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Kapitel 1

Ich trete hinaus ins Freie und reibe mir die Müdigkeit aus den Augen. Warum denkt man nur in Momenten der Verzweiflung und des Übels an Gott? Ich für meinen Teil. Gott ist für mich so unerreichbar, so unglaublich weit entfernt. Ich sehe wie einige Männer, Frauen und Kinder auf Knien, zu einem Gott beten, von dem sie überzeugt sind, dass es ihn gibt. Ich weiß nicht, wie oft ich diese Menschen schon sah. Am Morgen, am Mittag, am Nachmittag, am Abend, in der Nacht und wieder in den frühen Morgenstunden. Es schert mich nicht, nicht im geringsten. Wenn sie dabei treu sind. Treue und Vertrauen. Das ist für mich wichtig, keine Religion, keine Herkunft, keine Abstammung. Nur Treue und Vertrauen.

Ein seltsames Gefühl überkommt mich, als würde ich beobachtet – und zwar nicht von Gott. Ich lasse mein Blick schweifen. Bei den Ställen sitzen Zwei Gestalten. Als ich auf sie zukommen, wenden sie schnell die Blicke ab. Ich erkenne Stella, das junge Mädchen mit den kastanienbraunen Locken, das immer Heidelbeerkuchen für die Kinder backt. Bei dem Jungen neben ihr strauchle ich etwas. Als ich ihn sehe, denke ich auf einmal an einen Engel. Sein Haar ist zersaust, hell und gelockt. Vom Körperbau ist er schmächtig. An seiner Hand ein schmutziger Verband. Michal. Sein Name ist Michal. Stella gabelte ihn vor einigen Tagen auf, als er mehr tot als lebendig vor meinen Pforten auftauchte. "Was ist? Was sollen diese Blicke?" frage ich und lehne mich an an die Balken neben dem Jungen. "Nichts. Verzeiht bitte" sagt Stella und sieht Michal an. Dieser schweigt jedoch. "Als du mir vorgestellt wurdest, sahst du aus wie eine Leiche. Schön, dass du zurück ins Leben gefunden hast, Michal" sage ich und sehe ihn direkt an. Er ist verunsichert. Schaut zwischen Stella und mir hin und her, sagt aber nichts. Ich verdrehe die Augen, hoffe aber inständig, dass er es nicht merkt. "Wo kommst du her?" frage ich stattdessen und versuche mein Desinteresse zu verbergen. "Aus Bornslow. Ich weiß nicht, ob...ihr schon davon gehört habt. Es ist..." Ich schweife ab, als er anfängt mir von seinem Geburtsort zu erzählen. Vor meinem inneren Auge brennen die Hütten und Bäume an der nördlichen Grenze. Dann sehe ich sie vor mir. Ihr schwarzes Haar, welches sie immer zu einem hässlichen Zopf zusammenbindet. Ringe aus Stahl sind in den Zopf mit eingearbeitet. Von vorn sieht es so aus, als hätte sie keine Haare nur eine schwarze, glatte Kappe. Eine Wilde. Ein Tier. Und so verhält sie sich – von Instinkten gesteuert. Ohne Verstand. Ohne Herz. Und ihre Lakaien tun es ihr gleich. Wie Bluthunde... "Herrin?" Michals Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. "Ja, ja, Bornslow. Ich kenne es" sage ich und lasse meinen Blick wieder schweifen. Würde es wirklich einen gütigen und gerechten Gott geben, warum ließ er den unschuldigen Michal aus Bornslow Gewalt erfahren? Warum die Unschuldigen und nicht diejenigen, die es verdient hätten?

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Tag der Veröffentlichung: 22.09.2016

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