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Kapitel 31. Eduards Geschichte: Fremdes Geld

Ich wollte nicht lange im Wohnheim verweilen, aber ich war nach den Ereignissen der letzten Nacht so müde, dass ich vor Erschöpfung einschlief. Ehe ich mich versah, hatte ich neun Stunden durchgeschlafen.

Doch dieses Mal war mein friedlicher Schlaf nicht auf einen Alkoholrausch zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass mein Leben wieder einen Sinn bekommen hatte. Ein zielloses Dasein ist für den Menschen fatal – davon konnte ich mich voll und ganz überzeugen!

Es war schon kurz nach Zwölf, als ich meinen Kopf vom Kissen hob. Die Sonne brannte heftig durch das Fenster. Ich verspürte unglaublichen Durst, eilte zum Wasserhahn und beugte mich nieder, bis meine Lippen auf den kalten Wasserstrahl trafen. In diesem Moment verspürte ich echte Glückseligkeit, aber das Gefühl hielt nicht lange an, da ich mich mit Entsetzen daran erinnerte, dass ich gehen musste.

Wenn man den heutigen Morgen nicht mitzählte blieben mir nur noch Dienstag und Mittwoch, um den ersten Teilbetrag aufzubringen. Und um den zweiten Teilbetrag einzusammeln - der ganze Donnerstag und vielleicht nur noch ein Teil vom Freitag, da die Geldübergabe an den Bärtigen zu einer beliebigen Zeit festgelegt werden konnte.

Als ich das begriffen hatte blieb ich nicht eine Sekunde länger in meinem Zimmer, sondern eilte zum Bahnhof, um nach Dresden zu meiner Mutter zu fahren. Unterwegs überkam mich ein Schwindelgefühl, da ich schon mehrere Tage nichts gegessen hatte. Meine körperliche Schwäche überwand ich indem ich mich damit tröstete, dass ich bei meiner Mutter essen werde. Und so setzte ich meinen Weg fort. Ab und zu schwankte ich hin und her, dann blieb ich stehen und wartete ein paar Sekunden.

Den Passanten mag es so vorgekommen sein, als sei ich betrunken, da eine Frau voller Ekel in meine Richtung blickte und betont laut sagte:

„Ich habe die Schnauze voll von diesen Säufern! Es gibt kein Entrinnen vor ihnen, weder bei Tag noch bei Nacht ..."

Aber ich war von ihrer Äußerung nicht beleidigt, denn mir war klar, dass mein ganzes Äußeres es regelrecht herausforderte.

Im Zug setzte sich dann auch eine Dame von mir weg und begann, während sie misstrauisch in meine Richtung blickte, sofort mit ihrem neuen Nachbarn zu tuscheln. Es war mir egal, was sie über mich redeten. Das Einzige, wovor ich Angst hatte, war eine Ausweiskontrolle durch Polizisten am Bahnhof, da ich den Ausweis nicht bei mir hatte. Und diese Frau konnte mich anschwärzen, denn mein Aussehen gefiel ihr eindeutig nicht.

Um keine Probleme zu bekommen, ging ich, lange vor dem Halt, zur Wagentür. Sobald der Zug hielt, öffnete ich sofort die Tür, sprang als erster aus dem Wagen, lief schnell den Bahnsteig entlang und verschwand hinter dem Bahnhofsgebäude.

 

„Aber das ist echte, wahnsinnige Liebe!“, sagte ich begeistert, als Eduard kurz innehielt, um an seinem Wein zu nippen. „Du riskierst dein Leben, um deine Freundin wiederzusehen - das kann nicht jeder! Zumal du, soweit ich weiß, mit deinem Leben in der DDR zufrieden warst. Nur aus Liebe zu Jola hast du dich entschieden, die Grenze zu überqueren. Das ist echter Heldenmut, findest du nicht?“

Eduard sah mich skeptisch an. Er teilte meine Begeisterung offensichtlich nicht.

„Ich konnte damals einfach nicht anders handeln“, antwortete er ohne jede Emotion. „Und ich habe mich nie als Held betrachtet. Und wenn ich jetzt über die Vergangenheit nachdenke, vergleiche ich mich eher mit einem einfachen deutschen Soldaten.“

„Warum mit einem Soldaten?“ Ich war überrascht, keine Verbindung zu seiner Liebesgeschichte zu sehen.

„Ja, weil die deutschen Soldaten trotz ihrer aussichtslosen Lage an der Front weitergekämpft haben ... Sie haben bedingungslos akzeptiert, dass ihr eigenes Leben nicht ihnen gehörte - es gehörte ganz ihrem Vaterland! Und es spielte keine Rolle, in welche sinnlosen Schlachten dieses Vaterland sie schickte ...

So bin auch ich in die gleiche Falle getappt! Seit ich Jola kennengelernt hatte, habe ich ihr mein Leben gegeben! Ich war bereit, ihr bis ans Ende der Welt zu folgen! Allen Gefechten standzuhalten ... allen Schlachten ... Ich habe nicht nach dem Sinn gefragt. Auch an meine Mutter habe ich damals nicht gedacht. Und sehr bald wirst du erfahren, wozu das alles geführt hat.“

 

Sobald ich den Dresdner Bahnhof verlassen hatte, eilte ich so schnell ich konnte in die Wohnung meiner Mutter. Die Zeiger der Uhr näherten sich der Drei und ich musste mich beeilen, denn um halb fünf kehrte sie nach ihrer Schicht nach Hause zurück.

Meine Mutter hatte ohne Unterbrechung zwanzig Jahre im gleichen Lebensmittelladen als Kassiererin gearbeitet, deshalb kannte ich all ihre Gewohnheiten. Außerdem wusste ich, dass sie jahrelang auf ein Auto für mich gespart hatte. Sie wollte mir nach dem Studium einen gebrauchten Trabant schenken. Nur war es ihr bisher noch nicht gelungen, da es in der DDR sehr schwierig war, einen Pkw zu kaufen.

Zuerst wollte ich, ohne etwas zu verheimlichen, ihr meine Situation mit Jola erklären und sie direkt um Geld für die Flucht bitten. Aber schon im Zug begann ich zu zweifeln, ob sie mich wirklich verstehen und auf meine (zugegebenermaßen ungewöhnliche!) Bitte angemessen reagieren wird.

Vor allem hatte ich Angst vor übertriebenen Emotionen ihrerseits. Wenn sie hören würde, dass ich die Flucht plane, wäre sie höchstwahrscheinlich in Tränen ausgebrochen oder, noch schlimmer, vom Bett nicht mehr aufgestanden. Und sicher hätte sie sofort alles unternommen, um mich von diesem Vorhaben abzubringen. Letzteres konnte ich im Prinzip nicht zulassen, da es für mich keinen Weg zurück gab.

Nachdem ich mir die Situation einige Male durch den Kopf gehen ließ, beschloss ich, meine Mutter nicht um Geld für die Flucht zu bitten, sondern es aus ihrer Wohnung mitzunehmen. Und danach sofort zu verschwinden, so als ob ich gar nicht da gewesen wäre. Und damit sie sich keine Sorgen macht, dass es etwa gestohlen worden war, wollte ich ihr einen Zettel hinterlassen, dass ich das Geld aus einer verzweifelten Lage heraus genommen habe, und versuchen werde, es so schnell wie möglich zurückzugeben.

Damals schien mir diese Entscheidung die richtige zu sein, und irgendwie fand ich sie sogar menschlich. Informationen über die wahren Gründe meiner Tat hätten meiner Mutter nichts genützt, sondern ihr im Gegenteil nur geschadet.

Je näher ich unserem Haus kam, desto mehr sah ich mich um, aus Angst, auf einen der Nachbarn zu treffen. Erstens wegen meines Aussehens, das sogar die Hunde erschreckte. Und das an sich schon unnötige Denunziationen und Klatsch verursachen könnte. Und zweitens, und das hielt ich für die Hauptgefahr, wegen der Mutmaßungen und Klarstellungsversuche der Nachbarn, die meine Mutter fragen könnten, warum ich nach Hause gekommen bin und sie nicht getroffen habe. Ich wiederhole es noch einmal: Damals haben die Leute in alles ihre Nase gesteckt!

Als ich das Treppenhaus betrat, blieb ich stehen und lauschte. Es waren weder Gespräche noch Schritte von Menschen, die die Treppe herunterkommen, zu hören. Ich schlich mich auf Zehenspitzen in den zweiten Stock zu unserer Wohnung. Als ich mein Ohr an die Tür hielt, stellte ich fest, dass niemand zu Hause war. Erfreut darüber holte ich den Schlüssel hervor, drehte ihn vorsichtig im Schloss und betrat die Wohnung. In diesem Moment versuchte ich, jedes Geräusch zu vermeiden, da ich sicher war, dass die Nachbarn sonst sofort durch die Türspione schauen würden, um herauszufinden, woher es kam.

Als ich die Wohnung betrat und all das Vertraute erblickte, krampfte sich mein Herz zusammen. Aber da die Zeit drängte, machte ich mich, ohne meiner Sentimentalität Raum zu geben, schnell auf den Weg in die Küche und steckte hoffnungsvoll meine Hand in die Blechdose mit dem Aufkleber "Zucker". Es war diejenige, in der meine Mutter normalerweise das Geld versteckte. Aber es war nichts als Zucker darin.

Ein Gefühl der Angst, dass alles Geplante scheitern könnte, ergriff mich. Meine Beine fühlten sich wie Watte an und versagten den Dienst. Und um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, musste ich mich sogar mit der Hand auf dem Tisch abstützen.

„Hat sie etwa doch ein Auto gekauft?“ Meine Gedanken spielten verrückt. „Warum? Wozu? Ich brauche es jetzt nicht. Mit ihrem blöden Auto hat sie gerade mein Leben ruiniert...“, fluchte ich verzweifelt. „Man kann es doch nicht an einem Tag verkaufen. Was ist das für eine Mutter? Was für eine Mutter ist das?“

Aber plötzlich dämmerte mir, dass kein einziges Auto vor dem Eingang geparkt war, als ich durch den Hof ging. Doch wenn meine Mutter einen Trabant gekauft hätte, dann hätte man ihn hergefahren und vor unseren Fenstern auf der Straße abgestellt. Es gab also noch keinen Kauf! Ich hatte also noch eine Chance!

„Ich muss suchen!“, befahl ich mir selbst, wie ein Spürhund. „Mutter hat das Geld wahrscheinlich nur anders versteckt. Es muss hier irgendwo sein, in der Wohnung. Sie hat keinen anderen sicheren Ort, um es aufzubewahren.“

Von diesem Gedanken ermutigt, begann ich, wahllos in der Wohnung herumzulaufen und in den Sachen meiner Mutter zu wühlen. Ich durchstöberte alle Schränke und warf ihren Inhalt auf den Boden, drehte die Matratze um, überprüfte alle Regale im Bad und nahm im Flur sogar den Spiegel von der Wand. Dann holte ich ein Messer aus der Küche, ging zurück ins Wohnzimmer, drehte das Sofa und die beiden Sessel um, mit den Füßen nach oben, und zerschnitt die Polsterung. Aber auch dort war kein Geld. Dann ging ich in den Flur und holte vom Zwischenboden den ganzen Krempel, den meine Mutter für schlechte Zeiten aufbewahrt hatte, aber auch zwischen dem ganzen Ramsch war kein Geld.

Ich ging zurück in die Küche, schwitzend und wütend, um ein Glas Wasser zu trinken und etwas zu essen. Im Kühlschrank fand ich zwei Bouletten, die ich mir sofort in den Mund schob und fast ohne zu kauen hinunterschluckte. Sie blieben als unangenehmer Klumpen in meiner Speiseröhre stecken. Um ihn „weiterzuschieben“, trank ich einen Rest Milch direkt aus der Flasche. Der Klumpen war weg, aber das Engegefühl in meiner Brust blieb.

Ich öffnete den Wasserhahn mit der linken Hand, griff aus Gewohnheit mit der rechten Hand in den Hängeschrank, um ein Glas herauszunehmen, und stieß dabei versehentlich einen Gewürzkarton aus dem Regalfach. Er fiel lautlos auf den Boden, und dann erblickte ich zwischen den verschiedenen Gewürztütchen ein kleines, in ein Taschentuch eingewickeltes Bündel.

Ich kniete nieder und packte es mit zitternden Händen aus... Und, oh mein Gott, da war es, das begehrte Geld, mit dem ich so gerechnet hatte. Meine Mutter... meine eigene Mutter wollte es nirgendwo weiter verstecken. Sie hatte es nur gerade aus der Zuckerdose geholt, um es, wenn sich die Gelegenheit bot, für einen Trabant auszugeben.

Nachdem ich meine Aufregung etwas gebändigt hatte (und ich war furchtbar aufgewühlt!), zählte ich die nagelneuen Banknoten. Als Kassiererin mochte meine Mutter kein schmutziges, abgegriffenes Geld, deshalb tauschte sie es für ihre persönlichen Ersparnisse immer in neue Scheine um.

Ich habe den Betrag dreimal nachgezählt: In dem Bündel waren genau sechstausend DDR-Mark.

„Das ist zu wenig!“, ging es mir durch den Kopf, „aber es reicht für die erste Rate.“

Dennoch blieb das Gefühl der Nervosität bestehen, denn ich wusste nicht, woher ich die fehlende Summe nehmen sollte. Dass meine Mutter kein Geld mehr besaß und eine weitere Suche aussichtslos war, war bereits klar. Da beschloss ich, dass es an der Zeit war, zu gehen, denn sie würde mich mit Fragen löchern, wenn sie mich antreffen würde.

Um mein Gewissen zu beruhigen, begann ich mir einzureden, dass meine Mutter das Geld sowieso für mich ausgeben wollte. Es machte also keinen Unterschied, wofür ich es benutzte. Aber sobald ich es in meine Hosentasche steckte, machte sich in meiner Brust ein schmerzhaftes Gefühl der Scham breit, da ich mich zum ersten Mal wie ein Dieb fühlte.

Und das Gefühl war so unerträglich, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde sterben wollte. Ich wünschte mir in diesem Moment sogar, dass mich jemand töten würde, denn es schien mir, dass sich ein schwarzes Loch in meiner Brust bildete. Mein ganzer Körper schmerzte, als würde er von innen mit etwas Heißem verbrannt werden.

Vielleicht bin ich in diesem Moment gestorben und dann wiedergeboren worden, aber nicht mehr als derselbe Mensch, der ich einmal war. Mein Körper hatte einen neuen Menschen hervorgebracht, einen, der noch gerissener und verschlagener war als sein Vorgänger. Ich konnte buchstäblich spüren, dass ich eine weitere Stufe auf der Treppe zur Hölle genommen hatte. In der Küche war es plötzlich sehr heiß geworden, und aus dem tropfenden Wasserhahn der Spüle floss Blut. Es blubberte, als hätte man gerade ein junges Lamm geschlachtet. Das war kein gutes Zeichen für mich, und ich bekam plötzlich Angst, dass mich mein Glück verlassen könnte.

Plötzlich verschwand die Vision. Durch Willenskraft verdrängte ich die unangenehmen Gedanken und erhob mich von meinen Knien. Dann riss ich ein Blatt Papier aus dem Rezeptbuch, das auf dem Tisch lag, und schrieb meiner Mutter einen Zettel mit folgendem Inhalt:

„Mutter, das Geld habe ich genommen, weil ich es jetzt wirklich brauche. Ein Auto benötige ich nicht. Entschuldige das Chaos in der Wohnung. Ich werde dir später alles erklären. Eduard.“

Ich beschwerte den Zettel mit einem Glas und verließ fluchtartig die Wohnung. Dann rannte ich, um keinen Lärm zu machen, auf Zehenspitzen, die Treppe hinunter und jubelte, dass alles so gelaufen war, wie ich es wollte.

Aber ich freute mich zu früh.

In der Hauseingangstür tauchte plötzlich die Nachbarin meiner Mutter, Frau Buch, auf. Sie war eine korpulente, schwerfällige Frau um die fünfundsechzig, mit grauem Haar und einer großen Knollennase.

Frau Buch kam mit einer vollen Einkaufstasche nach Hause. Ich war so schnell unterwegs, dass ich nicht einmal Zeit hatte, meine Muskeln anzuspannen, um abzubremsen. Einen Zusammenstoß konnten wir nicht vermeiden, ich stürzte mit meinem ganzen Gewicht auf sie. Durch den Aufprall wurde sie nach hinten geschleudert, verlor das Gleichgewicht und ließ ihre prall gefüllte Tasche fallen. Kartoffeln, Äpfel, Tomaten rollten über den Bürgersteig in verschiedene Richtungen...

Ich wollte gerade innehalten und ihr helfen, die verstreuten Lebensmittel aufzusammeln, aber da ertönte eine warnende Stimme in meinem Kopf:

„Nicht stehenbleiben, sonst erkennt sie dich und meldet dich der Polizei.“

Also habe ich mich nicht einmal umgedreht und bin weitergelaufen.

„Haltet den Rüpel! Er hat mir gerade eine Tasche mit Lebensmitteln aus der Hand gerissen! Haltet den Verbrecher! Lasst ihn nicht entkommen!“, hörte ich hinter mir die entsetzlichen Schreie der Nachbarin.

In jeder anderen Situation hätte ich angehalten, mich bei ihr entschuldigt und ihr geholfen, die Tasche in ihre Wohnung zu tragen. Aber in diesem Moment hätte selbst die kleinste Höflichkeit unvorhersehbare Folgen haben können. Also lief ich weiter und verkniff es mir, mich umzusehen.

Nachdem ich mich hinter dem Nachbarhaus versteckt hatte, setzte ich in Schrittgeschwindigkeit meinen Weg fort und ging schwer atmend in Richtung Bahnhof. Ich musste zurück nach Leipzig, damit ich mich sofort auf die Suche nach dem fehlenden Geld machen konnte. Das war es, wie ich damals dachte, was mich von Jola trennte.

Dass bei meiner Mutter nichts mehr zu holen war - das wusste ich ganz genau. In der Familie gab es keine Wertgegenstände, und ihr Gehalt als Kassiererin reichte gerade mal für ein sehr bescheidenes Leben. Es blieb mir immer ein Rätsel, wie meine Mutter es geschafft hat, noch etwas zurückzulegen und mich auch noch beim Studium zu unterstützen.

Im Gegensatz zu ihr konnte ich überhaupt nicht sparen. Ich konnte vielleicht mit meinem Mut und meiner Ausdauer prahlen, aber selbst diese Eigenschaften steckten damals noch in den Kinderschuhen. Ich war auch nie besonders vorsichtig oder achtsam gewesen, und deshalb habe ich so viele Fehler gemacht, als ich die Wohnung meiner Mutter verließ.

Abgesehen davon, dass ich Frau Buch von den Füßen geholt hatte, habe ich nicht einmal die Tür zur Wohnung meiner Mutter zugemacht. Sie hatte ein automatisch schließendes Schloss, und deshalb gab ich der Tür gewohnheitsmäßig einen Schubs, als ich in den Hausflur ging, in der Hoffnung, sie würde sich von selbst schließen. Aber das passierte nicht, da ich in letzter Sekunde im Wohnungsflur an einem Kleiderbügel hängen blieb, der zu Boden fiel, genau in die Türöffnung.

Diese Unaufmerksamkeit war mein schlimmster Fehler.

Wie zu erwarten war, meldete Frau Buch, als sie sah, dass die Wohnungstür meiner Mutter offenstand und sie deshalb noch mehr Angst um ihr Leben hatte, den Vorfall sofort der Polizei. Sie teilte ihnen auch mit, dass eine Diebesbande gerade sie und die Wohnung ihrer Nachbarin ausgeraubt hatte und dabei die Tatsache ausnutzte, dass diese bei der Arbeit war. Sie erinnerte sich gut an die Person, die sie ausgeraubt hatte, und war bereit, den Beamten eine detaillierte verbale Beschreibung des Täters zu geben.

Beamte der Polizei und der Stasi waren schnell vor Ort. Unverzüglich befragten sie Frau Buch als Geschädigte. Auf ihre Aussage hin wurde eine halbgare Beschreibung meines Aussehens erstellt.

 

„Vielleicht kam ich ihr wirklich so unheimlich vor“, grinste Eduard.

„Wie hat sie dich denn beschrieben?“

„Ein mürrischer, durchdringender Blick, ein Wolfsgrinsen, vergilbte Zähne, dichte, borstige Augenbrauen, blutunterlaufene Augen... Außerdem schien ich ihr viel größer zu sein als ich war. Mein Alter schätzte sie auf über dreißig, obwohl ich damals erst fünfundzwanzig war. Offenbar kam ich ihr älter vor, weil ich unrasiert war und Stoppeln hatte und mein Gesicht vom Trinken geschwollen war.

Wie auch immer, ich hatte Glück, dass sie mich nicht erkannt hat, sonst hätte meine Mutter für den Rest ihres Lebens keine Ruhe mehr gefunden“, fuhr Eduard müde fort. „Sicherlich hätte Frau Buch ihr bei jedem Treffen ins Gesicht geschrien, dass sie einen Mörder großgezogen hat. Oder noch schlimmer, sie hätte in der Nachbarschaft rumerzählt, dass meine Mutter auch zu dieser Einbrecherbande gehört und ihre Wohnung deren Versteck ist. Und glaub mir, solches Gerede wäre in der DDR nicht ohne Folgen geblieben. Es hätte dazu führen können, dass die Nachbarn meine Mutter aus ihrer Wohnung vertreiben. Dabei wohnte sie in einer schönen Gegend.“

„Wurde dein Zettel nicht als direkter Beweis gegen dich gewertet?“, fragte ich.

„Wurde er. Aber zu meinem Glück hatte Frau Buch damals Angst, die Wohnung meiner Mutter zu betreten. Als sie in ihr Stockwerk hinaufging und sah, dass die Tür ihrer Nachbarin weit offen stand, rannte sie sofort los, um die Polizei über eine Telefonzelle anzurufen.

„Die Stasi wusste also, dass du das Geld deiner Mutter genommen hast?“

„Ja, aber sie haben niemandem sonst davon erzählt. Nicht einmal meiner Mutter. Da sie etwas Größeres hinter dem Ganzen vermuteten, beschlossen sie, den Zettel zunächst zu verschweigen. Wahrscheinlich wurden sie durch die Aussage von Frau Buch verwirrt, denn sie behauptete, der junge Mann, der sie im Treppenhaus angegriffen hatte, sei nicht nur ein Dieb, sondern auch ein Feind der DDR! Und solche Behauptungen wurden damals ernst genommen.“

 

Nach Frau Buchs Angaben hatte der Täter während des Angriffs ein langes Küchenmesser in der Hand. Damit drohte er ihr und zwang sie, die Tasche fallen zu lassen und dabei zu schweigen und keinen Laut von sich zu geben. Nachdem er den gesamten Inhalt der Tasche direkt auf den Bürgersteig geschüttet und sie dabei weiterhin mit dem Messer bedroht hatte, nahm er ihre Brieftasche und öffnete sie, um an ihr Geld zu kommen. Aber da sie ihre gesamte Barschaft für Lebensmittel ausgegeben hatte, war die Brieftasche leer. Darüber verärgert warf der Verbrecher ihr die Brieftasche kurzerhand ins Gesicht, beschimpfte sie aufs Übelste, steckte das Messer in seinen Hemdausschnitt und flüchtete in unbekannte Richtung.

Es folgte eine lange Liste obszöner Wörter und Ausdrücke, die der Täter während des Raubes gerufen haben soll. Viele davon, wie im Protokoll vermerkt wurde, beleidigten die Ehre und Würde guter Staatsbürger und der DDR-Führung.

 

„Was könnten das zum Beispiel für Beleidigungen gewesen sein?“, fragte ich erstaunt.

„Darauf will ich gar nicht näher eingehen, denn das ist kompletter Unsinn!“ Eduard schlug wütend mit der Faust auf den Tisch.

„Und woher weißt du, was genau die Nachbarin über dich erzählt hat?“

„Ich fand das Protokoll ihrer Aussage in meiner persönlichen Akte, die mit dem Vermerk ‚extrem gefährlicher Verbrecher‘ gekennzeichnet war“, erklärte er. „Ich habe es viele Male gelesen und mich über die Falschheit der Menschen gewundert... und gleichzeitig über ihre Dummheit ... Ich wollte sogar nach der Wiedervereinigung Frau Buch aufsuchen, um es ihr unter die Nase zu reiben, aber ich habe es mir anders überlegt. Ich will alte Wunden nicht wieder aufreißen...“

„Und was geschah dann?“

„Nachdem sie von Frau Buch alle nötigen Informationen erhalten hatten, begannen die Ermittler sofort mit der Durchsuchung der Wohnung meiner Mutter. Sie nahmen das Schloss der Eingangstür heraus, um festzustellen, ob es mit einem Schlüssel oder einem Dietrich geöffnet worden war. Sie fotografierten die Zerstörung, die ich in zwei Zimmern hinterlassen hatte, den heruntergefallenen Kleiderbügel (deshalb weiß ich darüber Bescheid), den Küchentisch mit dem von einem Glas fixierten Zettel und sogar die Schachtel mit den auf dem Boden verstreuten Gewürzen. Vom Glas wurden sofort Fingerabdrücke genommen.“

„Was passierte mit dem Zettel?“

„Er wurde sofort beschlagnahmt und dem Strafverfahren als wichtiger und direkter Beweis meiner Schuld beigefügt. Zum Schutz der Ermittlungen haben sie jedoch niemandem von seiner Existenz erzählt. Aber ich glaube, es war sogar besser so, denn es bewahrte meine Mutter vor weiteren Verleumdungen durch die Nachbarn.“

 

Meine Mutter wusste lange nichts von dem Zettel. Ich glaube, diese Tatsache wurde ihr anfangs verheimlicht, weil die Stasi befürchtete, dass sie, ihrem Mutterinstinkt folgend, mich vor der Fahndung warnen könnte. So hatte sie lange nicht die geringste Ahnung und dachte, sie sei das Opfer echter Räuber geworden.

Doch die Stasi, die meine Mutter staatsfeindlicher Aktivitäten verdächtigte (sie waren alarmiert, weil ich schon vorher von dem Geld wusste!), beschloss, sie moralisch unter Druck zu setzen. Deshalb ließen die Ermittler, die am Tag des Diebstahls vor dem Haus auf sie warteten, sie nicht direkt in die Wohnung, sondern luden sie zur Befragung in einen geparkten Streifenwagen ein.

Sie informierten sie zunächst natürlich über den Diebstahl und wollten wissen, welcher konkrete Geldbetrag sich in der Wohnung befand. Mutter, die nichts verheimlichen wollte, erzählte ihnen ganz offenherzig, dass sie im Laufe der Jahre sechstausend DDR-Mark gespart hatte, die sie für einen Gebrauchtwagen ausgeben wollte. Und dass sie dieses Auto ihrem Sohn zum Uniabschluss schenken wollte.

Die Ermittler fragten sie dann detailliert über mich aus: wo ich studiere, in welchem Fachbereich, ob ich arbeite, wann ich zuletzt zu Hause war, wozu ich ein Auto brauche usw., und versuchten gleichzeitig herauszufinden, wen sie noch beschenken wollte und welche Geschenke sie machen wollte.

Meine Mutter beantwortete alle Fragen eifrig, aber dann bemerkte sie, dass sie sich ohne Ende im Kreis drehten. Die Ermittler, die keine weiteren Namen zu hören bekamen, stellten ihr immer wieder die gleichen Fragen.

 

„Mutter hat damals nicht verstanden, dass die Stasi mit dieser Taktik herausfinden wollte, für wen wirklich so viel Geld bestimmt war“, sagte Eduard. „An die Version, dass sie mir einen Gebrauchtwagen kaufen wollte, wollten die Ermittler nicht glauben, und hielten im Vernehmungsprotokoll fest, dass sie dieses Geld höchstwahrscheinlich von westlichen Geheimdiensten für die Offenlegung einiger inländischer DDR-Geheimnisse erhalten habe.“

„Ich verstehe nicht, was so seltsam daran ist, einen Gebrauchtwagen kaufen zu wollen?“ Ich war überrascht.

„Es ist heute kaum vorstellbar, aber in der BRD konnte man einen gebrauchten Trabant auf der Müllhalde finden, und in der DDR kostete er viel mehr als ein neuer Trabant. Sie wurden auf dem Schwarzmarkt für dreißig- oder vierzigtausend gehandelt, während man ein neues Exemplar für zehntausend kaufen konnte“, erklärte Eduard. „Meine Mutter wusste das nicht und glaubte völlig naiv, dass ihr sechstausend Mark ausreichen würden.“

„Aber wie kann ein Neuwagen billiger sein als ein altes Auto?“

„In der DDR war das möglich, weil die Leute zwanzig Jahre lang für einen neuen Trabant Schlange standen.“

„Du machst wohl Witze... “

„Glaub mir, ich scherze nicht. Das ist die nackte Wahrheit. Hätte meine Mutter die reale Marktsituation hinterfragt, wäre ihr klar geworden, dass sechstausend Mark für einen gebrauchten Trabant viel zu wenig sind.“

„Und so kam es, dass deine Mutter nur deshalb staatsfeindlicher Aktivitäten verdächtigt wurde, weil keiner der Ermittler glaubte, dass sie dir ein Auto kaufen wollte?“

„Ganz genau. Sie zweifelten auch daran, dass eine Kassierin mit geringem Gehalt so viel zusammensparen kann.“

 

Als meine Mutter im Laufe des Verhörs im Auto schon völlig erschöpft war, teilte ihr einer der Ermittler mit, dass sich in ihrer Wohnung ein toter Verbrecher befinde, der identifiziert werden müsse. Sie griff sich sofort vor Schreck an ihr Herz. Doch ohne ihr die Möglichkeit zu geben, eine Gegenfrage zu stellen, deutete der Ermittler sofort unmissverständlich an, dass es sich dabei wahrscheinlich um einen ihrer nahen oder entfernten Verwandten handelte, der in ihre illegalen Verbindungen eingeweiht war und von dem Geldversteck wusste.

„Sie wissen wahrscheinlich, wer es sein könnte!“, mit Betonung auf dem Wort "wer" begann der Ermittler, sie zu bedrängen, wobei er so tat, als würde er den sich verschlechternden Zustand der Befragten nicht bemerken.

„Ich habe keine Verwandten mehr außer meinem Sohn", antwortete sie und spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.

„Es war also Ihr Sohn, der den Diebstahl begangen hat?“

„Er hatte keinen Grund, das zu tun, denn ich habe das Geld für ihn gespart.“

„Und wessen Leiche könnte dann in Ihrer Wohnung liegen?“

„Ich weiß es nicht.“

„Und woher wusste diese Person dann von dem Geldversteck?“

„Ich kann es mir nicht vorstellen.“

„Es gibt also ein Versteck?“

„Ich habe kein Versteck.“

„Sie sagten gerade, dass Sie sich nicht vorstellen können, WOHER der Tote von dem Versteck wusste.“

„Das habe ich nicht so gemeint.“

„Aber Sie glauben doch nicht, dass es sich bei dem Ermordeten um Ihren Sohn handelt, oder?“

„Nein.“

„Es gibt also noch andere nahe Verwandte oder Bekannte, die in Ihre Wohnung eingedrungen sein könnten und von dem Versteck wussten?“

Zu diesem Zeitpunkt fühlte meine Mutter, wie ihr ganz schlecht wurde. Obwohl ihr Instinkt ihr sagte, dass ich nicht ermordet worden war, gelang es dem Ermittler dennoch, Zweifel in ihrer Seele zu säen. Ihr Gesicht wurde schlagartig blass, sie lehnte sich hilflos zurück und schloss die Augen.

Es folgte die Frage: „Peinigt Sie Ihr Gewissen?“

Mutter antwortete nicht, sondern atmete weiter schwer und heftig. Kalter Schweiß brach auf ihrer Stirn aus.

Als der zweite Ermittler bemerkte, dass es ihr schlecht ging, öffnete er sofort die Autotür, um frische Luft hereinzulassen, und signalisierte seinem Partner, das Verhör zu beenden.

Mutter wurde dann aus dem Auto geführt. Die Vorahnung von etwas Schrecklichem sorgte dafür, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte, aber die Ermittler stützten sie an den Armen auf beiden Seiten und führten sie in den Hauseingang. Sie halfen ihr auch die Treppe in den zweiten Stock hinauf.

Als sie durch den Hof gingen, begannen die um sie herum versammelten Schaulustigen mitfühlend zu tuscheln, denn sie waren sich sicher, dass Mutter sehr aufgebracht war, weil jemand ihre Wohnung ausgeraubt hatte. Sie hingegen dachte in diesem Moment nur an mich und betete zu Gott, dass nicht ich als Leiche in der Wohnung lag.

Nachdem sie über den am Boden liegenden Kleiderbügel geschritten waren, betraten die beiden Ermittler und meine Mutter die Wohnung. Sie sah sich kurz in den Zimmern um und stellte fest, dass alles durchwühlt worden war.

„Ist er da drin?“, fragte sie flüsternd einen der Männer, die sie begleiteten, und deutete auf etwas Sperriges, das im Wohnzimmer auf dem Boden lag.

Sie konnte nicht erkennen, was es war, denn die Fenster des Zimmers waren zugehängt. Außerdem war dieses „Bündel“, das in seinen Umrissen einem menschlichen Körper ähnelte, oben mit ihrer Wolldecke bedeckt.

„Ist er da drin?“, wiederholte sie ihre Frage.

Es kam keine Antwort.

Meine Mutter nahm das Schweigen der Ermittler als Bestätigung dafür, dass es sich tatsächlich um eine Leiche handelte (die auch meine hätte sein können!) und brach in Tränen aus. Ohne ihren Tränen Beachtung zu schenken, wurde sie sofort ins Wohnzimmer geführt und auf einen Stuhl gesetzt. Einer der Ermittler schaltete die Tischlampe ein, leutete meiner Mutter jedoch nicht ins Gesicht. Offensichtlich dachte er, dass sie das nicht aushalten würde, denn sie brauchten sie bei klarem Verstand.

„Wen erwarten Sie unter der Decke zu sehen?“, war das erste, was man sie fragte.

Unfähig, sich irgendetwas auszudenken und ängstlich auf den neben ihr liegenden leblosen Körper blickend, teilte ihnen meine Mutter verwirrt ihre Vermutungen mit. Ihrer Meinung nach könnte es sich entweder um die Leiche ihres Sohnes handeln, der dieser Tage zu ihr ziehen sollte. Oder es könnte die Leiche einer anderen Person gewesen sein, die, nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie Geld besaß, beschlossen hatte, sie zu bestehlen. Sie hatte ihren Nachbarn gegenüber nicht verheimlicht, dass sie einen gebrauchten Trabant kaufen wollte.

Sie versicherte den Ermittlern außerdem, dass sie keine weiteren Versionen habe und auch keine anderen Verwandten.

Ihre Antworten wurden im Protokoll festgehalten, mit dem Randvermerk, dass sie nicht die volle Wahrheit gesagt hat.

„Sie vermuten also vorrangig, dass es sich um Ihren Sohn handeln könnte?“, konkretisierte der Ermittler.

„Nun, ja, wie ich schon sagte", antwortete Mutter.

„Sie haben also Ihre Meinung in Bezug auf ihn geändert?“

„Nein, ich habe meine Meinung nicht geändert", sagte sie überrascht.

„Nun, Sie sagten doch vorhin, dass der Ermordete nicht Ihr Sohn sein kann. Dass es wahrscheinlich jemand anderes ist. Und jetzt stellt sich heraus, dass Sie zuallererst Ihren Sohn in Verdacht haben.“

Völlig verwirrt von der Logik der Ermittler, zuckte meine Mutter nur mit den Schultern.

„Und woran ist dieser Mensch gestorben?“, fragte sie plötzlich und drehte ihren Kopf in Richtung der Leiche. „Oder hat ihn jemand umge... “

„Hier stellen wir die Fragen“, unterbrach sie der Ermittler. „Ob er ermordet wurde oder ob er eines natürlichen Todes gestorben ist, werden wir später klären. Wir versuchen jetzt nur zu verstehen, wen genau Sie verdächtigen.“

„Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt.“

„Ihren Sohn?“

„Ich verdächtige ihn nicht des Diebstahls.“

„Aber Sie vermuten, dass er jetzt hier liegen könnte... auf diesem Fußboden... Vielleicht ist sein Herz stehengeblieben...“

„Sein Herz...“, wiederholte Mutter wie unter Hypnose, und aus ihren Augen flossen wieder Tränen.

„Also gut, es sieht so aus, als würden wir heute nichts mehr aus Ihnen herausbekommen“, winkte der Ermittler ab. Und dann sagte er wie beiläufig: „Sie können jetzt die Decke von der Leiche nehmen.“

Mutter antwortete nicht, sie war immer noch in ihren Gedanken versunken.

„Frau Falk, ich spreche mit Ihnen!“, brüllte der Ermittler.

„Mit mir?“

„Ja! Sie können jetzt die Decke von der Leiche nehmen“, wiederholte er.

„Und wozu?“, murmelte sie und konnte immer noch nicht glauben, dass sie dazu gezwungen wird.

„Wozu? Um den Verstorbenen zu identifizieren. Wir können die Leiche Ihres Sohnes doch nicht selbst identifizieren.“

„Also ist es doch mein Sohn?“

„Kann sein ... wenn Sie uns das bestätigen...“

Bei diesen Worten zitterte meine Mutter ein wenig... Sie schnappte nach Luft, erhob sich schwerfällig vom Stuhl und ging, sich mit einer Hand an der Lehne festhaltend, auf die Knie. Dann näherte sie auf allen Vieren langsam der Leiche, konnte sich aber nicht sofort entschließen, diese zu berühren.

„Ziehen Sie die Decke weg!“, befahl der Ermittler. „Keine Zeit schinden.“

In der Dunkelheit konnte sie schlecht sehen, und in dieser Ecke des Zimmers brannte keine Lampe; so tastete sie mit zitternden Händen nach dem rechten Rand der Decke und warf sie zurück. Darunter befanden sich jedoch Männerschuhe.

Da sie glaubte, den Stoff am falschen Ende zurückgeworfen zu haben, kroch sie auf allen Vieren zum entgegengesetzten Ende und zog die Decke zu sich heran. Darunter zeigte sich ein Kissen, das mit einem Gürtel zusammengeschnürt war, und einige andere zusammengeknüllte Dinge.

Mutter, die nicht verstand, was geschah, sah den Ermittler fassungslos an und fiel mit den Worten „ER ist es nicht!“ in Ohnmacht.

 

„Die Rettungssanitäter trugen meine Mutter auf einer Trage hinaus und brachten sie ins örtliche Krankenhaus. Wir hatten Glück, dass sie in eine normale stationäre Abteilung eingeliefert wurde und nicht wegen eines Nervenzusammenbruchs in die Psychiatrie.“

„Und was hätte dort Schlimmes passieren können?“

„Sie wäre mit Psychopharmaka betäubt worden, und niemand weiß, ob sie danach wieder zur Vernunft gekommen wäre. Es gab Gerüchte, dass Menschen nach einer solchen „Behandlung“ sechs Monate brauchen würden, um wieder sie selbst zu sein. Aber, wie gesagt, meine Mutter wurde von den staatlichen Behörden bei klarem Verstand gebraucht, also ließen sie sie in Ruhe.

Während ihres Krankenhausaufenthaltes wurde ihre Wohnung gründlich durchsucht und in allen Räumen, einschließlich der Toilette und des Balkons, Wanzen installiert. Außerdem wurde eine Überwachung aller Bürger, die das Gebäude betreten und verlassen, im Innenhof eingerichtet.

Aber im Großen und Ganzen war die Stasi hinter mir her. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits einen Zusammenhang zwischen meinem Erscheinen vor der Wohnung von Jolas Familie, die nicht aus der BRD zurückgekehrt war, und dem Verschwinden des Geldes aus der Wohnung meiner Mutter gesehen.

 

Am nächsten Tag besuchte ein Ermittler meine Mutter im Krankenhaus, aber nicht derselbe, der sie am Tag des Unfalls zu Hause befragt hatte. Es ging ihr immer noch nicht gut, aber sie begann, sich zu erholen.

„Frau Falk, Sie sind durch auf dem Boden verstreute Sachen ganz unnötig in große Aufregung geraten“; begann er ohne Begrüßung und hielt ihr einen Dienstausweis vor das Gesicht. „Laut dem vorläufigen Expertenbericht fehlt in Ihrem Haus nichts außer Geld aus dem Versteck. Ihre Nachbarin, Frau Buch, hat bestätigt, dass trotz der Unordnung noch all Ihre Sachen in Ihrer Wohnung sind.“

„Ich habe mich nicht aufgeregt wegen dem Kra…“, versuchte sie sich zu rechtfertigen, doch der Ermittler unterbrach sie:

„Zeit verstreicht, die Verbrecher sind auf freiem Fuß, und Sie liegen hier auf der faulen Haut, anstatt uns zu helfen. Geht es Ihnen wirklich so schlecht?“

„Was ist mit meinem Sohn?“, fragte Mutter leise, mit Mühe den Kopf hebend. „Ist er am Leben? Oder haben Sie ihn bestattet?“

„Was für einen Unsinn reden Sie da?“, antwortete der Ermittler gereizt. „Wie sollen wir ihn ohne Leiche beerdigen? Schließlich haben Sie in Ihrer Wohnung keine Leiche gefunden, obwohl Sie, wie es im Vernehmungsprotokoll heißt, intensiv danach gesucht haben. Und da es keine Leiche gibt, ist Ihr Sohn auch nicht gestorben. Oder haben Sie die Leiche von jemand anderem gesucht, der ebenfalls von Ihrem Versteck wusste?“

„Mein Sohn ist also am Leben?“, fragte Mutter, deren Lippen vor Aufregung ganz trocken waren, nach. „Und wo ist er denn?“

„Das möchte ich von Ihnen erfahren, Frau Falk, um ihm mitzuteilen, dass Sie krank sind. Ihr Sohn ist ein erwachsener Mann, und es wäre schön, wenn er hierher kommen und sich um seine kranke Mutter kümmern könnte.“

„Ich weiß nicht genau, wo er im Moment ist. Er ist schon seit Monaten nicht mehr nach Dresden gekommen“, antwortete Mutter. „Aber Ende Juni muss er sein Wohnheimzimmer an der Universität Leipzig verlassen und zu mir ziehen.“

Der Ermittler machte sich einen Vermerk in seinem Notizbuch und begann mit der Befragung. Wieder stellte er ein und dieselben Fragen, was meine Mutter zum Weinen brachte. Nach einer Weile fühlte sie sich schlecht, und er rief mit dem Klingelknopf die diensthabende Krankenschwester und ging.

Am nächsten Tag wiederholte sich die Befragung und endete mit dem Ruf nach dem behandelnden Arzt.

 

„Während Mutter im Krankenhaus lag, hatte sie keine klare Vorstellung davon, was geschehen war. Jemand hatte ihre Wohnung ausgeraubt, aber die Ermittler behandelten sie so, als sei sie der Täter und nicht das Opfer.

Niemand beantwortete ihre Fragen, aber es wurden ihr viele gestellt. Zunächst stellten sie detaillierte Fragen über mich, aber dann begannen sie aus irgendeinem Grund zu hinterfragen, ob sie Bekannte oder Verwandte im Ausland habe.“

„Das ist doch Unsinn, oder?“

„Das denke ich auch, Anna, aber das ist noch nicht alles! Dann wurde gefragt, ob sie Mitglied einer westlichen Organisation sei und ob in ihrem Haus illegale politische Treffen stattfänden. Bewahrt sie etwa verbotene Bücher, Flugblätter, Ausschnitte aus der westlichen Presse in ihrer Wohnung auf, versteckt unter den Böden ihrer Sessel und Sofas?“

„Ich verstehe nicht, von welchen Verstecken hier die Rede sein konnte.“

„Meine Mutter verstand das anfangs auch nicht und hat deshalb bei solchen Fragen nur verneint oder den Kopf geschüttelt. Sie wusste damals nicht, dass ich in der Wohnung die Polsterung der Möbel zerschnitten hatte, und es waren meine Handlungen, die die Ermittler auf die Idee brachten, dass es Verstecke gibt. Wenn ich die Uhr zurückdrehen könnte, würde ich das nie wieder tun“, sagte Eduard seufzend. „Ich habe meiner Mutter so viel Ärger bereitet. Und um noch ehrlicher zu sein, ich habe ihr gesamtes restliches Leben ruiniert...“

 

Das nächste Verhör fand schon in unserer Wohnung statt, in die meine Mutter, die noch nicht völlig genesen war, aus dem Krankenhaus gebracht wurde. Dort war noch immer alles auf den Kopf gestellt. Der Ermittler bat sie, durch die Zimmer zu gehen und alles aufzulisten, was aus den Verstecken in den Möbeln mitgenommen worden war.

Mutter war zunächst ratlos und verstand nicht, was man von ihr wollte. Aber als sie sah, dass die Polster der Sessel und des Sofas zerschnitten worden waren, erriet sie, was für Verstecke gemeint waren.

Dies hatte jedoch keinen Einfluss auf ihre Antwort:

„Ich habe keine Verstecke gebaut, und ich weiß nicht, warum die Polster der Möbel zerschnitten wurden", sagte sie ruhig.

Dasselbe sagte sie über den Spiegel im Flur, den ich vom Nagel genommen und, indem ich ihn an die Wand lehnte, auf dem Boden stehen gelassen hatte.

Ohne etwas Neues aus ihr herausbekommen zu haben, ließen die Ermittler sie in Ruhe. Die Arbeit der Beweissicherung war abgeschlossen, deshalb erlaubten sie meiner Mutter, in ihrer Wohnung bleiben zu dürfen.

 

Am Montagmorgen ging sie wie üblich zur Arbeit in den Laden, aber man ließ sie ihre Schicht nicht zu Ende bringen. Noch bevor sie ein paar Kunden bedienen konnte, fuhr ein Wagen mit Polizeibeamten vor dem Geschäft vor.

Der Verkaufsstellenleiter zog sich mit ihnen für einige Minuten in sein Büro zurück, bevor er in den Verkaufsraum eilte und ankündigte, dass das Geschäft wegen Inventur geschlossen sei. Alle Kunden im Laden wurden aufgefordert, ihre Waren unverzüglich zu bezahlen und das Gebäude zu verlassen.

Als das Geschäft sich geleert hatte, ging der Verkaufsstellenleiter auf Mutter zu (sie saß an der Kasse) und forderte sie auf, ihren Arbeitsplatz sofort zu verlassen. Danach schloss er und versiegelte die Kasse. Dann forderten zwei uniformierte Männer sie auf, ihre persönlichen Sachen mitzunehmen, und brachten sie, ohne ihr etwas zu erklären, in einem Streifenwagen weg.

Und wieder klopfte ihr Herz heftig. Auch diesmal wusste sie nicht, wohin man sie bringen würde. Obwohl die ganze Zeit über kein Wort gesprochen wurde, begann sich meine Mutter aus irgendeinem Grund Sorgen um mich zu machen.

 

„Ich ahne, wohin sie sie dann gebracht haben. Wahrscheinlich zur Stasi-Zentrale“, sagte ich. 

„Du hast es erraten, Anna, genau dorthin!“

„Aber wozu mussten diese Leute in den Laden kommen? Wenn sie deine Mutter weiter verhören wollten, hätten sie einfach verhindern können, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen wird. Warum dieser ganze Zirkus mit dem Erscheinen am Arbeitsplatz?“

„Sie wollten sie feuern und suchten nach offiziellem „Schmutz“, an dem sie es festmachen konnten. Die Revision im Laden durch die Finanzorgane des Geheimdienstes hatte jedoch keinen Fehlbetrag in der Kasse festgestellt. In der langen Zeit, in der meine Mutter als Kassiererin arbeitete, hatte es keine Beschwerden gegeben. Im Revisionsprotokoll wurde festgestellt, dass sie kein Geld aus der Kasse genommen hatte. Hätte zu diesem Zeitpunkt auch nur ein Pfennig in der Kasse gefehlt, wäre sie sofort zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Aber Mutter hat immer ehrlich gearbeitet, und das bewahrte sie vor einer strafrechtlichen Verfolgung.

 

Im Stasi-Gebäude wurde Mutter sofort einer Reihe von Kreuzverhören unterzogen. Als der Vernehmungsbeamte sie erneut als „Staatsfeind“ bezeichnete, wagte sie es, ihn zu fragen, warum er sie so nennt.

Er geriet in Wut und schlug ihr mit der Hand ins Gesicht. Der Schlag war zu hart und Mutter fiel vom Stuhl auf den Boden. Aus ihrem linken Ohr floss Blut.

Um den Verdacht, dass sie geschlagen worden war, von sich abzuwenden, brachten die Mitarbeiter der Sicherheitsorgane sie sofort ins Krankenhaus und sagten dem Arzt, sie sei während des Verhörs ohnmächtig geworden. Das bedeutete, dass sie immer noch krank war und weiter behandelt werden musste.

Zwei Tage später kamen die Ermittler erneut ins Krankenhaus, um nach ihr zu sehen, aber diesmal waren sie höflicher zu ihr. Nachdem sie gewartet hatten, bis sie entlassen wurde, fuhren sie sie im Dienstwagen nach Hause, und sagten ihr dort, ICH hätte das Geld gestohlen!

Meine Mutter glaubte ihnen nicht und begann, mich mit Überzeugung zu verteidigen, indem sie wiederholte, dass ihr Sohn zu so etwas nicht fähig sei. Und selbst das verlesene Expertengutachten, dass das Schloss nicht aufgebrochen, sondern mit dem dazugehörigen Schlüssel geöffnet worden war, überzeugte sie nicht. Sie glaubte aufrichtig an meine Unschuld.

Und als der Ermittler ihr schließlich siegessicher meinen Zettel vor die Nase hielt, sagte sie, nachdem sie die krummen Zeilen überflogen hatte, dass man jemanden, der einen Zettel hinterlassen hat, nicht als Dieb bezeichnen kann.

Die Ermittler hatten keine Argumente mehr, und meine Mutter wurde in Ruhe gelassen, aber ständig überwacht. Später erzählte sie mir, dass sie schon am nächsten Tag einen schweren, durchdringenden Blick in ihrem Rücken spürte, der ihr überallhin folgte.

Meine Mutter wurde sofort von ihrer Stelle als Kassiererin entbunden, weil man ihr im Umgang mit Geld nicht mehr traute. Aber, wie ihr erklärt wurde, war der Grund dafür nicht sie, sondern ich. Sie konnten einer Person, nach deren Sohn gefahndet wurde, nicht vertrauen.

Eine Woche später wurde Mutter auf die Stelle einer Reinigungskraft in eine Chemiefabrik versetzt, wo Schwefel- und Salzsäure abgefüllt wurden. Dort arbeitete sie bis zum Zusammenbruch der DDR und reinigte ungeheizte Lagerhallen. Sie konnte nicht kündigen oder den Arbeitsplatz wechseln, weil ihr sonst eine Strafverfolgung gedroht hätte.

Immer wieder ergossen sich Säuren auf den Boden und setzten beißende, gesundheitsschädliche Dämpfe frei. Die Mitarbeiter erhielten keine Schutzausrüstung, so dass meine Mutter oft mit Schleimhautverätzungen an Kehlkopf, Nase und Augen im Krankenhaus landete. Nach drei Jahren wurden ihre Zähne schwarz und begannen zu bröckeln. Der Arzt deutete ihr an, dass Dämpfe konzentrierter Schwefelsäure daran schuld waren. In die Krankenakte schrieb er jedoch, dass sie an einer schweren Form chronischer Parodontitis litt, die durch unzureichende Mundhygiene verursacht wurde. Mit anderen Worten: offiziell war Mutter selbst schuld an ihrer Krankheit.

Nachdem Mutter in die Fabrik versetzt worden war, grüßten sie ihre ehemaligen Kollegen aus dem Laden nicht mehr. Wenn sie ihr zufällig auf der Straße begegneten, schauten sie weg und taten so, als würden sie sie nicht kennen. Dies war nicht überraschend. In jenen Zeiten nahm sich jeder in acht, denn ein angeschlagener Ruf war in der DDR nicht mehr zu reparieren.

 

„Es ist so traurig, das zu hören“, sagte ich seufzend, als Eduard verstummte. „Schwer zu glauben, dass so etwas in Deutschland geschehen konnte, selbst im östlichen Teil. Und vor allem wann? Vor weniger als einem halben Jahrhundert! Für die Geschichte ist es fast so, als wäre es gestern gewesen, wenn man darüber nachdenkt.“

„Es ist nicht zu glauben? Du machst doch Witze“, räusperte er sich und zündete sich eine weitere Zigarette an. „Ich habe alles am eigenen Leib erlebt!“

„Ich denke, dass Deutschland aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat und dank ihnen ein demokratisches Land geworden ist“, antwortete ich. „Die Vergangenheit wird sich deshalb nicht wiederholen... sie ist vorbei...“

„Nein, die Vergangenheit ist nicht vorbei!“, unterbrach mich Eduard emotional. „Sie lebt immer noch in mir, in Jola und in zehntausenden anderen Menschen aus der DDR weiter. Und solange wir noch am Leben sind, wird sie weiterleben und diejenigen beeinflussen, die mit uns zu tun haben. Jetzt beeinflusst diese Vergangenheit dich, weil ich dir davon erzähle. Und wenn du ein Buch schreibst, wird sie deine Leser beeinflussen...“

„Aber das ist doch gut, Eduard! Das sind die Erfahrungen früherer Generationen, und sie sind sehr wichtig für uns. Wir werden nie eine bessere Zukunft aufbauen können, wenn wir die tragischen Abschnitte unserer Geschichte nicht kennen. Und unser künftiges Leben wird von den Schlussfolgerungen abhängen, die wir daraus ziehen.“

„Da stimme ich dir völlig zu, Anna!“

„Übrigens, lebt deine Mutter noch?“

Eduard schüttelte den Kopf und stieß weiße Rauchwolken in den Raum aus.

„Sie starb vor vielen Jahren an Lungenkrebs. Sie ging nicht gerne zum Arzt, sondern ertrug ihre Schmerzen. Erst als es unerträglich wurde, ging sie, aber es war zu spät. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits Metastasen in ihrem gesamten Körper ausgebreitet, so dass die Krankheit nicht mehr zu heilen war.

Vor ihrem Tod sagte sie mir, sie sei dieses Lebens überdrüssig und froh, sich nun endlich ins Jenseits zu begeben. Das alles habe ich verstanden, aber es fiel mir schwer, ihren Tod zu akzeptieren.“

„Ich bin sicher, dass es deiner Mutter im Himmel besser geht“, munterte ich ihn auf.

„Das weiß ich selbst, aber das bewahrt mich nicht davor, sie zu vermissen“, Eduard blickte für einige Sekunden hoch. „Wenn die Sehnsucht unerträglich wird, hole ich unser altes Familienalbum hervor und schaue mir die Bilder an. Das hilft mir und gibt mir das Gefühl, dass meine Eltern bei mir sind. Wie sich zeigt, bin ich doch ein sentimentaler Mensch.“

Ich seufzte tief und drückte Eduard mein Mitgefühl aus. In diesem Moment wirkte er einsam und bedürftig.

„Und sind deine Eltern noch am Leben?“, fragte er.

Ich nickte mit dem Kopf.

„Besuchst du sie oft?“

„Nicht wirklich.“

„Du solltest das öfter machen, Anna!“

„Ich weiß.“

„Du weißt es und...?“

„Ich weiß... und ich werde es tun... Sobald ich aus Leipzig zurück bin, werde ich sie sofort besuchen.“

„Also ... Besuch sie, solange sie noch leben... Danach wird es zu spät sein...“

Ich nickte erneut.

Eduard drückte die Zigarettenkippe im Aschenbecher aus und fragte:

„Wo waren wir stehengeblieben?“

„Du hast das Geld deiner Mutter genommen, deine Nachbarin umgehauen und bist weitergelaufen.“

„Ach ja, richtig. Ich lief zurück zum Bahnhof. Nachdem ich in Leipzig ausgestiegen bin ging ich schnurstracks zu Gertrude in ihr Wohnheim.“

„Zu Gertrude von der Ballettschule?“ Ich war überrascht. „Aber du hattest die Beziehung beendet, nicht wahr?“

„Das hat mich nicht gestört. Als ich am Bahnhof ankam, beschloss ich, die Beziehung wiederherzustellen. Oder besser gesagt, ich habe gar nichts entschieden, meine Füße haben mich zu ihr geführt.“

„Du hast sie doch nicht etwa vermisst?“

Eduard schüttelte verneinend den Kopf.

„Oder wolltest du dich eine Zeit lang vor der Polizei bei ihr verstecken?“

„Weder noch! Ich wusste einfach, dass sie mich immer noch liebte. Und dass bei ihr immer Geld vorhanden war!“

„Du bist also wegen des Geldes zu ihr gegangen?“

„Nicht wegen des Geldes, sondern um einmalig etwas Geld zu holen!“ Eduards Gesicht verzog sich, und es war nicht klar, ob er Seelenschmerz empfand oder lächelte. „Das war furchtbar unanständig von mir, aber ich sah keinen anderen Ausweg.“

 

Gertrudes Vater hatte eine hohe Position in einer der Parteiorganisationen der DDR, so dass die Familie sehr wohlhabend war. Als ich bei Gertrude wohnte, kaufte fast immer sie für uns Lebensmittel ein, ohne mich auch nur um einen Pfennig zu bitten. Alles, was sie von mir wollte, war Liebe und Aufmerksamkeit, und das habe ich ausgenutzt, aber nicht missbraucht.

Mit einer Frau zu schlafen, die ich nicht liebe, war für mich nie ein Problem, also hatte ich auch mit Gertrude diesbezüglich keine Probleme. Männer sind von Natur aus polygam, also sah ich sie nur als eine weitere Trophäe. Nur Jola war nie eine Trophäe für mich - sie war mir sehr wichtig.

 

„Egal, was man sagt, aber Sex mit der Frau, die man liebt, ist für einen Mann die größte Wonne“, sagte Eduard emotional. „Jedes Mal ist es, als würde man auf einem Wellenkamm in den Himmel des Glücks geschleudert, und dort erlebt man eine wahre Ekstase. Diese Empfindung ist stärker als einfach ein Orgasmus. Dies ist eine einzigartige Erfahrung, die man mit keiner anderen Empfindung vergleichen kann.

Ich habe das zum ersten Mal mit Jola erlebt und konnte es mit keiner anderen Frau wiederholen. Selbst mit Doris gab es trotz meiner Gefühle für sie keinen so starken emotionalen Ausbruch. Vermutlich, weil sie einen anderen liebte. Bei meiner Frau war das auch nicht der Fall, aber von ihr werde ich dir später erzählen.“

 

Als ich vom Bahnhof zum Wohnheim der Ballerinen ging, wusste ich, dass ich mich wie der letzte Lump benehme. Aber ich konnte es nicht verhindern. Zu Gertrude führte mich nicht die Gier nach Geld, wie sie habgierigen Menschen eigen ist. Es war ein anderes Gefühl, stärker, heimtückischer, wie Säure, die mich von innen zerfraß.

Ich glaube, es machte sich eine Art Selbsterhaltungstrieb bemerkbar (denn ich wusste, dass ich ohne Geld nicht leben würde!), der mein Bewusstsein völlig manipuliert hatte. Ich hörte nicht mehr auf mein Gewissen, sondern befolgte wie ein Roboter die Anweisungen eines Anderen in meinem Kopf.

Im Wohnheim der Ballerinen angekommen, kam ich ohne Probleme am leeren Tisch der Pförtnerin vorbei, die gerade mit jemandem im hinteren Dienstzimmer sprach. Ich rannte schnell in die zweite Etage hinauf und blieb vor Gertrudes Zimmertür stehen.

Ich versuchte, etwas Freude in mein Gesicht zu zaubern, und dafür schnitt ich Grimassen und verzog meine Lippen zu einem Lächeln. Von all dem, was ich an diesem Tag durchgemacht hatte, gehorchten mir meine Lippen schlecht. Indem ich mich erinnerte, wie man mir beigebracht hatte, mit der Gitarre auf die Bühne zu gehen, zog ich die Wangenmuskeln hoch und klopfte zweimal mit unserem Klopfzeichen an die Tür: klopf-klopf... klopf... klopf...

Daraufhin herrschte Schweigen.

Ich klopfte erneut: klopf-klopf... klopf... klopf...

Dann drückte ich mein Ohr an die Tür, da es mir schien, dass jemand im Zimmer war, und klopfte, weiterhin mit einem Lächeln im Gesicht, ein drittes Mal.

Zuerst war ein kaum hörbares Rascheln im Raum zu vernehmen, dann leichte Schritte. Meine Intuition hatte mich nicht getäuscht: Gertrude war zu Hause.

Nach einigen Sekunden öffnete sich die Zimmertür und Gertrude, die sich hinter der Tür versteckte, da sie nicht angezogen war, steckte vorsichtig ihren Kopf durch den Spalt.

Als sie mich sah, riss sie die Augen weit auf und erstarrte, weil sie nicht verstand, warum ich gekommen war.

„Ich liebe dich, ich kann ohne dich nicht leben!“, platzte ich schnell heraus und errötete bei meiner Lüge. Und bevor ich etwas Verletzendes zu ihr sagen konnte, fuhr ich augenblicklich fort: „Lass uns die Vergangenheit vergessen und von vorn beginnen!“

Diese Phrase hatte ich einmal in einem Film gehört und sie kam mir jetzt sehr gelegen. Und in diesem Moment stellte ich mir Jola vor, so dass meine Worte mehr oder weniger echt klangen.

Um ehrlich zu sein, hatte ich erwartet, dass Gertrude sich zunächst mit Fäusten auf mich stürzen oder mir die Tür vor der Nase zuschlagen würde. Wahrscheinlich hätte ich das so getan, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre. Sie jedoch ließ mich ins Zimmer, schluchzte nur ein paar Mal und fiel mir um den Hals. Dadurch fühlte ich mich noch unbehaglicher. Das Bühnenlächeln auf meinem Gesicht verschwand schnell, schließlich wollte ich ihr wieder wehtun. Noch mehr als beim letzten Mal... Und ich wusste, dass sie das nicht verdient hatte!

Wie in den früheren Zeiten unseres Zusammenlebens lief Gertrude, mich allein im Zimmer zurücklassend, sofort in einen Laden, um Lebensmittel einzukaufen. Wie früher auch habe ich gegessen und sie hat nur zugesehen. Die Tatsache, dass ich von allem, was sie mir gab, große Stücke in mich hineinstopfte, amüsierte sie. Gertrude hat sich immer gern um mich gekümmert. Ich jedoch wollte mich einfach nur sattessen, denn ich hatte schon lange gehungert.

Gegen Mitternacht, als das Leben im Wohnheim völlig zum Erliegen gekommen war, ging Gertrude duschen und stand dann vor der Tür Wache, während ich mich wusch. In dieser Nacht habe ich beim Liebesspiel mein gesamtes Können eingesetzt und mein Bestes gegeben. An meinen eigenen Orgasmus habe ich nicht einmal gedacht. Mein Ziel war es, in Gertrude das Liebesfeuer neu zu entzünden, das früher bei ihr für mich gelodert hat, damit ich sie leichter manipulieren konnte.

Nach meiner Einschätzung bräuchte ich eine weitere heiße Nacht, um sie meinem Willen unterzuordnen. Aber die Zeit drängte, und so erzählte ich ihr am Morgen im Bett eine schreckliche Geschichte darüber, wie ich betrunken zufällig die Windschutzscheibe des Autos unseres Fakultäts-Dekans eingeschlagen habe. Und jetzt brauche ich Geld, um ihm den Schaden zu ersetzen. Sonst bekomme ich Ärger, und wir können dann nicht mehr zusammen sein. Andernfalls werde ich von der Universität verwiesen oder, noch schlimmer, komme ins Gefängnis.

Gertrude hatte immer ein gutes Herz und erklärte sich, ohne auf Details einzugehen, sofort bereit, mir zu helfen. Sie versprach, noch heute zu ihrem Vater zu fahren und ihn um Geld für die Renovierung ihres Zimmers zu bitten.

„Ich werde ihm sagen, dass der alte Schrank einfach auseinander gefallen ist“, erklärte sie mir ihren Plan. „Und dass das Zimmer eine neue Tapete benötigt. Papa wird mir diese Bitte nicht abschlagen.“

Obwohl ich ein wenig daran zweifelte, dass ihr Vater diese Argumente gewichtig finden würde, versprach sie, die dreitausend Mark zu besorgen. Ich hoffte, die restlichen tausend Mark von Bekannten an der Uni zu bekommen. In meinem Wohnheimzimmer lag auch noch Geld herum... Ich wusste nicht genau, wie viel, aber so zwei- oder dreihundert...

 

Zum Frühstück erlaubte sich Gertrude nur einen Apfel. Ich aß die zwei hartgekochten Eier, die vom Abendessen übrig waren, mit etwas Brot auf und sagte ihr, dass ich wegen einer wichtigen Sache kurz weg müsse. Auf diese Weise wollte ich sie drängen aufzustehen, damit sie unverzüglich zu ihrem Vater fährt.

„Die Ballettschule geht dir nicht verloren, und ich könnte vielleicht nicht mehr kommen“, begann ich sie einzuschüchtern, als sie den Gedanken äußerte, ob sie nicht zunächst zum Unterricht gehen sollte. „Je schneller du das Geld beschaffst, desto schneller werden wir zusammen sein. Ich habe dich wirklich vermisst...“

Ich hatte keine Angst, das Wort „Geld“ zu erwähnen. Da ich wusste, wie sehr Gertrude in mich verliebt war, nahm ich an, dass sie nicht beleidigt sein würde, sondern das Wort als Anleitung zum Handeln verstehen würde. Und genau so ist es auch gekommen.

Aus Angst, mich wieder zu verlieren, begann Gertrude, sich fertig zu machen. Obwohl es eine Pause in unserer Beziehung gab, schämte sie sich nicht vor mir. Sie zog sich ihr Nachthemd über den Kopf aus und war völlig nackt. Dann beugte sie sich vor, mit dem Rücken zu mir, und suchte, ohne die Beine zu beugen, in der untersten Schrankschublade nach ihrem Höschen.

Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ich überhaupt nicht auf ihren nackten Körper reagiere. Da jede Minute zählte, ärgerte es mich wohl eher. Sie hingegen war immer noch dabei, Zeit zu schinden, und sehnte sich offenbar nach morgendlichen Streicheleinheiten.

Da ich mich nicht vom Fleck rührte, zog sie schließlich ihr Höschen an.

„Eins“, begann ich im Geiste zu zählen. „Nun noch den BH und das Kleid.“

„Eduard, wo hast du gestern meinen BH hingelegt?“, fragte Gertrude spielerisch, offenbar immer noch in der Hoffnung, mich verführen zu können.

„Wie kann es so lange dauern, sich anzuziehen?“, murmelte ich und zog ihn unter einer Strickjacke hervor, die auf dem Stuhl neben dem Bett lag.

Ich war überhaupt nicht daran interessiert zuzusehen, wie sie mit mir flirtete und dabei erotisch diesen BH anzog.

Durch meinen Kopf jagte nur ein einziger Gedanke: „Fahr schnell zu deinem Vater!“

Bevor Jola auftauchte, war in unserem Leben alles ganz anders! Ich habe mich nie besonders zu Gertrude hingezogen gefühlt. Es war eher ein mäßiges Interesse an ihren weiblichen Reizen. Aber nach einer wilden Nacht mit ihr hatte ich normalerweise auch noch genug Energie für den Morgen.

Wir hatten sogar eine Art Ritual entwickelt. Wenn ich aufwachte, beeilte ich mich nicht, aus dem Bett zu steigen, sondern wartete darauf, dass Gertrude mich bat, den BH-Verschluss auf ihrem Rücken zu schließen. Ich verstand gar nicht, wozu sie einen brauchte, da Brüste bei ihr so gut wie nicht vorhanden waren, aber ich kam der Bitte widerspruchslos nach. Aber erst, nachdem meine übermütigen Hände alle Unebenheiten ihres schönen weiblichen Körpers erkundet hatten.

Es muss erwähnt werden, dass es sich dabei tatsächlich nur um „Unebenheiten“ handelte, denn eine Ballerina hatte in dieser Hinsicht nichts vorzuweisen. Aber seltsamerweise kamen mir die kleinen Brüste gelegen. Ich habe große Titten nie gemocht. Sie anstarren – ja, ich habe sie angestarrt, aber nicht absichtlich, sondern nur, wenn sie aus dem Dekolleté herausquollen.

 

„Eduard, du sprichst wieder schlecht über Frauen“, sagte ich unzufrieden. „Es ist mir unangenehm, dir zuzuhören.“

„Anna, ich erzähle dir alles so wie es war. Du willst doch realistisch über die DDR schreiben, deshalb solltest du nachsichtig mit meinen Erzählungen sein. Was kann ich dafür, wenn ich Mädels mit großen Brüsten nie geliebt habe? Schon in der Schule kamen sie mir so ungeschickt vor, weil bei ihnen beim Laufen im Sportunterricht immer die Brust auf und ab wippte. Die anderen Jungs fanden das sehr erotisch, ich hingegen fand es amüsant, ihnen zuzusehen...“

„Was gefiel dir damals an Mädels?“

„Schlanke Beine und eine schmale Taille, deshalb habe ich immer schlanke und sportliche Mädels gewählt. Gertrude besaß genau diese Vorzüge. Sie hatte für meinen Geschmack die perfekte Figur.“

 

Nach unserem morgendlichen Ritual gelang es Gertrude gewöhnlich nicht mehr, ihren BH anzuziehen. Die Erregung war so groß, dass wir uns nicht mehr zurückhalten konnten. Da wir uns aber beeilen mussten, um zum Unterricht zu kommen, legten wir uns nicht zurück ins Bett, sondern veranstalteten einen Ritt auf dem „Pferd“. So nannten wir den Stuhl im Zimmer.

Gertrude war eine flotte „Reiterin“ und gab gerne das Tempo vor, so wie es ihr gefiel. Einmal „trieb sie das Pferd“ so stark an, dass wir umkippten, und zwar auf meinen Rücken. Durch den Aufprall meines Kopfes auf dem Boden sah ich Sterne. Ich wurde für den Bruchteil einer Sekunde ohnmächtig... ...und dann habe ich schnell „geschossen“. Das war ein Orgasmus! Aber wie schon gesagt, nur körperlich, ich habe kein emotionales Beben verspürt.

 

„Übrigens, ich möchte dir einen guten Rat für die Zukunft geben“, Eduard sah mich mehrdeutig an. „Dieser Rat ist nicht aus dem Buch eines besorgten Sexualtherapeuten, es ist meine persönliche Erfahrung. Wenn du diese Position wählst, stell das „Pferd“ mit der Lehne an die Wand, das ist sicherer...“ Nach diesen Worten brach er in schallendes Gelächter aus.

„Eduard, im sozialistischen Deutschland konnte man das „Kamasutra“ doch nicht kaufen“, sagte ich und fühlte, wie ich rot wurde. „Vielleicht hättest du dein eigenes Buch mit Ratschlägen veröffentlichen sollen.“

„Ha...ha...ha...“, lachte er weiter. „Du hast recht. Es gab keine Bücher, also habe ich alles selbstständig gelernt... durch Praxis... Übrigens, hast du jemals das „Kamasutra“ gelesen? Wenn nicht, schlage ich vor, du blätterst es durch... Es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest, Anna. Für mich ist das die exquisite Kunst der Liebe, aber du bist, wie ich sehe, schon rot geworden.“

Ich antwortete nicht, sondern nahm nur ein paar Schlucke Wein aus meinem

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Nataliya Lang
Bildmaterialien: Elvira Sharapov
Cover: Nataliya Lang
Übersetzung: Sabine Hennig-Vogel
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2501-4

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