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1.

»Hey!« Meine Stimme klang schwach und zittrig; meine Zunge fühlte sich taub an. Ich nahm einen faulen Geschmack wahr, von dem ich nicht wusste, ob er von meinem Körper oder von etwas aus diesem stammte. Meine Lippen waren trocken; der restliche Alkohol, der in meiner Blutbahn zirkulierte, weitete das Taubheitsgefühl meiner Zunge auf den gesamten Körper aus.

Mit verschwommenem Blick folgte ich dem Verlauf des nackten Rückens, der vor mir auf der Matratze ausgestreckt lag. Er war schmal und bleich. Kleine blaue Äderchen durchzogen ihn, er wirkte wie der Rücken eines Leichnams.

Der vor mir brach liegende Körper reagierte nicht. Ich stieß dem Mädchen meine Faust gegen den Hinterkopf, dann in den Nacken. Es grunzte gequält und drehte sich langsam zu mir um. In ihren Mundwinkeln hing getrockneter Speichel. Auf ihren Lippen klebte verkrustetes Blut, ihre Augen waren etwas aufgequollen.

»Was ist los?«, fragte sie schläfrig. Die Zeichen der Nacht hafteten an ihrer Stimme wie ausgedorrte Fliegen an einem Fliegenfänger. Sie sah aus wie eine Leiche, die man in meinem Bett verscharrt hatte.

»Hau ab!«, sagte ich genervt.

Dann stieg ich aus dem Bett, suchte meine Boxershorts und streifte sie über. Ich taumelte in die Küche, stützte mich an der Spüle auf und trank ein Glas Wasser. Hätte ich mich zurück zu ihr ins Bett gelegt, hätten wir sicher ausgesehen wie ein erstochenes Liebespaar. Also blieb ich, an die Spüle gelehnt, reglos stehen. Ich musterte das Wasserglas, das ich in der Hand hielt. In ihm schwamm etwas. Mit meinen Fingern griff ich zittrig danach und fischte es heraus. Es sah aus wie ein alter Algenstrang, der sich bereits bräunlich verfärbt hatte. Ich wusste nicht, was es war, und schleuderte es zurück in die Spüle. Aus dem Nebenzimmer hörte ich, wie sich das Mädchen aufbäumte. Ich stieß mich von der Spüle ab und torkelte zum Türrahmen, wo ich stehen blieb und ihr dabei zusah, wie sie ihre Kleidung, die quer im Zimmer verstreut lag, zusammensuchte. Sie trug ein Höschen mit irgendeinem Cartoonaufdruck, das sie aussehen ließ wie ein halb verwestes Kind; dazu einen aus der Form geratenen BH, der nicht den Eindruck erweckte, ihrer zu sein. Ihr ganzer Körper war so bleich wie ihr Rücken, überall durchzogen von blauen Äderchen.

Als sie sich ihr knappes Kleid mit den dünnen Trägern, das sie am Abend zum Ausgehen getragen hatte, überstreifte, blickte sie mich an. Ihre Augen waren ausdruckslos.

»Also los. Worauf wartest du?«, fragte ich monoton.

Sie spuckte schleimigen Speichel auf meinen ohnehin schon verkrusteten Teppich. »Keine Panik, du verschissener Wichser!« Sie blickte sich im Raum um, als würde sie etwas suchen. »Sobald ich meine Kippen gefunden habe, bin ich weg.«

Ich schritt auf sie zu, packte sie im Genick wie eine Katze, die man in einem Teich ertränkt, und schleifte sie zur Tür. »Vergiss deine scheiß Zigaretten und sieh zu, dass du Land gewinnst!« Ich öffnete die Tür und stieß sie ins Treppenhaus. Sie stürzte. Als ihre Hände, mit denen sie sich abzustützen versuchte, auf den Boden klatschten, warf ich die Tür ins Schloss. Gedämpft vernahm ich ein hysterisches, gleichwohl schwaches Fluchen. Aber es erreichte mich nicht. Ich hörte es lediglich. Kurz darauf vernahm ich das Geräusch von Schritten, die sich entfernten. Danach kehrte wieder Stille ein. Ich taumelte zurück in mein Bett – es stank. Ich hasste es, wenn mein eigenes Bett nicht nach mir roch. Was – zum Glück? – nicht besonders häufig vorkam.

Das Geld und die Zigaretten, die ich ihr aus ihrer Handtasche gezogen hatte, als sie bereits schlief, warf ich vor mein Bett auf den Boden. Ein schwaches, freudloses Lächeln stanzte sich auf meine Wangen.

»Dumme Schlampe«, murmelte ich noch, dann schlief ich wieder ein, ohne zu wissen, wer genau sie gewesen war und wo ich sie aufgegabelt hatte.

2.

»Dieses Dreckswetter zieht mich so was von runter«, grunzte Jake, zog an seiner Zigarette und warf den Stummel dann mit zusammengekniffenen Augen auf den Boden.

Obwohl es erst Nachmittag war, versank die Sonne bereits hinter den Hochhäusern am anderen Ende der Stadt. Der kalte Wind, der wild um sich schlug, zerrte an meinem Gesicht.

»Als wenn man dich noch weiter runterziehen könnte«, spottete Melissa und stürzte sich einen riesigen Schluck aus ihrer Coladose in ihren etwas zu kleinen Mund.

Jake starrte sie an wie ein betrogener Ehemann seine treulose Frau, die von tausend Messerstichen durchbohrt auf dem Boden liegt. In seinem Blick zitterten Genugtuung und eine Wut, die kurz aufflackerte, aber sofort wieder verebbte.

»Halt’s Maul, du Fotze!« Seine Stimme klang verächtlich. Noch verächtlicher als üblich.

»Nun reg dich mal ab«, mischte sich Tjark ein.

Jake warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, beruhigte sich aber sogleich. Er holte Schleim aus seinen Lungen hervor und spuckte ihn vor sich auf den Boden, auf dem sich bereits eine kleine Pfütze gebildet hatte.

Nur Jenny und ich schwiegen. Ich hörte den zerfetzten Gesprächsfragmenten zu und warf meinen Kopf abwechselnd von der einen zur anderen Seite, je nachdem, wer gerade seine Wut auskotzte. Als sie sich endlich anschwiegen, hob ich meinen Kopf und starrte in die welken Kronen der Bäume, die über mir ihr Laub abschüttelten und auf den Weg warfen. Die Bank, auf der wir dicht an dicht und teilweise übereinander saßen, stand in dem Park, in dem wir tagsüber immer hingen, wenn es uns einmal aus den Wohnungen trieb. Der kleine Weg, der sich am Rand des Parks entlangschlängelte, war bereits vollkommen von welken, nassen Blättern bedeckt. Er schimmerte im Licht der Laternen in einem angenehmen Braun und Gelb.

Melissa warf ihre zerdrückte, leere Coladose auf den Weg. Ich sah ihr nach und lauschte dem metallenen Geräusch, als sie aufschlug und dann wegrollte.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Jake und wischte sich ein paar klebrige Haare aus seiner aufgedunsenen Stirn. Er saß am Rand der Bank, eine Arschhälfte hing bereits im Freien. Wir hatten ihn schrittweise, von ihm unbemerkt, dort hingeschoben, weil er eigentlich ohnehin zu fett war, um überhaupt mit auf die Bank zu passen, auf der wir uns zusammenquetschten.

Ich sah ihn an und musterte sein Gesicht. Es war hässlich, gleichzeitig ausdruckslos. Ausdruckslos wie das Gesicht eines geschlachteten Schweins. Und von eben dieser Konsistenz.

»Keine Ahnung«, gab Tjark zurück. Es erleichterte mich, dass er sich zu Wort meldete. Zwar waren wir im Großen und Ganzen das, was man einen Freundeskreis nennt, aber das bedeutete nicht zwangsläufig, dass ich mit allen aus diesem so genannten Freundeskreis befreundet war. Ich verspürte kein Verlangen, mich mit Jake zu unterhalten. Das war schon immer so gewesen, aber selten war meine Abneigung gegen ihn stärker zu Tage getreten als in der letzten Zeit. Selbst Jake hatte das anscheinend endlich begriffen. Seitdem musterte er mich immer häufiger mit einem hinterhältigen Lächeln, das in seiner Schweinsfresse monströs wirkte. »Wir könnten uns irgendwo Bier besorgen und uns bei dir in die Wohnung hängen«, ergänzte er.

Sein Vorschlag war bei allen willkommen, soweit man das erkennen konnte.

»Irgendwo?«, warf Melissa spöttisch ein. »Du meinst wohl irgendwie! Wie sollen wir jetzt an Bier kommen? Also ich für meinen Teil bin blank. Bei mir könnt ihr nichts holen.«

»Ich hab auch nichts!«

»Bei mir das Gleiche.«

Jake schnaubte genervt, dann wieder rotzte er körpereigenen Schleim auf den Boden.

Ich selbst hatte zwar noch etwas Kleingeld, hatte aber kein Interesse daran, es unter diesem Haufen von Verlierern für billiges Bier aufzuteilen. Wenn man es genau nimmt, hatte ich zwar Geld, aber im eigentlichen Sinne war es nicht meins. Ich hatte es dieser Leiche von einem Mädchen abgezogen, die heute Morgen neben mir in meinem Bett gelegen hatte. Aber letztendlich war es damit meins. Denn wenn irgendwer von uns Geld aufgetrieben hatte, das er sein Eigen nannte, dann stammte es generell aus solchen Quellen.

»Scheiße!«, fluchte Jake und starrte missmutig in die Runde. »Es muss doch wohl möglich sein, irgendwo was aufzutreiben.« Er zögerte kurz. Vielleicht dachte er nach. Oder so etwas in dieser Richtung. »Meint ihr, ich hab Lust, den ganzen Abend hier rumzuhängen? Es ist schweinekalt!«

»Was soll ich denn sagen?«, flüsterte Jenny mir scherzhaft ins Ohr, ohne dass Jake es hören konnte. »Er ist immerhin noch gut isoliert!«

Ich lachte kurz auf, schwieg aber sofort wieder, als ich Jakes Schmalzblick auf mir ruhen sah. Jenny war tatsächlich so dürr wie ein abgefeilter Strohhalm. Und der eisige Wind, der durch den Park zog, als hätte jemand in einem Raum Fenster und Türen aufgelassen, schnitt in meine Haut wie Rasierklingen. Da Jenny auf meinem Schoß saß, konnte ich ihren Nacken betrachten. Er war schwächlich violett verfärbt. Die kleinen Härchen auf ihm richteten sich von der Kälte leicht auf.

»Tjark?«, fragte ich. »Hast du noch Zigaretten?« Zwar hatte ich selbst noch die, die ich dem Mädchen aus der Tasche gezogen hatte, verspürte aber nicht das Verlangen, diese hier zu verteilen. Er zog verärgert die Augenbrauen zusammen und schwieg.

»Genau, Tjark. Rück mal raus damit.« Jake mischte sich ein. Also griff Tjark in die Taschen seiner ausgeblichenen Jacke und kramte eine zerdrückte Packung heraus. Er reichte mir eine der Zigaretten, steckte sich selbst eine in seinen Mund, dann wurde ihm die Packung von Melissa aus der Hand gerissen und an Jake weitergereicht.

Wir schwiegen. Rauchend. Und ich vermisste kein Gespräch. Ich hielt die Zigarette in der rechten Hand, mit der linken fuhr ich Jenny unter den Pullover und fummelte zum Zeitvertreib ziellos an ihr herum. Sie schien nicht sonderlich darüber erfreut, aber ebenso wenig beschwerte sie sich.

»Hey, lass mich auch mal«, sagte Jake. »Rutsch mal zu mir rüber, Jenny!«

»Lass den Mist, Jake. Ich bin heute nicht in der Stimmung für so was! Außerdem ist dein Bauch so fett, dass auf deinem Schoß nicht mal Platz für ’nen Kieselstein wäre.«

Jakes von Wut verzerrtes Gesicht glich einer grauenhaften Halloween-Maske. »Du dumme Schlampe! Sonst lässt du dich doch auch von jedem vögeln. Also komm her!«

Ich ließ meine Hand von ihrer Brust auf ihren Bauch gleiten und verstärkte den Griff. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht wollte ich ihr zeigen, dass sie sich nicht auf sein Gelaber einlassen, sondern auf meinem Schoß sitzen bleiben sollte. Vielleicht tat ich es aber auch nur, weil ich sonst nichts zu tun hatte. Jenny starrte mit hohlem Blick auf die welken Blätter, die vom Wind ein wenig umhergewirbelt wurden. Tjark und ich schwiegen. Melissa lachte nichtssagend, als Jake ihr seinen Arm um die Schultern legte.

Ich genoss es, dass niemand sprach, und ließ die Dämmerung, die sich langsam über den Park ausstreckte, auf mich wirken. Ich ließ mich von ihr aufsaugen. Etwa zehn Minuten sprach niemand von uns. Das war nichts Ungewöhnliches. Nur ab und zu hörte ich ein klatschendes Geräusch, als Jakes bräunlicher Speichel über den Weg glitt.

Dann vernahm ich Stimmen, die sich uns aus der Dämmerung näherten. Eine sanfte, verliebte Mädchenstimme und die eines Jungen, die genauso verliebt klang, sodass sie einen Brechreiz in mir auslöste. Dieses jämmerliche Säuseln schnürte mir den Magen zu. Die beiden kamen immer näher. Jake horchte auf.

»Also, geht doch«, sagte er lachend und warf uns einen fiesen Blick zu. Er erhob sich von der Bank und stellte sich auf die Mitte des Weges. Dort verharrte er, auf die Besitzer der ätzend säuselnden Stimmen wartend. Einen Moment noch sagte niemand von uns etwas, ich konnte spüren, wie die Anspannung von mir Besitz ergriff.

Jenny war die erste, die langsam ihren Mund öffnete und flüsterte, was wahrscheinlich jeder von uns dachte: »Was hat dieser kranke Penner jetzt schon wieder vor?«

Wir alle waren keine Unschuldsengel – und wir genossen es. Und keiner von uns hatte sich einen besonders strengen Moralkodex auferlegt, aber Jake überschritt diese Grenze häufiger als der Rest von uns. Vielleicht sogar zu oft. Die Schritte kamen immer näher.

Als die beiden die Laterne erreichten, die etwa zwanzig Meter von uns entfernt stand, fiel ein fahler Lichtschein auf das blasse Gesicht des Jungen. Er hielt das Mädchen, das kaum kleiner war als er, im Arm und lachte. Sie gingen so eng aneinander geschmiegt, dass sie ein wenig torkelten. Als der Junge sah, dass Jake ihm den Weg versperrte, flüsterte er seiner Freundin etwas zu. Zu leise, als dass ich es hätte verstehen können. Dann sah ich, dass er sie vorsichtig und möglichst unauffällig zur Seite schob. Aber er lockerte seinen lächerlich verliebten Griff nicht von ihrer Taille. Eng umschlungen torkelten sie nun am Rand des Weges entlang, versuchten, Jake zu ignorieren und auszuweichen. Als sie sich auf gleicher Höhe mit ihm befanden und krampfhaft wegschauten, begann Jake sichtbar vor Wut zu zittern. Selbst mich überlief ein leichter, erregender Schauder, als ich das Beben seines Körpers wahrnahm. Es war seltsam elektrisierend.

»Hey, du!«, rief er. »Warte mal. Hast du vielleicht ’ne Zigarette?«

Der Junge ging mit gleicher Geschwindigkeit weiter. Im Gehen sagte er: »Nein, tut mir leid, Mann. Ich rauche nicht.«

»Willst du mich verarschen?«

Auf dem Gesicht des Jungen zeichnete sich erkennbare Furcht ab. Auch Jake schien sie wahrzunehmen, woraufhin er wieder diesen kalten Gesichtsausdruck auflegte; sein Grinsen glich dem einer Bestie.

»Hey, du dummer Pisser! Bleib sofort stehen. So leicht kommst du mir nicht davon!«

Aber das Pärchen reagierte nicht, sondern beschleunigte lediglich seine Schritte.

Ohne zu zögern, ging Jake ihnen nach. Da der Junge das Mädchen noch immer im Arm hielt, war es kein Problem, sie einzuholen. Als Jake die beiden erreicht hatte, schlug er dem Jungen mit all seiner Kraft mit der geballten Faust auf den Hinterkopf, sodass er zu Boden taumelte. Als er aufschlug, stöhnte er leicht. Jake dagegen lachte. Diese Mischung aus einem schmerzerfüllten Stöhnen und Jakes Lache erweckte selbst in mir ein leichtes Angstgefühl. Ich drückte meine Hände schwach in Jennys Bauch. Aber sie starrte unverändert in Jakes Richtung. Ihre kleinen Lippen öffneten sich sacht, jedoch ohne etwas zu sagen. Auch Melissa und Tjark verfolgten wort- und regungslos das Schauspiel.

»Steh auf!«, schrie Jake. Seine Stimme bebte, als er dem Jungen ins Gesicht trat. Es knackte. Das Mädchen, das durch Jakes Angriff ebenfalls zu Boden gestolpert war, kroch kreischend auf seinen Freund zu. Sie versuchte, ihn zu schützen, indem sie sich über ihn beugte und sein Gesicht unter ihrem Körper vergrub. Aber Jake hörte nicht auf. Er trat unvermindert auf die Körper ein. Vielleicht hatte er überhaupt nicht mitbekommen, dass er jetzt auf ein dünnes, zerbrechliches Mädchen eintrat. Vielleicht aber war es ihm auch einfach egal. Unter jedem seiner Tritte schrie das Mädchen leicht auf. Als er ihr ins Gesicht trat, versuchte sie, dieses mit ihren Händen zu schützen. Sie glitt vom Körper ihres Freundes. Jake grunzte bestialisch und trat erneut auf den Jungen ein, wieder und wieder. Im Laternenlicht konnte ich seinen Kopf ausfindig machen. Das Gesicht des Jungen war voller Blut. Die Stirn war aufgeplatzt. Von ihr rann das Blut über das ganze Gesicht, über die Augen, über den aufgerissenen Mund. Ich konnte nicht sagen, ob ihm das Blut in die Augen oder aus diesen lief. Sein blutiger Blick war panisch entstellt, aber Jake ließ nicht von ihm ab. Das Mädchen wimmerte unter Tränen, die über sein Gesicht liefen und sich mit dem Blut vermischten. Sie erstarrte. Ich wusste nicht, ob es Angst war oder Schock – oder was auch immer. Aber sie blieb reglos auf dem Boden liegen; noch immer hielt sie sich den Bauch. Dabei stöhnte sie leicht.

Ich hörte Tjarks Lachen, so als käme es aus kilometerweiter Ferne: »Yeah, Jake, weiter so, besorg’s ihr – gleich kommt sie!«

Melissa stieg darauf ein: »Ja, weiter, quetsch ihm das Hirn aus dem Schädel!«

Ich schwieg. Vielleicht hatte ich ein wenig Mitleid mit ihnen. Aber letztendlich ging es mich nichts an. Warum mussten sie auch abends so scheiße verliebt durch den dunklen Park laufen? Sie hätten doch wohl damit rechnen können, richtig?

Jenny zog meine Hände unter ihrem Pullover hervor, dann löste sie sich von mir. »Du bist ein verdammter Feigling!« Ihre Stimme klang verzerrt. Erst jetzt erkannte ich, dass sie weinte. Ich wollte ihre Hand greifen, aber sie schlug meine Finger weg, erhob sich, spuckte mir ins Gesicht und begann zu rennen, bis sie von der Dunkelheit geschluckt wurde. Ich wusste nicht, wohin sie lief. Und es war mir auch egal.

Als sich der Junge nicht mehr regte, beruhigte sich Jake endlich. Dann erkannte ich, dass er mit seinen Fingern zu seinem Gürtel glitt, um diesen zu öffnen. Was hatte er vor? Mir kamen sofort zwei Möglichkeiten in den Sinn. Und beide wären zu weit gegangen …

»Besorg’s ihr endlich!«, schrie Melissa.

»Piss ihm ins Gesicht!«, kicherte Tjark. Seine Stimme klang irr, wie im Rausch.

»Hör auf!«, schrie ich. Für einen kurzen Moment erschlug uns Schweigen. So als hätte jemand der Welt sämtliche Klänge entzogen. Alle drei starrten mich entgeistert an. Wie einen Verräter. Und vielleicht war ich das auch. Aber ich hätte es nicht ertragen, hätte Jake dieses blutüberströmte, zusammengekrümmte Mädchen vor meinen Augen vergewaltigt.

Sie alle starrten mich unverändert an. Ich regte mich nicht, sondern starrte lediglich stumm und starr zurück; so starr wie der reglose Körper des Jungen, dessen Blick wie tot ins Leere gerichtet war. Er röchelte leicht. Als er das Blut in seinem Mund mit einem lauten Würgen schluckte, wurde mir leicht übel. Schließlich wandte Jake seinen Blick von mir ab und ging vor dem röchelnden, Blut schluckenden Körper in die Hocke. Er durchsuchte alle Taschen des Jungen und zog schließlich ein kleines ledernes Portemonnaie heraus, faltete es auf und grinste.

»Leute, jetzt können wir Bier kaufen!« Er lachte. Seine Stimme war so heiter und unbelegt, dass er damit ein Kinderhörspiel hätte sprechen können. Das Mädchen hob schwächlich seinen Kopf und suchte Jakes Blick.

»Guck woanders hin, Schlampe!« Jake griff ihren Hals und presste ihr Gesicht auf den nassen Asphalt.

Dann erhob er sich und kam auf uns zu.

3.

Im Fernsehen lief irgendein alter, aber deshalb noch lange nicht guter Film. Ich konnte nicht sagen, ob der Film in schwarz-weiß war oder ob es an Jakes Fernseher lag, der, seit ich Jake kannte, nicht mehr richtig funktionierte. Für mich spielte es auch keine besonders große Rolle, da ich ohnehin nicht hinsah, sondern meinen Blick auf Jake und Jenny – die vor Jakes Wohnung auf uns gewartet hatte – gerichtet hielt. Die beiden unterhielten sich über irgendetwas. Ich konnte das Gespräch nur halb verstehen, aber soweit ich das einschätzen konnte, verpasste ich nicht besonders viel.

Jake schaute mich an, dann sagte er: »Hey, kannst du mir mal das Bier rüberreichen?«

Ich nickte und reichte ihm die halb geleerte Flasche, die schon so lange offen stand, dass das Bier mittlerweile wahrscheinlich vollkommen schal war. Jake schob sie sich in seine Schweinsfresse und trank. Anscheinend störte ihn der Geschmack nicht, was daran liegen konnte, dass er keinen besaß.

»Worüber sprecht ihr?« Ich wandte mich an Jenny, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Boden saß. In ihrer Hand hielt sie eine heruntergebrannte Zigarette, an der sie kaum gezogen hatte. Der Gestank des verbrannten Filters mischte sich unter den des Klebstoffs, den Tjark sich unter und in seine Nase schob.

»Über die Liebe«, antwortete Jenny. Sie klang genervt. So als handelte es sich bei ihrer Unterhaltung um eine stundenlange, sinnlose Diskussion.

»Über die Liebe?« Ich dachte über diese Worte nach. Und irgendwie wirkten sie in unserer Runde fehl am Platz, fand ich.

Jenny nickte und lächelte.

»Und zu welchem Entschluss seid ihr gekommen?«

»Dass es sie nicht gibt! Das ist zumindest meine Meinung.«

»Aha«, sagte ich und zündete mir ebenfalls eine Zigarette an. »Und wieso bist du dir da so sicher?«

Sie ließ ihre abgebrannte Kippe endlich in die leere Bierflasche fallen, die sie in der anderen Hand hielt. Dann stellte sie die Flasche vor sich auf den Boden und musterte sie wie einen seltsamen Fund in einer Ausgrabungsstätte. »Ganz einfach – weil ich mittlerweile so alt bin, dass ich sie mal erlebt hätte, wenn es sie gäbe. Aber da war nichts. Nur ein paar notgeile Penner, die einen wegstecken wollten – und weggesteckt haben. Okay, wenn das Liebe ist, dann gibt es sie an jeder zugepissten Straßenecke. Aber das ist nicht die Liebe, an die ich gedacht habe!«

Jake grunzte. »Also ich glaube an die Liebe!«

Seine Worte entlockten mir lediglich ein verächtliches Lächeln. Aus seinem Mund klangen sie wie das Geräusch einer Kreissäge, die Finger durchtrennt.

»Ach?«

»Ja! Natürlich …«, bestätigte er.

»Und wie sieht diese Liebe aus?«

»Sie ist was ganz Großes – glaub mir, wenn es sie in meinem Leben nicht gäbe, würde mir was fehlen!«

Ich vermisste den scherzhaften Unterton in seiner Stimme. Aber da war nichts. Nur diese Aussage. Allein diese Aussage, ohne Kontext – wie ein Aphorismus. Ich sah ihn auffordernd an. Und als ich ihn wortlos dazu aufforderte, rückte er die verzerrte Welt wieder zurecht: »Die Liebe ist was unglaublich Großes – so groß wie mein Schwanz und dicke Titten zusammen. Oder nein, die Liebe ist mein Schwanz zwischen riesigen Titten!« Er starrte mich an. Seine ätzenden Worte hatten eine heilende Wirkung auf mich; sie bewiesen, dass die Welt noch auf ihren gewohnten Bahnen rotierte. Und eigentlich waren sie nicht ätzender als das, was ich normalerweise von mir gab.

»Schon klar«, sagte ich.

Jenny kicherte ein wenig, aber wahrscheinlich nur, weil sie die Liebe nicht kannte.

»Und du?«, fragte sie mich plötzlich.

Und ich?

»Und ich?«

»Ja. Was ist mit dir? Glaubst du an die Liebe?«

Glaubte ich an die Liebe? Ich hatte keine Ahnung. Ich hoffte auf sie – aber ich wusste nicht, ob es sie gab, und somit wusste ich auch nicht, ob ich an sie glauben sollte. Es war wie mit Gott. Allerdings konnte ich nicht behaupten, dass ich hoffte, Gott würde existieren und all meine Sünden mitbekommen. Aber vielleicht hoffte ich in Wirklichkeit genauso wenig auf die Liebe, wie ich auf Gottes Existenz hoffte.

»Keine Ahnung.« Ich ließ gleichgültig die Schultern sinken und starrte auf den Fernseher. Noch immer lief der uralte Film. Er zauberte mir ein poröses Lächeln auf die Lippen.

»Mal ehrlich! Liebe ist der letzte Dreck. So unnütz wie fettarme Milch!«, erklärte Jake, woraufhin sich mein poröses Lächeln zu einem weniger porösen wandelte. Fettarme Milch hätte Jake wahrscheinlich genauso gut getan wie die Liebe, wenngleich sich keiner von uns sicher war, ob es sie nun gab. Es gab nur fettarme Milch …

»Ich kann dir sagen, was Liebe aus den Menschen macht! Sie macht sie absolut peinlich. Sie macht sie weich. Du kennst doch diese ätzenden Verliebten, die den ganzen Tag mit so ’ner Scheißfresse und Filzpantoffeln rumlaufen und immer säuseln, als hätten sie Watte geschluckt, die sie vergessen haben wieder auszukotzen!« Jake hielt kurz inne, dann blickte er prüfend zwischen Jenny und mir hin und her. »Mein Bruder ist so einer. Der absolute Vollidiot. Er wird demnächst heiraten. Kannst dir ja vorstellen, wie stolz meine Eltern auf ihn sind. Aber ich muss jedes Mal kotzen, wenn ich die beiden zusammen sehe. Am liebsten würde ich beiden sofort mit dem Stiefel ins Gesicht treten.«

Jake verstummte und steckte sich wieder die Bierflasche in seine Scheißfresse. Seine Faust blutete noch leicht an den Stellen, mit denen er den Jungen im Park niedergeschlagen hatte. Seine Augen waren leer. Noch eben war kalte Wut in ihnen aufgeflammt, aber nun waren sie so leer wie ein ausgeschüttetes Pissbecken.

Hinter uns röchelte Tjark auf der Couch und erweckte den Eindruck, als würde er gleich ersticken. Aber keiner von uns beachtete ihn wirklich.

Nachdem wir alle schwiegen, starrte ich wieder den Fernseher an. Aber mittlerweile lief nicht einmal mehr der grausame Film, sondern einfach nur irgendetwas.

»Ich glaube, ich verschwinde«, sagte ich und stand auf.

»Jetzt schon?«, fragten Jake und Jenny im Duett.

Nur Tjark schwieg, so als wäre er bereits gestorben.

»Was hast du denn noch vor?«

»Ich geh auf die Suche nach fettarmer Milch«, sagte ich und grinste. Hirnlos. Aber nicht so hirnlos wie Jake.

»Vergiss nicht, deinen Schwanz rein zu halten, wenn du sie gefunden hast«, zischte er aus seinen aufgedunsenen Wangen.

Ich beschloss, nicht zu antworten und verließ schweigend das Zimmer.

4.

Als ich bei mir zuhause ankam, vernahm ich die Leere, die ich den ganzen Tag über eingeatmet hatte. Ich schlug die Tür hinter mir zu und bahnte mir einen Weg durch den Abfall, der sich auf dem Teppich stapelte. Meine Katze lag auf dem Sessel. Ich hatte ihr den Namen »Verpiss dich« gegeben, weil das stets der erste Gedanke war, der mir kam, wenn ich sie erblickte. Und diesen Gedanken sprach ich jedes Mal aus, sodass sie zumindest denken konnte, ich würde sie bei ihrem Namen rufen.

Wenn sich ihr hagerer Bauch nicht im rhythmischen Takt ihrer Atmung bewegt hätte, wäre sie glatt als verhungert durchgegangen. Seit Tagen musste sie sich von den alten Essensresten ernährt haben, die langsam ihr Eigenleben entwickelten – und somit wahrscheinlich lebendiger waren als »Verpiss dich« und ich zusammen.

Als ich beim Sessel angekommen war, schob ich sie herunter und ließ mich kraftlos in ihn fallen. Ich fühlte mich erschöpft. Sobald ich saß, spürte ich, wie mich meine gesamte Energie verließ. Wie Luft, die zischend aus einer Hüpfburg, die man auf einem Nagelbrett errichtet hatte, entweicht.

Der Abend war verlaufen wie nahezu jeder andere Abend auch. Erst hatten wir im Park die Zeit tot- und unschuldige Jugendliche halbtotgeschlagen, dann hatten wir den Abend trost- und tatenlos um uns verebben lassen, wie wir ihn immer verebben ließen.

Melissa war bereits direkt im Anschluss an unser Treffen im Park heimgegangen, da sie am nächsten Morgen wieder arbeiten musste. Sie arbeitete als Erzieherin. Da sie aber nur auf halber Stelle arbeitete, hatte sie stets zu wenig Geld und zu viel Zeit – genau die richtigen Voraussetzungen, um sich mit uns abzugeben.

Ich verbrachte seit etwa einem Jahr nahezu meine gesamte Freizeit mit Jake, Jenny, Tjark und Melissa. Und da ich sonst nicht besonders viel machte, stand mir davon genug zur Verfügung. Eigentlich hatte ich immer Spaß dabei empfunden, meine Tage auf so tatenlose Art und Weise zu verbringen. Aber seit ein paar Tagen bemerkte ich, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Ich wusste nur noch nicht, was …

Bevor ich schlafen ging, holte ich mir noch eine Flasche billigen Bieres aus dem Kühlschrank, der zwar voll war, in dem sich außer dem Bier aber nichts Genießbares befand. Ich öffnete sie an der Spüle in der Küche, dann warf ich mich wieder in den Sessel und zappte lustlos durch die Programme. Aber auf keinem kam etwas, das mich interessierte. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob dieses Desinteresse an den Sendungen oder an mir lag. Aber sobald ich das kühle Bier, das mir die Kehle herunter rann, schmeckte, lösten sich diese Gedanken auf. Wie Materie, auf die man Säure kippt.

»Materie«, murmelte ich, stürzte das Bier in einem Schluck herunter, streichelte kurz »Verpiss dich« und ging schlafen.

Mein Bett roch noch immer nach dem fremden Mädchen. Aber als ich die Augen schloss, empfand ich den Geruch nicht als störend, sondern als seltsam friedlich.

5.

Ich erwachte gegen Mittag – wie immer ohne Pläne für den Tag. Ich stand auf, kochte Kaffee und zündete mir eine Zigarette an. Mein ausgehöhlter Magen zog sich zusammen wie die Fühler einer Schnecke, an die man etwas Heißes hält.

Draußen wehte ein Wind, der so kalt aussah, dass mir ein leichter Schauder über den Rücken lief. Mit dem Kaffee in meinen Händen starrte ich hinaus. Hin und wieder kreuzten Autos meinen Blick. Wasser stieg aus den Pfützen am Straßenrand auf, als sie mechanisch hindurch glitten. Ansonsten war die Straße restlos leer.

Ich beobachtete die Szenerie, bis ich meinen Kaffee geleert hatte. Dann fiel mein Blick auf die Ansammlung an alten Bierflaschen und Würstchengläsern. In den meisten der Gläser schwammen bräunliche, geleeartige Klumpen. Auf dem Deckel einer alten, nicht geleerten Konserve krabbelte ein Insekt; wahrscheinlich eine Kakerlake. Ich hatte bereits hin und wieder vereinzelte Kakerlaken in meiner Küche herumkrabbeln sehen. Das letzte Mal hatte ich eine gefangen, sie in meine Spüle gesetzt und dort zerdrückt. Jake hatte mir einmal erzählt, das Blut von Kakerlaken würde sich verändern, je nachdem, was sie gefressen haben. Das Blut der Kakerlake,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: © Finlay Weber
Cover: © nanihta – Adobe Stock (Retrato de una preciosa chica joven estilo emo con los ojos azules )
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2018
ISBN: 978-3-7438-7358-2

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