Zum Zug kommen
„…Kaufbeuren. Der eben eingefahrene Schnellzug von München nach Lindau, über Marktoberdorf, Kempten …“, hallte der Lautsprecher über den Bahnsteig. Ein halbes Dutzend Fahrgäste stieg aus dem Zug, unter denen sich eine junge Frau befand, die, in trüben Gedanken versunken, auf dem Bahnsteig stehenblieb.
Niemand würde sie, wie sie es jetzt in andern Städten gewohnt war, abholen, sie zum besten Hotel der Stadt bringen, bevor es gleich weiterging zum Konzertsaal.
Was wollte sie also hier? Als die berühmte Katharina Silbermann, hätte sie in einer so kleinen Stadt höchstens einen Abend gastiert, aber nur um alter Zeiten willen, um dann gleich am nächsten Tag weiter nach Stuttgart, Köln, Paris und Brüssel zu reisen.
Aber wegen eines Klavierkonzerts war sie nicht gekommen. Geistesabwesend nestelte sie an ihrem kurzen Kostümrock, fühlte sich unsicher.
„Katharina, du hier in Kaufbeuren?“, rief jemand hinter ihr.
Die Angesprochene schreckte zusammen, hatte sie die Stimme doch sofort wiedererkannt. Nein, das konnte nicht sein. Ihr Herz schlug schneller und sie fühlte ein leichtes Zittern. Wieso denn? Damit hatte sie nicht gerechnet: Hatte sie ihre Vergangenheit so rasch eingeholt?
Na und? Sie hatte es irgendwie befürchtet, gleichzeitig aber auch ein klein wenig gehofft. Wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, kam sie eigentlich gerade deshalb in ihre kleine Vaterstadt hier im Allgäu.
Tief atmete sie durch und wandte sich langsam dem jungen Mann zu, der vier, fünf Meter von ihr entfernt stand und sie anstarrte, als hätte er gerade eine mystische Erscheinung. „Alex du?“
„Klar, Katharina.“
„Kannst mich ruhig wie früher Kathy nennen.“ Ihre Stimme klang genauso unsicher und brüchig wie seine. Keiner machte einen Schritt auf den andern zu.
„Ich dachte, wo du in München so berühmt mit deinen Konzerten geworden bist …“
„Ach, geh! Selbst bist du wohl inzwischen beim Geheimdienst, oder?“ Vergeblich bemühte die hübsche Frau sich um ein Lächeln.
Auch er versuchte sich damit, ohne dass mehr als ein schräges Grinsen dabei herauskam. Wahrscheinlich war ihm vom gegenüberliegenden Gleis noch seine Verlegenheit anzusehen. Er trippelte nervös auf der Stelle, kam zögernd bis auf zwei Schritte näher.
„Wieso meinst du Geheimdienst?“, fragte er mit heiserer Stimme.
„Ausser Claudia weiß doch niemand, dass ich heute komme. Auf der Fahrt her rief sie mich an, es täte ihr leid, aber ihr sei etwas dazwischen gekommen und sie könnte mich nicht hier am Bahnhof abholen. Sie würde mich später auf dem Handy anrufen, wo wir uns treffen würden. Typisch, nicht wahr?“
„Ja, ganz unsere Claudia. Immer unterwegs, nie Zeit …“ Irgendwie verlor er den Faden, merkte wohl selbst, dass sie sich beide in einer Sackgasse von Belanglosigkeiten verloren. Kein Wunder, nachdem was damals geschehen war.
Aber auch ihr fiel nichts ein, um ihr Gespräch fortzusetzen. Alles kam so überraschend.
So schauten sie sich gegenseitig nur verlegen an, sahen gleich wieder weg, den Bahnsteig entlang: Am anderen Ende eine Handvoll Jugendliche, die tranken, sich lautstark gegenseitig anrempelten. Zwei stiegen in den Zug ein, der sich dann mit einem Ruck in Bewegung setzte. Sie blickten ihm beide nach, wie er immer schneller werdend in einer langgesteckten Kurve verschwand.
Beide, weiter in ihrer Verlegenheit verstrickt, starrten sich nur still an. Keiner fand Worte, um eine Brücke zu bauen.
Unvermittelt zuckte er mit den Schultern, wurde rot, murmelte etwas wie, er sei rein zufällig da, winkte wie zum Beweis mit einer Zeitung. „Die kauf ich immer hier am Samstag.“ Seine belegte Stimme hätte dem Krächzen einer Krähe alle Ehre gemacht.
„Ah!“, war alles, was sie herausbrachte.
„Wie lange bist du schon in München?“, fragte er, als wenn er es nicht auf den Tag genau wüsste.
„Drei, vier Jahre werden es sein.“ Auch sie hätte es genauer sagen können.
Sein Gesicht verzog sich zu einer betrübten Miene. „Du bist damals so plötzlich weggewesen. Zuerst dachte ich, die Kathy kommt bald wieder, so eine hält es nie lange in der Großstadt aus. Die ist hier in Kaufbeuren daheim …. dachte ich. Und dann kamst du gar nicht mehr.“
„Hast schon recht, Alex. Am Anfang habe ich in München auch gedacht, dass ich es dort nie lange aushalten könnte, aber man gewöhnt sich dran. Bin geblieben, weil ich richtig erfolgreich sein wollte. Da wäre hier nie was draus geworden. Das weißt du.“
„Und warum bist du nicht mal am Wochenende oder im Urlaub zu Besuch gekommen? Soweit ist München doch nicht weg von hier.“
„Alex, weißt du, nachdem Mama damals gestorben ist, konnte ich einfach nicht mehr zurückkommen. Alles hier hätte mich zu sehr an sie erinnert.“ Eine leichte Röte fühlte sie in ihrem Gesicht hochsteigen. Es war nicht die ganze Wahrheit, nicht einmal der wichtigste Teil, aber den hatte sie längst irgendwo begraben, wollte nicht daran rühren.
„Bleibst du jetzt hier?“ Seine großen, runden Augen verrieten, dass es mehr als Neugierde war.
Sie wich seinem Blick aus, stotterte verlegen: „In … in München habe ich inzwischen mit meinen Konzerten Ka … Karriere gemacht, und du … du, weißt, wie wichtig mir das Klavierspielen … schon immer …“
„Ja klar, du hast damals immer davon geredet, dass du dort als Klavierspielerin ganz andere Möglichkeiten hast.“
„Stimmt, allerdings habe ich es mir damals viel leichter vorgestellt. Es gibt so viele, junge Mädchen …, die …“ Plötzlich schwieg sie, machte eine wegwischende Bewegung mit der Hand, wollte nicht mehr an diese Zeit denken.
Nicht jetzt.
Nicht hier.
„Und wie lange bleibst du?“, fragte er, und sie konnte hören, es war mehr als reine Neugierde.
„Nur das Wochenende, um das Grab meiner Mama zu besuchen, um … mal schauen.“ Claudia hatte ihr diesen Floh mit dem Wochenende hier in ihrer Vaterstadt ins Ohr gesetzt, als Katharina ihr erzählte, dass die Erinnerungen an Alex sie nie in Ruhe gelassen hätten.
„Und wo bleibst du über Nacht?“ Er bemühte sich vergeblich, es beiläufig klingen zu lassen.
„Weiß nicht … noch nicht. Will Claudia nicht stören. Dachte an ein Hotel.“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Kathy, oder?“
„Wieso? Mit meinem CDs und den Konzerten verdiene ich Geld genug, kann es mir leisten, glaub mir.“
„Wegen des Geldes habe ich nicht gemeint, aber du kannst gerne bei uns wohnen. Mutter würde sich sicher riesig freuen, dich mal wiederzusehen.“
„Ach geh, Alex! Was würde deine Christina sagen?“
Mit einer matten Bewegung hob er seine Schultern: „Wir sind nicht mehr zusammen. Schon ein Jahr nicht mehr!“
„Ach, sag bloß. Das nenn ich mal eine Neuigkeit.“ Sie war wirklich überrascht. Zögernd trat sie einen Schritt auf ihn zu, erhob den Arm, wollte ihn tröstend streicheln, als wenn die Vergangenheit nicht zwischen ihnen läge.
Irgendwie schaffte sie es aber nicht.
Wahrscheinlich war sie wegen der plötzlichen Nähe erneut verunsichert.
Er seufzte: „Ja, das alte Lied. Bei sich auf der Arbeit fand sie einen anderen …“
Sie fühlte, dass sie, die ehrgeizige Künstlerin, wohl immer zwischen den beiden gestanden hatte. Traurig schaute sie ihn an. „Aber sicherlich keinen Netteren.“
„Ach, du Kathy … Egal! Was ist jetzt? Willst du nicht doch bei uns bleiben? Bitte!“ Er zögerte kurz, fuhr dann schnell fort: „Ich würde mich auch freuen. Ich habe sowieso nichts vor am Wochenende und …“
„Ich weiß nicht? Ich wollte eigentlich niemand zur Last fallen.“
„Was redest du da?“
Auf der anderen Seite fuhr gerade ein Zug ein, der gleich weiter nach München fahren würde. Sie beide schauten hinüber, dachten an den Tag, als sie vor mehr als drei Jahren auf dem gleichen Gleis weggefahren war.
Dann trafen sich ihre Augen, und sie wusste, er war nicht zufällig hier.
Seine Augenbrauen waren in einer unausgesprochenen Frage hochgezogen.
Natürlich wusste sie, was er wissen wollte.
Damals waren sie ein Paar, hatten sich geliebt.
Wehmütig dachte sie an die Jahre zurück, in denen sie mit ihm zusammen war. Damals ging sie auf die Musikschule in Marktoberdorf, übte Tag und Nacht Klavier, fand trotzdem noch Zeit für ihn.
Lange hatten sie davon geredet, dass sie heiraten, Kinder haben wollten. Der Termin für die Hochzeit war schon festgesetzt. Sie hatten die Tage über Ostern in Amsterdam verbracht, und sie hatte ihn jeden Tag in ein anderes Konzert geschleppt. Sie saß da, lauschte, war begeistert, schwebte auf den Klängen Liszts, wurde fortgetragen von den Etüden ihres Lieblingskomponisten Chopin, während er nur gelangweilt im Konzertführer blätterte, weil das Ganze kein Ende nahm.
Später hätte sie ihm nicht erklären können, wieso, aber bei ihr war gerade während der Mondscheinsonate von Beethoven ihr Entschluss gereift, Karriere als Klavierspielerin zu machen. Alle ihre Lehrer auf der Musikschule, waren der Meinung, sie müsse unbedingt nach München gehen, denn im Allgäu könnte es eine so begabte Musikerin wie sie nie zu etwas bringen.
Und begabt war sie; das sagten nicht nur ihre Lehrer. Dafür sprachen auch viele Preise, die sie gewonnen hatte.
Es hatte ihn damals wie einen Schock getroffen, als sie ihm von ihrer Entscheidung erzählte. „Alex, wenn wir jetzt heiraten, würde ich nie ganz glücklich werden. Versteh doch, ich bin nicht nur eine Frau, sondern auch eine Musikerin. Es ist ja nur für einige Jahre, und, wenn es nur geht, komme ich immer her … zu dir.“
Er hatte nicht verstanden. Sie hatten gestritten, tagelang nichts mehr miteinander gesprochen. Dann fing der Streit von neuem an. Verbitterter als zuvor hatte er sie vor ein Ultimatum gestellt, und sie hatte sich für München, für ihre Karriere, für die Musik entschieden.
Er war auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig bei ihrer Abfahrt nach München zurückgeblieben, hatte ihr hinterher gewunken … hatte nicht verstehen können.
Leise räusperte sie sich: „Gell, Claudia hat dir gesagt, dass ich heute komme?“
Die kleinen Krähenfüße um seine braunen Augen bestätigten ihre Vermutung.
„Klar, sie … wusste ja, dass ich dich immer noch …“
„Ah!“
Sie nickte, lächelte.
Er nickte, lächelte.
Beide verstanden: Es war Claudias Spiel - von Anfang an. Sie wollte die beiden wieder zusammenbringen.
Er trat ganz dicht an sie heran, begann mit seiner Hand sanft über ihre Wange zu streicheln. Sie schnurrte genüsslich – wie früher, wenn er zärtlich war.
Er nahm ihren Kopf, küsste sie auf ihre Wangen, glitt dann unsäglich sanft zu ihren Augen, zu ihrer Stirn, zunächst langsam, zögernd, bis sich ihre beiden gierigen Münder trafen, bis ihre Zungen verlangend miteinander spielten.
Seinen starken Körper spürte sie immer näher an ihrem, fühlte seine Wärme, sein Verlangen. Immer fester drückte er sie an sich, als wenn er sie nie wieder loslassen wollte.
Auf ihrer Wange spürte sie, wie sich eine Träne ihren Weg suchte, wusste nicht, ob es seine oder ihre war. In ihrem Kopf schwebten die Töne von Chopins Nocturne in cis-Moll, weich, und doch vorandrängend, immer beschwingter, immer bestimmter.
Kühn strichen seine Hände über ihren Rücken, ließen sich, im Kuss vereint, eine Unendlichkeit Zeit. Noch dichter drängte er sich an sie, hielt sie noch fester, als er das leichte Zittern in ihren Beinen, in ihrem Körper spürte.
Beide schienen sie zu vergessen, dass sie hier mitten auf dem Bahnsteig standen, zwei Menschen, die sich nach einer Ewigkeit wieder fanden, deren Liebe nie ganz erloschen war.
Schwer atmend standen sie da, sahen die Liebe in den Augen des anderen.
Und zwischen all dieser Leidenschaft, all diesem Begehren fühlte sie seine Frage …
Sie sah dem Zug auf dem gegenüberliegenden Gleis nach, der gerade in Richtung München davon fuhr.
Diese Frage hatte sie verdrängt. Lange.
Wo sollten ihre entgegengesetzten Leidenschaften hinführen?
Wer weiß?
Jetzt sehnte sie sich nur nach seiner Nähe, seiner Liebe.
Sie hatte …, nein, sie hatten das ganze Wochenende Zeit, um …
Mit einer verstohlenen Bewegung wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
Die leisen, sanften Tönen von Chopins Nocturne verhalten in ihrem Kopf.
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2010
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