„Wahre Liebe ist zu emotional, um vollkommen zu sein. Wer auch nur einmal geliebt hat, wird es verstehen ...“ Nataliya Lang
Zu Weihnachten habe ich Dir ein kleines Geschenk gekauft und Du hast derartig warmherzig und voller Aufmerksamkeit darauf reagiert, dass ich verlegen wurde und vergaß, was ich sagen wollte. Ich habe Dir einen Schutzengel geschenkt, der Dich auf der Straße beschützen sollte.
Du hast ihn Dir lange und interessiert angeschaut, die Widmung „Für Benedikt“ auf der Karte laut vorgelesen, den Schutzengel in die Tasche gesteckt und wolltest mich gerade umarmen, als ich einen Schritt nach hinten machte, weil ich Deine Nähe nicht aushielt. Noch nicht einmal die Augen konnte ich zu Dir hoch heben, weil mich der Mut verließ. Hättest du mich umarmt, wäre ich meinen
Gefühlen erlegen und in Ohnmacht gefallen.
Ich kann nicht in Deiner unmittelbaren Nähe sein und setze mich deswegen immer in die letzte Reihe, wenn ich zur Theorie komme, um Dir nicht direkt gegenüber zu sitzen. Ich tue dies, da ich bei jedem Deiner Blicke rot werde und dann einer Puppe aus einem Pappmaché -Theater ähnele, die von ihrem Erschaffer dazu verdammt wurde, unerwiederte Liebe zu empfinden.
Meine Gedanken drehen sich von Morgends bis Abends nur um Dich, so als würde mich eine höhere Macht zu Dir ziehen. Während des Unterrichts wird dieses Gefühl sogar noch intensiver, steigt fast schon ins Unermessliche, weil mich Deine Anwesenheit noch stärker um den Verstand bringt, als Deine Abwesenheit. Aus schlauen Büchern lernt man doch, dass es genau andersherum sein sollte?!
Wenn Dein Blick mich trifft, fühle ich es, erwidere ihn aber nicht direkt. Ich habe Angst davor noch mehr zu erröten, denn eine übermäßige Gesichtsröte ist doch ein sicheres Anzeichen dafür, dass mit einem Menschen etwas nicht stimmt.
Bei mir, zum Beispiel, stimmt irgendetwas mit dem Oberstübchen nicht, weil sich mein, von der Liebe vergiftetes Gehirn, weigert in Deiner Anwesenheit richtig zu funktionieren. Wenn ich Deine Blicke auch noch erwidern würde, könnte ich die theoretische Fahrprüfung gleich vergessen. Ich würde mir keine einzige Zeile merken können und „mit Pauken und Trompeten“ durch die Prüfung fallen. Alle anderen würden sich darüber nur freuen, weil verliebte Mädels hinterm Steuer nichts zu suchen haben.
Von vierzehn Theoriestunden muss ich noch neun absolvieren. Noch neun Mal wirst Du mir die Verkehrsregeln erklären, über die Gefahren berichten, die eine Autofahrt birgt und darüber, wie schwierig es im Vergleich zu anderen Ländern ist, in Deutschland die Fahrerlaubnis zu erhalten.
Ich höre Dir zu, Deiner Stimme, die so heiser und tief klingt, als ob Dir jemand auf den Hals getreten wäre. Wenn Du Dich ärgerst, brüllst Du, wie ein Wolf und Deine Stimme nimmt einen durchaus bedrohlichen Ton an. Viele haben deswegen Angst vor Dir, ich jedoch nicht. Ich habe eher Angst vor mir, vor meinen eigenen Gefühlen. Sie erfüllen mein gesamtes Wesen, vernebeln meine Gedanken und bringen mein Herz dazu, wie verrückt zu klopfen.
Dein Unterrichtsstil weckt bei mir doppeldeutige Assoziationen. Er erinnert eher an eine ausgeklügelte Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode, statt an theoretischen Fahrunterricht. Mal erzählst Du uns Anekdoten aus Deinem Leben, mal erschreckende Geschichten über die Autobahnen, auf denen Autos mit solchen Geschwindigkeiten hindurch rasen, dass sie unachtsame Fahrer von der Strecke fegen.
Eine gemeinsame Bekannte erzähle mir, dass genau auf diese Weise Dein Bruder auf der Autobahn erfasst wurde. Als sein Auto den Geist aufgab, stieg er aus, um ein Warndreieck aufzustellen. Ein mit hoher Geschwindigkeit vorbei rasendes Auto erfasste ihn von hinten und schob ihn mehrere Meter so vor sich her, so dass von ihm praktisch nichts mehr übrig blieb. Er war erst zwanzig, so wie ich jetzt.
Du hast sehr unter dem Tod Deines Bruders gelitten und hast, dem Schicksal zum Trotz, beschlossen Fahrlehrer zu werden. Wenn der Tod auch Dich vor der Zeit ereilen sollte, dann wenigstens ebenfalls auf der Autobahn, hinter dem Steuer.
„Das Leben achtet diejenigen, die sich vor dem Tod nicht fürchten, aber verzeiht denjenigen nicht, die keinen Respekt davor haben!“, sagst Du uns immer wieder und jedes Mal breitet sich danach völlige Stille in der Klasse aus. Diese Stille könnte man fast als eine Schweigeminute in Gedenken an Deinen Bruder ansehen, der keine Chance hatte sein Leben zu leben.
Daher kommt vermutlich auch Dein kalter durchdringender Blick, der das Herz zum Stehen bringen kann, nur um es eine Sekunde später mit unglaublicher Geschwindigkeit wieder rasen zu lassen.
Vermutlich kannst Du gar nicht normal, so wie andere Leute, schauen. Dein Blick durchdringt einen! Du durchbohrst mich mit Deinen eisigen Augen, hinter denen sich für immer die Bitterkeit des Verlustes eines geliebten Menschen eingebrannt hat. Ich denke, wenn man Dich umarmte, würden sie eine blaue oder wenigstens eine blau-graue Farbe annehmen … das würden sie bestimmt.
Nach dem Abitur hast Du eine Ausbildung zum Fahrlehrer gemacht und im Gedenken an Deinen Bruder eine eigene Fahrschule unweit der Universität eröffnet. Mit der Zeit wurdest Du zum Unternehmer und hast eine ganze Kette von Fahrschulen eröffnet, aber nie aufgehört in der allerersten Filiale zu unterrichten.
Inzwischen schon seit über 30 Jahren kommst Du nun einmal die Woche hierher und bringst Deinen Schülern die Fahrtheorie bei. Für Dich spielt es überhaupt keine Rolle, dass diese Filiale die kleinste Fahrschule in der gesamten Region ist. Am Wichtigsten für Dich ist es den Puls des Lebens zu spüren und den Kontakt zu den Fahrschülern nicht zu verlieren.
Wenn ich ehrlich sein soll, langweilt mich die Theorie, vor allem, weil der Unterricht abends stattfindet. Ich hatte nie besonderes Interesse am Autofahren und war deswegen nicht darauf erpicht den Führerschein während der Schulzeit zu machen.
Wozu soll er auch gut sein, wenn man kein Geld für ein Auto hat? Warum soll man die Zeit investieren und den Führerschein in der Schublade liegen lassen, bis auch die allerletzte Regel wieder aus dem Kopf verschwindet? Soll man dann wieder am Unterricht teilnehmen und von vorne anfangen? Das wäre unvernünftig!
In einer großen Stadt ist ein Führerschein außerdem überflüssig, da man jeden Ort bequem und schnell mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen kann. Hier in der Provinz ist es natürlich eine ganz andere Sache. Die Busse fahren nur selten und auch nur bis 19:00 Uhr. Wenn man hier also kein Auto hat, fehlt einem ein Stück Lebensqualität.
Das hatte ich nicht bedacht, als ich die Uni aussuchte. Eine Großstädterin, die außerdem noch keinen Führerschein hat, hätte sich nicht an einen solch abgelegenen Ort begeben dürfen. Andererseits konnte man nur hier, in Witzenhausen, das tun, was mich so sehr interessierte: einen Bachelor in Diätologie erwerben. Mir blieb also nichts anderes übrig, als hierher zu kommen, egal wie sehr ich den Wunsch hatte in einer Großstadt zu leben.
Witzenhausen ist eine der kleinsten Universitätsstädte Deutschlands mit einer Einwohnerzahl von ca. 17.000 Seelen, den größten Teil derer Studenten und Lehrkräfte darstellen. Da dieses Städtchen sehr provinziell und weit von Ballungszentren entfernt ist, war mir von Anfang an klar, dass es hier kein ausgiebiges Kulturleben geben würde. Den Großteil meiner Freizeit muss ich hier vermutlich mit Büchern verbringen und die triste Realität für eine Weile verlassen, indem ich in eine farbenfrohe Fantasiewelt eintauche. Dabei darf iman nicht vergessen, dass auch eine ordentliche Menge Unterrichtsstoff hinzukommt. Im Internet berichteten Studenten nämlich davon, dass man sehr viel lernen musste!
Es wird mir wohl jeder beipflichten, dass dies keine besonders verlockende Vorstellung für eine 20-jährige junge Frau war, die davon träumte das Leben kennen zu lernen. Man kann, wie man so schön sagt, nicht alles auf einmal haben und muss sich für eine Sache entscheiden!
* * *
In Witzenhausen angekommen, buchte ich ein Zimmer im billigsten Hotel, das ich finden konnte und fing an nach einer eigenen Wohnung zu suchen.
Ich begriff schnell, dass er für eine Studentin im ersten Semester so gut wie unmöglich war ein Zimmer im Studentenwohnheim zu erhalten und beschloss mein Glück bei privaten Anbietern zu versuchen. Als ich von den Preisen für Einzimmerwohnungen erfuhr, bereute ich, dass ich so leichtsinnig war und nicht schon wesentlich früher mit der Wohnungssuche begonnen hatte.
In der Stadt wimmelte es nur so von Studenten und meine Chancen hier auch nur irgendeine Wohnung für kleines Geld zu finden waren fast gleich Null. Ich war völlig niedergeschlagen und dachte schon darüber nach wieder nach Hause zurück zu kehren, als mir im Supermarkt plötzlich eine Anzeige mit folgendem Inhalt ins Auge fiel:
„Vermiete eine 2-Zmmer-Wohnung in Sankt-Marth, 38 qm, Balkon, 30 Min. Fahrt von der Uni entfernt, günstig. Bitte keine Anrufe von Personen männlichen Geschlechts!“
Von Sankt-Marth hatte ich noch nie etwas gehört, begriff aber, dass sich der Ort nicht sehr weit von der Uni entfernt befand und wollte mein Glück versuchen. Der letzte Satz der Anzeige macht mir Mut, weil daraus resultierte, dass es nur halb so viele Interessenten geben würde, wie üblicherweise. Ohne groß nachzudenken, wählte ich also die angegebene Nummer.
Die Eigentümerin des Hauses, Frau Krause, lud mich schließlich, nach einer langen und gründlichen Befragung bezüglich meiner Person und meiner Pläne für die Zukunft zu einer Besichtigung ein. Ich atmete erleichtert durch, weil ich während des gesamten Gesprächs befürchtete, dass der Akku meines Handys den Geist aufgibt oder Gott behüte das Prepaid-Guthaben alle wird. Das ist zum Glück nicht passiert und ich konnte mir die Adresse notieren.
Anstelle eines Abschiedsgrußes warnte mich Frau Krause, dass es viele Interessenten für die Wohnung gäbe und ich mich beeilen sollte, wenn ich sie besichtigen will.
Am nächsten Tag war ich schon ganz früh am Morgen in Sankt-Marth. Ich machte ein paar tiefe Atemzüge, um mich etwas zu beruhigen, drückte auf die Klingel und machte vorsichtshalber einige Schritte nach Hinten. Es gab keine Reaktion. Ich drückte erneut auf die Klingel und horchte. Hinter der Tür passierte aber immer noch nichts und es war absolut still.
„Vermutlich ist die Klingel kaputt“, dachte ich, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass die Eigentümerin des Hauses unseren Termin vergessen hatte.
Da ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun können, klopfte ich einige Male mit der Faust gegen die Tür und machte mir gleichzeitig Sorgen darüber, ob Frau Krause das nicht als zu aufdringlich empfinden könnte. Meine Befürchtungen waren jedoch unnötig. Eine Minute später ging die Tür einen Spalt weit auf und eine nicht sehr groß gewachsene Frau mittleren Alters blickte mich erschrocken an.
„Gute Tag!“, sagte ich und nickte freundlich mit dem Kopf. „Mein Name ist Sofie Stolz und ich möchte mir Ihre freie Wohnung anschauen.“
Frau Krause winkte anstelle einer Antwort ebenfalls mit dem Kopf und reichte mir durch den Türspalt zur Begrüßung ihre Hand durch. Ich drückte sie schnell, merkte jedoch wie kalt und feucht sie war. Es war offensichtlich, dass die Anwesenheit einer Fremden in ihrem Haus ihr großes Unbehagen bereitete, aber ihre finanzielle Situation diesen Umstand notwendig machte. Wir standen noch eine Zeit lang einander gegenüber: ich war etwas verwirrt und sie musterte mich durch den offenen Spalt in der Tür, bevor sich langsam die Tür öffnete und mir Frau Krause mit einer Geste zu verstehen gab, dass ich ihr folgen soll.
Die Wohnung, die an Studenten vermietet wurde, befand sich im zweiten Stock direkt unter dem Dach. Sie bestand aus zwei winzigen miteinander verbundenen Zimmern mit Schrägen an der Decke, einem schlauchförmigen Badezimmer und einer Miniküche. Zu meinem Erstaunen machte sie einen sehr gemütlichen Eindruck. Ganz besonders gut gefiel mir der Balkon, der mit Holzkübeln mit exotischen Pflanzen bestückt war. Sie rundeten die Wohnung ab und ich fühlte mich direkt heimisch.
„Und?“, fragte mich Frau Krause, nachdem wir mit der Besichtigung fertig waren. „Gefällt Ihnen die Wohnung?“
„Und wie!“, sagte ich begeistert und meine Augen fingen zu leuchten an. „Ich würde sie sehr gern anmieten!“
„Dann muss ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen“, sagte sie reserviert, aber nicht arrogant. „Bitte folgen Sie mir. Es ist die richtige Zeit für einen Tee.“
Wir stiegen eine Etage tiefer und gingen in ein nicht allzu großes Wohnzimmer hinein, in dem die Fenster mit schweren braunen Vorhängen mit Blümchen drauf zugezogen waren, ungeachtet dessen, das gerade Tag war. Dadurch wirkte dieses Zimmer ungemütlich, obwohl seine Bewohnerin, der großen Anzahl von Puppen und selbstgemachten Stofftieren nach zu urteilen, die überall im Zimmer platziert waren, genau das Gegenteil erreichen wollte.
Frau Krause bot mir an in einem der Sessel, die mitten im Raum zu beiden Seiten eines niedrigen Couchtisches standen, Platz zu nehmen. Die Sessel waren, so wie auch alles andere im Wohnzimmer, aus einem dunklen Holz und mit festem dunkelgrünem Stoff bezogen, was ihnen einen altmodischen Touch verlieh.
Die Hauseigentümerin fragte mich, was ich trinken möchte, ging in die Küche und kehrte nach einigen Minuten mit einem auf Hochglanz poliertem Metalltablett wieder zurück. Nachdem sie zwei Tassen aromatischen schwarzen Tees, eine Schale mit Zucker und einen Teller mit Gebäck auf den Tisch gestellt hatte, richtete sie ihre Brille und sagte einen Satz, den ich unter keinen Umständen zu hören erwartet hätte:
„Eigentlich mag ich keine Blondinen…“, sagte sie und machte eine Pause, während der sie zwei Löffel Zucker in ihre Tasse hineinrührte.
„Jetzt wird sie mir eine Abfuhr erteilen!“, ging mir mit Entsetzen durch den Kopf.
„…aber Sie, meine Liebe, können hier wohnen und ich werfe ein Auge auf Sie … und ich dulde keine Partys, Jungs, laute Musik oder Grillen auf dem Balkon.“
Ich wusste nicht, wie ich richtig auf ihre Worte reagieren sollte, nickte hektisch mit dem Kopf und hätte um ein Haar die Teetasse fallen lassen. Die von ihr verkündeten Bedingungen erschienen mir als durchaus annehmbar. Vor allem, weil ich mich einige Tage vorher schon auf ein tristes Leben eingestellt hatte.
„Und noch etwas!“, Frau Krause hob bedeutungsvoll ihren Zeigefinger in die Luft. „Es gibt noch eine Bedingung und wenn Sie mit ihr nicht einverstanden sind, kann ich meine Wohnung nicht an Sie vermieten!“
Als ich hörte, dass die Wohnungsfrage sich noch lange nicht zu meinen Gunsten entschieden hatte, verschluckte ich mich am Tee und fing an zu husten. Die Hauseigentümerin erkannte, dass sie mich mit ihren Worten aus dem Gleichgewicht gebracht hatte und wartete geduldig ab, bis sich mein Hustenanfall wieder legte. Dann berührte sie mit ihren Fingerspitzen meine Hand, so als wollte sie sich schon im Voraus für das entschuldigen, was sie jetzt sagen würde.
„Bevor wir den Mietvertrag unterschreiben, muss ich sicher sein, dass Sie hier mindestens ein Jahr lang wohnen werden“, sagte sie ohne mich loszulassen. „Andernfalls kann ich Ihnen die Wohnung nicht überlassen.“ Bis zum Winter muss ich alle Heizungen im Haus ersetzt haben und brauche deswegen dringend die Mittel dazu. Leider ist vom Geld, das ich von meinem Vater geerbt habe, nichts mehr übrig geblieben und ich muss andere Wege finden, um das alles zu finanzieren.
Als ich hörte, dass es lediglich um die Mietdauer ging, beruhigte ich mich wieder, weil ich sehr gut verstand, dass Frau Krause auf ein sicheres Einkommen angewiesen war und sich deswegen von meiner Zahlungsfähigkeit überzeugen wollte.
„Ich bin hier, um zu studieren und habe vor mindestens in den nächsten drei Jahren hier wohnen zu bleiben, bis ich den Bachelor-Titel habe“, antwortete ich auf eine möglichst überzeugende Art.
„Werden Ihre Eltern Ihnen denn helfen?“
„Ja, bis ich auf eigenen Beinen stehe. Ich werde mir aber auch einen Nebenjob suchen.“
„Das ist gut!“, auf ihrem Gesicht zeichnete sich so etwas wie ein Lächeln ab, „Hier sind Ihre Schlüssel.“
Während unserer Unterhaltung habe ich angestrengt versucht ihr nicht auf den Kopf zu schauen, aber mein Blick wanderte trotzdem immer wieder zu ihrem merkwürdigen Kopfschmuck, der mit zwei Stahlnadeln an ihrem Hinterkopf befestigt war.
Es handelte sich um einen weißen Schleier aus einem leichten synthetischen Stoff, der mit der Zeit etwas vergilbt aussah, aber seine Form noch nicht verloren hatte. Er fiel in weichen Falten auf die Schultern meines Gegenübers und verdeckte ihre dunklen zu einem Dutt zusammengesteckten Haare, was bei mir die Vermutung hervorrief, dass die Vermieterin einen asketischen Lebensstil führte. Oder, Gott bewahre, sie war Mitglied irgendeiner religiösen Sekte, die es Frauen verbot Außenstehenden ihre Haare zu zeigen.
Im Laufe des gesamten Gesprächs schüttelte Frau Krause mit dem Kopf und warf den ungehorsamen Stoff wieder nach Hinten, der augenblicklich wieder in seine ursprüngliche Position zurück kehrte und ihr wieder vor den Augen hing.
Ich schaute mir diesen nicht enden wollenden und völlig sinnlosen Kampf des Menschen gegen die Natur an (in diesem Fall konnte man die merkwürdige Kopfbedeckung eindeutig als eine Naturkatastrophe ansehen) und fragte mich immer wieder wozu das alles überhaupt nötig war? Ich beschloss jedoch, dass es nicht die richtige Zeit für persönliche Fragen war und erstickte die in mir aufkeimende Neugierde in der Hoffnung, dass sie es irgendwann selbst erzählen würde.
Letzten Endes wurde mir, entweder von diesem ständigen Schütteln oder vom zu heißen Tee, schwindlerisch und ich versuchte mich möglichst schnell zu verabschieden, nachdem ich die Schlüssel entgegen genommen hatte.
Mein Hotelzimmer war bis Sonntag bezahlt, so dass ich noch drei Tage Zeit hatte, um in aller Ruhe meine Sachen zu packen.
* * *
Die Haltestelle in Sankt-Marth befand sich in unmittelbarer Nähe des Hauses von Frau Krause, weswegen es nicht schwierig war zur Uni zu gelangen. Der Bus fuhr nach Plan: von sieben bis zwölf Uhr mittags einmal die Stunde. Nach einer Mittagspause fuhr er ab 16:00 Uhr wieder.
Der letzte Bus aus der Stadt kam um 20:00 Uhr, fuhr jedoch nicht durch Sankt-Marth, sondern ließ die Fahrgäste am Ortseingang aussteigen. Den Rest des Weges mussten sie zu Fuß einen Berg hoch steigen, der mit jedem Schritt immer steiler wurde.
Nachdem ich einige Male zu Fuß in Sankt-Marth unterwegs war, habe ich begriffen, warum Frau Krause ihre Wohnung so günstig vermietete. Ihr Haus befand sich am Ende der Straße ganz weit oben auf dem Berg und der Aufstieg stellte keine leichte Aufgabe dar.
Der Schweiß lief mir bei jedem Heimweg über das Gesicht, meine Haare klebten an der Stirn und das häufige Atmen verursachte mir Brustschmerzen. Je höher ich kam, desto schwieriger wurde das Atmen, vor allem, wenn der Rucksack voller Bücher war. Das erste, was ich machen musste, wenn ich nach Hause kam, war durchzuatmen … Frau Krause, vermutlich von meinen Qualen wissend, stellte im Hof eine Bank auf, auf der ich mich einige Minuten lang ausruhte, bevor ich nach oben in die Wohnung ging.
Am Anfang des Semesters lief an der Uni alles gut. Ich ging rechtzeitig aus dem Haus, um den Bus um 07:00 Uhr früh nicht zu verpassen. Eine halbe Stunde später war ich schon an der Uni und hatte ausreichend Zeit, um ohne Eile das richtige Gebäude zu erreichen. Und obwohl ich mein Leben an den Busfahrplan anpassen musste, fühlte ich mich deswegen nicht eingeengt, jedenfalls nicht bis zu dem Zeitpunkt, an dem er anfing ernsthaft in mein Leben einzugreifen.
Eines Morgens kam der Bus nicht und ich verspätete mich zum Seminar. Dann kam er wieder und wieder nicht und nach dreimaliger Verspätung erhielt ich eine Verwarnung. Um keine weiteren Verwarnungen zu bekommen, musste ich den Besuch des Seminars auf das nächste Semester verschieben, in der Hoffnung, dass der Dozent meine Unpünktlichkeit vergessen würde.
Mit der Zeit wurde die Angst, zu den Veranstaltungen in den frühen Stunden zu gehen, immer größer, weil ich mir nicht sicher sein konnte, ob der Bus tatsächlich kommt.
Jedes Mal hatte es einen anderen Grund. Einmal kam er nicht, weil die Fahrer streikten und eine Lohnerhöhung forderten. Ein anderes Mal fuhr der Bus einfach vorbei, als ich mich hingesetzt hatte, um den Schnürsenkel zuzubinden. Ein drittes Mal hatte man vergessen uns über die Rutenänderung zu informieren und der Bus bog einfach in die Parallelstraße ein, ohne meine Haltestelle anzufahren.
Ich merkte schnell, dass der Busfahrer, der unsere Route fuhr, immer schlecht gelaunt war. Man erzählte im Ort, dass er griesgrämig wurde, nachdem seine Frau ihn betrogen hatte, und er seine Wut gern an den Fahrgästen auslässt.
Sie verließ ihn ohne Erklärung und verschwand spurlos mit ihrem Liebhaber. Keiner wusste mehr, wann es passiert ist, da der Vorfall, nachdem er seine Aktualität verloren hatte, nicht mehr im Ort diskutiert wurde. Nur der Fahrer erinnerte mit seinem Verhalten noch ungewollt daran, weil er sich einfach nicht mehr anders verhalten konnte.
Er hatte nicht vor Rücksicht auf jemanden zu nehmen.
Wenn er merkte, dass jemand zur Haltestelle rannte, fuhr er einfach los, ohne auf ihn zu warten. Oder er schloss einem einfach die Tür vor der Nase zu und tat so, als würde er nur den Fahrplan befolgen. So rächte er sich an der Welt für sein gebrochenes Herz und den profanen Ruf, den er im Ort hatte.
Vor allem aber, mochte der Busfahrer Studenten nicht. Er hielt die Uni für einen Zufluchtsort für Faulpelze, die nur dazu gut sind spät aufzustehen, sich ungepflegt anzuziehen und zu Vorlesungen zu fahren, nur um dort die vorgeschriebenen Stunden abzusitzen.
Allen, die zur Mittagszeit in Richtung Uni fuhren, sagte er argwöhnisch: „Guten Morgen, haben Sie ausgeschlafen?“ und demonstrierte somit offen seine Geringschätzung gegenüber den zukünftigen Hochschulabsolventen. Auf verärgerte Äußerungen, die an ihn gerichtet waren, antwortete er genauso bissig: „Ich war an keiner Uni und benehme mich so, wie ich es will!“
„Studenten fahren nicht morgens zur Uni“, schimpfte der Fahrer oft im Bus, „sie schlafen und sobald es 12:00 Uhr wird, rennen Sie mit Schallgeschwindigkeit in die Mensa, um das Stammessen ja nicht zu verpassen“.
Es war schon ganz normal, dass keiner mit ihm streiten wollte, weil jeder Angst davor hatte, das nächste Mal an der Haltestelle „übersehen“ zu werden. Ich habe ebenfalls so getan, als würde ich nichts hören oder ignorierte ihn, weil ich mich mit der Zeit einfach an seine Sticheleien gewöhnt hatte.
Nur eine ältere Dame auf dem vorderen Sitz nickte die ganze Zeit zustimmend. Es war das Gerücht im Umlauf, dass sie den ganzen Tag lang mit diesem Fahrer im Bus unterwegs war, bis er sie am Ende seiner Schicht vor ihrem Haus aussteigen lies. Er fragte sie nie nach ihrer Fahrkarte, sondern öffnete einfach schweigend die Vordertür und wartete, bis sie auf „ihrem“ Sitz Platz nahm.
Jedes Mal, wenn die alte Dame in den Bus stieg, berührte sie schwächlich seine Schulter und sagte mit zitternder Stimme: „Guten Morgen, mein Sohn!“. Danach setzte sie sich auf den Vordersitz auf der rechten Seite.
So fuhren sie dann den ganzen Tag herum … Zwei fremde Seelen, die durch die Einsamkeit vereint waren. Womöglich war es aber auch das Verlangen danach, sich gebraucht zu fühlen, wenn auch nur ein wenig.
* * *
Der letzte Bus nach Sankt-Marth holte uns um 19:30 Uhr aus der Stadt ab. Dabei hielt er nicht direkt an der Uni, wie es morgens der Fall war, sondern fuhr zur Haltestelle für Intercity-Busse. Diese Haltestelle befand sich hinter einem Waldabschnitt, der die Uni umgab, und war ca. 15
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Nataliya Lang
Bildmaterialien: Hopeful.ya – Shutterstock.com
Cover: Nataliya Lang
Übersetzung: Ina Honert
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2022
ISBN: 978-3-7554-2365-2
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