Entführt
Tag nach der Entführung
08.09.2013, Uhrzeit unbekannt
Plätsch!
Der zusammengekrümmt daliegende Körper einer Siebzehnjährigen. Nichts als ein einziger, alles durchdringender Schmerz. Gleichzeitig das unwirkliche Gefühl, der Körper sei nicht ihrer. Und doch. Er … es schmerzt! Überall! Alles!
Sie versucht sich zu erinnern …
Lisa? Ja, Lisa, Lisa Lechner, das ist sie. Gymnasiastin. Siebzehn Jahre alt.
Was weiß sie sonst noch?
Ihre Mutter? Ja, die ist Ärztin, leitet ein Sanatorium. Bad Wörishofen.
Plötzlich ist der Gedanke wieder weg. Sie kann sich nicht weiter erinnern. Ihr Bewusstsein findet keinen Halt, triftet ab in die Leere, kehrt gleich wieder zurück zu diesem unerträglichen Schmerz.
Plätsch!
Langsam atmet sie durch die Nase ein. Es riecht nach Schweiß. Nach Urin. Die Luft abgestanden, modrig. Wie in einer Gruft. Ihr schaudert vor Angst, vor Kälte. Sie spürt, sie ist nackt bis auf einen weit aufstehenden Bademantel. Eine kratzige Decke liegt auf ihr.
Unter ihrem Körper? Irgendwas Weiches. An manchen Stellen etwas Kratziges. Eine alte, zerschlissene Matratze? Ja, wahrscheinlich … auf jeden Fall riecht das Ding sehr muffig. Manche Stellen fühlen sich nass unter ihr an.
Einatmen. Ausatmen. Ihr wird schlecht. Sie fühlt, wie die Übelkeit in ihr anschwillt, gleich wieder abebbt, erneut anschwillt. Ein Brechreiz. Ein Würgen. Dann lässt das Schwindelgefühl wieder nach. Sie spürt, diese Benommenheit lauert weiter im Hintergrund, bereit jeden Augenblick wieder Besitz von ihren Körper zu ergreifen.
Plätsch!
Die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. ´Bleib ganz ruhig, Kleines! Es wird gleich wieder gut.´
Das Mädchen horcht. Nein, da ist nichts! Wo immer sie auch ist, sie ist ganz allein.
Mama! Erinnerungen treiben in ihr vorbei. Damals. Masern? Oder waren es Windpocken? Auf jeden Fall lange her. Da war sie noch klein. Ihre Mutter saß neben ihr. Stundenlang. Hielt ihre heiße Hand. Machte Mut, flüsterte immer wieder: ´Bleib ganz ruhig, Kleines! Es wird gleich wieder gut.´
Eine weitere Erinnerungsinsel treibt vorbei.
Ein Onkel! Ja, Onkel Klaus. Wegner nennen sie ihn alle. Der Bruder ihrer Mutter. Schnitzer. Früher mal Kommissar bei der Polizei. Er ist nett, nun ja, auf seine eigene raue Art und Weise. Er versteht sie. Hatte selbst einmal eine Tochter. Maria? Nein, nicht Maria. Ma… Marion. Ja, das ist es. Marion. Die ist auch tot. Erschossen …
Plätsch!
Mama! Wo ist ihre Mutter? Jetzt würde sie sie brauchen. Mama ist eine gute Ärztin. Eine sehr gute Ärztin sogar. Als sie noch klein war, hatten sie sich immer gut verstanden. Mama hatte sich oft Geschichten für sie ausgedacht, die sie ihr am Abend vor dem Schlafengehen erzählte.
Sehr lange her.
Plätsch!
Kurze Bilderszenen in ihrem Kopf. Mama. In letzter Zeit hatten sie immer wieder Probleme miteinander gehabt. Aber … Bitte, Mama, es tut mir leid. Wirklich! Helf mir! Bitte!
Tränen laufen über ihre Wangen. Geräuschvoll zieht sie den Inhalt ihrer Nase hoch. Das darf doch alles nicht wahr sein.
Den Körper bewegen! Sie muss weg von hier! Rasch!
Etwas Schreckliches wird geschehen … Da ist sie ganz sicher. Aber sie kann sich nicht bewegen. Sie ist festgebunden. Eine Gefangene.
Trotzdem … sie muss weg.
Gleich ist der Gedanke wieder verschwunden. Irgendwo versickert. Mehr und mehr verliert sie wieder die Kontrolle über ihren Körper, über ihre Gedanken. Sie treibt in einer dunklen Leere. In einem dumpfen Schmerz. Irgendwie triftet sie von ihrem reglosen Körper weg. Immer weiter fort. Irgendwo ins Nichts …
Plätsch!
Noch ein Tropfen in diese Pfütze. Irgendwo schon weit, weit weg …
Coverfotografie Alex Heller, Viehscheid 2013
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2013
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