drei Stunden das andere Ufer zu erreichen. Als wir ins Wasser hinaus-wateten, war es noch sehr kalt, aber es kümmerte mich nicht, wir wollten wieder in der Freiheit leben. Dies sollte ein folgenschwerer Fehler sein. Schon nach wenigen Minuten in dem kalten Wasser begann Clara unkontrolliert zu zittern. Sie klagte, sie fühle sich matt. Clara zählte auf mich, dass ich sie durchbringen würde. Wir waren etwa eine Stunde geschwommen, als sie rief, dass wir umkehren sollten da sie es sonst nicht schaffen würde. Ich hörte in der Dunkelheit ihre abgehackten Worte. Sie tastete nach meinem Körper und klammerte sich daran fest. Sie hing so schwer an mir, dass ich ihr ganzes Gewicht tragen musste. Mir war klar, dass wir es schaffen mussten. Wir hatten zu lange gewartet nicht zuletzt Pläne geschmiedet, als dass diese Flucht misslingen durfte.
Wären wir zurückgekehrt, so hätte man uns abgefangen. Wie ich da im dunklen, kalten Wasser Clara hinter mir herzog, kam mir in den Sinn, wie wir uns kennen gelernt hatten. Ich wusste nicht mehr, wann uns bewusst wurde, dass wir uns liebten. Ich hatte Clara wohl etwa zwei Stunden mitgeschleppt. Zu Beginn paddelte sie noch mit den Füssen, dann hörte sie auf. Einige Male wurde sie fast ohnmächtig. Plötzlich und unvermutet leistete sie energischen und heftigen Widerstand. »So kannst du nicht weitermachen«, keuchte sie, »lass mich los. Schwimme alleine weiter!«
Sie löste sich aus meinem Griff und schluckte Wasser beim Untergehen. Sie wollte sich selbst ertränken! Ich kämpfte mit ihr, ich flehte und zog, trat und krallte mich fest. Ich wollte nicht zulassen, dass sie starb. Aber in der Dunkelheit war es, als ob ich mit einem Seeungeheuer kämpfen würde. Ich suchte verzweifelt nach Lichtern, vielleicht entdeckte uns jemand, aber auch dieses Wunder trat nicht ein.
Es war nichts zu sehen, nur die Dunkelheit begleitete uns. Immer wieder entglitt sie mir und ging unter. Ich weiss nicht, wie lange das dauerte. Genauso abrupt wie es angefangen hatte, hörte es auf. Clara war nun ganz still. Sie war tot. Ich begann wieder zu schwimmen. Da ich ihren Kopf nicht mehr über Wasser halten musste, kam ich schneller voran. Mein Gesicht war nass, aber nicht vom Wasser, nein, es waren die Tränen, welche hemmungslos aus meinen Augen quollen.
Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Für mich war dies die längste Nacht in meinem Leben. Es schien mir, als sei ich der einzige Mensch auf Erden, welchem so etwas passiert. Ich wusste nicht einmal, ob ich in die richtige Richtung schwamm. Als ich merkte, dass ich vor Erschöpfung, nicht zuletzt vor Müdigkeit einem Zusammenbruch nahe war, dachte ich an Clara. Sie sagte immer, ich müsse mit mir selbst streng sein. Ich hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder gab ich meiner Müdigkeit nach und würde wie Clara ertrinken, oder ich würde durchhalten. Es lag ganz alleine an mir.
Ich dachte an ihre Worte und wusste, dass ich es schaffen würde.
Von weitem sah ich das kleine Dorf, das zwischen den Hügeln gekauert lag. Ich wusste, dass ich dorthin musste, dann war ich gerettet. Es waren voraussichtlich noch etwa hundert Meter bis zum Ufer, als sich mein rechtes Bein verkrampfte. Ich konnte mich nicht mehr bewegen und schaute mich deshalb im Wasser um. Diesmal meinte es das Glück gut mit mir. Ich sah zwei unbenutzte Boote, welche in meiner Nähe vertäut lagen. Ich hielt mich am Boot fest, bis sich der Krampf gelöst hatte und schwamm die restlichen Meter bis zum Land.
Einige Tage später bei der Beerdigung fragte mich ein Herr, warum ich denn Clara mitgezogen hätte, ich hätte doch schneller schwimmen können, wenn ich sie losgelassen hätte. Lange und schweigend blickte ich auf das Grab von Clara und sagte: »Es war ihr nicht vergönnt, die Freiheit wieder zu sehen, so sollte sie wenigstens in Freiheit begraben werden.«
Wir beide schwiegen über dieses Schicksal. Ich konnte mit dem jungen Mann mitfühlen. Damals ahnte ich nicht, dass ich drei Mal in eine ähnliche Situation kommen sollte wie Max.
Geraume Zeit noch dachte ich über seine Worte und sein Schicksal nach, bis auch ich in der Ecke des Waggons einschlief.
Zwei oder drei Stunden danach erwachte ich, als die Tür auf der rechten Seite langsam sowie auch leise aufgeschoben wurde. Ich rührte mich nicht, sondern lag mit geschlossenen Augen in der Ecke. Mit einem Auge blinzelte ich zu der offenen Wagentür. Eine Laterne wurde in den Wagen hineingehalten. In deren Licht konnte ich einen Bremser erkennen. Ganz leise schob er wieder die Türe zu.
Er hatte uns also gesehen.
Ich hörte, wie von aussen ein Riegel vorgeschoben wurde. Wir waren gefangen, die Türe war verschlossen. Einer der beiden Fluchtwege war zu. Das durfte nicht sein.
Ich liess einige Sekunden verstreichen, öffnete die linke Türe und machte sie leise wieder zu.
Danach kletterte ich über die Puffer auf die andere Seite des Waggons. Dort entriegelte ich die Türe und kroch wieder in den Wagen. Behutsam und leise schloss ich die Türe. Wir konnten beide Ausgänge wieder benutzen. Kurz darauf setzte sich der Zug erneut in Bewegung und bald darauf erreichten wir die nächste Station. Ich hörte Schritte im Kies, die auf unseren Wagen zuhielten. Die Türe auf der linken Seite wurde mit grossem Lärm geöffnet. Der junge Landstreicher erwachte und ich tat so, als ob ich ebenfalls gerade aus dem Schlaf gerissen wurde. Gemeinsam erhoben wir uns und stierten den Bremser und seine Laterne an. Dieser kam sofort zum Geschäft:
»Ich will drei Reichsmark haben!«
Wir sprangen auf und liefen zu ihm hin, um die Sache zu erörtern. Wir erklärten unsere Bereitschaft, diese drei Reichsmark zu bezahlen, aber wir hätten absolut kein Geld. Der Bremser war ungläubig. Überraschenderweise begann er zu feilschen und beharrte nun nur noch auf zwei Reichsmark. Wir bedauerten, so unaussprechlich mittellos zu sein, dass wir ihm auch die zwei Reichsmark nicht geben konnten. Er sagte uns wenig schmeichelhafte Wörter, nannte uns Kröten und verfluchte uns in die Hölle. Dann begann er uns zu bedrohen. Er drohte, uns weiter eingesperrt zu lassen und uns der Bahnpolizei auszuliefern. Er gab auch eine leicht verständliche Schilderung, was die Bahnpolizei mit uns tun würde. Sie würde uns an die Steinbrüche von Ruthland ausliefern, wo wir für drei Monate arbeiten müssten. Als das Gespräch auf die Bahnpolizei kam, versuchte der Landstreicher sich an die Tür zu schleichen, welche noch geschlossen war.
Ich sah wieder die nackte Angst im Gesicht von Max, bei welchem wohl wieder die Erinnerung an Clara wach wurde.
Der Bremser lachte ein heimtückisches lachen:
»Nicht so schnell, Kamerad. Als der Zug das letzte Mal hielt, habe ich den Riegel vorgeschoben.« Der Bremser glaubte selbst so fest daran, dass er hundertprozentig überzeugt klang.
Max glaubte ihm und war nun am Boden zerstört.
Noch einmal schrie der Bremser sein Ultimatum in den Bahnwagen. Entweder gaben wir ihm die zwei Reichsmark oder er würde uns an die Bahnpolizei ausliefern. Der Wanderer und ich flehten, er solle doch Mitleid an den Tag legen. Ich erzählte ihm Possen von mir, welche den härtesten Stein erweichen liessen, aber leider nicht das Gemüt des schmutzigen, geldgierigen Bremsers.
Als für ihn feststand, dass wir nicht das kleinste bisschen zahlen konnten, schob er die Türe zu und legte den Riegel vor. Einen kurzen Moment wartete er aber noch, um zu sehen, ob wir vielleicht doch noch bezahlen würden. Ich begann ihn zu beschimpfen nicht zuletzt ihn zu verfluchen. Längere Zeit höhnte er über meine Worte. Ich legte noch zu und sagte ihm, was ich mit ihm machen würde, wenn wir alleine wären. Ich würde ihm Wunden in seine schmutzige Haut schneiden und diese mit Pfeffer füllen.
Er beabsichtigte mich einzuschüchtern und drohte mir, hereinzukommen nicht zuletzt mich zu verprügeln. Er wollte mir die Eingeweide aus dem Leib treten.
Ich sagte ihm, dass er einen Tritt in seine komische Visage bekäme, wenn er versuchen würde, hereinzukommen.
Der Bremser wurde so fuchsteufelswild, dass er seine Gesellen zu Hilfe holte.
Ich hörte rasche Schritte auf dem Schotter. Während ich den Bremser weiter zur Schnecke machte, starb der Landstreicher hinter mir fast vor Sorge. Die Männer rissen die Türe auf und wollten uns verprügeln.
Ich trat keinem in die Visage, dafür riss ich die gegenüberliegende Türe auf und der Tramp nicht zuletzt ich stürmten ins Freie, in die Finsternis hinaus. Hinter uns einige Bahnbeamte, allen voran der Bremser.
Es war eine mit dunklen Regenwolken verhangene Nacht, man sah so gut wie nichts. Und so rannten wir los, in die unbekannte Nacht. Der Tramp sowie ich hatten bei weitem nicht die mindeste Ahnung, wo wir uns hinwenden sollten. Der Wandervogel und ich rannten schräg über den Verschiebebahnhof von Oberschopfheim. Wir erahnten die Hindernisse mehr, wie dass wir sie sahen. Bald einmal hatten wir den Bahnhof hinter uns gelassen. Noch waren die Bahnbeamten hinter uns her. Max wie auch ich bemerkten wie die Rufe der Bahnpolizei kontinuierlich näher erklangen. Ich wusste, wenn ich nicht im Handumdrehen eine Lösung finden würde könnte ich Ostpreussen für eine Weile vergessen. Nun rannten wir unter Bäumen durch und ihre weit ausladenden Kronen hielten noch das letzte Licht der ohnehin schon dunklen Nacht ab. Nach langem hasten kamen wir auf einen Kiesweg. Auf jenem rannten wir nun ohne Ziel entlang. Einfach weg von der Bahnpolizei. Die Bäume traten jetzt zurück und man konnte wenigstens schemenhafte Umrisse erkennen. Aber doch war es noch zu dunkel. Ab und zu rissen die Wolken auf, so dass der Vollmond für wenige Augenblicke sein schales Licht auf die Felder von Schopfheim werfen konnte. Noch war die Bahnpolizei hinter uns her. Aber der Abstand musste sich wieder vergrössert haben, denn ich hörte ihr keuchen nicht mehr.
Schemenhaft sah ich die Konturen eines Tores. Ich schrie Max zu:
»Komm hierdurch«
Als ich das Tor öffnete erschrak ich gewaltig. Es war nicht nur unheimlich schwer, nein es knarrte und quietschte in allen Tönen. Ich glaubte das Geräusch wäre bis nach Schopfheim im hintersten Winkel zu hören. Aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Am Arm packte ich Max und zerrte in durch das Tor. Weiter eilten wir auf einem Kiesweg entlang, ohne zu wissen wohin er führte.
Plötzlich stiess ich mit dem Kopf unsanft gegen etwas Hartes. Nachdem ich einen lauten Fluch ausgestossen hatte und mit der Hand über den Kopf gefahren war, um zusehen ob ich Blute. Danach schaute ich nach wo ich dagegen-gerannt war. In der Dunkelheit konnte ich den Grabstein nicht sehen an dem ich meinen Kopf angeschlagen hatte. Er war gross und stand schief auf den Weg. Auf der Oberfläche bemerkte ich Moos als ich ihn mit der Hand berührte. Ein Walter sollte hier begraben liegen alles andere war so verwaschen, dass ich es in der Dunkelheit nicht sehen konnte.
Wenigstens wusste ich jetzt, dass wir auf dem Friedhof waren. Der Tramp stolperte über einen Grabstein, welcher am Boden lag und seine Hose bekam einen weiteren Riss ab. Da seine Hose von kleinen und grossen Rissen schon übersät war, spielte dieser auch keine grosse Rolle mehr. Wir liefen weiter über den Friedhof und suchten den Ausgang. Doch wo war er?
Der Friedhof war mit einer Mannshohen Mauer umgeben. Da wir nicht zurück konnten sonst wären wir der Bahnpolizei in die Arme gelaufen. Wir mussten an der Mauer entlang, nicht wissend ob da ein Ausgang war.
Wir rannten wie wir noch nie gelaufen waren. Die Geister müssen sich gedacht haben, die zwei »Erdlinge«, die können aber laufen. Auch die Beamten schienen dasselbe gedacht zu haben und kehrten zum Zug zurück. Oder war es ihnen nicht geheuer mitten in der Nacht über den Friedhof zu laufen.
Endlich fanden wir einen Weg, der in ein kleines Wäldchen führte. Dort legten wir uns unter einer Eiche nieder. Unsere Brustkörbe hoben und senkten sich im Wettbewerb. Langsam normalisierte sich auch der Blutdruck wieder, und wir erholten uns von den Strapazen. Eines war klar, ich würde nie mehr als blinder Passagier in einem Waggon fahren, nur noch auf den Dächern.
Dort in Oberschopfheim auf der Bank trennten sich unsere Wege. Max hatte genug von Deutschland, so dass er nach Westen, nach Frankreich wollte.
Am nächsten Abend schlich ich mich zum Rangierbahnhof von Oberschopfheim zurück. Ich wollte auf einem Wagendach nach Erlangen mitfahren.
Während dem Tag hatte ich mich im Dorf aufgehalten und schaute, ob ich noch etwas Brauchbares auf meinen Weg finden konnte. Das Dorf bot aber nur wenige Einkaufsmöglichkeiten und so begab ich mich zur Vesperzeit in die Kneipe Zum Goldenen Löwen.
Die Inneneinrichtung war geschmackvoll. Im Schankraum standen schöne alte Eichentische, die viele hundert Jahre alt sein mochten. Während ich auf mein Essen wartete, versuchte ich die Jahresringe zu zählen, aber bald gab ich auf. Die Kneipe war sehr sauber gehalten, was man zu jener Zeit nicht überall sah. Ich bestellte mir ein bescheidenes Mahl, das aus Sauerkraut, Speck und Kartoffeln bestand.
Nachdem ich gegessen hatte, sass ich vor meinem Bier, um die Finsternis abzuwarten. Ich wollte bei Dunkelheit abermals zum Bahnhof schleichen, um erneut mit einem Zug Richtung Erlangen fahren. Unerwartet kam mein neuer »Freund«, der Bremser, in die Gaststube. Er wurde mit grossem »Hallo« von seinen Freunden begrüsst. Dann musste er über die beiden Verbrecher der letzten Nacht berichten. Mir war sofort klar, dass Max und ich gemeint waren. Ich hatte mich zur Seite gedreht, so dass er mein Gesicht nicht sehen konnte. Lauthals begann er zu erzählen:
»Im Bahnwagen hatten sich zwei Schwerverbrecher versteckt. Ich leuchtete mit der Lampe hinein und da sah ich sie.« Je länger er erzählte desto mehr Männer standen auf und schlenderten mit ihrem Bierglas an den Tisch des Bremsers.
Da ich furchtlos bin kletterte ich hinein und machte den einen unschädlich aber gegen zwei kam ich nicht an. Die beiden flohen über den Friedhof einen konnte ich noch einmal einfangen, er konnte sich aber wieder befreien.«
Natürlich wurde er nach diesen Ausführungen, welche er mit viel Eigenlob ausschmückte, gebührend als Held gefeiert. Und nun begann das Bier zu fliessen, denn jeder hatte es sicher einmal, oder mehrmals mit gefährlichen Verbrechern zu tun.
Ich hörte zu und musste innerlich lachen, war doch nicht ein Wort war, das er hier am Stammtisch erzählte.
Sorgfältig achtete ich darauf, dass ich vom Bremser nicht gesehen wurde, begab mich zur Tür und trat auf die Hauptgasse des Dorfes hinaus. Inzwischen war es dunkel geworden, überdies ging ich dicht an den Häusern entlang zum Rangierbahnhof zurück. Der Zug nach Erlangen stand bereits da. Er war auf demselben Schienenstrang eingefahren wie derjenige von gestern. Ich schlich mich zum ersten Waggon, da wollte ich warten, bis die Eisenbahn anfuhr um dann aufzuspringen,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: H.P. Bachmann M. Pfenninger Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf auch nur Auszugsweise mit Genehmigung des Verlages oder der Autoren wiedergegeben werden.
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Tag der Veröffentlichung: 28.06.2015
ISBN: 978-3-7396-0247-9
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