Einmal kehrte Annett mit ihren Freunden aus der Diskothek zurück. Es war bereits nach vier Uhr morgens und die Straßen der schlafenden Stadt kamen ihr trostlos und verlassen vor. Die Lichter der Nachtlaternen verblassten langsam im Schleier der Morgendämmerung und machten dem grauen Alltag wortlos Platz. Er kam stetig voran, unsanft, und erkämpfte sich ungeniert jede Minute immer mehr und mehr Raum, so als wäre er stolz darauf, die Straßen in graues Licht tauchen zu können.
Annett mochte diese Tageszeit nicht, denn sie hielt sie für die Zeit von Selbstmördern und Unglücksraben, die in ihrem Leben vom rechten Weg abgekommen sind. Nur sie konnten jetzt durch die Straßen laufen, gequält vom Schmerz der seelischen Enttäuschung, während alle anderen Menschen zuhause in ihren weichen Betten angenehm träumten.
„Wenn man ständig die eigenen Wünsche durch die anderer Menschen eintauscht, ist man ein Selbstmörder, ob man will oder nicht“, fand Annett. „Die eigene Seele kann man nicht hinters Licht führen, indem man sich künstlich verstellt. Dadurch kann man sie nur für eine Weile beschwichtigen. Wie ein Spiegel gibt sie alle persönlichen Ziele eines Menschen wieder und wenn dieser die Seele ignoriert, fängt sie an zu leiden. Deswegen laufen die Selbstmörder die Straßen rauf und runter und versuchen ihrer seelischen Schmerzen Herr zu werden. Ein anderes Heilmittel als das Aufhören, nach fremden Regeln zu leben, gibt es allerdings nicht.“
Auf diese Idee brachte sie eine Frauenzeitschrift, in der erfahrene Psychologen die Hauptgründe für eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben erörterten. Es stellte sich heraus, dass keineswegs Armut, Krankheit oder Arbeitslosigkeit zu den Hauptquellen zählen. Schuld sind „fremde“ Verhaltensweisen, die einem Menschen weder von seinem unmittelbaren Umfeld schon in der Kindheit auferlegt werden und von denen er abhängig ist.
Es ist schwer, seinen Standpunkt zu verteidigen, wenn alle um einen herum das Gegenteil behaupten, einen ausschließlich nach seinen eigenen Vorlieben beurteilen und nur auf der eigenen Sicht der Zukunft beharren.
Einige besonders gefällige Menschen versuchen es jedermann recht zu machen und verfallen in eine Abhängigkeit von der Meinung anderer, wenn der Wunsch zu gefallen größer ist als der Wunsch, man selbst zu sein. Schuld daran sind jedoch nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Eltern, die sie in der Kindheit zu sehr dazu zwangen, gehorsam zu sein. Im Erwachsenenalter richten sich solche Menschen auch weiterhin unbewusst nach der Meinung anderer, nur mit dem kleinen Unterschied, dass nicht mehr ihre Eltern diese Meinung bilden, sondern die Gesellschaft, in der sie leben.
Und dann, wie aus heiterem Himmel, schleicht sich die Unzufriedenheit heran, wird zum langjährigen Weggefährten und verdrängt völlig alle anderen Gefühle. Die Unzufriedenheit kommt aber nicht urplötzlich, sondern war schon immer da, schlummerte irgendwo im Inneren, ließ aber nicht von sich wissen.
Für alles im Leben muss man zahlen und die Unzufriedenheit ist gewissermaßen der Preis für eine Charakterschwäche, dafür, dass das gelebte Leben nicht nach eigenen, sondern nach fremden Regeln gespielt worden ist.
So war Annett aber nicht. Sie wollte sich nicht mit für sie unpassenden Dingen beschäftigen, nur um anderen zu gefallen. Sie wollte für ihr Recht auf das Glück kämpfen und ihren eigenen Weg gehen und nicht den Weg, den ihr andere vorschreiben wollten.
„Ich bin jung, hübsch und klug“, dachte Annett und schaute in die transluzente Dunkelheit hinter dem Taxifenster. „Ich wurde nicht dazu geboren, um von montags bis freitags mein Leben bei einer sinnlosen Büroarbeit zu ruinieren. Ich will unbeschwert leben und jede Minute meines Daseins genießen, aber Geld verdienen zu müssen lässt der Unbeschwertheit keinen Raum.“
Annett arbeitete nun schon seit einigen Jahren als Juniorassistentin in der Buchhaltung einer kleinen Firma, musste sich jedoch jeden Tag aufs Neue dazu zwingen hinzugehen. Eine nie endende Menge an Rechnungen, die ausgestellt und versendet werden mussten, Überweisungen von kleinen Beträgen, das Kopieren und Vorbereiten von Dokumenten für das Archiv – das alles kam ihr so sinnlos und unnötig vor. Diese Arbeit befriedigte sie nicht nur im Geringsten, sondern ermüdete sie auch durch ihre Eintönigkeit.
Ein Tag glich dem anderen: ohne Ereignisse, ohne Veränderungen, ohne Gespräche und ohne Begegnungen. Das Einzige, was sich änderte, war die Höhe des Stapels auf ihrem Tisch, der sich mal verkleinerte und mal vergrößerte. Anhand dieses Stapels ermittelte Annett immer, wie erfolgreich die Geschäfte im jeweiligen Monat liefen. Wenn der Tisch völlig überfüllt war, legte sie die Rechnungen auf den Boden und lehnte sie, nach ihrer Dringlichkeit sortiert, in Stapeln an die Wand.
Im Büro der Buchhaltung hatte sich für sie kein Platz gefunden, so dass sie gezwungen war, sich darauf einzulassen, vorübergehend in der Abstellkammer zu arbeiten, wo man einen Tisch, einen Stuhl, einen Computer und einen Drucker reinstellte. „Vorübergehend“ schien jedoch ein dehnbarer Begriff zu sein, da Annett dort bereits das dritte Jahr saß.
Fenster oder Tageslicht gab es in diesem Raum nicht, sondern nur eine große, heiße Lampe auf dem Tisch, die am Ende des Tages so heiß wurde, dass man sich an ihr die Finger verbrennen konnte. Pflanzen wuchsen hier auch nicht und nach ein paar erfolglosen Versuchen, ihren Arbeitsplatz mit frischen Blumen zu schmücken, gab Annett auf und hing ein Poster von einem geschmückten Weihnachtsbaum in voller Größe an die Wand.
Weihnachten mochte Annett seit ihrer Kindheit und glaubte, wie ein kleines Mädchen, aus vollem Herzen an die Kraft dieses Festes, die geheimsten Träume wahr werden zu lassen.
Solche Träume hatte Annett im Überfluss!
* * *
Nachdem Annett einige Zeit als Assistentin gearbeitet hatte, begriff sie, dass sie in dieser Position nie viel verdienen würde. Das Gehalt war viel zu niedrig, um sie auch nur einen Schritt näher an den Lebensstil heranzubringen, von dem sie immer geträumt hatte. Dafür bräuchte sie gleich drei oder vier solcher Gehälter und dabei rechnete sie mit Bruttozahlen, ohne die Abgaben für die Rentenkasse und andere Versicherungen abzuziehen.
Annett reichte es nicht aus, ein gebrauchtes Auto zu fahren, eine kleine Wohnung zu haben und nur einmal im Jahr Urlaub am Meer zu machen, so wie man es in ihrem Umfeld machte. Das alles hielt sie für Kleinigkeiten. Annett träumte von einem märchenhaften Leben mit einem Feuerwerk aus angenehmen Überraschungen und Erfahrungen. Arbeit passte da selbstverständlich nicht rein.
Die unvergleichlichen Hollywoodstreifen malten in Annetts Vorstellungskraft einen anderen Weg zum sie erwartenden Glück aus. In ihrer Vorstellung sollte sie ein Verehrer für ihre Jugend, Schönheit und Zärtlichkeit, die sie ihm schenken würde, in eine sinnliche und leidenschaftliche Welt voller Vergnügungen und Luxus eintauchen, wo man ihr alle Wünsche, die ihren Lebensinhalt bedeuteten, von den Augen ablesen würde.
Annett wollte das Schicksal von Unglücksraben, die ihr ganzes Leben lang fremde Rollen spielen, vermeiden und beschloss unter keinen Umständen von ihren Wünschen abzurücken – völlig gleich, wie unrealisierbar sie auch zu sein schienen. An allem anderen, was nicht unmittelbar mit ihrem zukünftigen Glück zusammenhing, hatte sie das Interesse verloren und zog die Phantasie der Realität vor. Sogar ihr alter kleiner Citroën, den sie vor fünf Jahren beim Gebrauchtwagenhändler gekauft hatte, wurde in ihrer Vorstellung zu einem teuren Cabriolet, den ihr ein Verehrer zum Jahrestag ihrer ersten Begegnung geschenkt hatte.
Ach, wie schön wäre es, wenn alle Wünsche in Erfüllung gingen …
Einen vermögenden Verehrer wollte Annett an ihren Lieblingsplätzen suchen. Überwiegend waren es Nachtclubs und Diskos, wo sie sich in voller Pracht und unabhängig vom Wetter zeigen konnte.
Normalerweise ging Annett allein weg, um sich zu vergnügen, und nur selten mit Freunden. Sie versuchte laute Gesellschaften zu meiden, da solche Abende immer gleich endeten. Kopfschmerzen und Augenringe zeugten am Morgen jedes Mal von den zu großen Mengen an alkoholischen Getränken, die am Abend zuvor in Strömen geflossen waren. Sie wollte keine Zeit für solche sinnlosen Treffen verschwenden, die nur ihre Kraft raubten und sie ihren geheimen Wünschen nicht näher brachten.
Außerdem interessierte sich Annett wenig für die „allgemeine“ Meinung, da sie der Ansicht war, dass diese nicht nur Druck auf sie ausübe, sondern auch ihre Individualität vernichte. Sie wollte nicht in der breiten Masse untergehen, so denken wie alle anderen und so sein wie alle anderen. Sie wollte mit allen Mitteln ihre Individualität und ihre Brillanz unterstreichen, die – wie sie dachte – ihr bald einen Weg in die zauberhafte Welt ihrer Wünsche ebnen würden.
Wenn Annett nur der finanzielle Status eines Verehrers interessiert hätte, hätten sich ihre Wünsche von einem luxuriösen Leben schon längst erfüllen können. Geld allein reichte ihr jedoch nicht. Nachdem sie etwas darüber gegrübelt hatte, wie der ideale Mann sein sollte, ergänzte sie zum guten finanziellen Status noch einige andere Punkte: Dieser Mann sollte großzügig sein (wie sollte er ihr sonst Geschenke machen?), attraktiv (sie ist doch auch hübsch), fürsorglich (das ist gut fürs Familienleben), gut im Bett (ist das denn nicht der Traum einer jeden Frau?) und am allerwichtigsten klug (damit er versteht, dass alles oben Genannte für sie einfach essentiell wichtig ist).
Zu ihrer Enttäuschung musste Annett in letzter Zeit jedoch viele Körbe verteilen. Die meisten Männer, die sie traf, erfüllten noch nicht einmal die Hälfte ihrer Kriterien. Entweder hörte die Zahlungsfähigkeit eines Verehrers schnell auf oder es gab nichts, worüber sie sprechen konnten, oder der Mann schien ihr am Morgen nicht mehr so attraktiv zu sein oder dachte im Bett nur an sich selbst.
Über ihre Anforderungen dachte Annett lange und gründlich nach und kam zu dem Schluss, dass sie auf keine von ihnen verzichten konnte. Sie wollte einen Mann, der der Inbegriff all dieser Dinge war, und auf weniger wollte sie sich nicht einlassen. Wozu brauchte man sonst all dieses Gerede von einem glücklichen Leben nach eigenen Regeln?!
* * *
Fast alle Freitag- und Samstagabende verbrachte Annett in verschiedenen Clubs und Diskotheken und tauchte in die schillernde Welt des Nachtlebens ein.
Auch wenn sie öfter mal hier oder dort war, bevorzugte sie keinen Club in besonderem Maße. Ein sich ständig wechselndes Publikum und dieselbe Art von Musik machten sie alle ähnlich, weswegen Annett immer erst in letzter Minute entschied, wohin sie gehen würde.
In den Clubs hatte sie eine Vielzahl von Bekannten, mit denen sie ein paar leere Worte wechselte, Witze machte und Cocktails trank. Freunde konnte sie sie jedoch nicht nennen, da jeder von ihnen nur seine eigenen Ziele verfolgte.
Männer guckten sie mit Begierde und dem Wunsch nach einem flüchtigen Sieg an. Frauen hielten sie für eine Rivalin und beneideten sie praktisch in allen Dingen. Am meisten machte ihnen jedoch Annetts Fähigkeit, ohne Anstrengung Männer für sich zu gewinnen, die wie unter Hypnose nicht die Augen von ihr abwenden konnten, zu schaffen.
„Ist sie etwa mit Honig eingeschmiert? Wieso kleben sie so an ihr?“, flüsterten Frauen oft an der Bar, wenn der nächste Verehrer um Annett herumschlich.
Insgeheim wünschten sie sich, dass Annett gar nicht erst in den Club käme. Sie wünschten sich, dass sie plötzlich entlassen worden wäre und so für eine lange Zeit die Lust auf Feierlichkeiten verloren hätte. Oder dass das Taxi, mit dem sie fuhr, einen Unfall hätte und sie gezwungen wäre, einige Wochen im Krankenhaus zu verbringen.
Dies waren jedoch nur die Ergebnisse lebhafter Vorstellungskraft von Rivalinnen, die mit der Realität nichts zu tun hatten. Im realen Leben reichte es ihnen schon völlig aus, wenn jemand versehentlich ein Glas Rotwein über Annetts Kleid goss oder der Friseur zu übereifrig gewesen war und ihren Pony etwas zu kurz gemacht hatte.
Die Frauen im Club dachten, dass sie ohne Annetts Anwesenheit größere Auswahl hätten, so dass nicht mehr die Männer sie aussuchen würden, sondern sie die Männer. Wenn Annett jedoch anwesend war, fühlten sie sich von den Männern weniger beachtet und beschuldigten deshalb Annett, wenn sie selbst keinen Erfolg hatten.
Annett dagegen machte niemanden für einen Misserfolg verantwortlich und brachte diesen daher auch nicht mit anderen Menschen in Verbindung. Sie folgte einfach ihrer Vorstellung vom Glück und hoffte darauf, dass sie es erkennen würde, wenn es so weit wäre.
Um finanzielle Unbeschwertheit zu erlangen, wollte sie nicht in alle Richtungen gleichzeitig laufen, wie es einige ihrer Bekannten taten. Sie entsagten allem im täglichen Leben und dachten nur an die ferne Zukunft. Sie schlossen Unmengen an Versicherungen ab, um künftigen Widrigkeiten zu trotzen oder ihre Rente aufzubessern, schlossen Kredite für einen Wohnungskauf ab, damit sie sich die Miete sparen konnten, oder kauften panisch fallende Aktien in der Hoffnung, dass sie schnell wieder steigen würden.
Solche Investitionen würden Annett nur behindern. Was sie brauchte, war einfach ein Lebenspartner, der sie mit allem oben Genannten versorgte und für sie zu dem Glück werden würde, das sie so sehr herbeisehnte. Eine solche Lösung kam ihr am einfachsten und effektivsten vor. Wozu sollte man seine Zeit mit Nichtigkeiten vergeuden, wenn man auch alles auf einmal bekommen könnte!
* * *
Wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzte, merkte Annett nicht, dass sie das Flirten oft übertrieb. Sie versuchte jeden einzelnen Mann auf seine Tauglichkeit in Bezug auf ihre Kriterien zu testen und stellte sich dabei oft anderen Frauen in den Weg, weswegen sie eindeutig zur Rivalin wurde. Deswegen duldeten sie Annett zwar in den Clubs und taten so, als würden sie sich verstehen, mochten sie jedoch nicht und versuchten möglichst auf Abstand zu gehen.
Einige von ihnen versuchten unaufhörlich Mängel an Annett zu finden und waren darin bestrebt, diese jedes Mal in einem möglichst „unpassenden“ Moment ins Gespräch zu bringen. Andere versuchten dagegen ihren Kleidungsstil nachzuahmen und hofften dadurch auf ähnlichen Erfolg bei Männern. Wenn sie dies jedoch aus Mangel an angeborenem Stil nicht schafften, ärgerten sie sich nur noch mehr.
Das Einzige, was keiner nachzuahmen versuchte, war ihr Tanzstil, obwohl Annett der Meinung war, dass gerade er die Männer anlockte. Das Tanzen war ihre große Leidenschaft, ihr Ventil, weil sie so ihr Innerstes durch Bewegungen ausdrücken konnte.
Das Tanzen hatte Annett nie gelernt, weil sie Tanzstunden für eine unnötige Zeitverschwendung hielt.
„Ich tanze mit Herz und Seele“, pflegte sie immer wieder zu sagen. „Einstudierte Bewegungen brauche ich nicht … sie zwängen mich nur ein.“
Annett tanzte immer ohne Scham und beachtete dabei niemanden. Es schien ihr so, als würde die Musik sie zuerst völlig einhüllen und so eins mit ihr werden, bevor sie sie im wahrsten Sinne des Wortes führte. Die Bewegungen entstanden wie von selbst, ohne jegliche Anstrengungen, so als würde zu der einen oder anderen Melodie ein gespeichertes Programm ablaufen.
Jedes Mal, wenn Annett auf der Tanzfläche erschien, versammelte sich eine Schar von Schaulustigen um sie. Durch ihre nicht vorhersagbare und exzentrische Art zu tanzen kannte sie jeder im Club.
„Vermutlich sehe ich aus wie ein Star“, dachte sie voller Bewunderung für sich selbst. „Sie können ihre Augen einfach nicht von mir abwenden!“
Und es war tatsächlich so, dass alle Annett anschauten, wenn sie tanzte: Gleichgültig war es keinem. Die einen bestaunten ihr Aussehen und ihren gut geformten Körper, andere bewunderten ihr Selbstbewusstsein und ihre angeborene Kunstfertigkeit. Wieder andere dagegen schüttelten nur mit dem Kopf und lachten sich wegen ihrer Tanzbewegungen kaputt.
Man konnte sie tatsächlich nur deswegen Tanzbewegungen nennen, weil sie zur Musik und in einem recht rhythmischen Tempo ausgeführt wurden. Die Art der Bewegungen erinnerte eher an Morgengymnastik, an ein Fitness-Workout oder sogar an Kasatschok, einen russischen Volkstanz. Es war eine endlose Abfolge von Kniebeugen, Ausfallschritten sowie Sprüngen nach oben und zur Seite, die von sich geschickt verändernden Ausdrücken auf dem Gesicht der Tänzerin begleitet wurden.
Kein anderer im Club tanzte so hingebungsvoll und in sich selbst versunken. Alle anderen zappelten nur etwas zur Musik, veränderten leicht die Position der Beine und zuckten mit den Schultern. Annett dagegen lieferte eine richtige Theatervorstellung ab, die als Geldquelle hätte dienen können, wenn sie Teil des Programms eines bekannten Komikers gewesen wäre.
Von Annetts Spontaneität und Fröhlichkeit inspirierte Männer kamen oft auf die Tanzfläche, um neben ihr zu tanzen. Das Lächeln auf ihren Gesichtern und ihre begeisterten Blicke durchdrangen sie von allen Seiten und überzeugten sie jedes Mal aufs Neue von ihrer eigenen Unwiderstehlichkeit.
Die Männer hofften auf diese Art und Weise, die verbale Barriere zu überwinden, die sie bei Begegnungen üblicherweise in Verlegenheit brachte, und sich spielerisch der schönsten und extravagantesten jungen Frau in der Disko zu nähern.
Diese euphorische Mischung aus Vergnügtheit und verborgenen Wünschen endete für jeden von ihnen unterschiedlich. Auf der Tanzfläche beurteilte Annett die Kandidaten nach ihrem finanziellen Status, ihrer Kompatibilität und Zuverlässigkeit und befolgte dabei genau ihre eigenen Auswahlkriterien.
Einem Verehrer, der ihr nicht gefiel, kehrte sie den Rücken zu und gab ihm so zu verstehen, dass sie nicht interessiert war. Einen Mann jedoch, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, hypnotisierte sie mit einem betörenden Blick, der keine Zweifel an ihrer Wahl ließ.
Sie führte ihre Bewegungen weiterhin aus, die aus ihr „herausplatzten“, aber ab jetzt nur noch für ihren Auserwählten. Annett beachtete demonstrativ keinen anderen mehr um sich herum. Diese Taktik verfehlte nie ihre Wirkung: Der Mann ihrer Wahl war erobert und sein Ego schwoll unermesslich an.
Nachdem die schönste Frau im Club ihm ihre Beachtung geschenkt hatte, erhöhte sich sein Ansehen abrupt nicht nur bei seinen Freunden und Rivalen, sondern auch in den Augen von anderen tanzenden Frauen. Sogar wenn die Bekanntschaft nicht über einen Cocktail hinausging, galt er nun als „auserwählt“ und somit als interessant für alle anderen weiblichen Anwesenden.
Sobald Annett sich einem neuen Verehrer widmete, fingen ihre Freundinnen an sich um ihre letzte Wahl zu scharen, da sie ihrem Urteilsvermögen trauten. Es herrschte die allgemeine Meinung, dass ein Mann, für den Annett wenigstens kurzzeitig Interesse gezeigt hatte, tatsächlich einer besonderen Beachtung wert war.
Beim Tanzen kannte Annett keine Erschöpfung. Ohne die Tanzfläche auch nur einmal zu verlassen, konnte Annett vom Einlass bis zum Rausschmiss in der Disko durchtanzen und wurde von Wellen der Begeisterung erfasst, wenn ein moderner Song gespielt wurde. Das nutzte sie jedes Mal, um den „Auserwählten“, aber sich oft vor ihrer Schönheit fürchtenden Verehrer, zum nächsten Schritt zu bewegen.
Üblicherweise wurde ihr Favorit nach einer für ihn ungewöhnlichen und unglaublichen Anzahl von nie enden wollenden Songs müde. Er wurde von Durst geplagt und sein Hals wurde fürchterlich trocken. Der Schweiß, der bisher in Strömen den Rücken herunterlief, bedeckte jetzt auch seine Augen. Auf seinem Hemd zeichneten sich jetzt nasse Flecken unter seinen Achseln ab, die erheblich an seinem Selbstbewusstsein nagten.
Vergnügen verwandelte sich langsam in Last … der Mann wollte sich ausruhen. Dabei war sich der Auserwählte bewusst, dass – sollte er die Tanzfläche auch nur ganz kurz verlassen – er einem anderen Verehrer damit die Chance geben würde, den Platz neben Annett einzunehmen. Und zum Ende des Abends hin, womöglich auch für sie, wäre das ein Schlag unter die Gürtellinie. Dabei war er es, der sie den ganzen Abend über amüsiert und unterhalten hatte, in der Hoffnung, dass die gegenseitige Sympathie zu etwas Größerem wird.
Es sah also so aus, als ob sich ein Verehrer selbst alles kaputt machen konnte, wenn er auch nur für einen kurzen Moment Schwäche zeigte. Welcher Mann könnte sich einen solchen Fehler erlauben? Vor allem, wenn seine Rivalen, die in der Nähe lauerten, augenblicklich ihre Chance nutzen würden.
Der Auserwählte konnte aber auch nicht um Gnade betteln und Annett bitten, eine Pause zu machen, nur weil er zu erschöpft war. Dies würde den vollständigen Verlust seiner Männlichkeit in den Augen der jungen Frau bedeuten. Er würde sich selbst für immer zu einem Schwächling erklären.
Der einfachste Weg, der einem Verehrer in den Kopf kam, war, einen triftigen Grund zu finden, die Tanzfläche zusammen mit der jungen Frau zu verlassen. Eine Einladung an die Bar schien ein würdiger Ausweg aus dieser Situation zu sein, der außerdem auch immer einwandfrei funktionierte.
Annett ließ sich nicht lange bitten und erfreute den Auserwählten damit, dass er die richtige Entscheidung getroffen zu haben schien. Sie nahm ihr kleines grünes Täschchen und machte sich in Richtung Bar auf, wo sie ihrem Verehrer freundlicherweise die Möglichkeit gab, seine Großzügigkeit zu zeigen.
Die Menschenmenge um die Tanzfläche herum, die die ganze Zeit über ihre außergewöhnlichen Tanzbewegungen beobachtet hatte, ging enttäuscht auseinander und der Club tauchte für eine Weile in die gewohnte Atmosphäre ein.
Hinter dem Bartresen bestellte sich Annett augenblicklich den teuersten Cocktail, den ihr Verehrer ohne Zögern zahlen sollte. Sie nahm den Strohhalm aus dem Glas und leerte es in Windeseile. Dann bestellte sie sich ein weiteres Glas und achtete auf die Reaktion ihres Kavaliers. Ob sie das Gespräch mit ihm fortführen sollte oder nicht, entschied sie danach, wie gern er all das bezahlte.
Wenn er zögerte, ihre Drinks zu zahlen, oder das Gesicht verzog und es für ihn schwierig wurde, den Ausdruck von Sympathie für sie aufrechtzuerhalten, nahm Annett wortlos ihr kleines grünes Täschchen und kehrte zur Tanzfläche zurück. Sie legte das Täschchen auf den Boden und tanzte weiter. An diesem Verehrer war sie nicht mehr interessiert. Ihm eine zweite Chance zu geben, war ihrer Meinung nach sinnlos, denn Geiz war etwas, was man nicht ändern konnte.
Annett kam es so vor, als ob die meisten Männer in den Nachtbars und Clubs knauserig waren. Sie schwirrten dort wie Mücken an einem lauen Sommerabend herum und machten auf seriösen Businessmann. Es stellte sich jedoch heraus, dass sie in Wahrheit als ganz normaler Berater in irgendeiner Bankfiliale oder als Schichtleiter eines Supermarkts arbeiteten, was genauso wenig einbrachte wie Annetts Arbeit.
Mit solchen Verehrern, die mit ihrer scheinbar hohen Stellung auf der Arbeit prahlten, aber die Fähigkeit zu sprechen verloren, sobald der Kellner die Rechnung brachte, wollte Annett keine Zeit verplempern. Sie interessierte die Bereitschaft ihres Verehrers, sie jetzt – in diesem Moment – finanziell zu unterstützen, und nicht die Tatsache, dass er bei einer Bank arbeitete.
Das Auswahlkriterium „Großzügigkeit“ war für Annett die beste Hilfe, um unpassende Kandidaten bereits beim ersten Aufeinandertreffen auszusieben. Wenn sie jedoch immer noch zweifelte, ob ein Verehrer Geld hatte oder nicht, obwohl er sie an der Bar eingeladen und alles bezahlt hatte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf seine Gestik und den Umgang mit den Kellnern.
Wenn ihr Auserwählter die „Fachsprache“ der Kellner nicht verstand und außerdem sehr ungeduldig und aggressiv ihnen gegenüber war, schloss sie daraus, dass er selten in Bars und Restaurants ging und sich normalerweise kaum etwas außer Bier gönnte. Wenn er dagegen mühelos mit ihnen reden konnte, dabei aber höflich war und Getränke bestellte, ohne in die Karte schauen zu müssen, machte sie gedanklich ein Plus neben seinem Namen und legte alle Zweifel für eine Weile beiseite.
* * *
Das Clubleben war sogar in einer so kleinen Stadt wie Heidelberg, in der Annett lebte, nicht einfach und hatte ihre eigenen Tücken. Es war ratsam, einige solcher Tücken zu meiden, da sie schnell unangenehme Folgen nach sich ziehen konnten, vor allem für unerfahrene Frauen, die aus Naivität ihr Glück an den falschen Plätzen suchten.
Gemeint sind solche Männer, die den Wunsch von Frauen nach Liebe ausschließlich für ihre eigenen perfiden Ziele nutzen. Dabei geht es nicht immer darum, Geld zu verdienen, sondern oft einfach darum, das eigene Selbstwertgefühl zu steigern.
Annett kannte sich in den Clubbeziehungen gut aus und hatte keine Angst davor, manipuliert zu werden, blieb jedoch sicherheitshalber von einigen bestimmten Vertretern des männlichen Geschlechts fern. Dazu gehörten hauptsächlich sogenannte Aufreißer: meistens junge Leute, die nur deswegen in den Clubs herumhingen, um an einem Abend möglichst
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Nataliya Lang
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Cover: Nataliya Lang
Lektorat: text + taler GmbH
Übersetzung: Ina Honert
Tag der Veröffentlichung: 22.01.2020
ISBN: 978-3-7487-2711-8
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