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I. Wahrnehmung

Ich saß gerade vor dem Fernseher und trank ein Bier, als es an der Tür klingelte. Es klang seltsam, irgendwie unwirklich. Vom Geräusch her so, als wäre es eine andere Klingel, als wäre es nicht meine Tür. Doch als es erneut klingelte, erkannte ich das vertraute Geräusch. Grrrriing, machte es. Nach einer kurzen Pause noch einmal. Grrrriing. Ich schaute auf die Ziffern meiner Armbanduhr: Es war kurz nach acht. Ich erwartete niemanden. Ich erwartete niemanden und war allein. Ganz allein. Meine Frau hatte Spätschicht und würde erst in zwei Stunden kommen; sollte sie einmal früher als geplant von der Arbeit nach Hause zurückkehren, riefe sie an. So war es bei uns üblich. Ich erwartete also niemanden, stellte meine halbleere Bierdose auf den Tisch, stand auf und schlich in Richtung Tür.

Durch den Türspion konnte ich nicht wirklich etwas Besonderes erkennen. Aber auf eine merkwürdige Art und Weise wirkte die Kulisse, die ich betrachtete, anders als sonst. Leerer, körperloser, seltsam ohne Konsistenz. Ein wenig so, als läge alles auf der anderen Seite der Tür in kilometerweiter Ferne.

Ich rieb mir die Augen, öffnete und trat in einen leeren Raum.

Der Flur, der zum Treppenhaus führte, schimmerte in einem Weiß, das an einigen Stellen bedenklich ins Transparente überging. Auch der Blick zu meinen Füßen stach in Leere. In eine Art Nichts, das punktuell von flüchtigen Rauchwolken durchbrochen wurde, die sich wie ein bizarrer Schleier um meine Füße legten. Ich kniff die Augen zusammen und strich mit den Fingern über meine Schläfen; wünschte, beim Öffnen etwas Vertrautes zu erkennen. Und als ich die Augen wieder öffnete, erblickte ich den Flur, so wie ich ihn kannte: träge, steril und weiß. Alles so wie immer. Menschenleer, kein Mobiliar, keine Blumen – nichts!

Verwirrt warf ich die Tür wieder ins Schloss. Was war das eben? Mit scheuem Blick guckte ich ein weiteres Mal durch den Türspion: Das Treppenhaus lag in seiner normalen Gestalt hinter der Tür. Alles so, wie es sein sollte. Zurück im Wohnzimmer griff ich nach der geöffneten Dose Bier, trank einen Schluck und musterte sie.

Verdammt, dachte ich, ich sollte weniger trinken. Aber kann das tatsächlich sein; dass ich die Wirklichkeit nach zwei Bieren so verzerrt wahrnehme? Unmöglich …

Ich zerdrückte die leere Dose in meiner Hand, warf sie auf den Tisch und machte mich bettfertig.

Als ich im Bett lag, schaltete ich das Licht aus. Ich brauchte etwa eine Stunde, bis ich endlich Schlaf fand. Dann schlief ich felsenfest, obwohl ich sehr unruhig träumte. Ich träumte, dass ich aufwachte. Es schien Morgen zu sein. Als ich mich zu meiner Frau herüberdrehte, ging mein Blick einfach durch sie hindurch. Sie war da, keine Frage. Aber ich konnte durch sie hindurch sehen. Und da war nichts in ihr. Keine Innereien, keine Organe, darüber nicht einmal Haut. Mein Blick durchbrach sie wie eine Glasscheibe. Eine Ewigkeit träumte ich dieses eine Bild: mein Blick durch ihre transparente Gestalt. Ein einziges Bild wie in mein Gedächtnis gemeißelt. Ein einziges Bild, das meine Träume für Stunden nährte. Erst gegen Ende der Nacht wandelte sich das seltsame Traumportrait. Ich schaffte es, den Blick von meiner Frau abzuwenden. Doch stach er dann, statt in Transparenz, in endlose Schwärze. Er brach durch die Zimmerwände und nichts als schwere, erdrückende Dunkelheit zeichnete sich vor meinem inneren Auge ab. Für den Rest der Nacht nichts als Schwärze …

II. Eiswüste

Als ich erwachte, war ich noch immer allein. Oder schon wieder. Jedenfalls erwachte ich in einem kalten Zimmer; in einem kalten, einsamen Zimmer. War meine Frau gar nicht nach Hause gekommen über Nacht? Oder war sie schon wieder zur Arbeit los? Doch dann hätte sie mich wecken können. Ich hätte es sicher mitbekommen, wenn sie das Zimmer betreten hätte.

Ich war durchfroren bis in die Knochen, dabei hatte ich das Fenster lediglich angekippt und die Heizung aufgedreht gehabt. Dennoch war es bitterkalt. Ich zog mir die Decke bis unter das Kinn und verweilte eine Zeitlang so, bevor ich aufstand. Mein Blick wanderte durchs Zimmer – und fand: eine Eiswüste. Raureif überzog die Lehne des Stuhls, auf dem ich meine Kleidung abgelegt hatte. Mein Atem kristallisierte, nahezu sobald ich ihn ausblies. Mich schauderte, als ich den Blick durchs Zimmer schweifen ließ, um mir einen Eindruck zu verschaffen. Die Vorhänge knirschten bei jedem Windzug, der durch das offene, von Eisblumen übersäte Fenster hereinwehte. Der gefrorene Stoff der Vorhänge spuckte mit einem brechenden Geräusch eisige Kristallsplitter in die Luft; der Teppich war von einer glatten Schicht überzogen, ich hätte auf ihm Schlittschuh laufen können; der Bildschirm des Fernsehers hatte sich vor lauter Kälte ausgedehnt und war zersprungen. Eiszapfen streckten sich von der Decke ins Zimmer, bedrohlich und nadelspitz.

 

Vollkommen verwirrt, versuchte ich es wie am Tag zuvor: Ich schloss die Augen, um beim Öffnen alles wieder im Normalzustand vorzufinden. Aber egal, wie oft ich die Augen auch schloss, es änderte sich nichts. Die Eiswüste blieb, Eiskristalle thronten nach wie vor mit starrer Präsenz und mein Atem gefror, kurz nachdem er meine Lungen verließ. Auf der Bettseite, wo normalerweise meine Frau schlief, war eine kleine Mulde in Form ihres Körpers. Eine kleine Eismulde. Ihre Körperumrisse in eine eisige Schablone gepresst und konserviert.

Sie muss also hier gewesen sein, dachte ich.

 

Vorsichtig stieg ich aus dem Bett und zog mich an. Die Klamotten, die die ganze Nacht über dem Stuhl gehangen hatten, waren eisig und steif, sodass es mir schwer fiel, mich anzukleiden. Es war ein unangenehmes Gefühl auf der Haut, in etwa wie bei einer Drahtbürste, mit der man sich über den Körper fährt.

Mit kleinen, vagen Schritten rutschte ich zur Tür und stahl mich hindurch ins Wohnzimmer.

Dieses fügte sich in seinem Erscheinungsbild nahtlos an: eine Winterlandschaft, wie aus einem Märchenbuch. Eiskristalle sprossen aus Blumenkübeln und glänzten im Licht der Sonne, die durch die Fenster brach. Der Himmel außerhalb der Scheiben war trüb, verschleiert. Sonnenstrahlen durchbohrten mühsam graue Nebelwände und drangen ins Zimmer meines Appartements im zwanzigsten Stock ein. Doch ihr Ursprung war nicht zu ergründen: Wie graue Wände, die im Himmel standen, verwehrte der Nebel den Blick auf alles, was dahinter lag.

In der Küche wischte ich den Reif von der Kaffeemaschine, kochte Kaffee und wartete, bis er durchgelaufen war. Ich goss ihn in einen Becher und wärmte meine Hände. Kaffee, schwarz, dampfte.

Er war ein kläglicher Versuch, die eisige Umgebung irgendwie aufzuwärmen.

Kaum, dass ich den ersten Schluck getrunken hatte, drang aus dem Wohnzimmer ein schmerzendes, schepperndes Poltern. Dicht gefolgt von einem lauten Fluchen.

Zögerlich beschloss ich nachzusehen.

»Verdammt«, fluchte irgendwer. Oder, der Stimme nach zu urteilen: irgendetwas. Meine Finger umkrallten den dampfenden Becher – zerdrückend, Halt suchend. Scheu wagte ich mich Schritt um Schritt vorwärts, dann spähte ich vorsichtig durch die Küchentür.

Es war nichts zu sehen.

Ich stapfte weiter, ein anstrengendes Stapfen wie durch Schnee. Der Boden gab einige Zentimeter nach, als meine Füße auf ihn traten.

Mein Wohnzimmer war von einem Schneesturm heimgesucht worden, während ich mich in der Küche befunden hatte. Nichts vom Mobiliar war mehr zu erkennen. Einer Eisstatue gleich ragte meine Zimmerpalme aus dem Boden; mein Auslegeteppich war unter einer Schneedecke verschollen. Dicke, harte Flocken durchbrachen die dünne Luft. Es war ein seltsames Gefühl, als sie sich auf mein Gesicht legten. Hart und kalt, spitz, es schmerzte etwas. Ich wischte meine eisigen Wangen blank. Ein Kratzen wie Scheibenwischer, die über eine verschneite Frontscheibe scharren.

Ich stand inmitten des Wohnzimmers, sodass ich um die Ecke spähen konnte; dorthin, wo am Tag zuvor noch die Sitzgarnitur gestanden hatte, auf der meine Frau und ich so viele Abende ruhig ausklingen ließen. Schneeberge und Eisgebirge ragten aus dem Boden. Ihre Konturen glichen den Formen unserer Couch, unserer Sessel, unseres Wohnzimmertisches.

Als mein Blick zwischen all

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Finlay Weber
Bildmaterialien: Portrait of a young and attractive naked woman in makeup © Maksim Šmeljov - Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 28.08.2017
ISBN: 978-3-7438-3039-4

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