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Kapitel 1

 

Ein breites Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, den Kopf leicht schief gelegt, betrachtete er sein Werk. Es war ein Meisterstück, da war er sich sicher, nie hatte er etwas Besseres hinbekommen und die Nachricht, die damit verkündet werden sollte, war unmissverständlich. In deutlichen Buchstaben hatte er sein Wiederkehren verkündet. Jeder würde es sehen, doch besonders Sie, nur für Sie hatte er es fertiggestellt, war stundenlang auf der Suche nach dem perfekten Material gewesen. Hatte sich den perfekten Ort ausgesucht und dann über zwei Stunden alles so drapiert, dass es perfekt aussah. Doch auch etwas Wehmut machte sich in ihm breit, sobald Sie es gefunden hatte, war es zerstört, Sie würdigte seine Arbeit nicht, ließ es zerstören. Tief durchatmend betrachtete er ein letztes Mal sein Werk und verschwand dann mit der aufgehenden Sonne vom Strand.

 

Verschlafen rieb sich Samantha Johnson über ihr Gesicht. Wie sie es hasste, wenn ihr Handy schon am Morgen klingelte. Grummelnd nahm sie das Teil, das nicht aufhören wollte einen schrillen Ton von sich zu geben. Genervt drückte sie auf Annahme, ohne vorher zu sichten, wer sie anrief: „Johnson, am Sonntagmorgen um halb sieben, an meinem freien Tag!“, begrüßte sie ihren Gesprächspartner.

Ein Lachen drang durch ihr Handy: „Einen guten Sonntagmorgen um halb sieben, an dem du arbeiten musst“, verkündete die Stimme ihres Partners Daniel Baker, dann war sein erfreuter Laut verschwunden, seine Stimme klang mehr als ernst: „In einer Stunde am Huntington Beach, Beeilung!“ Da ertönte schon der übliche Ton, wenn der andere Teilnehmer aufgelegte. Samantha stutzte, riss die Augen auf, sprang aus dem Bett und eilte ins Bad.

Während die Dusche heiß lief, entkleidete sie sich und steckte die Zahnbürste in ihren Mund. Eile war geboten, das war ihr mehr als bewusst. Sie kannte Daniel seit acht Jahren und wenn er sie auf eine solche Art anrief, konnte das nur mit Jack zu tun haben ... Jack, allein der Name jagte ihr einen Schauer über den Rücken und Zornesfalten auf die Stirn. Kopfschüttelnd verdrängte sie den Gedanken aus ihrem Kopf und stieg aus der Dusche. Eilig trocknete sie sich ab, kämmte ihre schulterlangen Haare streng nach hinten und band sie im nassen Zustand zusammen. Noch schneller streifte Samantha sich ihre Kleidung über und hastete aus ihrer Wohnung, die im zweiten Stock eines Apartments am Rande von Los Angeles lag. Somit konnte sie die Zeitvorgabe gerade noch einhalten.

Währenddessen stand Daniel Baker am Huntington Beach, sah auf seine Armbanduhr, die, nach einem näheren Blick, langsam mal erneuert werden sollte. Samantha hatte noch zehn Minuten, und wie er seine Partnerin kannte, würde sie gerade einmal drei benötigen. Sein Blick wanderte zur Straße und wie erwartet fuhr ein schwarzer Sportwagen nach der Zeit vor. Mit Dellen und Kratzern versehen hielt das Auto bei ihm. Ja das war Samantha, seit acht Jahren arbeiteten sie zusammen und doch blieb sie sich treu. Ein Auto musste fahren, der Zustand war ihr egal, obwohl ihm bei dem Anblick des gerade mal vier Monate alten Autos die Tränen in die Augen schossen. Als sie ausstieg, wären ihm die Tränen bald entwischt.

An sich war Samantha eine schöne Frau, schulterlange kastanienbraune Haare, grüne stechende Augen, eine Figur ..., nun konnte er nicht mehr mit reden, doch genau das war es. Sie war an sich schön, machte jedoch nichts aus sich. Ihre Haare gefangen in einem Zopf, und doch standen sie immer wieder ab. Augen verziert von Augenringen, die sie älter als 28 Jahre aussehen ließen. Und ihr Körper war in weiten Jeans und Männerhemden mehr als nur gut versteckt. Jegliche künstliche Verschönerung schien ihr fremd. Samantha war eine Polizistin, die, nicht nur äußerlich, den Männern Konkurrenz machte.

„Hey, Dan, ist er es?“, schoss Samantha los und bückte sich unter dem Absperrband durch.

„Ja, mit netter Nachricht für dich, er hat sich wirklich übertroffen.“ Dabei wandte er sich von ihr ab und ging zur Fundstelle.

„Ausweise!“, forderte ein junger Mann in Polizeiuniform, der gerade erst seinen Abschluss gemacht hatte und ihnen den Weg versperrte. Mit verschränkten Armen, leicht auseinandergestellten Beinen, schien er eine Mauer aufbauen zu wollen. Daniel zückte seine Marke. „Sam. schlucke deine Gedanken!“, ermahnte er wissend seine Partnerin. Diese grummelte, zog ihre Marke aus der Gesäßtasche und zeigte diese vor, bevor sie hinter Daniel herging.

Nach zehn Jahren muss ich mich immer noch kontrollieren lassen und dann noch von so einem Würstchen, tzz, wo kommen wir denn hin?, dachte sie zähneknirschend.

„Er macht seine Arbeit und das weißt du, also bleib ruhig. Hinter dem Felsen muss es sein.“

„Der Ton macht die Musik, und wenn ich wollte, würde er schneller im Sand liegen und nach seiner Mutter schreien, als er blinzeln kann“, konterte sie und lief vor. Erstarrt sah sie auf die Fundstelle, schloss kurz die Augen, um sie dann wieder aufzureißen.

„Jennifer Burton, 18 Jahre alt! Nach Auskunft ihrer Eltern war sie gestern noch joggen, kam nicht wieder. Der Gerichtsmediziner kommt gleich, man dachte, du solltest es zuerst sehen“, kam es mit einer rauen Stimme von einem älteren Mann, den Samantha allzu gut kannte. Seth war der beste Freund ihres Vaters gewesen, dessen Frau die beste Freundin ihrer Mutter.

„Danke, Seth. Jack ist also zurück!“ Sie ging in die Knie, streifte ihre Gummihandschuhe über und betrachtete sich Jennifer. Ihre roten Haare lagen wie ein Fächer auf dem Boden, ihre Augen weit geöffnet, das Grün in ihnen war matt. Der Mund geschlossen, beim näheren Hinsehen sah man, dass er säuberlich zugenäht war und die oberen Lider der Augen ebenfalls. Doch das würde der Gerichtsmediziner alles festhalten. Samanthas Blick ging zum Hals der jungen Frau, drei Schnitte zierten ihn, über dem Kehlkopf, direkt darauf und darunter. Ihr Oberkörper war gänzlich entkleidet und ihren Bauch zierten Schnitte, die bei näherer Betrachtung Buchstaben ergaben.

 

*Ich bin wieder da!*

 

Ein korpulenter Glatzkopf ließ schnaufend seinen metallenen Koffer neben der Leiche aufschlagen. Sah kurz in die Runde. „Seth, Dan, Sam, guten Morgen. Was gibt es?“

Stirnrunzelnd zeigte Seth auf die Leiche. „Guten Morgen, Leonard. Jack is zurück!“

Der vor Schweiß glänzende Kopf senkte sich. „Ich weiß, Sam!“, grinste Leonard, wissend, was diese verlangte.

„Langsam brauche ich wohl gar nichts mehr sagen, oder? Jeder kommt mir ja zuvor.“ Abermals grummelte sie.

Der Gerichtsmediziner kniete neben dem Körper nieder, öffnete seinen Koffer und nahm erst einmal ein Thermometer heraus. „Der Todeszeitpunkt war circa um vier, wie ich ihn kenne, muss er ungefähr zwei Stunden für den Aufbau gebraucht haben, also ist er um sechs verschwunden, zum Sonnenaufgang.“, informierte er sie. Er entfernte das Thermometer aus dem Körper und nahm ein Skalpell aus der Tasche. Ganz behutsam schnitt er die Nähte am Mund auf.

„Die Leichenstarre fängt an“, seufzte Leonard und öffnete gewaltsam den Mund. Fischte mit zwei Fingern nach dem Gesuchten, um dann einen eingeschweißten Zettel Sam zu reichen. „Sei froh, dass es nicht zu warm ist, sonst hätte sie schon lange begonnen“, grinste Samantha nicht gerade ernst gemeint, und ihr Blick wanderte zu dem Zettel.

 

*Deine Trauerzeit ist vorbei, kleine Samantha. Das Spiel geht weiter, leider ohne Deinen Vater, aber mit uns beiden. Ich freu mich, mein Engel, und trage Deine Mutter an meinem Herzen. *

 

Wie ein Blitz durchfuhr es Samantha. Die Bilder von ihrer sterbenden Mutter, welche auf dem Schreibtisch ihres Vater gelegen hatten, drangen in ihre Erinnerung. Jack hatte sie Samuel geschickt, jede Einzelheit der Verstümmelung festgehalten. Nackt lag Victoria auf einem hölzernen Tisch, Arme und Beine ausgestreckt und festgebunden, als wäre der Tisch ein Kreuz. Pure Angst in den weit aufgerissenen Augen, die ihr Grün eingebüßt hatten.

Die ersten Schnitte an Beinen, Armen und Rumpf. Die geschnittene Schrift Jacks, filigran und gut lesbar, bis das Blut hervorquoll. Seine Hände auf jedem Stück Haut, fast schon zärtlich sah es aus und doch so eiskalt und gewaltsam, dass selbst jetzt, wo Samantha die Bilder nur geistig vor sich sah, sie einen Würgereiz erlitt. Dieser Mann, diese Bestie, hatte ihre Mutter geschändet, verstümmelt, verbrannt, alles bis ins Detail festgehalten und inklusive der Asche ihrem Vater zugeschickt. Mit der Aufforderung:

 

Fang mich, wenn Du kannst, sonst bist Du der Nächste.

 

So war es gekommen, vor einem Jahr. Auch diese Bilder tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Ihr Vater röchelnd auf seiner Veranda. Arme und Beine an Pfosten fixiert, Schnittwunden am ganzen Körper. So hatte sie ihn gefunden, als Jack anrief und sie aufforderte, zu ihrem Vater zu fahren. Er hatte sich nicht als Jack geoutet, sagte, er sei der Nachbar, neu zugezogen, hätte gesehen wie ihr Vater blass auf der Veranda stand. Was für ein grausamer Fund, das letzte Röcheln, als er aufsah und in ihre Augen blickte: „Ich liebe dich.“ Und doch las sie auch die Aufforderung, allem ein Ende zu setzen. Jack zu fangen, zu vernichten.

Dann sackte Samuel in sich zusammen, hing leblos in seiner Fixierung, die Augen leer, die Haut kalt und bleich. Blut rann noch aus den Wunden und floss gemächlich auf die hölzerne Veranda. Auch ihr Vater hatte wie ihre Mutter Schnittwunden am Bauch, die erst durch das Säubern des Gerichtsmediziners sichtbar wurden.

 

Und nun Du!

 

„Sam, ... Samantha, ... hey, komm zu dir, alles in Ordnung?“ Daniel rüttelte an seiner Partnerin. Nur ein zaghaftes Nicken kam von ihr, dann wandte sie sich Leonard zu: „Falls du noch was hast, ruf sofort an. Komm, Dan, ich denke, wir sollten Steve Bescheid geben.“ Damit war der Chef der Mordkommission gemeint. Wie nicht anders zu erwarten war Steve Trog aus allen Wolken gefallen: „Jack ist wieder da?“

„Ja, ich hätte das Jahr besser nutzen sollen“, kam es sarkastisch grinsend von Samantha, dann nahm sie auf einem braunen Sessel Platz, der vor dem riesigen Mahagoni-Schreibtisch, seinen Platz gefunden hatte. Daniel setzte sich in dessen Zwilling, einen Arm weit entfernt, und atmete tief durch. „Noch besser? Wir sind allen Spuren, Hinweisen nachgegangen, was wolltest du denn noch machen?“

„Nicht das Versteckte wird mir helfen, das Offensichtliche ist mein Ziel“, ahmte sie ihren Vater nach, der ihr immer wieder diesen Spruch gesagt hatte. „Gott weiß, was er von mir wollte.“

Steve nickte verstehend. „So war Samuel halt, immer schon. Samantha, ich wäre dafür, wenn du nicht weiter an diesem Fall arbeitest, ich werde zwei Kollegen aus New York herbeordern. Sehr fähige Männer, Spezialisten. Seth hat eine Zeit mit ihnen zusammengearbeitet, sollte sie eigentlich anlernen, was unnötig war. Duncan Parker und Lars Buster sind die Besten, wenn es darum geht, versteckte Hinweise zu finden, falsche Fährten aufzuspüren und Hinterhalte zu entdecken.“ Es lag Begeisterung in seinem Blick. Samantha dagegen wurde rot, purer Zorn funkelte in ihren mittlerweile dunkelgrünen Augen. „Sie wollen mir den Fall abnehmen? Niemals. Ich durfte nie an die Akten, als Papa noch lebte, doch jetzt bin ich dran. Sie wissen, was ich kann, ich bin auch eine der Besten, entweder Sie lassen mir den Fall oder ich gehe!“ Sie zückte ihre Marke.

 

Daniel grinste. Wie er solche Situationen liebte, in denen sich seine Partnerin aufführte wie seine zehnjährige Tochter. Er war überzeugt, dass das nur so war, weil Samantha nie eine wirkliche Kindheit hatte. Ihr Leben geprägt von dem Mord an der Mutter, diese Bilder, wovon er wusste, dass sie diese gesehen hatte. Ein Vater, der jede freie Minute Jack erwischen wollte und schon früh seine Tochter dazu brachte, ihre Sinne zu schärfen.

Nie war es Samuels Wille gewesen, dass seine Tochter auch zur Polizei ging, doch sie sollte auf sich achten, alles analysieren können. Gefahren aus dem Weg gehen und wenn das nicht möglich war, sich wehren. Als Samantha allerdings den gleichen Weg einschlug wie Vater und Mutter, versperrte Samuel ihr jegliche Akteneinsicht und hatte ihr Daniel zum Partner geben lassen.

 

Daniel war einer der Besten seines Jahrgangs. Auf dem Gebiet der Technik, kampfsporterprobt. Das Einzige, was ihm fehlte, war die Härte, und genau da hatte er an Samantha seinen Ausgleich gefunden. Sie war ungestüm und immer auf Spannung, Daniel entspannt und vorausschauend. Er machte Pläne, Samantha führte sie aus. Er war ihre Lebensversicherung und sie beschützte sein Leben.

Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr war Daniel verheiratet, hatte zwei Kinder, eine Tochter von zehn und einen Sohn von zwölf Jahren.

Samantha ließ niemanden an sich ran, hatte nächtliche Bekanntschaften, aber sie band sich an keinen. Sie hatte genug vom Schmerz des Verlustes, nie wieder wollte sie diesen fühlen und hielt sich so lieber für sich. Versuchte niemanden zu nahe kommen zu lassen.

 

Steve Trog hob beschwichtigend seine Hände. „Ich meine es doch nur gut. Du weißt, dass er dich will, und meine Befürchtung ist: Solange du an diesem Fall dran bist, wird sich das nicht ändern.“

„Im Gegenteil. Solange sie dran ist, wird er warten. Er will sehen, wie gut sie ist, genau wie ihre Mutter und ihr Vater. Beide waren dicht an ihm dran, nur deshalb hat er sie ermordet. Lassen Sie Sam, sie schafft das. Was Parker und Buster angeht: Ich freu mich auf die beiden, sie sind wirklich gut. Ich habe sie auf einer Vorlesung gesehen, ein eingespieltes Team, sie können uns vielleicht wirklich weiterhelfen“, mischte sich nun Daniel ein, und wie immer, sobald er das tat, nickten alle ergeben.

Kapitel 2

 

Es war sechs Uhr abends, als Daniel und Samantha in der Gerichtsmedizin bei Leonard standen. Dieser wischte sich gerade den Schweiß von seiner Glatze und seufzte tief. „Die Kleine hat verdammt gelitten. Der Fundort war definitiv nicht der Tatort, aber das kennen wir ja schon. Sie hat äußere Verletzungen, die schon nicht ohne sind, zwar nicht tödlich, aber schmerzhaft. Ihre Speiseröhre ist verätzt, sie ist im unteren Teil eingerissen. Das arme Ding muss furchtbare Schmerzen gehabt haben. So ist sie erstickt, das Anschwellen des Rachens, der Schock der Atemlosigkeit. Wäre die Hilfe sofort gekommen, hätte man sie noch retten können.“ Leonard rieselte sich den Kopf frei: „Augenoberlider waren festgenäht, genau, wie der Mund zusammengenäht wurde. Auf dem Rücken sind wieder Schnittwunden, sehen wie Zeichen aus, wenn ich mich nicht ganz irre.“ Dabei drehte er den Körper von der Rücken- auf die Bauchlage. Stirnrunzelnd blickte Samantha auf die verschiedenen Zeichen, doch nichts wollte ihr wirklich etwas sagen. Es sah aus wie Zickzackmuster, dann als würde man Strichmännchen malen. „Das hatten die anderen Opfer doch auch, wieso meinst du jetzt, es sind Zeichen? Ich dachte, es seien Übungen.“

Daniel zuckte die Schultern. „Das sieht aus wie die Versuche eines Zweijährigen, zu schreiben. Leonard! Sam hat recht, ich dachte, die Theorie steht, dass es seine Versuche ruhig zu bleiben sind.“

„Ich bin mir da nicht mehr sicher. Ich meine diese Zeichen schon mal gesehen zu haben, in einem Fachblatt. Nun prüft es, ich habe es euch schon gesendet.“

 

„Das wird nicht nötig sein, wenn ich kurz dürfte?“, warf ein fast Zwei-Meter-Mann ein, seine eisblauen Augen zeigten wie seine Lippen ein freundliches Lächeln, dabei fuhr er sich durch sein kurzes blondes Haar.

Samantha sah ihn und seine Begleitung misstrauisch an. „Lars Buster, das ist mein Partner Duncan Parker, Spezialist in alten Sprachen und Zeichen“, sagte ein ebenfalls knapp zwei Meter großer Mann, der Daniel ziemlich ähnelte. Schwarze Haare, braune Augen und recht gut gebaut.

Duncan Parker drückte Samantha sanft zur Seite. „Ja also, das Rätisch, eine alpine Schrift der Antike aus dem norditalienischen Raum Bozen, Sanzeno und Trient. Je nach Einfluss zuzuordnen. Das hier ist Sondrio. Diese Zeichen bedeuten ... nun ...“

„Ach, jetzt weiß Mister ‚Ich bin ein Spezialist‘ nicht mehr weiter?“, grinste Samantha und schüttelte den Kopf.

„Das nicht, Miss Johnson, allerdings verstehe ich nicht ganz den Sinn. Da steht: Einst war er es, nun ich“, antwortete Duncan und grinste schief.

Leonard sah Duncan interessiert an. „Sie meinen im Ernst, das ist eine Schrift? Und diese unterscheidet sich dann auch noch in drei Kategorien?“

„Genau, es ist im Prinzip wie bei uns. Bitte kann mehrere Bedeutungen haben. Bitte geben Sie mir etwas, oder Bitte, hier haben Sie etwas. Genau so ist das bei dieser Schrift, wieso?“

„Könnten das hier auch Schriften sein? Man nahm bisher an, es seien nur Wunden, um die Opfer zu quälen oder zum Üben. Zumal bei Jack Nachrichten immer gereinigt wurden, damit man sie entdeckt.“ Dabei griff der Gerichtsmediziner in eine Schublade seines Schreibtisches und reichte einen ganzen Ordner zu Duncan.

Dieser blätterte kurz durch, nach den Seitenzahlen zu urteilen, waren es bisher 360 Seiten mit menschlichen Rücken, auf denen sich Schnitte befanden. „Ich würde jetzt nicht beschwören, dass alle Schriften sind, aber ja, einige erkenne ich sofort. Wenn Sie mir etwas Zeit und diese Bilder lassen, würde ich es übersetzen.“

Lars blickte seinem Kollegen über die Schulter, besah sich ein paar der Aufnahmen. „Du solltest deinen Vater anrufen, er könnte dir helfen.“

„Habe ich auch gerade gedacht. Mein Vater ist ein Schriftexperte, spezialisiert auf altertümliche Schriften, und das sind diese hier, wenn ich nicht gerade falsch liege“, erklärte Duncan und sah Samantha an. „Wäre es Ihnen recht, wenn ich meinen Vater um Hilfe bitten würde?“

Verwundert sah Samantha ihn an. „Wieso mir? Da sollten Sie Trog fragen, er ist hier der Chef.“

„Nun er hat uns mitgeteilt, dass Sie in diesem Fall das Sagen haben, alles muss mit Ihnen abgesprochen werden. Also ist es in Ordnung?“, erklärte Lars, während Duncan schon wieder in den Ordner blickte. Samantha sah zu Daniel, der nickte zustimmend.

„In Ordnung, allerdings werde ich immer dabei sein. Damit müssen Sie zurechtkommen“, kam es mit einem eiskalten Blick, der keine Widerrede zu ließ. Lächelnd blickte Duncan auf, sah ihr direkt in die Augen und nickte. Samantha bemerkte sein Lächeln nicht, war zu sehr auf seine Augen fixiert. Dieses Blau war wie das des Meeres in das man sich gerne fallen ließ und doch aufpassen musste, nicht zu ertrinken.

Wie viel Zeit sie auch immer mit dem Blick in seine Augen verbracht hatte, jede Sekunde war zu viel. Eilig ordnete sie ihre Gedanken und sah zu Lars. „Wo sind Sie untergekommen?“

„Ein Apartment am Rand ...“

Sie nickte wissend: „Hätte ich mir wohl denken können. Falls Sie den Weg nicht wissen, ich fahre denselben“, sagte sie seufzend und verschwand mit Daniel aus der Pathologie. Leonard grinste in sich rein, genau so erging es auch Lars, wobei beide Duncan ansahen.

„Was ist?“, fragte der etwas genervt.

„Wissen Sie, das ist gar nicht Sams Art. Dieser Blick hat ziemlich lange gedauert.“

Eilig versuchte Leonard, ein Lachen zu unterdrücken. Duncan merkte die Hitze in seinen Wangen. „Das nennt man Kommunikation, eine stille Kommunikation“, verteidigte er sich und verließ ebenfalls ohne Abschied Leonards Reich.

„Wenn es beruhigt, es ist auch nicht Duncans Art. Tja, meine Oma hat schon recht, irgendwann trifft es jeden“, lachte Lars. Leonard nickte schmunzelnd, beide Männer reichten sich die Hände zur Verabschiedung.

 

Immer nervöser wurde Duncan, der mittels Videoübertragung mit seinem Vater die Schriften auf den Rücken entschlüsselte. Kontinuierlich nickte Erik begeistert: „Ich muss sagen, dieser Mann ist sehr belesen, das sind Schriften, die habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Das ist einfach genial, nie würde jemand darauf kommen, dass es sich um eine Sprache handelt.“

„Paps, höre auf zu schwärmen, er ist ein Massenmörder. Er hat schon 361 Opfer zu verbuchen, ich denke nicht, dass ihm Lob entgegengebracht werden sollte“, entfuhr es Duncan genervt, der sich diese Lobpreisung seit drei Stunden anhörte. Samantha saß schweigend daneben, hatte aber die gleichen Gedanken wie ihr Sitznachbar, und nickte nun zustimmend. „Ist ja gut, mein Junge. So, ich kann die ersten Hundert nun vorlesen, seid ihr bereit?“

„Ja!“, kam es wie aus einem Mund. Gespannt sahen sie auf den Bildschirm, wo ein Mann Mitte fünfzig an seinem Schreibtisch saß, die Brille auf der Nasenspitze und sich immer wieder eine blond-graue Strähne aus dem Gesicht pustete. „Gut, jeder Satz ist ein Opfer. Ich beziffere sie jetzt nicht mehr“, kündigte Eric an, lehnte sich in seinen Sessel zurück und begann vorzulesen.

„Das ist der Anfang. Ich habe ein Ziel. Ihr beide werdet es sein. Mein Geschöpf der Liebe. Zarte Berührungen. Blicke zueinander. Ich sehe euch. Ich bin immer da. Jedes Jahr zwölf. Fangt mich. Ihr werdet sterben. Die Zeit rückt näher. Mein Wunsch wird wahr. Ein neues Paar. Kenne eure Pläne. Hab neben euch gestanden. Hab mit euch geredet.

Es wächst. Es wird sein werden. Sie wird sein werden. Hört auf zu suchen. Ihr findet mich nie. Sein Engel kommt. Mein Geschenk.“ Eric blickte in die Kamera. „Was war in der Zeit? Er hat dem Opfer eine Rose eingeritzt.“ Samantha sah zu ihren Fingern. „Meine Geburt, alles, was bisher kam, sind zwei Jahre im Leben meiner Eltern. Als sie sich kennenlernten.“

Fast automatisch wanderte Duncans Finger zu denen Samanthas und drückte diese leicht. Verstohlen wischte sie sich eine Träne weg und nahm ihre Hand aus der seinen. „Also, das waren die ersten 24 Opfer, danach scheinen nur noch Zahlen zu kommen, er hat sie nummeriert“, erläuterte Erik. Duncan schüttelte fassungslos den Kopf. „Das heißt zusammengefasst, ihre Eltern waren das Ziel. Und Samantha ist für irgendwen das Geschenk. Jack kommt aus den eigenen Reihen und weiß alles. Mamma Mia, danke Paps.“

„Kein Problem, ich werde mich weiter dransetzen, morgen früh melde ich mich mit den nächsten Hundert.“

Samantha nickte, zwang sich zu einem Lächeln. „Danke, Mister Parker.“ Damit war die Verbindung beendet. Wortlos stand Samantha auf und verschwand in ihre Wohnung, die direkt neben der von Lars und Duncan lag. Duncan baute die Verbindung zu seinem Vater wieder auf: „Das war nicht alles, oder?“

„Nein, Junge. Ich bin schon weiter. Er ist nicht nur aus euren Reihen, er weiß alles über Samantha. Wann sie lacht, weint, Freud und Leid erfährt. Er hat sie regelrecht verfolgt und den Mord an ihrer Mutter geplant. Vor allem denke ich, dass seit Opfer 180 ein anderer übernommen hat, denn dieser schreibt mit links, detaillierter, komplizierter. Selbst in den Sätzen schwankt er zwischen Sprachen, Zeichen, er will verwirren, auf falsche Fährten bringen. Junge, diese Männer sind gefährlich und jeder, der Samantha zu nahe kommt, wird ausgelöscht. Der Zweite spricht auch von seinem Engel. Weiter bin ich auch nicht. Überlegt gut, wen ihr einweiht, denn irgendwer ist Jack und dieser kann jederzeit neben dir stehen, ohne dass du es bemerkst. Vor allem: Irgendwo muss es Aufzeichnungen geben, denn der Erste bemängelt, dass die Aufzeichnungen nicht da sind.“

„Um Gottes willen, in Ordnung, danke noch mal, Paps.“ Mit schweren Augen fiel Duncan ins Bett. Insgeheim hatte er sich den Fall leichter vorgestellt. Rein rechnerisch hätte der Täter bereits um Mitte bis Ende fünfzig sein müssen.

Doch wenn wirklich ein anderer übernommen hatte, konnte der Täter genauso gut Mitte dreißig sein, kaum älter als er selbst. Sein Magen krampfte, als er daran dachte, dass Samantha das erklärte Ziel war. Unbeobachtet von ihr, hatte Duncan sie analysiert.

Sie war zerbrechlich, so schutzbedürftig, auch wenn Samantha alles daran gab, es nicht zu zeigen. Die Informationen über sie waren vielseitig; von der Geburt bis heute hatte man ihm alles zukommen lassen. Daran musste sich Lars morgen setzen, beschloss Duncan, dann konnte der ihm die Kurzfassung berichten und er selbst sich auf die Übersetzungen stürzen.

 

Was keiner ahnte, selbst jetzt war Jack da, hatte sie beobachtet, wusste alles und rieb sich vergnügt die Hände.

Es lief nach Plan. Nicht umsonst hatte er Trog dazu gebracht, Buster und Parker her zu beordern. Zwar war Jack überzeugt, dass ihm beide unterlegen waren. Allerdings war ihm auch bewusst, dass neue Leute neue Ideen brachten, und das sah er jetzt bestätigt. Doch was ihm gar nicht zusagte, waren die Blicke, die Nähe zwischen Duncan und Samantha. Sie war sein. Gehörte nur ihm, niemandem sonst. Eilig sprang er in seinen Wagen, musste weg, wollte nach Hause zu seinen Eltern.

Dort fühlte er sich wohl. Es war ruhig und sauber, niemand würde ihn dort stören. Der Bauernhof seiner Eltern befand sich genau 101 Kilometer entfernt, genau einen Kilometer außerhalb des Einzugsbereiches der Mordkommission von Los Angeles.

 

 

Gerade ging die Sonne über den Hügeln auf, als Jack ihn erblickte. Ein wunderschöner Bauernhof breitete sich vor ihm aus, er war schon Jahre nicht mehr hier gewesen. Jack wusste, was ihn hier erwarten würde, und so stellte sich die Vorfreude ein und ließ ihn erschaudern. Langsam schob er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um, mit einem lauten Knarren öffnete sich die Tür.

 

„Mutter, Vater, euer Junge ist wieder da“, rief er, wohl wissend, dass keiner antworten würde. Jack trat in die Küche, da saßen sie, vor ihnen Teller, Tassen, in der Mitte eine Kanne, wie jeden Mittag, es änderte sich wohl nie. Er griff zu einer silbernen Wasserkanne, füllte diese und wendete sich zu seinen Eltern. „Ihr trinkt doch eine Tasse Tee mit, nicht wahr?“, grinste er und stellte die Kanne auf den Ofen. „Ihr seht auch schon so vertrocknet aus.“

Seine Eltern saßen still da, die Arme auf dem Tisch lehnend, und ihre leeren Augen starrten einander an. Nachdem Jack mit ihnen Tee getrunken hatte, begab er sich auf eine Besichtigungsrunde. Der Stall zog ihn wie magisch an, ein Kribbeln durchzog seinen Körper, Vorfreude. Ebenso wie im Haus war es hier still. „Speedy, Caroline, Camp, lange nicht mehr gesehen“, lächelte Jack und beugte sich in die einzelnen Boxen, um die Pferde am Boden zu betrachten. Dann ging er zu den Schweinen.

Eng aneinandergereiht, hätte man meinen können, sie wären ausgelaugt durch die anhaltende Hitze und würden schlafen. Jack liebte diese Stille. Früher war es hier so laut und dreckig, doch nun außer Staub nichts mehr. „Erst mal muss ich wohl putzen“, stöhnte er auf und ging in den ungeliebten Garten. Überall wucherte das Unkraut, Vögel sangen ihre Lieder und Maulwürfe hatten etliche Hügel gebaut.

„Ich will RUHE!“, schrie er, doch bewirkte er nur das Gegenteil. Aufgebracht zwitscherten die Vögel und ein leicht nervöses Miauen war zu vernehmen. Jack drehte sich um, suchte diese Katze. „Komm, Miez, komm.“ Nach einer halben Stunde hatte er das kleine Geschöpf gefunden, er nahm es an sich und ging ins Haus.

 

Eine Woche brauchte Jack, bis alles so sauber war, wie er es sich vorgestellt hatte. Der Katze ging es nach seiner Meinung blendend, seit sieben Tagen leistete sie seinen Eltern Gesellschaft.


 

Kapitel 3

 

Es war eine Woche voller Ereignisse. Samantha stand gerade vor ihrem Badezimmerspiegel und lächelte in sich rein. Montag und Dienstag hatte sie mit Duncan und dessen Vater die Schriften studiert. Nebenbei Lars erwischt, wie er ihre Akten durcharbeitete. Im ersten Moment war sie sauer, hatte ihm die Unterlagen entrissen. „Was soll das? Wenn Sie was über mich wissen möchten, dann reden Sie gefälligst mit mir.“

„Aber ... also ...“, stotterte Lars, bis er den ersten Schreck überwunden hatte. „Duncan sagte, ich solle alles über Sie rauszufinden“, ihm entkam ein Grinsen. Stirnrunzelnd gab Samantha Lars die Akten zurück. „Und wieso?“

„Offiziell wegen Jack, aber das will er Ihnen morgen alles mitteilen, bei dem Treffen.“ Lars wartete einen Augenblick, biss sich auf die Zunge, doch konnte sich den folgenden Satz nicht verkneifen: „Inoffiziell: Nun, er weiß gerne mehr über die Frau, die die ganze Zeit an seiner Seite ist.“

 

Sprachlos sah Samantha ihn an, meinte er das jetzt ernst? Nein, natürlich nicht, er lachte ja schließlich, oder? Sie knabberte auf ihrer Unterlippe und ging zurück zu Duncan, der wie immer in den letzten zwei Tagen vor seinem Computer saß und mit seinem Vater sprach.

Frau! Bis auf die Anrede wurde sie schon lange nicht mehr als Frau betitelt. Ihr Blick wanderte neben sich, verstohlen musterte sie Duncan. Sein blondes kurzes Haar war steil nach oben gestylt, auch wenn es nur minimal auffiel. Sein Nacken war nicht zu schmal und nicht zu breit, seine Oberarme zeugten vom Training, aber nicht zu übertrieben. Sein Gesicht war kantig und doch weich und seine Lippen luden ein, auf ihnen zu verweilen.

Ja, er war ein Mann, der in mancher Frauenfantasie eine Rolle spielen konnte. Doch in Samanthas? Nein! Sie schüttelte innerlich den Kopf und erwischte ihren Geist, wie er ihr Schütteln in ein Nicken umformte.

 

Am nächsten Morgen stand Samantha vor ihrem Badezimmerspiegel und ihr Lächeln versiegte. Die Haare wollten sich nicht in Form bringen lassen. Das Hemd, das sie trug, schien ihr auf einmal zu weit, zu männlich. Ebenso die Jeans, die nur dank Gürtel auf ihren Hüften sesshaft geworden war.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch genau fünf Stunden hatte, bis das Treffen stattfinden sollte. Sie war gespannt darauf, was Duncan zu erzählen hatte und wieso ausgerechnet nur Daniel, Steve, Seth, Leonard, Lars und sie dabei sein durften. Eilig verdrängte Samantha den Gedanken, ging in den Flur nahm Schlüssel und Portemonnaie und verschwand zu ihrem Wagen.

 

Daniel sah auf die Uhr und schüttelte ungläubig den Kopf. Noch nie war seine Partnerin zu spät gekommen und nun war es genau zwei Uhr. Mit Watte und einer Flasche mit flüssigem, durchsichtigen Inhalt bewaffnet trat Duncan in das Büro von Steve Trog. Die Blicke, die zu ihm gingen, wanderten erst zwischen Watte und Flasche und wurden dann fragend.

„Das ...“, er hielt die Flasche hoch, „ist ein Lösungsmittel, das jegliche chemisch zusammengesetzten Bestandteile zersetzt. Wer also bei dieser Besprechung dabei sein möchte, wird es sich gefallen lassen müssen, dass ich testen werde, ob ihr wirklich ihr selbst seid.“ Dabei öffnete er die Flasche, träufelte ein wenig des Inhaltes auf die Watte und trat zu Trog. „Darf ich?“

„Nur zu, ich denke, Sie wollen sicher sein, dass keiner Jack ist, oder?“

„Korrekt.“ Dabei rieb er mit der Watte über Steves Gesicht, wartete einen Augenblick und nickte befriedigt.

So ließ es jeder über sich ergehen, erst dann entspannte sich Duncan und nahm Platz. Genau in diesem Augenblick ging die Tür auf und Samantha trat ein. Sprachlose und erstaunte Gesichter trafen sie, was ihr nur ein Lächeln entlockte. „Guten Tag, die Herren. Entschuldigen Sie meine Verspätung, hat etwas länger gedauert.“ Dabei setzte sie sich auf den einzig freien Platz, neben Duncan und Daniel.

 

Daniel war sprachlos, das Standbild vor Augen, sah er sie sich an. Ihre sonst schulterlangen Haare reichten nur noch bis zum Kinn, leichte Stufen machten aus ihnen eine passende Frisur. Zartes Make-up verschönerte ihr Gesicht, vertuschte ihre Augenringe. Ihre Beine steckten in einer schwarzen enganliegenden Jeans und die Bluse, die ihren Rumpf bedeckte, machte diesen Anblick perfekt. Fraulich und doch nicht zu freizügig.

Seine Partnerin war wirklich eine Frau, das bestätigte eindeutig der Blick auf ihren Ausschnitt. Wo hatte sie all die Jahre ihre Brüste versteckt? ging Daniel durch den Kopf.

„Hab ich was verpasst?“, fragte Samantha, erhielt jedoch keine Antwort, man starrte sie einfach weiter an. „Was ist denn los?“

Leonard grinste: „Meine Liebe, ich muss dir sagen, du siehst bezaubernd aus.“

„Herzlichen Dank, Leonard“, kam mit leicht rötlichen Wangen ihre Antwort. Auch Seth fasste sich wieder.

„Ich wusste gar nicht, dass du deiner Mutter so ähnlich bist. Bis auf die Haare und Augen. Was hat dich denn dazu bewogen, dich als Frau zu outen?“

„Nun aber, ich war schon immer eine! Ich weiß auch nicht, heute Morgen hat es mich einfach gepackt, schlimm?“ Sichtlich war Samantha unsicher, wusste nicht, ob es eine gute Idee gewesen war, sich so zu verändern. Steve atmete tief ein. „Du bist eine Mischung aus Victoria und Samuel und das sieht man jetzt mal richtig. Deine Veränderung steht dir sehr gut. Bevor die drei jungen Männer noch sabbern“, zwinkerte Steve Lars, Duncan und Daniel an, „sollten Sie anfangen, Duncan.“ Alle drei hatten ihre Münder geschlossen, sahen verlegen zu ihren Händen.

Das brachte Samantha nun zum Lachen, sie stieß ihren Partner in die Seite. „Hast du mir gerade in den Ausschnitt geguckt?“, kam es empört, als sie sich seiner Blicke bewusst wurde.

„Nein ... also ja. Mensch, Sam, ich bin auch nur ein Mann. Verdammt hübsch dein Ausschnitt, aber zeig dich nie so vor meiner Frau, sonst waren wir mal Partner“, grinste Daniel verlegen, während er versuchte, eine entspannte Haltung anzunehmen. Duncans Blick wandte sich von Samantha ab. Er nahm einen Apparat aus seiner Tasche, platzierte diesen auf Trogs Schreibtisch und betätigte einen Knopf. „Das ist ein Funkstörer, richtig?“, erkundigte sich Seth.

„Ja, ich weiß, dass Jack uns abhört. Ich weiß, dass er auch hier ein- und ausgeht. Um Klartext zu reden ... erst einmal entschuldige ich mich wohl bei Samantha.“ Diese sah ihn verblüfft an. „Mein Vater hat mehr übersetzt, als Sie annehmen, doch wollte ich mir sicher sein, dass es wirklich stimmt. Die Zeichen auf den Rücken der Opfer sind Sätze. Jack beschreibt die Anfänge von Samuel und Victoria, hat sie zu erklärten Opfern gemacht. Samantha ist sein Geschenk, vermutlich an seinen Sohn. Dieser hat nach Victorias Tod die Arbeit seines Vaters übernommen. Somit suchen wir nicht länger nach einem Mitte Fünfziger, sondern Anfang bis Mitte Dreißiger. Das bestätigt sich indirekt auch durch Zeugenaussagen. Er verfolgt Samantha, sieht sie als Besitz. Sie war sein Geschenk von seinem Vater. Er verlangt, dass sie seine Arbeit würdigt, seine Kunstwerke bewundert. Daniel war ganz kurz als Opfer auserkoren, weil er die Nähe zwischen ihnen falsch interpretierte. Jack will Samantha, ihre Aufmerksamkeit, ihre Bewunderung, ihr Herz, und das meine ich nicht im übertragenen Sinne.“ Duncan schluckte, er sah Samantha tief in die Augen. „Wenn wir ihm keine Lügen unterstellen, hat sein Vater das Herz von Victoria nicht mit zu Samuel geschickt, sondern seinem Sohn geschenkt.“

„Bitte?“ Unglauben stand in Samanthas Gesicht geschrieben.

„Es gab früher Bräuche. So glaubte man auch, durch das Herz einer Mutter das der Tochter zu verdienen. Seine Zettel, den er geschrieben hat, dass er Ihre Mutter immer an seinem Herzen trägt, ist so gemeint. Ich vermute, dass das Herz separat verbrannt wurde und er es immer bei sich trägt. Es soll verbinden.“

 

Abwesend sah Samantha Duncan an, in ihrem Kopf machte sich eine Leere breit. Sie war unfähig, irgendetwas zu denken. Nahm dennoch wahr, wie Daniel ihre Hand nahm, sie eindringlich ansah, doch ihr Blick blieb bei Duncan.

„Das war wohl doch zu viel“, kommentierte dieser, ging vor Samantha auf die Knie. „Samantha kommen Sie, eine Reaktion bitte.“

 

Immer noch blass um die Nasenspitze saß Samantha im Apartment von Lars und Duncan. Daniel hatte es sich neben ihr gemütlich gemacht, während sie vor dem Computer saß und sich die Übersetzungen ansah. Opfer Nummer 180 war ihre Mutter und dort stand.

Ihr Herz für den Meinen.

Opfer 360 war ihr Vater.

Nun gehörst Du mir.

Samantha wusste, dass sie sich angesprochen fühlen musste. Er schrieb ihr.

Alles ergab einen Sinn. Einst war er es, nun ich bezog sich nicht auf den Wechsel der Mörder, er bezog sich auf ihn selbst, auf seine Rolle. Die Frage war nur, wen er ausgewechselt hatte. Seth und Leonard fielen weg, nicht nur durch Duncans Test, auch weil sie zu klein waren. Die Profile Samanthas und ihrer Mutter sagten, dass der Täter zwischen 185 und 190 Zentimeter groß sein musste. Schuhgröße 44,5 wusste man genau durch einen Fund am Strand vor fünf Jahren. Sein Gewicht wurde dadurch auf ungefähr 95 bis 105 Kilogramm geschätzt.

Leonard war gerade 175 Zentimeter und wog 110 Kilogramm, Seth hatte 180 Zentimeter, wog allerdings nur knappe 75 Kilogramm. Auch mit dem Alter von Mitte fünfzig kamen sie nicht infrage. Lars war über 195 Zentimeter und mit guten 120 Kilogramm ein reines Muskelpaket. Im ersten Moment war das Samantha nicht aufgefallen, jedoch als sie ihn heute in einem engen weißen T-Shirt sah. Duncan war genau 199 Zentimeter, wog knappe 95 Kilogramm. Daniel ... Samantha schluckte, ihr Partner war 187 Zentimeter, wog allerdings nur 80 Kilogramm...

Kopfschütteln vertrieb sie die Gedanken aus ihren Kopf. Es wäre aufgefallen, hätte Jack Daniel ausgetauscht. Nur wer konnte es sein? Wer war so dicht an ihr dran und doch so unsichtbar? Duncan setzte sich auf den Rand des Schreibtisches, wo Samantha und Daniel Platz genommen hatten.

„Wir müssten jetzt mal Klartext reden, Samantha. Sie wissen mehr, als wir vermutet haben, davon bin ich überzeugt.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, alles was ich weiß, steht in den Akten, wahrscheinlich ein Fehler. Jetzt weiß Jack es auch.“

„Da muss noch mehr sein. Er hatte Angst vor ihren Eltern, sie wussten beide zu viel. Wo sind die Unterlagen?“

Samantha sah Duncan kritisch an, sprang auf und nahm sich Watte und die Flüssigkeit, mit denen er selbst alle kontrolliert hatte. Irritiert sah er sie an. „Samantha, was wird das?“

„Bist du Jack? Du tauchst hier auf, kannst Schriften entschlüsseln, weißt alles richtig zuzuordnen. Lässt Lars meine Akten studieren.“ Da war sie an ihn herangetreten und rieb über sein Gesicht. „In Ordnung, keine Maske, aber es heißt ja auch nicht, dass du nicht als du selbst hier auftreten kannst“, dabei zog sie ihre Waffe.

Geschockt sprangen Daniel und Lars auf, hielten beim Näherkommen die Luft an. „Sam, ganz ruhig, mach keinen Unsinn“, sprach Daniel mit Engelszungen.

„Duncan ist nicht Jack, ich kenne ihn seit dem Kindergarten. Samantha, bitte lassen Sie die Waffe fallen“, kam es mit zittriger Stimme von Lars.

„Seit dem Kindergarten?“ Überrascht sah Daniel zu Lars. „Ja, wir haben immer alles zusammen gemacht. Schule, Football, Polizeiakademie, eben alles.“

Duncan atmete lächelnd durch, er hatte an Samanthas Blick gesehen, dass sie es selbst für Unsinn hielt, was sie gerade sagte. Vorsichtig legte er seine Hand auf die Waffe, drückte sie nach unten, umfasste ihr Handgelenk und zog sie in eine Umarmung.

Schniefend lehnte Samantha an seiner Brust, hielt sich an seinem T-Shirt fest und zitterte am ganzen Leibe. „Es tut mir leid“, sagte sie flüsternd und doch so laut, dass es Duncan hören konnte.

„Kein Problem“, sprach er ebenso leise und streifte ihr beruhigend über den Rücken.

 

Wieder war es Lars, der sich bei diesem Anblick das Grinsen nicht verkneifen konnte, aber nach einem mahnenden Blick mit Daniel in die Küche verschwand.

„Was soll das jetzt?“, fragte Daniel leicht verwirrt.

Lars grinste immer noch. „Ich weiß ja nicht wirklich, was er an deiner Partnerin findet, aber irgendwas muss an ihr schon besonders sein. Duncan hat es nicht so mit Mitgefühl.“

„Sam nicht mit Weinen oder allgemein mit Gefühlen zeigen. Selbst als ihr Vater ... Als sie ihn gefunden hat, ist nur eine Träne über ihre Wange gelaufen. Sie hat diese damals wütend weggewischt, als ich kam und sie in den Arm nehmen wollte. Da hat sie mich auf die Beweissicherung hingewiesen. Sie dürfe ja nichts anrühren.“ Mit gesenktem Kopf lehnte sich Daniel an die Spüle. Diesen Anblick würde er wohl nie vergessen.

Man hatte ihn darüber informiert, dass etwas mit Samuel passiert sei. Er hatte alles stehen und liegen gelassen. Dann stand er vor Samuels Haus. Sah diesen gekreuzigt hängen. Aus mehreren Wunden kam noch Blut und sein Kopf hing seltsam verrenkt in Richtung Boden. Samantha stand einfach da, wischte sich die Träne weg, straffte ihre Schultern und wehrte seine Umarmung ab. Er dachte noch, es sei der Schock, allerdings veränderte sich weitestgehend nichts an Samanthas Verhalten.

Selbst bei der Beerdigung weinte sie nicht, hatte nur vor dem Grab gekniet und etwas geflüstert. Direkt danach war sie aufs Revier gefahren und hatte sich Jacks Unterlagen geben lassen. Seither war sie wie versessen darauf, diesen Kerl zu fangen. Ihre Augen waren von Tag zu Tag matter geworden, ihr ehrliches Lächeln weniger. Die Augenringe dafür umso mehr.

 

„Daniel? Hallo, bist du noch da?“ Lars fuchtelte mit der Hand vor dessen Gesicht. Erschrocken weiteten sich Daniels Augen. „Entschuldige, alte Erinnerungen.“

„Sam hat schon einiges mitgemacht. Hat sie jemanden, der ihr Halt bietet?“

„Freunde? Nein, obwohl ich mich schon als ein solcher sehe, auch meine Frau. Sam vermeidet enge Kontakte, sie hat Angst, dass man sie wieder verletzt. Hier und da trifft sie wohl mal einen Mann, aber mehr als eine Nacht ist da nicht. Bisher hat sie ja auch wenig Wert darauf gelegt, dass man sie als Frau wahrnimmt“, schmunzelte Daniel. „Was sich da wohl geändert hat?“

„Also bei Duncan gilt sie schon die ganze Zeit als Frau. Er hat viel über ihre Profilier-Ergebnisse gelesen, war immer begeistert von ihr und seit heute Mittag … Ihre Veränderung sagt ihm wohl zu.“ Beide Männer lächelten sich wissend an.

 

Inzwischen standen Duncan und Samantha unverändert da. Jeder genoss die Umarmung des anderen, auch wenn Samantha schon vor Minuten aufgehört hatte zu weinen. Beschämt sah sie auf, blickte geradewegs in seine azurblauen Augen. Doch ihm ging es nicht anders, zum ersten Mal nahm er die unausgesprochene Einladung ihrer Augen an.

So grün wie eine Sommerwiese luden sie ein zu verweilen, sich einfach fallen und es sich gut gehen zu lassen. Sie waren so dicht beieinander, lediglich Zentimeter trennten ihre Lippen. Erschrocken löste sich Samantha. Ihr wurde bewusst, was beinahe passiert wäre. Eiligst verschwand sie in ihre Wohnung. Sie wollte nie wieder jemanden sich nähern lassen und nun so etwas? Schnell entkleidete sie sich und sprang unter die Dusche. Das kalte Wasser würde ihr den Verstand schon wieder klären. Davon war sie überzeugt.

Kapitel 4

 

Wut brannte sich durch Jacks Körper. Waren die letzten Jahre nicht hart genug? Der Druck seines Vaters! Dass er alles lernen musste, was dieser wusste! Seine Mutter, die keinerlei Liebe an ihn absonderte! Immer diese lauten Menschen, die penetranten Töne um ihn. Einzig Sie hatte ihm gezeigt, warum er auf dieser Welt wandelte. Natürlich hatte er nicht vermutet, dass sie keuch leben würde, doch was er da gerade auf dem Bildschirm sah, das war wohl das Widerlichste, was er je gesehen hatte.

Diese Blicke, diese Nähe; wie konnte sie sich dem hingeben? Dann noch mit diesem Kerl, dieser Möchtegern-Polizist, wie viel besser er selbst doch war. Jack hätte sie auch in seine Arme geschlossen und getröstet. Danach ihr ein Messer in den unteren Teil der Wirbelsäule gestochen, was bei ihr eine Lähmung verursachen würde. Wie oft hatte er sich das schon ausgemalt. Er war ein Perfektionist, genau wie sein Vater es gewesen war. Hatte sich kundig gemacht, über zwei Jahre in der Pathologie gearbeitet, geübt, wie er zustechen musste. Es kribbelte ihm regelrecht in den Fingern, wie gerne würde er jetzt...

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, mit aller Ruhe machte er sich fertig und fuhr zurück nach Los Angeles. Seine Vorfreude stieg ins Unermessliche, was freute er sich auf sein Opfer, wie lange es wohl um sein Leben kämpfen würde? Vielleicht sollte er dieses Mal üben, wie er es bei Samantha machen wollte? Nein, diese spezielle Methode war nur für sie vorgesehen und würde ihr auch vorbehalten bleiben.

 

An wasserstoffblondem Haar blieb sein Blick hängen, großen Brüsten, einem Hintern, der dazu einlud geschlagen zu werden, und das verpackt in einem pinken Stück Stoff. Diese Frau war fällig. Sie sollte Nummer 362 werden.

Langsam näherte er sich ihr mit seinem schwarzen Ford Probe, ließ das Fenster runter und sah sie mit einem freundlichen Lächeln an. „Entschuldigen Sie! Wissen Sie eventuell, wo hier der Elysian Park ist?“ Die junge Frau streifte sich ihre Haare aus dem Gesicht, betrachtete sich erst einmal das Auto und dann den Mann hinter dem Steuer, dessen kurze blonde Haare leicht nach oben gestylt waren. Sein Gesicht war kantig und doch weich und seine Lippen, sie luden ein auf ihnen zu verweilen.

Nur seine Augen schienen warnen zu wollen, sie waren wohl das dunkelste Braun, was sie je gesehen hatte, und doch überzeugte sie sein Lächeln. „Ja sicher, also wenn Sie hier auf die N Broadway fahren, dann die Casanova Street entlang, zur Park Row und Southern Pacific Railroad, dann sind Sie schon am Elysian Park. Nicht mehr als zehn Minuten.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, kann ich mich irgendwie erkenntlich zeigen?“ Sein Blick wanderte über ihren Körper. Es war eindeutig, was er meinte, und sie schien nicht abgeneigt. Nur so war es zu erklären, dass sie kaum eine Minute später in seinem Auto saß und mit ihm zum Elysian Park fuhr.

 

„Ich bin Diana und wie ist dein Name?“, versuchte sie die Fahrtzeit zu verkürzen. Sein Lächeln wurde breiter: „Duncan.“ Ja, heute war er als Duncan unterwegs, sah so aus und hatte denselben Duft an sich. Welchen Grund sollte er also haben, einen erfundenen Namen zu benutzen. Es war nicht gerade der einsam gelegene Park, jedoch machte genau das den Reiz für Jack aus.

„Was willst du mitten in der Nacht im Park?“, fragte Diana und schaute ihren Sitznachbarn mit einem verführerischen Augenaufschlag an.

„Ich hatte gehofft, so etwas Nettes wie dich zu treffen.“ Jack zwinkerte ihr zu und leckte sich über die Lippen. Sie war Wachs in seinen Händen.

Es dauerte nicht lange, bis sie einen kleinen, mit Bäumen geschützten Bereich fanden. Diana schmiegte sich an ihn, zärtlich streifte er ihr die Träger ihres Kleides von den Schultern, dass sie Sekunden später nur noch in einem Tanga vor ihm stand.

„Perfekt!“, raunte Jack ihr ins Ohr, und ehe sie sich versah, lag sie bereits auf dem Boden. Diesen großen stämmigen Mann über ihr, jeder Wehrversuch war unnütz, das merkte Diana schnell. Lächelnd träufelte Jack ihr eine Flüssigkeit in den Mund. „Schön ruhig bleiben.“

Kaum fünf Minuten brauchten die Tropfen zum Wirken, ruhig lag die Frau nun vor ihm. Ihr Körper gehorchte nicht mehr, sie lag steif auf dem Waldboden und über ihr dieser Mann mit den fast schwarzen Augen.

Jack griff in seine braune Lederjacke, die er sich beim Aussteigen über die Schulter geworfen hatte. Langsam zog er ein Skalpell hinaus, zwinkerte Diana zu. „Es ist schmerzhaft und geht nicht schnell, aber wenn es dich tröstet, irgendwann ist es vorbei. Den Sonnenaufgang wirst du nicht mehr sehen.“

Ganz langsam glitt das Skalpell um die nackten Brüste, rein oberflächliche Schnitte, schmerzhaft, doch nicht tödlich.

Tränen bahnten sich den Weg aus Dianas Augen, ihr war nach Schreien zumute, doch es kam kein Laut aus ihrem Mund. So blieb ihr nur eins, sie wollte ihm wenigstens nicht zusehen müssen und schloss die Augen.

„Wer will denn den ganzen Spaß verpassen?“, sagte er in tadelndem Ton. Abermals griff er in seine Jacke, nahm eine kleine Tube hervor und drehte langsam den Deckel ab. „Ich habe leider meine Nadel mit Faden vergessen, doch Sekundenkleber tut es auch, nicht wahr?“ Seine Stimme war so weich, vertrauensvoll, liebenswürdig, und doch verriet ein ganz kleiner Teil, dass dieser Mann genau das Gegenteil war.

Auf jedes Augenlid träufelte er fünf kleine Tropfen, dann nahm er die Wimpern zwischen zwei Finger und zog das Lid nach oben. Sekundenschnell, wie es der Kleber versprach, war der untere Teil des Augenlides mit dem oberen Teil verklebt. Abermals zog er mit dem Skalpell die Brüste nach. Es wäre einem Vorspiel gleichgekommen, berührte statt des Messers, die Lippen die Haut.

Ganz zart fuhr er nun über ihren Hals, drei gerade Schnitte, auch nicht zu tief, gerade so, dass es blutete und nicht binnen Minuten wieder aufhören würde. Mit einem Ruck stellte Jack Diana wieder auf die Beine, lehnte sie mit der Brust an einen umgestürzten Baumstamm.

Der braungebrannte, pralle Hintern faszinierte ihn. Er wollte ihn bluten sehen. Ein Zweig, der nach intensiver Begutachtung der Aufgabe gewachsen schien, sollte der Täter werden. Das zischende Geräusch des durch die Luft schlagenden Holzes drang bis an Dianas Ohr. Sie ahnte, was auf sie zukam und hoffte, dass es so schmerzhaft würde, dass sich ihr Geist verabschiedete. Eine Ohnmacht wäre einer Rettung wohl am Nächsten gekommen.

 

Doch diese Erlösung war ihr nicht vergönnt. So spürte sie jeden Schlag, merkte wie ihre Haut reißen; und das Einzige, was ihr Leid zeigte, waren die Tränen, die langsam über ihre Wangen liefen.

Jack merkte, wie sich sein Blut in den Lenden sammelte, seine Hose wurde zu eng, wie jedes Mal, wenn er einer solchen Situation gegenüberstand. Einige Schritte trat er zurück, besah sich sein Kunstwerk. Ja, es war feuerrot, geziert mit kleinen roten Perlen, die aus den Wunden rannen. Ein Anblick, der nicht hätte schöner sein können.

Einen Zettel aus seiner Tasche ziehend, begab Jack sich zu Dianas Rücken. Auch dieser musste verziert werden. Fein säuberlich ließ er das Skalpell seine Arbeit tun. Jeder Schnitt saß auf seinem Platz, seine Nachricht nahm Form an.

 

Das alles dauerte nun schon zwei Stunden. Diana war der Ohnmacht nahe, die Schmerzen wurden unerträglich. Allerdings war es noch nicht ausgestanden. Ihr Peiniger besah sich die Bäume, knapp zwei Meter trennten sie. Gemächlich ging Jack zu seinem Wagen, nahm vier Stricke aus dem Kofferraum, jeder nicht mehr als einen Meter lang. So hing Diana kaum eine halbe Stunde später zwischen den Bäumen, während die Wirkung der Flüssigkeit langsam nachließ.

Der Schmerz, der sich verkrampfenden Muskeln schien sie an ihre Grenzen zu bringen. „Oh nein, meine Liebe, so nicht. Du wirst schön bis zum Ende der Erschaffung meines Kunstwerkes dabei sein“, tadelte Jack abermals und hielt ihr ein stinkendes Fläschchen unter die Nase.

Schlagartig hob sie den Kopf, versuchte dem Geruch zu entkommen. „Nun bleib wach, ist ja nicht mehr lange. Nur noch meine Botschaft an Samantha. Meinen süßen Engel“, seufzte er lächelnd und führte das Skalpell an Dianas Bauch. Abermals fand jeder Schnitt seinen Platz.

„Bitte hör auf“, drang es kaum hörbar an Jacks Ohren, sein Opfer schien des Sprechens wieder mächtig.

„Du hast still zu sein, ganz still.“ Er nahm einen eingeschweißten Zettel, steckte ihn in Dianas Mund und verklebte die Lippen mit Sekundenkleber. Nun musste er nur noch warten, ihr Todeskampf war bald vorbei. Das ersticken an dem Zettel war nicht zu unterschätzen.

Fünfundvierzig Minuten später stand Jack mit Wasser vor seinem Kunstwerk. Bis auf die Wunden am Rücken hatten die anderen aufgehört zu bluten. Sanft wischte er das Blut weg, kämmte ihr die durcheinandergeratenen Haare und verabschiedete sich wehmütig von seinem Kunstwerk. Auch dieses war eine Meisterleistung, da war er sich sicher.

 

 

Ein zartes Klopfen weckte Samantha. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und machte auf. „Guten Morgen, wir haben Frühstück fertig“, lächelte Lars ihr entgegen.

Nickend nahm sie seinen Satz zur Kenntnis und schloss die Türe wieder. Dieser Tag war eindeutig ein schlechter. Die halbe Nacht hatte Samantha wach gelegen, bekam Duncan nicht mehr aus ihren Gedanken. Sie fühlte immer noch seine Umarmung, sah seine Augen vor sich.

Wie sollte das nur funktionieren? Zusammenarbeiten und dann noch diese Sache, was auch immer es war. Hatte sie sich verliebt? Oder fand sie ihn nur attraktiv? Er sah unverschämt gut aus, zumindest für sie.

Ohne es wirklich realisiert zu haben, was sie tat, hatte sich Samantha auch schon angezogen und stand nun in der Wohnung von Duncan und Lars. Die saßen mit Daniel am Frühstückstisch und lachten.

„Guten Morgen“, machte Samantha gedrückt auf sich aufmerksam. Ihr Blick fiel auf den einzig freien Platz, direkt neben Duncan, der sie nun auch noch anlächelte. Das alles nach einer fast schlaflosen Nacht um sechs Uhr morgens, ließ sie bald verzweifeln. Ihr Kopf hatte sich gerade verabschieden wollen, als ihr Handy klingelte.

„Johnson!“, nahm sie das Gespräch an.

„Hier ist Seth. Opfer 362 im Elysian Park! Macht euch auf was gefasst und bring Buster und Parker mit“, damit hatte Seth das Gespräch beendet.

„Jack hat wieder zugeschlagen.“ Samantha sah die Männer vor sich an und verschwand sogleich in ihre Wohnung. Waffe, Dienstmarke, Handschellen, und schon stand sie an ihrem Auto. Daniel sprang direkt in ihren Wagen, während Duncan und Lars ihnen mit ihrem folgten.

 

Seth stand an der Absperrung vor ein paar Büschen, als seine Kollegen kamen. Ein Lächeln umspielte sein Gesicht. Mit einer kleinen Deutung seiner Hand zeigte er auf einen jungen Polizisten, der in den Hecken stand und sich die Seele aus dem Leib brach.

„Mein Kollege, Partner. Frisch aus irgendeinem Nest in Maine. Seine erste Leiche!“ Einheitlich erschien ein Grinsen, gerade bei Samantha konnte so etwas gute Laune herbeizaubern. Sie liebte es, Neulinge zu quälen, wenn auch immer auf eine versteckte Art.

„Wie heißt er?“

„Antony Barnett. Dreißig Jahre alt, aber Erfahrung gleich null.“

Daniel sah von Antony zu Seth. „Sieht jünger aus, soweit ich das beurteilen kann. Nun ja, ich denke, wir sind wegen was anderem hier, oder?“ Die Gesichter verfinsterten sich. Seth nickte und sah zu seinem neuen Partner. Was war er froh, bald einen Bürojob übernehmen zu dürfen, dann war er wenigstens diese Anfänger los. „Barnett, kommen Sie?“

Langsam erhob sich die Gestalt vom Boden. Daniels Vermutung bestätigte sich. Antony sah jung aus, momentan auch sehr blass. Sein Körper dagegen war der eines Vorzeigepolizisten. Breite Schultern, ein markantes Gesicht, das sicherlich in einer anderen Situation sogar Autorität ausstrahlen konnte. „Natürlich, Mister Hunter, entschuldigen Sie.“ Schon straffte er seine Schultern und folgte den Fünfen zur Leiche. Duncan war als Erster an der Leiche, ging direkt um die Bäume herum und besah sich den Rücken.

 

Aussichtslos, wieder mal hatte Jack hier nichts gereinigt. Doch als sein Blick an der Frau hinunter wanderte, musste er hart schlucken. „Das ist neu“, kommentierte er seine Entdeckung. Sofort war Samantha bei ihm, auch wenn sie versucht hatte Abstand zu halten, war es nun nicht mehr möglich. „Jetzt dreht er durch“, platzte es aus ihr heraus. Duncan nickte bestätigend. „Was steht vorne?“

„Du zahlst!“ Samantha atmete tief durch. „Es scheint mir, er war sauer, diese Schläge sind neu und so brutal.“

„Nun ja, eigentlich ist das für manche Leute sehr erregend“, verzog Lars sein Gesicht: „Im BDSM-Bereich ist so was oft zu finden. Es dient als Vorspiel.“

„Vorspiel? Sie ist nicht mehr zu gebrauchen nach so einem Vorspiel“, kommentierte Daniel stirnrunzelnd und besah sich die Wunden. Lars kratzte sich verlegen am Kopf. „Das kann man wohl sehen, wie man will.“

Samantha und Daniel sahen Lars geschockt an. „Du stehst auf so was?“ Dabei wiesen sie gleichzeitig auf Dianas Hintern.

„Ja, aber nicht mit solchen Folgen. Also, die Frauen, die ich treffe, leben danach noch und sind recht befriedigt“, bestätigte er nun lässig.

Das verstand Samantha nun gar nicht, für manche Sexpraktiken hatte sie nichts übrig und mit Sicherheit würde sie sich nicht so schlagen lassen. Fast automatisch war sie einen Schritt weiter von Lars, dafür näher zu Duncan getreten. Dieser nahm es lächelnd zur Kenntnis und genoss es stillschweigend.

„Ich sollte Jack mal bitten, nicht immer in solche Gegenden zu gehen, mein Gepäck ist nicht leicht“, grummelte Leonard und ließ wie immer seinen Metallkoffer fallen. Hinter ihm kam ein Mann zum Vorschein. „Seth, Daniel, Sam, Lars, Duncan und Antony, das hier ist Frederik Mendes, mein Praktikant“, stellte er den Mann vor. Mitte, Ende zwanzig, braune Augen, braune Haare, recht dürr und dazu noch recht groß.

Da sehe ich aber lieber Duncan an, dachte Samantha.

Geistig schlug sie sich, sie musste damit aufhören, an ihn zu denken. Frederik nickte leicht und stellte einen weiteren Metallkoffer ab.

Leonard war schon bei der Leiche. „Was hat er dir nur angetan? Du armes Ding“, seufzte er und hob ihren Kopf an. „Sie ist noch warm, Haut recht rosig, Augen matt. Drei Schnitte am Hals, Schnitte am Bauch, Wortlaut: Du zahlst! Brüste kreisförmig angeritzt“, sprach er in sein Diktiergerät und wanderte um sie herum. „Rücken mit Schnitten, nach Reinigung erst zu zählen. Gesäß scheinbar ausgepeitscht“, beendete Leonard seinen Rundgang und sah sich um. „Dieses Mal scheint das hier sogar der Tatort zu sein. Ich vermute, Jack war ungehalten, wie seht ihr das?“ Sein Blick ging zu Samantha.

„So wie es aussieht. Vielleicht macht er ja Fehler. Kannst du mir den Zettel geben? Und Duncan würde wohl gern den Rücken begutachten.“ Sie blickte zu Duncan, der zustimmend nickte und ihr ein Lächeln schenkte, dass sie bald dahinschmelzen ließ.

 

Leicht seufzend nickte auch Leonard und widmete sich dem Mund der Frau vor ihm. Unglauben machte sich in seinem Gesicht breit. „Sam, du wirst warten müssen, der Mund ist nicht zugenäht, sondern zugeklebt worden ... die Augen ebenso. Entweder wird Jack faul oder spart sich Zeit.“

„Öffne ihn irgendwie, ich brauche den Zettel“, beharrte sie darauf.

Mahnend ging Leonards Blick zu ihr. „Also jetzt ist es gut. Samantha meinst du nicht, die Frau hat schon genug erleiden müssen, da gehe ich gewiss nicht hin und zerreiße ihr die Lippen. Du wirst warten, bis wir in der Pathologie sind, da habe ich ein Lösungsmittel. Ebenso gilt das für Sie, Duncan: Erst nach der Spurensicherung, kann ich den Rücken reinigen.“

Die beiden Benannten verzogen ihre Gesichter, als Ausdruck des Missfallens. „So, Frederik und Antony, seien Sie so nett und machen den Leichnam ab.“ Die beiden Angesprochenen nicht sehend, grinste Leonard wissend. Nun hellten sich alle Gesichter auf, diese Szene war einfach göttlich anzusehen. Zwei Frischlinge bei der Arbeit! Frederik hielt die Leiche fest, während Antony die Seile durchtrennte. Dessen Gesicht wurde immer blasser.

Sein Magen krampfte und ehe sich Frederik versah, stand er alleine da. Halb auf ihm die Leiche, die zur Hälfte losgemacht war. Ein Kichern ging durch die Reihen, denn nun wurde Frederik immer blasser. Die leblosen Augen der Frau hatten ihn fixiert. Eilig zogen sich Lars und Daniel frische Handschuhe über und griffen jeweils einen Arm der Leiche. Die Last verschwand von Frederik und schon stand dieser neben Antony und übergab sich. ebenfalls.

Kapitel 5

 

Ein finsterer Blick traf die seit einer Woche unzertrennlichen vier, als sie in die Pathologie kamen. Frederik schien den kleinen Spaß vom Morgen noch nicht überwunden zu haben.

„Frederik, seien Sie uns bitte nicht böse, jeder von uns hat das mitgemacht. Wenn Sie sich für einen solchen Beruf entscheiden, sollten Sie sich an Leichen, leblose Augen und Berührungen gewöhnen“, sprach Lars so einfühlsam es ging und unterdrückte gekonnt ein Lachen.

„Es war pietätlos“, konterte Frederik und wandte sich ab.

Ein Arm landete um seine Schulter. Daniel sah ihn schief an. „Wissen Sie, wenn Sie sich Ihren Humor nicht erhalten, ist das nicht der richtige Job für Sie. Wir sehen mindestens eine Leiche am Tag, von 0 bis 100 Jahre alles dabei gewesen. Wir haben einen sehr ernsten Beruf, doch zwischendurch müssen die Spannungen weg. Sie werden hier mit Leichen zu tun haben, nehmen Sie sich nicht alles zu Herzen.“

Geknickt nickte der Neuling, zwang sich ein Lächeln auf und führte die vier zu Leonard. Dieser hatte gerade den Rücken gereinigt und sah nun lächelnd zu Duncan. „Man könnte ja denken, wir sprechen uns ab.“

Duncan grinste und sah dann auf Dianas Rücken. Er hatte es gleich auf den ersten Blick erkannt, wusste, was da stand, und musste nun tief durchatmen. Diese Schrift war die einfachste, die Jack je geboten hatte, und der Verdacht ließ Duncan nicht los, dass es Absicht war, es ihm einfach zu machen.

*Finger weg, meins!*

Er konnte regelrecht Jacks Lachen sehen, weil ihm bewusst war, dass Duncan es sofort verstand. „Na, was schreibt er Ihnen?“, fragte Leonard und bemerkte dann stirnrunzelnd Duncans Gesicht.

„Finger weg, meins!“, antwortete er monoton und sah zu Samantha. Leonard schien überrascht, wechselte den Blick zwischen Samantha und Duncan. „Sie und Sam?“

„Nein, also ... sie hat gestern geweint und ich habe sie getröstet, mehr war da nicht. Scheinbar sieht Jack das anders.“ Dann wandte sich Duncan zu Lars: „Unsere Wohnung wird auf Wanzen und Kameras untersucht. Jack beobachtet uns.“

Wortlos nickte Lars und verschwand aus der Pathologie. Samanthas Aufmerksamkeit war nun bei Duncan, wieder mal kämpfte sie um jeden normalen Gedanken. In seiner Nähe ging ihr Gehirn auf Stand-by und sie musste aufpassen, dass ihr Mund nicht offen stehen blieb. „Was ist los?“, fragte sie und schaute über Duncans Schulter. „Was heißt das?“

„Finger weg, meins“, wiederholte er abermals. Samantha runzelte nur die Stirn. „Wovon soll ich denn nun die Finger lassen? Komisch, nun ja. Leonard, wie sieht es mit dem Zettel aus?“

Dieser nickte und ging zu seinem Schreibtisch. „Die junge Dame ist daran erstickt, er hat ihn so gefaltet, dass er in der Luftröhre hängen bleibt. Keine Fingerabdrücke an der Folie, geöffnet habe ich ihn nicht.“ Er reichte ihr den verschweißten Zettel.

Mit Gummihandschuhen über den Fingern nahm sie den gefalteten Zettel entgegen, schnitt ihn vorsichtig auseinander und entnahm der Folie den Zettel. Behutsam öffnete sie diesen.

 

Umarmungen sind mein, die nächste wirst Du nicht überleben und er auch nicht.

 

Las Samantha im Stillen, schluckte nun und sah zu Duncan. Langsam wurde ihr bewusst, dass das Geschriebene auf dem Rücken nicht an sie gerichtet war. Duncan nahm ihr den Zettel ab, las und schüttelte den Kopf. Ein Blick in ihre Augen zeigte Tränen.

 

Es war Samantha einfach zu viel. Ihr Herz verkrampfte sich regelrecht und Angst breitete sich in ihr aus. Genau das hatte sie vermeiden wollen, weder verlieben noch Interesse an jemanden haben, aus Angst wieder einen Menschen zu verlieren.

Wortlos verschwand sie aus der Pathologie, direkt zu Steve Trog ins Büro. Der sah sie überrascht an. „So schnell habe ich heute nicht mit dir gerechnet. Wie ist der Stand?“

„Schick Buster und Parker wieder nach New York“, kam es in einem Befehlston, den Trog zwar kannte, aber nie für ihn selbst erwartet hatte.

„Bitte? Wieso?“ Als Samantha ihre Hände auf dem Schreibtisch aufschlug, lehnte sich Trog erschrocken in seinen braunen Ledersessel zurück. „Was ist denn mit dir los?“

„Ich möchte, dass Buster und Parker noch heute aus Los Angeles verschwinden, haben Sie mich verstanden?“ Ihr Blick war erschreckend hart, nur ganz zart erkannte ihr Chef Angst. Es dämmerte ihm.

„Jack droht?“

„Ja, und deshalb werden Sie beide sofort hier wegschicken. Bitte.“ Nichts Hartes lag mehr in ihrem Blick, reine Angst und pure Verzweiflung. Ihre Augen flehten regelrecht, was einem Kniefall gleichkam.

Steve Trog sah auf die Uhr, es war gerade Mittag. Ausnahmesituation, sagte er sich und griff in seine Schreibtischschublade.

Zum Vorschein kamen ein Flachmann und zwei kleine Gläser. Er füllt diese und reichte eines Samantha. „Trink, tut den Nerven gut“, sprach er und kippte den Inhalt seines Glases in seinen Rachen. Samantha tat es ihm gleich, auch wenn sie sonst nie Alkohol trank, hatte ihr Vater doch schon immer gesagt, dass manchmal nur ein guter Tropfen half den Verstand zu bewahren.

Es brannte zuerst in ihrem Hals, dass sie schwer nach Luft schnappte, doch dann machte sich Wärme in ihrem Bauch breit. „Wow. In Ordnung, ich bin bei Verstand. Schicke sie weg, Steve.“

„Sam, wie viel weißt du über den Tod deiner Mutter?“ Er stützte seine Ellenbogen auf seinen Schreibtisch, während Samantha Platz nahm.

„Ich habe die Fotos gesehen, wenn du das meinst?!“

Steve atmete schwer. „Die Fotos sind nur ein ganz kleiner Teil dessen, was passiert ist“, sagte er leise, richtete sich auf und verschloss seine Bürotür.

„Ich werde dir jetzt erzählen, was genau passiert ist, also was wir wissen. Dein Vater wollte es vermeiden, dass du alles erfährst, aber ich denke, es ist an der Zeit“, lächelte er und schien sich erst überwinden zu müssen.

Samantha ahnte nichts Gutes, irgendetwas stimmt nicht mit Steve. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Nervös und seine Augen schienen Tränen zu beherbergen. Das Gerät von Duncan stellte er noch auf, dann fing Steve an zu erzählen.

„Es war eigentlich ein normaler Tag, Samuel und Seth waren wieder mal im Außendienst. Man sagte, es sei eine Leiche gefunden worden, keiner dachte in dem Moment an Jack. Ich weiß auch nicht, warum. Dein Vater hat es direkt beim Eintreffen bemerkt, er hatte ein Gespür dafür. Dem Opfer, Mary Kopal, steckte ein Zettel im Mund. Die Ankündigung, dass deine Mutter bald ihm gehöre.“ Steve sah zu Samantha, die mit entspannter Miene da saß, wahrscheinlich lag es daran, dass ihr diese Vorgeschichte bekannt war.

„Samuel befahl mir, Victoria in Sicherheit zu bringen. Du bist zu deinen Großeltern, dein Vater sah für sich keine Gefahr und deine Mutter wurde in ein Flugzeug gesetzt, zusammen mit Seths Frau.“ Überrascht weiteten sich Samanthas Augen, doch Steve ließ ihr keine Zeit, dazwischen zureden.

„Wir setzten deine Mutter mit Absicht auf drei Fluglisten, haben Maskenbildner beauftragt, ihr Äußeres geändert. Zusammen wollten Victoria und Maggie nach Las Vegas, die anderen Flüge sagten, sie fliegen nach Ohio und Washington. Alles beliebte Ziele, und doch wusste Jack, was wir tun. Man fand Maggie gefesselt und geknebelt in ihrem Hotelzimmer, von deiner Mutter fehlte jede Spur. Der größte Schock war wohl, als Maggie sagte, dein Vater hätte Victoria mitgenommen, diese hätte die ganze Zeit geschrieben:

 

*Du bist nicht Samuel, du bist es nicht!*

 

Maggie hat es jedoch beschworen, so kam es, dass dein Vater unter meiner persönlichen Aufsicht bleiben musste. Heute weiß ich, dass es lächerlich war, aber damals ... Dein Vater passte in das Profil. Um Gotteswillen, und er hat es mir sogar verziehen.“

Fassungslos schüttelte Steve den Kopf, diese Gedanken hatte er immer wieder verdrängt. Einen guten Freund zu unterstellen, er sei ein Massenmörder, und dieser verzieh ihm ... Samuel war ein guter Freund, über ihn ließ Steve nichts kommen.

„Wir suchten ganz Las Vegas ab ohne Bewilligung! Wir haben Spuren gesichert, nur dank des Kollegen dort wurden sie offiziell anerkannt. Wir fanden keine Spur von Jack oder deiner Mutter. Seth, Leonard, Samuel und ich fuhren wieder zurück, zu euch nach Hause. Eine Woche war vergangen und kaum, dass wir im Haus waren, stand ein Bote vor der Tür mit einem Päckchen. Wir setzten uns um den großen Kirchbaumtisch in eurem Esszimmer und dein Vater öffnete das Paket.“

Diese Erinnerung veranlasste Steve, einen tiefen Schluck aus seinem Flachmann zu nehmen. „Als Erstes entnahm Samuel die Asche in einem Gefrierbeutel. Sie war Jack nichts mehr wert, er hat sie einfach in einen Gefrierbeutel gesteckt. Dann kam ihre Kleidung, fein säuberlich zusammengelegt und die Fotos. Geordnet und beschriftet. Einhundertfünfzig Stück.“

Samantha stockte: „So viel? Ich habe nur fünfzig gesehen.“

„Ja, mehr existieren nicht mehr. Man sah deine Mutter, wie sie stolz wie eh und je auf einem Stuhl gefesselt war, er sie entkleidete, auf einen Tisch festband. Dann kamen Details, die deinen Vater veranlassten, die Fotos ins Feuer des Kamins zu werfen. Seth hatte diesen kurz vorher zum Brennen gebracht. Jack hat deine Mutter festgebunden, seine Hände fuhren über ihren Körper. Du weißt, wie es ausgegangen ist.“ Steve versuchte, die Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen.

„Ich will alles wissen!“, forderte Samantha und sah ihn flach atmend an.

„Er fügte ihr Schnitte zu, die Fotos hast du gesehen, doch davor ... er hat deine Mutter vergewaltigt, selbst das hat er festgehalten. Er vergewaltigte Viktoria in der Gestalt ihres Mannes. Es sah aus, als stände dein Vater da und mache das mit Victoria. Die Maskerade war perfekt. Doch es war keine normale Vergewaltigung, er hat sie regelrecht gequält. Ihr Schmerzen zugefügt, es waren Schnitte im Intimbereich, Brust, Bauch. Ein Teil der Bilder, die du gesehen hast, sind bei diesem Akt entstanden. Keine Öffnung blieb von ihm verschont.

Leonard war von der Stärke deiner Mutter beeindruckt, sie hat bis zuletzt den Stolz behalten. Als er damit fertig war, hat er geschrieben. Den Tod deines Vaters vorausgesagt. Die nächsten Bilder waren die Entfernung des Herzens, wie er es in den Händen hielt, darauf stand, dass es noch schlägt. Leonard sagte was von Muskelzuckungen.

Selbst die Verbrennung hat er auf Bild festgehalten und ihre letzten Worte hat er auf das Bild mit der Asche geschrieben.“ Samantha war weiß wie die Wand, Übelkeit machte sich in ihr breit, wie hasste sie ihre bildliche Vorstellungskraft. „Was waren ihre letzten Worte?“

„Sam fängt dich!“, antwortete Steve, nahm abermals einen Schluck aus seinem Flachmann. „Das Merkwürdige an der Sache war, sie hat deinen Vater nie Sam genannt, nur dich.“

„Du meinst, sie hat mich gemeint?“

„Alle meinen das, selbst dein Vater war sich sicher. Deshalb solltest du nicht in seine Fußstapfen treten. Er hatte immer Angst um dich, jede Minute, du warst seine Verbindung zu Victoria. Sam, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr sie dich geliebt haben, wie tief ihre Liebe zueinander war. Zuhause waren sie nur beieinander, doch auf der Arbeit mussten Blicke reichen, sie waren sehr professionell. Und trotz der Tatsache, dass wir alles versucht haben, um deine Mutter zu schützen, hat Jack sie bekommen.

Dass er sich 15 Jahre Zeit gelassen hat, deinen Vater zu töten damit haben wir nicht gerechnet, aber vielleicht lag es daran, dass es ein anderer war. Bitte versteh, dass es nichts nützen würde, Duncan und Lars wegzuschicken. Wenn Jack sie will, bekommt er sie und dann ...“ Er ließ es unausgesprochen.

Samantha schüttelte fassungslos den Kopf, eine Träne rann ihre Wange hinunter. „Wieso hat Papa mich dann nicht an die Unterlagen gelassen oder seine hinterlassen? Wie soll ich Jack fangen, wenn ich nichts habe?“

„Ich weiß es nicht. Was denkst du, wie wir reagiert haben, als er die Fotos ins Feuer schmiss. Es waren Beweismittel und doch war es deinem Vater egal. Er wollte nicht, dass jemand Victoria so sah, bei ihrer Schändung.“ Steve hatte seine Ruhe wieder. „Und wie schützen wir jetzt Duncan?“, fragte Samantha verzweifelt.

„Indem wir ihn hier lassen, ihm sagen, er soll vorsichtig sein. Sam, er ist ein guter Polizist, er kann auf sich aufpassen. Doch sag mal, seit wann schaust du denn so nach anderen? Daniel hätte ich ja noch verstanden, aber Duncan? Ihn kennst du erst seit zwei Wochen.“

Verlegen zuckte Samantha die Schultern, versuchte Gleichgültigkeit zu vermitteln. „Er hat mich getröstet und steckt nun in dem Schlamassel.“

„Daniel war auch einmal die Zielscheibe, doch du sagtest damals, dass nichts zwischen euch ist, und es war gut. Jack hatte es nie wieder auf ihn abgesehen. Wieso denkst du, Duncan sei in ernster Gefahr?“ Er grinste wissend.

Nervös spielte Sam mit ihren Fingern. „Vielleicht mag ich ihn ein wenig, er ist attraktiv, mehr nicht.“

Steve lachte: „Deine Veränderung, dein Verhalten ... diesen Anblick hätten Samuel und Victoria wirklich genossen. Du sitzt hier wie die beiden damals, als sie sich eingestehen mussten, dass sie sich mögen. Rede mit ihm, in welcher Gefahr er ist, und lass es ihn entscheiden.“

„Er weiß es doch, schließlich hat Jack ihm die Nachricht auf dem Opfer hinterlassen. Ich hab Duncan unterstellt, er sei Jack, sogar mit der Waffe auf ihn gezielt ... Steve, er ist nicht mal böse deshalb, hat mich einfach in die Arme geschlossen und getröstet.“ Schuld lag in ihren Augen und das Unverständnis bezüglich Duncans Reaktion.

Steve lächelte kopfschüttelnd. „Ich habe das Gefühl, er mag dich. Samantha, du hattest noch nie einen festen Freund. Hast dich nur darauf konzentriert deinem Vater zu beweisen, dass du deine Arbeit beherrschst, und seither willst du nur noch Jack fassen. Du hast dich bisher geweigert zu trauern, wolltest nicht einen Tag frei, den halben zur Beerdigung ausgeschlossen. Ich denke, dass dir Duncan gut tun könnte und vielleicht sogar helfen, Jack zu fassen. Er ist neu in diesem Fall, geht andere Wege, lass dir von ihn helfen in jeglicher Hinsicht“, riet er ihr zwinkernd.

Steve stand auf, entriegelte die Tür. „So, jetzt geh. Ich denke, den Rest solltest du mit Duncan klären.“

Mit dem neuen Wissen im Kopf ging Samantha aus Trogs Büro und atmete tief durch. Samanthas Mutter musste solche Qualen erleiden, was hatte Jack dann wohl für sie selbst vorgesehen? Nie hatte der eine noch der andere eine Vergewaltigung begangen, nur bei Victoria. Sollte Samantha das gleiche Schicksal vorbestimmt sein? Allein der Gedanke daran ließ Übelkeit in ihr aufkommen.

 

Duncan stand an der Wand und beobachtete Samantha, wie sie kopflos durch die offenen Büros ging. Er sah, wie weiß sie wurde, mit sich selbst kämpfte, und wusste gleich, dass es wieder einmal um Jack ging. Ihre eindeutige Abweisung am gestrigen Tag machte ihm immer noch zu schaffen, es hatte ihn leicht am Ego gekratzt und doch war der Stich in seiner Brust schlimmer gewesen. Das Gefühl, immer bei ihr sein zu wollen, sie zu berühren und endlich ihre Lippen auf seinen zu wissen, verwirrte ihn gänzlich.

Nicht, dass er das nicht kannte, jedoch hatte er bisher immer Arbeit und Privates getrennt. In seinen eigenen Gedanken versunken, bemerkte er Samantha nicht und sie ihn ebenso wenig, bis sie zusammenstießen.


 

Kapitel 6

 

Jack sah sich dieses Schauspiel an und Wut wallte in ihm auf. Scheinbar nahm ihn keiner ernst, und als Duncan und Samantha nun noch zusammenstießen und sich aneinander festhielten, brauchte Jack all seine Kraft, um nicht auf Duncan loszugehen. Selbst jetzt, als Samantha wieder fest auf dem Boden stand, ließ dieser Kerl sie nicht los, hielt sie weiter fest und sah ihr tief in die Augen.

Doch Jack war nicht sein Vater, er wollte seine Auserwählte nicht teilen. Samantha war für ihn vorherbestimmt und kein anderer Mann sollte mehr als einmal die Finger an sie legen. Das würde er nicht akzeptieren, würde es zu verhindern wissen.

 

„Ich muss mit Ihnen reden“, wisperte Samantha und versuchte, den Blickkontakt zu unterbrechen.

Duncan nickte. „Dachte ich mir, nachdem Sie so lange bei Trog im Büro waren. Sie möchten Lars und mich wieder zurückschicken, ist das richtig?“ Er fand es komisch, nun waren sie wieder bei dem Sie angekommen. Innerlich hatte er gehofft, dass das Du weiterhin galt.

„Ja, allerdings sieht Steve keinen Sinn darin. Ich denke, Lars, Daniel, Sie und ich sollten uns mal zusammensetzen. Es gibt einiges zu besprechen und die endgültige Entscheidung, ob Sie gehen wollen, liegt dann bei Ihnen.“

Wieder nickte er, ein zartes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. Seine Entscheidung stand schon fest, selbst wenn sein Verstand ihm riet zu gehen, wollte sein Herz hier bleiben und Samantha beschützen. Es war das erste Mal, dass sein Herz gegen seinen Verstand gewann.

 

Auch Jack erkannte diesen Blick, hatte alles mit angehört und keiner ahnte auch nur, wer er war. Es brodelte in ihm. Duncans Hände an Samantha zu sehen, dessen Blicke zu ihr wahrzunehmen und ihre ergebene Haltung. Er musste raus aus dem Revier und das schnell, denn noch war es nicht so weit, noch sollte sie nicht sein Opfer sein.

Tief durchatmend fand er sich kaum zehn Minuten später auf der Straße wieder, es kribbelte in ihm. Seine Aggressionen mussten raus und es gab nur einen Weg, ihnen freien Lauf zu lassen.

Ein Blick über die Straße ließ ihn sein Opfer erblicken, sie war perfekt. Natürlich, darauf hätte er früher kommen können. Jack würde nicht nur seine Aggressionen loswerden, sondern auch die Fronten spalten. Sein nächstes Opfer würde Daniels Frau!

Im Moment kam er nicht an sie heran, denn Daniel war bei ihr, doch sobald sie alleine war, wäre sein Plan schon fast abgeschlossen. Ja, sie würde leiden, ihn anflehen sterben zu dürfen, und das alles gebannt auf Film würde er ihrem Mann zukommen lassen.

Oh ja, er war so genial. Das Kribbeln verstärkte sich, zog in seine Lendengegend. Allein der Anblick von der schmalen Frau, die nicht mehr als einen Meter und siebzig groß war, vielleicht fünfzig Kilogramm wog, und doch wusste Jack, dass sie sehr viel aushielt. Er würde vorsichtiger sein müssen, sie machte Kampfsport. Doch es störte ihn nicht, denn hatte er einmal ein Opfer auserkoren, war es schon so gut wie tot. Voller Vorfreude knetete Jack seine Hände, das Bild was sich ihm jetzt bot, war zu schön, um wahr zu sein.

Duncan und Samantha standen bei Daniel und dessen Frau Sarah und unterhielten sich. Unbemerkt schoss Jack ein Foto, das würde der Anfang des Tagesberichtes sein. Die Frage war nur noch, wie würde er vor ihr auftreten? Als ihr Ehemann? Ihr eigener Ehemann würde sie quälen, verstümmeln, unendliche Schmerzen zufügen und zum grandiosen Schluss umbringen. Genau, wie es bei Victoria war. Allein die Erinnerung ließ Jack grinsen. Vergessen würde er es nie, war er doch gerade zwanzig geworden, als sein Vater Victoria mit nach Hause brachte.

 

Die ganzen vier Stunden ihres Todeskampfes war er dabei gewesen. Hatte zugesehen, wie sein Vater sie geschändet hatte. Schnell war der anfängliche Ekel zu reiner Begeisterung umgeschlagen. Doch durfte er selbst nicht Hand anlegen, lediglich die Fotos schießen. Den Schluss fand er bis heute noch am besten. Als sein Vater ihr das Herz rausschnitt, es separat hinlegte, bevor er Körper und Herz verbrannte. Dann tütete er alles ein, vom Herz waren nur noch wenige Gramm übrig geblieben, die er verschweißt in ein Amulett legte.

Jack tastete danach, es sah aus wie eine Bibel, doch er sah es lieber als Sarg. Rechteckig mit einem Kreuz darauf, und er hatte es seit sechzehn Jahren nicht mehr abgelegt. Denn das war die Verbindung zu Samantha, nie würde sie beide jemand trennen können.

„Ja küss sie ein letztes Mal“, spottete Jack flüsternd, als er sah, wie Daniel seine Frau fest in die Arme schloss. Nun konnte sein Plan beginnen, ihre letzten Stunden waren angebrochen. „Genieß die Stunden vor deinem Tod, Sarah.“ Sein höhnisches Lachen war nicht sehr laut und doch drehte man sich auf der anderen Straßenseite zu ihm um, schüttelte nichts verstehend den Kopf und widmete sich wieder sich selbst.

 

Sarah sah Samantha fragend an, die zuckte die Schultern. „Das ist Ben, unser Hausmeister. Soweit ich informiert bin, ist er nicht ganz normal im Kopf. Nun ja, aber ein lieber Kerl. Seine Arbeit macht er besser als jeder andere, sehr zuverlässig und immer freundlich.“

„Das ist wohl die Hauptsache. So, ich will euch auch nicht länger stören, ihr habt sicher viel zu tun?!“, lächelte sie und streifte sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht.

„Du störst nie, mein Engel. Viel zu tun haben wir, leider Gottes. Glaub mir, Sarah, sobald Jack weggesperrt ist, nehme ich mir drei Wochen Urlaub und die verbringen wir, wie sich das meine drei Schätze vorstellen.“

Daniels Lächeln war geradezu ansteckend und seine Augen zeugten von Liebe, unendlicher Liebe seiner Frau gegenüber. „Dann bin ich mal gespannt. Duncan, tun Sie mir den Gefallen und helfen den beiden dabei, es muss wirklich ein Ende haben und außerdem würde ich gerne mal wieder meinen Mann nur für mich haben. Nicht übernächtigt.“ Sarah zwinkerte, dass jeder verstand, was sie meinte.

„Ich werde mein Bestes geben, Sarah, versprochen. So, ich werde mal sehen, wo Lars bleibt, die Wanzenkontrolle müsste er schon hinter sich haben.“ Duncan zog kopfschüttelnd die Brauen hoch und verschwand wieder auf die andere Seite ins Revier. Fast automatisch ging Samanthas Blick hinter ihm her, so dass sie nicht mal mitbekam, wie ihr ein Seufzen entwich.

„Was ist denn das für ein Blick?“ Sarah lachte sanft. Blitzartig drehte sich Samantha wieder um, in ihre Wangen schoss das Blut. „Bitte, was?“

Daniel grinste. „Ich hab es dir gesagt, Sarah. Eindeutig, oder?“

„Aber hallo! Mensch, Sam, das freut mich aber.“

Diese konnte sich nicht wehren. als Sarah sie auch schon in ihre Arme zog. „Da ist nichts, interpretiert nicht überall was rein“, wehrte Samantha ab. Ihr Missfallen, dass sie so durchschaubar war, konnte man in ihrem Gesicht ablesen, und ehe sie noch etwas zu hören bekam, verschwand sie ins Revier.

 

„Sam kann damit nicht umgehen“, entschuldigte Daniel seine Partnerin.

Sarah lächelte weiterhin. „Nun ja, es ist auch ein schlechter Zeitpunkt, nicht wahr? Jack kann sie nicht einfach verdrängen, ich verstehe sie schon. Was kommen soll, wird kommen. So, mein Schatz, ich gehe jetzt einkaufen und dann die Davon und Lina abholen. Ich liebe dich.“

„Und ich dich erst. Ich würde dir gerne versprechen, heute Abend früher heimzukommen, aber ...“ Sarah winkte ab, ihr Blick zeugte von Verständnis, und dann ging jeder seiner Wege.

 

Lars war schon im Revier, als Duncan hereinkam. Bevor dieser was sagen konnte, warf Lars einen Beutel auf den Schreibtisch von Samantha.

„Was ist das?“ Verwundert hob Duncan den Beutel auf und entleerte ihn. Es war kaum zu glauben: Zehn Wanzen und acht Mini-Kameras lagen nun vor ihm und sechs Peilsender rutschten noch nach. „Peilsender? Wo hast du die denn her?“

„Aus unseren Schuhen. Daniel war so nett und hat mir einen Detektor mitgegeben, aus Quatsch habe ich ihn an mir ausprobiert und er schlug sofort an.“ Lars verzog das Gesicht. Der stämmige Mann, der sonst so ruhig und besonnen war, ließ jeden sehen, wie sauer er darüber war.

Duncan runzelte die Stirn, nahm sich den Detektor und ließ diesen über seinen Körper wandern. Kaum war er bei seinen Schuhen angekommen, fing es an zu piepsen. „Intelligent, das muss man ihm lassen. So weiß er immer, wo wir sind, grandios.“

 

 „Was ist grandios?“, fragte Samantha und betrachtete ihren Schreibtisch. „Ich sagte zwar, dass Sie sich hier wie zu Hause fühlen können, doch bitte mit mehr Ordnung!“ Schüttelte sie den Kopf und nahm den Peilsender in die Hand. „Wo kommt das Zeug her? Das ist nicht von uns!“

Lars nickte. „Das ist meine Ausbeute von meiner Suchaktion. Wenn Sie erlauben, Samantha?“ Es war nicht wirklich eine Frage, als er den Detektor zu ihren Schuhen wandern ließ. „Der Mann ist der Hammer. Jeder von uns hat Peilsender in den Schuhen. Zieht sie aus, ich entferne sie.“

„Bloß nicht, und Sie werden Ihren auch immer bei sich tragen. Soll er weiter denken, wir wissen es nicht, vielleicht kommt es uns noch zugute“, wandte Samantha ein. „Wo Sie schon da sind, Lars - ich denke, Daniel kommt auch gleich, ich müsste mit Ihnen beiden sprechen.“

Mit gerunzelter Stirn sah Lars sie an. „Um was geht es?“ Dabei ging sein Blick zu Duncan.

„Sie will, dass wir zurück nach New York gehen“, beantwortete der die Frage und lehnte sich an den Schreibtisch, wobei er gleichzeitig die Arme verschränkte.

Lars warf einen ungläubigen Blick zu Samantha. „Bestimmt nicht. Wieso sollten wir zurückgehen?“

„Ihr - nein, ich muss expliziter sein - Duncan ist in Gefahr. Jack droht ihm mit dem Tod, und ich denke nicht, dass das so eintreffen sollte. Die Gefahr, umso länger er hier ist, ist viel zu groß“, antwortete sie sachlich und ruhig, auch wenn sich ihr Herz bald überschlug und nicht beruhigen wollte. Die Angst, dass Duncan wirklich abreisen könnte, bescherte ihr ein Stechen ins Herz.

 „Samantha ... wie gut kennen Sie uns? Richtig gar nicht und ich denke auch nicht, dass Sie sich über uns informiert haben. Duncan und ich sind aus einer Spezialeinheit, extra ausgebildet für solche Fälle. Ich müsste zählen, um die Anzahl der Morddrohungen zu wissen. Es sind so unzählig viele, seitdem wir das machen. Wenn Duncan nichts Gegenteiliges sagt, werden wir bleiben, ob Ihnen das recht ist oder nicht.“

Samantha seufzte und ihr Herz beruhigte sich langsam. „In Ordnung, nur sollten Sie gewarnt sein.“ Ihre Lippen formten ein nur schwer zu erkennendes Lächeln und ihre Augen schienen ein Wettstrahlen mit den Sternen machen zu wollen. Scheinbar bemerkte sie es gar nicht, doch den beiden Männern fiel es sofort auf. Lars’ Blick ging zu Duncan, der schmunzelte. Er kannte Duncan nun seit dem Kindergarten und dessen Reaktion sagte eindeutig mehr als tausend Worte.

 

 

Sarah hatte den Einkauf erledigt und ihre Kinder bei Freunden abgeliefert. Lächelnd stand sie in der Küche, fast automatisch ging ihr Blick zur Uhr. Es war gerade sieben an einem Freitagabend. Jede andere Familie dachte an ein wunderschönes Wochenende, doch sie fragte sich, ob ihr Mann wohl nach Hause kommen würde, bevor sie schlief.

Manches Mal verfluchte sie seinen Beruf, doch wenn sie die Abendnachrichten sah, wo über die Verbrechen berichtet wurde, ja da war sie stolz. Ihr war bewusst, dass Daniel die Welt ein wenig sicherer machte.

 

Nachdem sie das Essen fertigt hatte, ging sie nach oben und ließ Wasser in die Badewanne laufen. Zurück im Schlafzimmer, begab sie sich an den Kleiderschrank und überlegte, ob ein Negligé nicht das Richtige wäre, um Daniel zu überraschen.

Noch in Gedanken versunken vernahm Sarah Schritte auf der Treppe. Verwundert sah sie in den Flur und erblickte erfreut ihren Mann. „Du bist aber früh. Ich wollte gerade baden“, lächelte sie ihn an. Gerade wollte Sarah Daniel in den Arm nehmen, als ihr die Augen auffielen. Daniel hatte zwar braune Augen, doch diese waren viel zu dunkel, als dass man sie ihm zuordnen konnte. Geschockt weiteten sich ihre, der Atem stockte und innerhalb von Sekunden hatte sie begriffen, wer da vor ihr stand.

 

„Nein, bitte nicht, was wollen Sie von mir? Oh Gott.“ Umso näher Jack ihr kam, umso mehr ging sie zurück, es gab keinen Fluchtweg. Hektisch sah sich Sarah um, mittlerweile war sie im Schlafzimmer gefangen. Der einzige Ausweg war das Fenster. Wenn sie es schaffte, da hinaus zu springen, würde sie zwar Brüche davon tragen, aber ihr Leben noch haben.

Jack hatte es geahnt, dieser Frau konnte er nichts vormachen. Und dafür hatte er sich so viel Mühe mit seiner Maske gegeben. In ihren Augen konnte er lesen, was sie vorhatte, doch ehe sie ihren Plan ausführen konnte, hatte Jack sie auf das Ehebett geschmissen. Er drückte ihre Arme mit den Knien auf das Bett, während er ihr die Nase zuhielt und Tropfen verabreichte.

Wie beim letzten Mal dauerte es gerade fünf Minuten, bis sein Opfer unfähig war, sich zu bewegen. Langsam stieg er vom Bett und zog sein Handy aus seiner Hosentasche.

Jack konnte genau sehen, wo sich Daniel, Samantha, Duncan und Lars befanden. Alle waren sie noch im Revier. „Ich habe mehr von Ihnen erwartet, Sarah, mehr Kampfgeist. Wozu hat Daniel Sie wohl in diese Kampfsportkurse geschickt?“ Es lag ein Vorwurf in seiner Stimme, die ihr die Tränen kommen ließ.

Zuerst streifte er ihr die Kleidung vom Körper, betrachtete sich ihre kleinen wohlgeformten Brüste, die zart rosafarbigen Schwangerschaftsstreifen an der Hüfte und ihr makelloses Gesicht. Sarah war hübsch, das musste er zugeben, doch sogleich würde sich das ändern.

 

Angewidert sahen Daniel und Lars an sich herunter.

„So eine ...“, setzten beide an, als sie unterbrochen wurden. „Meine Herren, ich bitte, solche Ausdrücke zu vermeiden“, sagte Steve Trog lachend und reichte ihnen zwei Jogginghosen und zwei Paar Schuhe.

„Vermeiden? Ich lach später, wenn es recht ist? Er hat sich auf uns übergeben, das ist widerlich“, jammerte Lars.

Samantha schmunzelte und versuchte krampfhaft nicht loszulachen. Das war aber auch typisch gewesen. Da kamen Kollegen mit einem Junkie ins Revier und unter den etlichen Polizisten hatte dieser sich doch wirklich Daniel und Lars ausgesucht, um seinen Mageninhalt zu entleeren. Ein Bild für die Götter.

„Nun aber! Gehen Sie duschen, und stellen Sie sich nicht so an“, seufzte Steve und schubste beide in Richtung Dusche. „Ich werde mal sehen, wo das Putzzeug ist. Ben hat sich frei genommen, sonst ist er immer hier, doch wenn man ihn mal wirklich braucht, nicht“ Steve schüttelte den Kopf und verschwand in Richtung Putzkammer.

 

Stirnrunzelnd blickte Duncan ihm nach. „Ben ist immer hier?“

„Ja, fast. Also, es gibt selten Tage, wo man ihn nicht sieht, wieso?“

„Weil ich gerade überlege. Jack sagte, er sei immer da, aber nicht, dass er ein Polizist ist. Was ist, wenn er jemand ist wie Ben. Er ist immer da und doch so unscheinbar, dass ihn keiner bemerkt. Niemand würde sich etwas dabei denken, wenn er an einem Schreibtisch steht ...“

Jetzt musste Samantha doch lachen. „Ben ist Jack? Also gehen wir mal der Vermutung nach. Jack ist ungefähr 180 bis 190 Zentimeter groß, ja das passt zu Ben. Wiegt 95 bis 105 Kilogramm, nein also, wenn Ben 80 Kilo hat, dann wäre es viel. Außerdem ist Jack ein Genie; wir schätzen sein IQ auf 140. Und ohne, dass ich Ben beleidigen will, seiner wird bei 80 liegen.“

„Erstens sagte ich nicht, dass es Ben an sich ist, ich meinte eine Person in der Position. Zweitens, das Gewicht wurde geschätzt nach der Tiefe der Fußabdrücke. Wenn Jack etwas auf dem Arm hatte, ist sein Gewicht schon verfälscht. Zum Dritten: Wie genial muss ein Genie sein, um sich als unterbelichteten Menschen hinzustellen?“ Duncan hatte die Arme verschränkt und betrachtete Samantha, in ihrem Kopf schien es zu arbeiten.

„Eigentlich nur logisch. Wir haben bisher nur unsere Kollegen kontrolliert. Nun gut, dann lassen wir mal den Rest kontrollieren. Vielleicht haben Sie ja recht.“

 

Jack betrachtete seine Schriften auf Rücken und Bauch, er hatte es dieses Mal geschafft, es filigraner aussehen zu lassen. Die Bezeichnung von Leonard - Schnitte! - hatte ihm gar nicht zugesagt.

Irritiert bemerkte er den immer flacher werdenden Atem. „Sarah, Sie geben schon auf? Wie schade! Ihr Tod wird das Ende für die Partnerschaft von Samantha und Daniel sein.“ Unvermittelt stockte sein Atem. Die Haustür ging auf, Stimmen drangen bis zum Schlafzimmer. Es waren Lars und Daniel.

 

„Sarah wird lachen, wenn sie das hört.“ Das Grinsen in Daniels Stimme konnte man regelrecht hören.

„Na hoffentlich ist sie nicht enttäuscht, dass ich dabei bin“, erwiderte Lars. „Hier riecht es super.“

„Sie hat gekocht, das lassen wir uns gleich auch noch schmecken. Sollen Sam und Duncan auf uns warten. Ein gutes Essen haben wir uns verdient. Ich gehe Kleidung holen.“

Lars seufzte: „Ich hätte wirklich ins Apartment fahren können ...“

„Ach Unsinn, ich werde schon was finden, was dir passt. Ich war schließlich auch mal kräftiger. Mach es dir bequem, bin gleich zurück.“

Nun waren Schritte auf der Treppe zu hören. Hecktisch sah sich Jack um, auf seinem Handy waren die beiden immer noch auf dem Revier verzeichnet. „Sarah, ich bin daheim!“, rief Daniel Richtung Bad, wo er seine Frau vermutete.

Daniel war irritiert, dass seine Frau nicht reagierte, ging in Richtung Bad, wo das Wasser noch lief und zwar unter der Tür durch. „Verdammt, was soll das denn? Sarah, alles in Ordnung?“, fragte er und öffnete die Tür.

 

Das war die Chance für Jack, er hastete die Treppen hinab, direkt an Lars vorbei, der sich auf das Sofa im Wohnzimmer gesetzt hatte. „Wo willst du hin und wie schnell ziehst du dich um?“ Noch ehe er ausgesprochen hatte, schlug die Tür ins Schloss. Verwirrt stand Lars auf und ging Richtung Ausgang, als von oben ein markerschütternder Schrei zu ihm drang.

Kapitel 7

 

Lars sah zur Haustür, dann die Treppen hoch, und ehe er reagierte, hatte sein Körper entschieden, nach oben zu laufen. Ihm verschlug es die Sprache, als er Sarah da liegen sah. Die Arme eng am Körper, die Haare zerzaust und Blut rann aus etlichen Wunden. „Sarah bitte sag doch etwas, bitte verlass mich nicht, bitte ...“, kam erstickt von Daniel, der neben seiner Frau vor dem Bett kniete und ihre Hand in die seine nahm.

 

Gerade noch lachten Samantha und Duncan über einen Kollegen, der sich mit einer Prostituierten herumärgerte, als ein Funkspruch einging.

„Lars Buster 5189, alle verfügbaren Wagen in die Allen Street 1325 ...“

„Verdammt, macht euch her, Jack hat zugeschlagen!“, schrie Daniel aus dem Hintergrund. So schnell war Samantha noch nie gerannt, ihr Herz schien abgeschnürt. Niemals verlor Daniel die Fassung, und da die Adresse seine war, wusste sie gleich, was passiert sein musste. Allerdings hatte sie noch Hoffnung, dass es doch nicht so war.

Bitte nicht Sarah! , flehte Samantha innerlich.

 

Leonard war der Erste, der bei Daniel ankam. Ganz leise ließ er seinen Metallkoffer auf den Boden nieder. „Daniel, wärst du so nett?“ Mit verweinten Augen drehte sich der Angesprochene um. „Sei lieb zu ihr, bitte!“, flehte Daniel leise und stand widerwillig auf.

„Natürlich“, entgegnete der Gerichtsmediziner und setzte sich neben Sarah, fast schon zärtlich streifte er ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Na, meine Hübsche?“ Obwohl Sarah so zugerichtet war, war sie noch wunderschön und lieblich anzusehen.

 

Von Reportern umzingelt, die ununterbrochenen Fragen stellten, stand Daniel vor der Tür, als Samantha zu ihm kam. Sie legte eine Hand auf die Schulter ihres Partners, der sie unsanft wegschlug.

„Fass mich bloß nicht an, nie wieder, verstanden?“, fauchte er seine Partnerin an. „Daniel, es tut mir so leid ...“

„Leid? Leid? Du bist an allem Schuld! Du und deine verfluchte Familie. Ich wünschte, er hätte dich umgebracht, dann hätten diese Morde endlich ein Ende!“, schrie er. Seine Hände zitterten, Tränen liefen über seine Wangen und seine Augen funkelten vor Zorn. „Verschwinde aus meinem Leben. Du bist für jeden eine Gefahr, der nur annähernd in deine Nähe kommt. Am besten wäre es, jemand würde Jack zuvorkommen.“ Entsetzt sah jeder, wie Daniel seine Pistole zog und sie auf Samantha richtete. „Du bist Schuld, allein du, und ich werde diesem ganzen Irrsinn jetzt ein Ende setzen.“

 

Steve Trog stellte sich zwischen Daniel und Samantha und versuchte den trauernden Polizisten zu beruhigen. „Daniel, ich bitte Sie, beruhigen Sie sich.“

„Geh mir aus dem Weg, Steve, ich bringe das jetzt zu Ende.“ Er zitterte am ganzen Leib.

Dagegen war Samantha einfach nur schockiert, ihr eigener Partner zielte mit der Waffe auf sie, wollte sie umbringen und all das nur wegen Jack. Doch vielleicht hatte er recht, vielleicht würde alles mit ihr enden?!

Geräuschlos war Lars hinter Daniel getreten und durch das geschickte Ablenkungsmanöver von Steve schaffte er es, Daniel die Waffe zu entreißen. Dieser sackte zusammen, weinte nun hemmungslos. „Wieso lasst ihr es mich nicht zu Ende bringen, sie ist schuld. Schuld an Sarahs Tod“, wimmerte er und ließ sich dann umstandslos von Sanitätern in einen Krankenwagen bringen.

 

Samantha stand weiter schockiert da, unbemerkt waren Kollegen ein paar Schritte von ihr gewichen. Daniels Worte schienen immer noch in ihren Ohren widerzuhallen. Sollte es wirklich so sein? Brachte sie den Tod, ohne es zu wollen? Duncan trat neben Samantha. „Wir fahren“, sagte er und versuchte dabei aufbauend zu lächeln.

„Er hat recht, ich bringe den Tod. Jack droht Ihnen, er hat Sarah umgebracht ... HOL MICH ENDLICH, DASS ES EIN ENDE FINDET!“, schrie sie den letzten Satz in die Luft, möge diese die Worte zu Jack tragen und sie erlösen.

 

Jack lachte in sich hinein, er hatte genau das erreicht, was er wollte. Alles hatte er mit angesehen und wieder einmal hatte ihn keiner bemerkt. Nicht mal Duncan und Lars, von denen er so erfahren hatte, dass sie nun nicht mehr nach einem Polizisten suchten, sondern nach einem Angestellten im Revier. Sogar das Duncan Ben in Verdacht hatte. Oh, wie richtig war es, und doch so falsch, dass sie ihn nie aufhalten würden. Genau vier Menschen hatte er im Revier ersetzt und keiner hatte es auch nur vermutet. Ohne Ben waren es noch drei und bei diesen war er sich sicher, dass sie ihm niemals auf die Fährte kommen würden.

 

So nah und doch so fern stand Jack da und beobachtete. Sah Samantha zu, wie sie versuchte, Abstand zu ihren Kollegen zu gewinnen. Wollte sie sie so schützen? Es war vergebens, da war sich Jack sicher, er würde sie alle bekommen, jeden Einzelnen und zum Schluss Samantha. Dann wäre seine Aufgabe erfüllt. Das größte Leid dieser Menschen war es, jemanden zu verlieren.

Natürlich zählte er sich anatomisch auch dazu, doch war er nie so aufgewachsen. Sein Leben bestand daraus, für seine Aufgabe zu lernen. Mit gerade zwanzig Jahren hatte er sich seine ersten Opfer gesucht und seitdem war er zu einem Meister geworden. Besonders das Leid seiner Opfer brachte ihm die erwünschte Befriedigung und er wusste die endgültige Befriedigung konnte er nur durch Samanthas Leid erreichen.

 

Gewaltsam hatten es Steve, Duncan und Lars geschafft, dass Samantha endlich in ihr Auto stieg. Kaum war die Autotür geschlossen, sah Samantha zu Duncan. „Dan hat recht.“

„Samantha, ich bitte Sie, es war ein Plan, mehr nicht. Sie wissen, dass er nie so denken würde. Sarah lebt, also bitte ...“

„Nein, nein, er hat recht. Ich bringe den Tod, und wenn ich tot wäre, dann wäre der Spuk endlich vorbei.“ Schon ging eine Hand von ihr an den Türgriff. Lars sah nach hinten, wo sein Partner und Samantha saßen, während Steve fuhr.

„Machen Sie bloß keinen Quatsch.“ Lars wies auf Samanthas Hand, die sofort von Duncan in Beschlag genommen wurde.

„Lassen Sie mich los Duncan, es hat keinen Sinn ...“. Sie versuchte sich zu lösen, doch seinem eisernen Griff konnte sie nicht entkommen. Steve sah durch den Rückspiegel. Ob dieser Plan für alle Beteiligten wirklich so gut war, bezweifelte er.

 

Gerade als Leonard das Thermometer in Sarahs Bauch stechen wollte, fiel ihm die Träne auf, die aus ihren Augen trat. Sie hatte wahrhaftig überlebt. Mit eisernem Willen oder - wie der Gerichtsmediziner sagte - unter Schock hatten Atmung und Herzschlag kurzzeitig ausgesetzt. Durch das Narkosemittel, das Jack einsetzte und langsam nachließ, hatte Sarah überlebt. Es war kaum zu glauben nach einer solchen Tortur, und doch Wirklichkeit. Allerdings war jedem bewusst, dass Jack davon nichts erfahren durfte.

Nie hatte ein Opfer überlebt und mit Sicherheit würde er nicht zulassen, dass Sarah die Erste war. Durch Daniels Szene war es möglich gewesen, seine Frau wegzubringen, ohne dass es jemand mitbekam.

Es ging in eine Privatklinik eines Freundes von Leonard. Dass diese Szene allerdings so glaubwürdig werden würde, damit hatte keiner gerechnet. Und vor allem nicht, dass es Samantha so nahe ging. War es ein Fehler gewesen? War Daniel zu weit gegangen?

 

Leonard saß bei Sarah am Bett, ihre Wunden waren versorgt und sie schlief nun. Unruhig drehte sie sich im Bett, bis sie plötzlich aufschreckte. Panik in den Augen. „Wo bin ich?“

„In einer Privatklinik. Bleib ruhig Sarah!“ Leonard strich über ihren Arm.

„Wo ist Daniel?“

„Im Revier, oder bei Lars ... ich weiß es nicht. Offiziell giltst du nun als tot, also wirst du vorläufig mit mir vorlieb nehmen müssen, in Ordnung?“ Sanft ließ er ihre Hand in seine gleiten.

„Natürlich. Ich lebe, es ist nicht zu glauben, ich war mir sicher, dass ich sterben würde. Diese dunklen braunen, fast schwarzen Augen ... sie schrien einen förmlich den Tod entgegen.“ Überrascht hatten sich Leonards Augen geweitet. „Du erinnerst dich noch?“ Er vermutete, dass durch das Narkosemittel die Erinnerungen verblassen, wenn nicht sogar ganz verschwinden würden.

„An jede Einzelheit. Ich wollte baden, dann hörte ich jemanden auf der Treppe, ich dachte es sei Daniel ... doch diese Augen ... ich wusste gleich, wer mir da gegenübersteht. Ich habe jeden Schnitt gespürt, jedes seiner Worte vernommen.“

„Das haben wir mitbekommen, etwas geredet hast du ja schon. Offiziell haben Sam und Dan miteinander gebrochen. Eine Szene, Oscarwürdig, kann ich nur sagen. Und den Rest schaffen sie nun auch noch, sie werden diesen Mistkerl bekommen.“ Seine Stimme zeugte von seiner Überzeugung. Leonard wusste, dass Jack bald gefasst werden musste. Denn wenn das nicht eintreffen würde, dann wären sie alle tot.

 

Duncan saß mit Steve, Lars und Samantha im Büro, als eine Bildnachricht bei ihm ankam. Leonard hatte Rücken und Bauch von Sarah fotografiert. „Also auf dem Bauch steht: Dein Leid ist mein Genuss. Und auf dem Rücken ...“ Er stockte, das wollte er nicht gelesen haben.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete Steve ihn. „Was steht da?“

„5189“, kam schwer schluckend zur Antwort. Lars lachte los. „Er will mich als Nächstes? Gott, für wen hält der Typ sich? Lächerlich.“

„Unterschätzen Sie ihn nicht, Lars. Samuel dachte damals auch, er wäre ihm gewachsen. So, Jungs, jetzt kommen wir mal alle zum Du. Ich will jetzt Details wissen, was denkt ihr? Wer steckt dahinter, wie bekommen wir ihn und was hat er genau vor?“, kam es rau von Steve, der immer wieder nach Samantha sah, die auf einem braunen Ledersofa saß.

Eigentlich war dieses für ihn selbst gedacht, wenn es mal wieder später wurde und er nicht heimfahren wollte oder konnte.

„Okay, Steve, Details ... Also was wir wissen oder denken ist: Er arbeitet hier. Als was, nun das ist noch fraglich, wahrscheinlich kein Polizist. Er will Samantha, das ist bekannt, doch er will sie leiden sehen. Jack wird einen nach dem anderen töten wollen. Wir können ihn nur fassen, wenn wir die Aufzeichnungen von Samuel und Victoria bekommen.“ Nun ging Lars’ Blick zu Samantha.

Diese sah auf. „Viel Spaß beim Suchen. Ich versuche seit über einem Jahr, sie zu finden, jedes Bankschließfach habe ich öffnen lassen, alle Bekannten kontaktiert, ob meine Eltern bei ihnen etwas zurückgelassen haben.“

„Was ist mit deinem Elternhaus?“, fragte Duncan. In einer ruhigen Minute hatte ihm Daniel verraten, dass Samantha seit zwei Jahren nicht mehr dort gewesen war. Sie versteifte sich so auf ihre Arbeit, dass sie wenig Zeit hatte, ihren Vater dort zu besuchen. Zumal es ihres Erachtens Unsinn war, da sie sich immer wieder im Revier trafen. Seit dessen Tod wollte sie nichts mehr von dem Haus wissen, verkaufte es zwar nicht, doch hatte sie es auch nie wieder betreten.

„Papa wusste, dass ich da nicht reingehe, er hätte es da nie hinterlassen, und außerdem waren Seth und Steve drinnen und haben nichts gefunden“, verteidigte sie sich gegen Duncans unausgesprochenen Vorwurf.

Steve nickte zustimmend. „Wir haben damals alles auf den Kopf gestellt und rein gar nichts gefunden. Ich schätze nicht, dass Samuel und Victoria so leichtsinnig waren, ihre Erkenntnisse dort zu verstecken. Jack war sicher auch schon da und hat danach gesucht.“

„Wir fahren hin, und damit meine ich dich, Samantha. Wir beide. Du kennst dieses Haus, du hast dort gelebt, und wenn dein Vater doch etwas versteckt haben sollte, dann wirst du es finden. Ich weiß es.“ Duncans Stimme klang streng, er ließ keinen Widerspruch zu.

 

Daniel stand im Apartment von Lars und Duncan, nervös tigerte er durch das Wohnzimmer. Hatte er an alles gedacht? Seine Eltern wussten Bescheid, genau wie Sarahs. Die Kinder waren ebenso informiert. Er wusste nicht, wo sie ihr Verständnis herholten, doch sie hatten es.

Ganz der Vater, wie Sarah zu sagen pflegte. Devon und Lina waren tolle Kinder, die besten, wie Daniel fand.

Sie sollten sich bedeckt halten, nicht aus den Häusern kommen und vor allem keine Kommentare abgeben.

Endlich nach zwei Stunden kam Lars ins Apartment. „Was gibt es Neues?“, feuerte Daniel los, ohne ansatzweise einer Begrüßung nachzukommen.

„Sam ist fertig. Deine Worte haben ihr ziemlich zugesetzt.“

„Sie schafft das. Glaub mir, Lars, Samantha ist stark und vernünftig. Wenn sie jetzt etwas fertig ist, behebt sich das bald wieder. Ich kenne sie lange genug. Hast du was von Sarah gehört?“

Lars lächelte. „Ihr geht es gut, Leonard ist immer an ihrer Seite. Duncan und Sam fahren zu Samuels Haus.“ Überrascht weiteten sich Daniels Augen. „Wahnsinn, bisher hat sich Sam immer geweigert. Na, dann beten wir mal, dass sie etwas finden. Sonst noch was Interessantes?“

„Nun ja, ich bin Jacks nächstes Opfer, wenn es nach ihm geht“ Zwar lachte Lars, doch ganz tief in seinen Augen war ein kleiner Funken, der verriet, dass es ihm näher ging, als er wollte. Diese Art zu sterben ... wie oft hatte er sich schon vorgestellt zu das Zeitliche zu segnen. Dass ein Dieb ihn ersticht, eventuell ein Auto- oder ein Motorradunfall. Ehrenwert sterben in Ausübung seiner Pflicht, aber sicher nicht dahingemetzelt werden von einem Serienkiller.

„Glaub mir, dich bekommt er nicht, dafür sorgen wir, versprochen!“, zwinkerte Daniel. „Was machen wir jetzt?“

Lars verdrängte die unangenehmen Bilder aus seinem Kopf und nahm seinen Laptop zur Hand. „Personenkontrolle. Mit Ben scheinen wir recht zu haben, er ist ... war Jack, doch nun ist er weg. Keine Akten mehr, keine Indizien, dass es ihn je gegeben hat. Also suchen wir nach Leuten im Revier, die sich ebenso unsichtbar machen können, ich glaube, dass Jack mehr als eine Person auf dem Revier ist.“ So setzten sich die beiden mit jeweils einer Flasche Bier an die Laptops und versuchten Hinweise zu bekommen, wen Jack noch ausgewechselt hatte.

 

„Roland Sadetas! Größe, Gewicht, Teilzeitarbeiter als Techniker“, meinte Lars nach einer Stunde und besah sich das Bild des Mannes, den er meinte.

Schwarze Haare, braune Augen und ein Muttermal über der rechten Augenbraue.

Daniel lachte los. „Roland? Also ich bezweifle, dass der Kerl so was drauf hat. Er ist ein Technikfreak, kennt nichts außer Platinen und Gigabytes.“

„Das ist es ja, genau das steht in seiner Personalakte. Doch sieh ihn dir an, er ist recht muskulös, hat einen intensiven Blick. Leonard meinte, dass Sarah von Augen sprach, die den Tod vorhersagten. Braun, fast schwarz.“

Seufzend blickte Daniel auf die Akten, die sich auf dem Bildschirm zeigten. „Er könnte aber auch Kontaktlinsen tragen.“ Innerlich schüttelte er den Kopf. Roland war nun wirklich abwegig, dieser Mann war zwar ziemlich gut in seinem Bereich, jedoch ansonsten eher zurückhaltend, mehr als schüchtern und bekam den Mund nicht auf. Natürlich, genau das, was man eben nicht erwartete, aber sollte es wirklich so einfach sein? Würde Jack sich so darstellen?

Obwohl er sich als Ben auch unterbelichtet präsentiert hatte. In Daniels Kopf begann ein Kampf, der sich bis in die Morgenstunden ziehen sollte, und zwar bei jedem Verdächtigen, den Lars ihm präsentierte.


 

Kapitel 8

 

Zitternd stand Samantha vor der aus Kirschbaum gefertigten Haustür ihres Elternhauses. Kaum war sie aus dem Auto gestiegen und hatte die Veranda angesehen, kamen die Bilder ihres sterbenden Vaters zurück. Duncan hatte einen Arm um sie gelegt und sie die Treppen zur Haustür hoch geführt.

„Sie packen das, Samantha“, sprach er ihr Mut zu.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das kann ich nicht. Duncan, ich will nicht da rein, bitte lass uns fahren.“

„Wir gehen da jetzt rein und du wirst die Unterlagen finden. Danach schnappen wir uns Jack und er wird leiden, in Ordnung?“ Duncan genoss diesen Augenblick, wie sich Samantha an ihn schmiegte und seinen Worten lauschte.

Er war versucht in ihren Augen zu versinken, sie weiter in seinen Armen zu halten und nie wieder loszulassen. Doch es war der falsche Moment für romantische Gefühle, nun musste im Vordergrund stehen, die Unterlagen zu finden.

Es dauerte fast eine Stunde, bis Samantha den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür somit öffnete.

Duncan machte sich auf verstaubte, abgestandene Luft gefasst, doch das Einzige, was ihm entgegenkam, war ein leichter Fliederduft. Alles war sauber, kein Körnchen Staub war zu finden. Der Parkettboden glänzte, auf dem Esszimmertisch standen frische Blumen, und nachdem er die Gardinen aufgezogen hatte, konnte er die blitzblank geputzten Fenster sehen.

„Ich habe eine Putzfrau eingestellt, die kommt zwei Mal die Woche“, beantwortete Samantha die unausgesprochene Frage.

„Sie macht gute Arbeit. Das Haus ist bis hierhin wunderschön.“

Duncan sah sich um. Das Esszimmer war ausschließlich aus Kirschholz, durch die hellen Wände und einigen Akzenten in hellen Tönen wirkte es nicht zu dunkel. Das Wohnzimmer war dagegen modern gehalten. Ein großer Flachbildschirm hing an einer Wand, davor ein weißes Ledersofa und ein Glastisch. Alles kantig gehalten, bis auf einen verschlissenen Sessel, der sicherlich vor ein paar Jahrzehnten seine besten Tage hatte.

 

Samantha streifte zärtlich über den Stoff dieses Sessels. „Der gehörte meinem Vater. Niemand durfte sich da drauf setzen, ich auch nicht. Ich habe davor gesessen, während mein Vater aus einem Buch vorgelesen hat. Wir haben zusammen Gummibärchen gegessen. Er die roten und ich die weißen und grünen. Den Rest bekam Mama, bis sie starb, danach weiß ich gar nicht, was wir damit gemacht haben.“ Ganz langsam sank sie in den Sessel, hatte die Augen geschlossen und schien darauf zu warten, dass ihr Vater sie ermahnte.

Doch es kam nichts, niemand hielt sie auf. Wie von selbst glitt ihre Hand in die Fugen des Sessels, wo Samuel das aktuelle Buch immer hineingesteckt hatte. Irritiert öffnete Samantha die Augen und zog ein Buch hervor: „The book of Writing. (Das Buch der Schrift) von Carl Faulmann“, las sie den Titel. Wie dieser aussagte, handelte es von Schriften. Ihr Blick ging zu Duncan, der auf das Buch sah.

„Das Buch ist genial. Darauf baut mein Wissen auf. Dieser Mann hat alle Schriften aller Zeiten, aller Völker in diesem Buch zusammengeführt. Ich habe es sicher schon hundert Mal gelesen.“

Ihre Stirn runzelte sich, sie schlug das Buch auf und schon flatterte ein Brief aus diesem. Die Schrift hätte sie immer wieder erkannt, es war die ihres Vaters. Samantha sah zu Duncan. „Würdest du, vielleicht?“

Er nickte nur und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, sie sagte du.

So nahm Duncan den Brief und schon auf den ersten Blick sah er, dass er bereits geöffnet worden war. Es war eine Liebeserklärung von einem Vater an seine Tochter. Eine Bitte um Verzeihung, weil er ihr nicht mehr zur Seite stehen konnte. Samuel wusste, dass er nicht überleben würde, und hatte jahrelang, jeden Tag einen Brief geschrieben.

Er versicherte den Glauben an seine Tochter, die dem Ganzen ein Ende setzen würde, doch dürfe sie nie vergessen, dass das Offensichtliche das Ziel war.

Samantha liefen die Tränen über die Wangen, sie schluckte hart und wischte sie dann weg.

„Was meint dein Vater, dass das Offensichtliche das Ziel ist?“

„Woher soll ich das wissen? Das sagte er immer, und ich weiß, für ihn war damit alles klar, aber so intelligent wie er bin ich nicht. Wo soll ich suchen? Was ist so offensichtlich, dass ich es wissen sollte?“ Sauer stand sie auf und ging die einzelnen Räume ab. Esszimmer, Wohnzimmer, das kleine in grün gehaltene Gästebad und die silberne Küche. Auch hier glänzte alles, man konnte sich im Kühlschrank betrachten.

Ohne weiter auf die Küche zu achten, ging Samantha die Treppen hinauf zu den Schlafzimmern. Es gab genau drei Stück. Samantha sollte nie das einzige Kind von Samuel und Victoria bleiben, jedoch war ihnen kein zweites vergönnt gewesen.

So betraten Duncan und Samantha das Gästezimmer. Alles war wie immer: das Bett bezogen und frische Blumen auf der Kommode.

Ebenso war es im großen Badezimmer, das mit seiner Fliederfarbe Duncan eindeutig zu extrem war. Auch das Elternzimmer schien wie immer, und genau das Gleiche traf auf das Kinderzimmer von Samantha zu.

Duncan musste sich ein Lachen verkneifen. Er trat doch wirklich in ein rosafarbiges Zimmer, mit Himmelbett und Plüschtieren. „Das ist nicht wirklich dein Zimmer, oder?“ Wenn er da an ihr Apartment dachte. Es war steril gehalten. Alles Schwarz und Weiß, sehr sporadisch eingerichtet. Gerade das, was man brauchte.

Eine Küchenzeile bestehend aus vier Oberschränken, drei Unterschränken und einem Herd. Alles in Weiß. Der Esstisch dieselbe Farbe mit zwei schwarzen Stühlen.

Im Wohnzimmer befanden sich eine Couch, ein kleiner Beistelltisch und ein Fernseher.

„Doch, ist es. Meine Mutter hatte es so eingerichtet, und ich habe es nie geändert. Hier ist nichts, Duncan. Alles ist wie immer!“ Sie lief durch den Raum, einmal, zweimal und stockte. Schüttelte verwirrt den Kopf. „Irgendwie ... das Zimmer ist kleiner als früher.“

„Bitte? Wie meinst du das? Du bist gewachsen, da kann der Eindruck täuschen.“ Heftig schüttelte Samantha den Kopf. „Unsinn, ich war vor drei Jahren das letzte Mal hier, mein Zimmer ist kleiner. Früher waren zwischen Bettende und Wand mindestens zwei Meter Platz.“ Duncan sah zur Wand und dann ans Bettende, es war höchstens ein Abstand von eineinhalb Metern. Täuschte sich Samantha oder steckte wirklich etwas dahinter?

 

Überlegend ging er zur Wand und klopfte dagegen, doch das Einzige, was er hörte, war das Geräusch der festen Mauer. Samantha dagegen ging zum Kopfende des Bettes und klopfte dort an die Wand, es war hohl!

 

„Moment, lasst mich festhalten, eure Verdächtigen sind Roland Sadetas, Greg Miller, Sven Jahn, Frederik Mendes und Harald Vito?“ Steve hatte die Augenbrauen hochgezogen. Keinen der fünf hätte er je in Betracht gezogen. Roland Computerfreak, Greg die Laborratte, Sven die Chemiekeule, Frederik der Praktikant von Leonard und zu guter Letzt auch noch Harald, der Mechaniker.

Fassungslos rieb sich Steve durchs Gesicht. „Kommt, das ist ein Witz. Roland ist lächerlich, der ist ein Freak und das sagen selbst die anderen Computertechniker. Greg ist in seinem Gebiet der Allerbeste, aber ich habe ihn noch nie außerhalb seines Labors gesehen. Sven kennt zwar alles, was es gibt, um Dinge zu zersetzen, doch ist er eine Schmusekatze. Bisher schon sechs Mal durch die Waffenprüfung gefallen. Frederik? Er ist erst seit einer Woche hier. Und dann noch Harald. Mein fähigster Mechaniker ist also jetzt ein Massenmörder? Ihr seid doch nicht ganz richtig im Kopf!“, blaffte er Daniel und Lars an.

„Nicht zu vergessen Ben ...“ Lars stoppte die Ausführungen seines momentanen Chefs. „Benjamin Moore, geboren am 5 August in South Dakota, sitzt seit zehn Jahren in einer Anstalt in Utah. Steve, kannst du verstehen, was ich sage?“

„Ich nehme es wahr, aber es kann nicht sein. Ben arbeitet seit 15 Jahren bei uns. Er war gerade zwanzig, ich meine ... Jack hat ihn ausgetauscht und es soll keinem aufgefallen sein? Ich verstehe es nicht.“ Daniel seufzte.

„So sieht es wohl aus. Steve, kannst du beschwören, dass es bei den anderen nicht auch so gewesen sein kann?“

„Nein, wie auch? Wieso wurde ich nicht benachrichtigt, als Ben in die Klinik kam?“

„Nun, das wurdest du oder dein Vorgänger. Allerdings scheint Jack es abgefangen zu haben. Auch Bens Einweisung wird kontrolliert. Es liegt der Verdacht nahe, dass sie nicht rechtens war. Wir kontrollieren unsere Verdächtigen jetzt, fragen Familienangehörige und hoffen, so mehr herauszubekommen“, meinte Lars und drehte den Störsender in seiner Hand.

Das wichtigste Utensil in der letzten Zeit, damit man sie nicht abhören konnte. „Das klingt gut. Habt ihr was von Duncan und Sam gehört?“ Steve entspannte sich etwas und lehnte sich zurück.

Daniel schüttelte mit dem Kopf. „Bisher nicht.“

Kaum den Satz gesprochen schlug die Tür des Büros auf und ein Mann Anfang zwanzig stand in dieser: „Bitte helfen Sie mir, er hat meine Schwester.“ Abgehackt klang seine Stimme, seine braunen kinnlangen Haare klebten teilweise im Gesicht und seine Augen waren weit aufgerissen. Lars war wie automatisch aufgesprungen, eine Hand an seiner Pistole und hielt dann inne. „Bitte was?“

„Dieser Jack, der Massenmörder, hat meine Schwester.“ Steve sah Daniel und Lars überrascht an, es dauerte einige Sekunden, bevor sie wahrnahmen, was der Mann von ihnen wollte.

 

Es hatte die ganze Nacht gedauert, bis Duncan und Sam die Möbel verrückt und die Mauer eingerissen hatten. Sie wollten nichts unnötig beschädigen, nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, so hatten sie sich lediglich mit einem kleinen Hammer an die Arbeit gemacht.

Nun standen sie da, jeder mit einem Glas Wasser und waren ungläubig über das was sich ihnen zeigte. Hinter der Wand befand sich ein 50 Zentimeter breiter Absatz mit allerlei Aktenordnern, Bildern und Tüten. „Das ist die Handschrift meines Vaters“, kommentierte Samantha, als sie die Aktenordner besah.

„Und deiner Mutter?“

„Nein, aber vielleicht hat er sie eingeordnet. Sollen wir Daniel und Lars anrufen, sie könnten uns helfen.“

Duncan schüttelte den Kopf. „Das wäre zu viel Aufmerksamkeit. Erst einmal sollten wir unter uns bleiben. Jack ist zu gerissen, er würde es mitbekommen. Wenn er es noch nicht weiß.“

Sie nickte verstehend und zog den ersten Aktenordner raus. Nachdem Samantha ihn überflogen hatte, ging ihr Blick zu Duncan. „Das sind alles Ermittlungsergebnisse. Bis ins kleinste Detail. Was hast du?“

„Bilder von den Tatorten, die dein Vater selbst geschossen hat. Selbst auf den ersten Blick sieht man, dass er mehr die Umgebung fotografierte, nicht dumm“, lobte er lächelnd und setzte sich auf das Bett mit einem ganzen Stapel Aktenordner. Samantha nahm neben ihm Platz und ließ immer wieder ihren Blick zu ihm wandern.

 

Sich so auf ihre eigentliche Aufgabe zu konzentrieren war nicht wirklich einfach und doch brachte sie es nicht übers Herz, Duncan einfach zu ignorieren. Neben ihm zu sitzen, seine Wärme, die zu ihr drang, der Duft, leicht herb und maskulin. Ihr Herz schlug immer schneller, in ihrem Körper breitete sich ein Kribbeln aus; und das Verlangen, ihm noch näher zu sein, nahm unermesslich zu.

Noch nie hatte sie solche Gefühle verspürt, von denen Jugendliche immer erzählten. Schmetterlinge, die den Bauchraum aufwühlten, schweißnasse Hände und das Gefühl, des Verstandes nicht mehr mächtig zu sein.

Duncan ließ nur flüchtig seinen Blick zu ihr gleiten, musste sich ein verräterisches Lächeln verkneifen. Er war ein guter Ermittler und es wäre eine Schande gewesen, nicht zu bemerken, wie die Frau neben ihm immer nervöser wurde. Doch ihm selbst ging es auch nicht anders.

Es war lange her, dass er sein Herz schneller schlagen spürte und sich eine Berührung erhoffte. Sollte sein Verstand sich jetzt nicht einschalten und ihn warnen? Schließlich würde eine Beziehung zu Samantha seinen Tod hervorrufen, zumindest wenn es nach Jack ginge. Allerdings sagte sein Verstand nichts, es war still in seinem Kopf, nur ein leiser Gedanke schlich sich durch ihn hindurch: Küss sie doch!

 

 

„Mein Name ist Janosch Josten, ich komme aus Santa Paula. Meine Schwester ist gestern verschwunden und ich bin überzeugt, dass dieser Jack sie hat“, erklärte ein junger Mann, der vor wenigen Momenten Steve Trogs Büro gestürmt hatte. Er nahm neben Daniel Platz.

Dieser sah ihn kritisch an. „Und was macht Sie da so sicher?“

„Als meine Schwester in das Auto ihres Date-Partners eingestiegen war, sah dieser mich an und sagte, dass ich zu einer Samantha Johnson gehen und ihr sagen soll, dass er Karla hat. Sie soll alles, was sie findet, vernichten oder Karla stirbt. Seine Augen waren dabei so kalt, allein der Blick in diese braunen, fast schwarzen Augen ließen mich den Tod sehen. Ich weiß, es hört sich merkwürdig an, aber es ist so. Ich fragte, wer diese Samantha sei, und er sagte, ich solle den Fernseher anmachen. So kam ich hierher, bitte retten Sie meine Schwester.“

Janosch war verzweifelt, sein Blick flehte regelrecht und sein Körper wollte nicht aufhören zu zittern.

„Wie alt ist Ihre Schwester?“, fragte Lars und betrachtete den Mann neben Daniel. Er war höchstens zwanzig Jahre alt, stämmig gebaut und doch vermittelte er eine ziemlich kindliche Haltung.

„38 Jahre, ich bin ein Nachzügler meiner Eltern. Bitte, ich habe nur noch meine Schwester, bitte retten Sie sie, bitte.“ Janosch flehte weinend.

Lars legte ihm eine Hand auf die Schulter, atmete tief durch. „Wir tun alles versprochen.“ Dann griff er zu seinem Handy und wählte Duncans Nummer.

 

Kapitel 9

 

Verängstigt sah Karla Jack an, kauerte in einer Ecke. Hände und Füße mit Hilfe von Hand- und Fußschellen an einer Eisenkette gefesselt, die in einer Wand verankert war. Wie sehr hatte sie gehofft nie wieder in seine Hände zu geraten, sich gut genug versteckt zu haben, doch Jack hatte sie gefunden. Sein Blick war strafend, als er nun vor ihr stand, in seiner linken Hand eine Gerte. „Karla, meine liebe Karla, wie konntest du dich wagen, einfach zu flüchten? Wie konntest du nur so dumm sein und meinen, damit auch noch Erfolg zu haben?“

Tränen rannen ihre Wange hinunter. „Es tut mir leid, es tut mir so leid. Bitte, Henry, verzeihe mir.“ Schützend hielt Karla ihre Arme vor ihr Gesicht, als schon der erste Schlag der Gerte ihre Schulter traf. „Du wirst es nie wieder wagen, einfach zu gehen, du wirst nie wieder sprechen, wenn ich es dir nicht erlaube. Du wirst nie wieder essen, wenn ich es dir nicht befehle. Du wirst tun, was ich will, wann ich will und wie ich es will. Hast du mich verstanden, Karla?“

Immer wieder schnellte die Gerte auf die zarte Frau hinunter. Ihr Körper krümmte sich zusammen, niemals hätte man ihr nun noch eine Körpergröße von einem Meter und siebzig gegeben. Ihr rotblondes Haar fiel über ihre Hände, die immer noch ihr Gesicht vor den Schlägen schützten. „Ja, habe ich, Henry, ich habe dich verstanden“, wisperte sie, als seine Schläge pausierten.

 

Achtzehn Jahre versteckte sie sich vor Henry alias Jack, hatte ein halbwegs normales Leben geführt. Als er jedoch vor zwei Tagen aufgetaucht war, da wusste sie, es gab keine Chance mehr. Sie musste sich ihm ergeben um Janoschs Willen, er durfte nicht sterben.

Niemals hätte sie es sich verziehen, wenn Jack auch nur einen Finger an Janosch gelegt hätte, und so war sie freiwillig mit ihm gegangen, genau wie vor zwanzig Jahren. Sie hatte damals diese Entscheidung getroffen und musste noch heute dafür geradestehen.

 

Duncan rückte näher zu Samantha, ein Vorwand, in ihre gefundenen Namen Verdächtiger reinzuschauen, kam ihm zugute. Fast schon versehentlich legte er seine Hand an ihr Bein, ließ seinen kleinen Finger sanfte kreisende Bewegungen durchführen.

Ein wohliger Schauer überfiel Samantha, ihre Wangen röteten sich prompt, als ihr Kopf sich zu ihm drehte und fragend die Augen in Richtung seiner Hand wanderten. Jetzt oder nie, schrie es förmlich in Duncans Kopf, als seine rechte Hand zärtlich auf ihrer Wange Platz nahm und sein Mund sich ihren näherte. Ganz sanft legten sich die Lippen aufeinander, trauten sich kaum den Gegenpart zu schmecken.

Viel Zeit sollte ihnen auch nicht bleiben, als Duncans Handy auch schon einen Ton von sich gab.

Zögernd lösten sie sich, sahen einander leicht verlegen in die Augen, während Duncans Hand wie automatisch das Handy ergriff und es zu seinem Ohr führte.

„Parker!“, meldete er sich atemlos.

„Buster. Wir haben ein Problem, ihr müsst sofort ins Revier kommen. Jack hat eine Frau entführt“, kam es rau und ernst von Lars.

„Wir sind in einer halben Stunde da“, erwiderte Duncan seinem Partner und legte auf. „Jack hat eine Frau entführt!“, informierte er Samantha.

Diese sah ihn ungläubig an, packte aber alle bisher wichtigen und noch nicht gesichteten Akten zusammen. „Entführt? Das ist gar nicht seine Art.“ Mit drei Kartons voll Unterlagen saßen sie zehn Minuten später im Auto und fuhren zum Revier. Immer wieder sahen sie sich an, mussten sich ein Lächeln verkneifen, doch ihre leicht geröteten Wangen verrieten beide.

 

Das änderte sich auch nicht, als sie im Büro von Steve ankamen, bepackt mit den Kartons, wovon Duncan gleich zwei trug. Verwundert blickten die vier Männer im Büro sie an.

„Was habt ihr denn da?“, fragte Daniel und wollte an einen Karton gehen.

Samantha wies ihn ab: „Später, also was ist hier los?“ Ihr Blick ging zu Janosch.

„Das ist Janosch Josten, seine Schwester wurde gestern von Jack entführt. Dieser hat ihn zu dir geschickt, du sollst alles, was du findest, vernichten oder Karla wird sterben“, informierte Daniel und konnte dann doch einen Blick in eine der Kisten erhaschen.

Duncan lächelte ungläubig. „Niemals. Entweder ist Ihre Schwester schon tot, Janosch, oder er hat nicht vor sie umzubringen. Das hieße allerdings, dass beide eine Beziehung zueinander haben. Kennt Ihre Schwester Jack?“

Janosch sah entsetzt zu dem blonden Mann vor ihm, dessen Lächeln fast arrogant aussah. Sein Körper war auf Hochspannung, seine Hände ballten sich zu Fäusten und er konnte sich es nicht erklären. Nie war er aggressiv und doch löste der Anblick dieses Mannes dieses Gefühl bei ihm aus.

„Ich kann es Ihnen nicht sagen, es schien mir so, ja; aber sicher bin ich mir nicht. Sie hatte mir erzählt, sie habe ein Date mit einem gewissen Henry, das es spät werden könne und ich nicht auf sie warten solle. Wäre ja auch alles in Ordnung gewesen, wenn dieser Typ nicht gesagt hätte, ich solle zu Samantha Johnson gehen.“ Nun wanderte Janoschs Blick zu der Benannten. Taxierte ihren Körper, der nur von einer eng anliegenden Hose und einer figurbetonten Bluse bedeckt war. Leicht verstaubt sah sie aus, ihr Haar war nicht mehr ganz kastanienbraun, hatte einen leichten grauen Schimmer. Nur ihre grünen Augen strahlten so intensiv wie eine Sommerwiese. Janosch war sich bewusst, dass Samantha ein paar Jahre älter war, und doch konnte er sich einen anzüglichen Blick nicht verkneifen.

Bis sein Augenmerk zu ihren Augen ging, diese waren eindeutig auf Duncan gerichtet und ihre Lippen verzogen sich zu einem schüchternen Lächeln, das mehr verriet als wohl jedes Wort.

Denn auch Duncan erwiderte diese Mimik, sein Blick war nicht mehr von Arroganz und Überzeugung gefüllt, sondern weich und liebevoll. Janosch ballte die Fäuste, die Knöchel seiner Finger waren weiß und zum Zersprengen gespannt.

 

Schnell wandte er seinen Blick ab, verdrängte jeden Gedanken. Er wollte seine Schwester wieder und das so schnell wie möglich. Seine Augen wanderten weiter, er sah die drei Kisten auf dem Schreibtisch von Steve Trog. Nur noch ein Gedanke beherrschte Janosch, er musste diese Kisten vernichten. Doch wie? Fünf Polizisten waren um ihn, und Duncans Aussage zufolge würden sie Jacks Forderung nicht nachkommen.

 

War es ein glücklicher Zufall? Oder hatte jemand nachgeholfen?

Vor Steve Trogs Büro wurde es plötzlich laut, wodurch alle hinausgingen, um nachzusehen, was los war. Scheinheilig ging Janosch ansatzweise mit, drehte dann aber um, schloss eilig die Tür, verriegelte diese und wandte sich den Kisten zu. Nervös wühlte er in den Schubladen des Schreibtisches, fand einen Flachmann und eine Packung Streichhölzer und hoffte, dass diese beiden Utensilien den gewünschten Erfolg erbrachten.

 

Kaum ein paar Sekunden später brannten die Kisten lichterloh und auch Duncan und Lars, die es geschafft hatten die Bürotür aufzubrechen, konnten dem nicht mehr entgegenwirken.

Entsetzt sah Samantha auf die Überreste der Akten ihres Vaters, dann ging ihr Blick zu Janosch. „Was haben Sie da getan?“ Sie packte ihn am Kragen und drückte ihn an die Wand. „Wissen Sie, was Sie da gerade gemacht haben?“

„Meiner Schwester das Leben gerettet“, konterte der junge Mann vor ihr.

Sie lachte ironisch auf. „Diese Unterlagen hätten uns sehr wahrscheinlich verraten können, wer Jack ist und wo er steckt. Wir hätten ihre Schwester befreien können. Wir hätten damit Leben gerettet!“, schrie sie ihn an.

 

Daniel blickte sich ungesehen um, die aufgebrochene Bürotür ließ jeden hineinblicken.

Genau drei Verdächtige standen dort, jetzt musste er handeln, denn wenn es auffliegen würde, dass Sarah lebte und dass er nicht mit Samantha gebrochen hatte, würde es eine Katastrophe geben.

„Ich denke nicht, dass du in der Lage bist, solche Vorwürfe zu äußern. Nur wegen dir sind diese Frauen gestorben“, herrschte er seine Partnerin an. „Er wollte doch nur seine Schwester retten, und hätte ich die Wahl gehabt, hätte ich nicht anders gehandelt.“

Duncan sah sich um, erblickte ebenso wie Daniel vorher, die drei Männer an der Tür und ahnte, was es mit der Szene auf sich hatte. Innerlich lächelte er, es war perfekt, wieso nicht? Würden sie Jack mit den Akten eine Freude gemacht haben, käme nun der Tiefschlag. Seine Hand landete auf der von Samantha, zärtlich löste er sie von Janoschs Schultern. „Bleib ruhig, Sam, ich denke, wir sollten jetzt gehen.“

 

Tränen brannten in ihren Augen. Auch wenn sie wusste, dass Daniel es nicht so meinte, taten diese Worte weh. So ließ sie es nur zu, dass Duncan sie in seine Arme zog und ihr Gesicht an seiner Brust versteckt wurde. Tief atmete Samantha seinen Geruch ein, der nicht mehr allzu frisch war, Staub und Schweiß hatten sich mit seinem eigenen vermischt; und doch beruhigte es sie ungemein.

 

 

Er war schockiert, die Freude über die Vernichtung der Akten war schneller vergessen wie eingetroffen. Fassungslos sah er Duncans rechte Hand, die Samanthas umfangen hielt, und die Linke, die sich auf ihre Hüfte gelegt hatte. Dann auch noch ihr Gesicht, das sich an dessen Brust schmiegte. Ein Würgegefühl machte sich in ihm breit, dieser Anblick war das Widerlichste, was er je gesehen hatte.

Wut stieg ebenso in Jack hoch, was sollte das hier werden? Hatte er sich nicht klar genug ausgedrückt? Doch wenn sie es nicht anders wollten, es würde ein neues Opfer geben, bestialischer denn je zugerichtet. Kribbelnde Vorfreude machte sich in ihm breit, doch sie vermochte nicht, den widerlichen Anblick, der sich ihm bot, wettzumachen. Zudem kam ein anderes Problem: Frederik war aufgetaucht.

So war es nicht geplant und nun stand er neben diesem Praktikanten, den er eigentlich im Namen von Leonard abgesagt hatte. Was war nur los? Sonst funktionierten seine Pläne doch. Irgendetwas ging gerade schief und er musste sich zusammenreißen, um sein inneres Brodeln nicht nach außen dringen zu lassen. Tief durchatmen und unbeteiligt tun, schließlich musste er sich noch erklären, wieso er ausgerechnet heute aus seinem Labor gekommen war. Unscheinbar war er, Greg Miller.

 

Wie der Echte, der irgendwo in Kanada im Labor saß und es sich gut gehen ließ. Jack hatte ihm eine gute Stelle besorgt und dann selbst diese hier angenommen. Es war keinem aufgefallen, obwohl Greg drei Jahre dort gearbeitet hatte. Nur die Sekretärin von Steve beäugte ihn kritisch, hatte jedoch bisher nie etwas gesagt.

Wieso Jack Greg nicht einfach umgebracht hatte? Seine Genialität ließ es nicht zu, dass er ein Meisterwerk versteckte, so war das die einfachste Lösung. Seit zwei Jahren funktionierte es auch einwandfrei. Was wollte Frederik also hier? Eine Absage war nun mal eine Absage, da tauchte man nicht einfach auf, so was war unhöflich.

 

Dass nun auch noch Leonard auf der Bildfläche erschien, brachte das Fass bald zum Überlaufen. Ruhig bleiben war die Devise, vor allem, da sich Jack alias Frederik krankgemeldet hatte.

„Was ist denn hier los, Frederik?“, ging die Frage vom Gerichtsmediziner direkt an Frederik.

„Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Hier war eben ein Tumult und dann hat es im Büro gebrannt. Diese Frau ist regelrecht ausgeflippt, hat den jungen Mann an die Wand geschlagen. Der Schwarzhaarige hat sie dann ebenso angefahren. Es geht wohl um Beweismittel in einem Fall“, beschrieb Frederik das Geschehen aus seiner Sicht.

Leonard lächelte ihn ungläubig an. „Alles in Ordnung mit Ihnen, Frederik? Ihre Migräne scheint Sie etwas zu verwirren, oder kennen Sie die Namen der Anwesenden nicht mehr?“

„Bitte? Sie sind?“ Der Blick des jungen Praktikanten war verwirrt.

„Ich bin Ihr Vorgesetzter. Frederik, geht es Ihnen nicht gut?“ Die Hand des Gerichtsmediziners landete auf der Stirn seines Praktikanten. Dieser schüttelte ihn ab.

„Ich bin nicht krank und Migräne hatte ich in meinem Leben noch nicht. Ich bin hier, weil ich gerne wissen wollte, wieso ich das Praktikum nach der Zusage doch nicht bekommen habe.“

 

Es war ruhig geworden in Steve Trogs Büro , alle sahen zur Tür und waren überrascht, was sie zu hören bekamen.

„Was wollen Sie mir hier sagen? Sie arbeiten seit fast zwei Wochen mit mir zusammen. Antony, bitte kommen Sie mal“, rief Leonard verwirrt nach Seths neuem Kollegen, der mit Frederik zusammen angefangen hatte.

Dieser hatte alles mitbekommen, stand nun vor Frederik. „Fred, ist alles in Ordnung mit dir? Wir haben hier vor zwei Wochen zusammen angefangen, seitdem gehen wir regelmäßig zusammen ein Bier trinken.“

Heftig schüttelte dieser den Kopf. „Bestimmt nicht, ich trinke kein Bier und kenne tue ich sie ebenso wenig. Vor drei Wochen habe ich die Absage erhalten, die besagt, dass mein Praktikumsplatz doch nicht zur Verfügung steht. Ich war hier in der Nähe und wollte mich erkundigen, ob es an mir liegt.“

 

Lars klappte regelrecht der Mund auf, um dann bestätigend zu Steve zu sehen. „Und du meintest, wir spinnen mit unseren Verdächtigen?! Mister Mendes, ich würde Sie bitten, mir zu folgen, dann werden wir Ihnen alles erklären.“ Dabei stieß er ihn sanft vor sich her in ein Büro, das man noch abschließen konnte.

„Greg, alles in Ordnung mit Ihnen?“, erkundigte sich Daniel, da der Laborant erstarrt da stand.

Eilig begann dieser zu nicken. „Ich bin leicht verwirrt. Eigentlich wollte ich nur Bescheid geben, dass die gefundenen Proben auf der letzten Leiche mal wieder keine verwendbaren DNA-Spuren aufweisen. Das Einzige, was ich auswerten konnte, ist die Erd-Probe, die man eingesammelt hat. Sie hatte Spuren von Getreide und tierischen Exkrementen. Nach sorgfältiger Analyse würde ich auf einen Bauernhof tippen.“

Nickend nahm es Steve zur Kenntnis. Mal wieder keine verwendbaren, brauchbaren Spuren, wie jedes Mal. Manchmal fragte er sich, wieso er einen Laboranten hatte, wenn dieser ihm keine handfesten Ergebnisse liefern konnte.

Kapitel 10

 

Schwer atmend fiel Jack im Labor auf einen Stuhl. Das konnte einfach nicht wahr sein, wieso hatte er nicht daran gedacht, dass dieser Frederik auftauchen konnte, und vor allem: Wann hatte Leonard ihm zugesagt? Er hatte einen Fehler begangen, und dabei war das unmöglich. Schließlich war er Jack der Grandiose, der Meister der Kunst des Tötens. Nie hatte er Fehler gemacht, niemals. Seine Wut im Bauch wurde immer größer, das Bild von Duncan und seiner Samantha ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Was hatte dieser Mistkerl nicht verstanden?

Zähneknirschend räumte er das Labor auf und machte Feierabend, heute Abend würden sie ihn kennenlernen und es niemals mehr vergessen.

 

Lars joggte im anliegenden Park des Apartment- Komplexes. Nervosität machte sich in ihm breit, die Dunkelheit hatte sich bereits über die Stadt gelegt. Wohin dieser Tag verschwunden war, konnte er sich nicht wirklich erklären. Der Gedanke an Duncan ließ eine Ablenkung zu. Im Büro hatte er noch gedacht, es sei eine Finte für Jack, was Samantha und Duncan taten, doch auf dem Heimweg war ihm mehr als bewusst geworden, dass das nicht der Fall war.

Die Blicke, die beide wechselten, die heimlichen Berührungen ... Lars grinste, es war gut so. Es war an der Zeit, dass sein bester Freund endlich eine Frau fand. Und Samantha? Nun, sie mochte keine normale Frau sein, ihr Verhalten war eher burschikos. Jedoch sah sie selbst für Lars mittlerweile sehr gut aus und sie war einfach sympathisch.

Allerdings hätten ihn selbst die Morddrohungen etwas abgeschreckt. Jack wollte Sam, und Lars wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Mann immer bekam, was er wollte.

Dann gingen seine Gedanken zu seiner Dienstnummer, die Sarah auf dem Rücken stehen hatte. Lars war überzeugt Jack gewachsen zu sein, er machte Krafttraining, konnte mehrere Kampfsportarten, und doch ahnte er, dass dieser Mistkerl Wege und Mittel kannte, selbst ihn zu quälen und zu töten.

 

Jack lächelte, biss sich aus Vorfreude auf die Unterlippe und knetete seine Hände. Jetzt würde seine Lektion beginnen, jetzt würde er Samantha zeigen, wie ernst ihm seine Botschaften waren.

Langsam hob er ein Blasrohr, zielte auf den joggenden Lars, und zielsicher pustete er den Pfeil an dessen Nacken.

 

Geschockt weiteten sich Lars’ Augen, er zog den Pfeil aus seinem Nacken und schüttelte panisch den Kopf. Er wollte nach seinem Handy greifen, doch es war zu spät, er merkte wie sich das Mittel in seinem Körper ausbreitete, wie er die Spannung in seinen Muskeln verlor und unkontrolliert auf dem Boden aufschlug.

Es dauerte nicht lange, als eine männliche Person sich über ihn beugte. Duncan? Bestimmt nicht, das konnte er sofort an den Augen ausmachen. Lars wollte sich bewegen, doch es ging nicht, seine Muskeln gehorchten ihm nicht, nur seine Augen ließen sich bewegen.

„Na, mein Freund? Bester, nicht wahr? Seit dem Kindergarten. Keine Angst, sterben wirst du heute nicht. Ich werde dir und deinen Freunden nur zeigen, wie ernst es mir ist.“

Ein eiskalter Schauer lief Lars über den Körper. Sarah und Janosch hatten nicht übertrieben, diese Augen zeigten den Tod und selbst Jacks „beruhigende“ Worte konnten dieses Gefühl nicht trügen. Machtlos musste Lars zulassen, dass er in die naheliegenden Büsche gezogen wurde.

 

Ein hämisches Grinsen lag auf Jacks Lippen, als er das T-Shirt seines Opfers zerschnitt und anfing eine Nachricht auf dessen Brust zu ritzen.

„Weißt du, Lars, es ist schon lustig, nicht wahr? Du wirst mein lebendes Briefpapier sein, sofern du durchhältst. Aber so ein gestandener Mann wie du wird das schon schaffen, nicht wahr?“

 

Es war grausam, in das Gesicht seines besten Freundes zu sehen, auch wenn er wusste, dass es nicht Duncan war. Dieser Anblick war das Grausamste, was er sich je hätte vorstellen können. Der brennende Schmerz machte sich in ihm breit und doch wollten seine Gliedmaßen sich nicht regen. Die Schnitte am Rücken waren von den Schmerzen nicht annähernd so schlimm wie die auf der Brust. Diese wurden durch den Dreck, der sich nun in den Wunden verteilte, immer schlimmer.

Lars’ Atmung war hektisch, Angst und Schmerz ließen ihn immer nervöser werden. Fast erleichtert nahm er war, als Jack ihn wieder umdrehte. Allerdings folgte das Schlimmste noch.

 

„So, mein Lieber“, lachte Jack und drückte den Mund auf, stopfte einen verschweißten Zettel hinein und fing an zu nähen. Durch Unter- und Oberlippe und dann einen Knoten, genau zehn Mal. „Ich würde dir empfehlen ruhig zu bleiben, nicht dass du uns noch erstickst. In ungefähr einer Stunde lässt das Mittel nach. Liebe Grüße an Samantha, wenn sie weiß, was gut für euch ist, wird sie nun gehorchen.“ Ein Schlag traf Lars’ Wange, dann verschwand Jack in der Dunkelheit.

 

 

Mit aller Willenskraft versuchte Lars nicht hektisch zu atmen, nicht seinen Speichel zu schlucken. Er wusste, das würde dazu führen, dass der Zettel in seine Luftröhre gelangen und er somit einen qualvollen Erstickungstod erleiden würde. Sein Herz pumpte für ihn hörbar das Blut durch seinen Körper, die Schmerzen auf seiner Brust und am Rücken schienen ins Unermessliche zu steigen, ganz leicht keimte in ihm die Hoffnung auf, dass er ohnmächtig werden würde.

Als Lars sein Handy in der Hosentasche klingeln hörte, verzweifelte er fast innerlich und musste sich doch wirklich ein paar Tränen unterdrücken, die sich davonstehlen wollten. Doch auch das war in seiner Lage nicht gerade perfekt.

Seine Nase fing an zu laufen, das Atmen wurde somit noch mehr erschwert, und nun setzte der Schluckinstinkt ein. Lars kniff die Augen zusammen, so würde es also enden?! Er würde ersticken an einer Nachricht von Jack? Bitte lieber Gott hilf mir!, flehte er innerlich und konzentrierte sich nur noch darauf nicht zu schlucken.

 

Irritiert sah Duncan auf sein Handy, drehte es dann in den Händen und sah zu Samantha, die in seinen Armen eingeschlafen war.

Kaum im Apartment angekommen, hatten sie es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und Sam war eingeschlafen. Ein Lächeln huschte Duncan über die Lippen, sie sah so friedlich und jung aus, wenn sie schlief. Doch sogleich ging sein Gedanke wieder zu Lars.

Er wusste, dass dieser nur joggen gehen wollte, von einer sonstigen Aktivität war nicht die Rede, somit konnte irgendetwas nicht stimmen. Nervös wippte er mit seinem Fuß, seufzte tief und wählte abermals die Nummer.

 

Langsam regte sich Samantha neben ihm. „Was ist los?“ Sie blinzelte aus verschlafenden Augen.

„Nichts, denke ich. Ich erreiche Lars nicht. Er ist vor gut einer Stunde joggen gegangen, normal müsste er wieder hier sein.“

Da saß Samantha kerzengerade. „Wo joggt er?“

„Im Park, bleib ruhig, wird schon alles in Ordnung sein“, versuchte es Duncan, der sich zwar Sorgen machte, doch wiederum nicht auf den Gedanken kam, dass es was mit Jack zu tun haben könnte.

Samantha war schon aufgesprungen, zog sich rasch ihre Schuhe an. „Wir gehen ihn suchen. Jack hat es angedroht und mein Gefühl vermittelt mir ein ungutes Gefühl. Nun komm.“ Es gab bei ihrem Ton keine Widersprüche und kaum zehn Minuten später fanden sie sich im Park wieder.

 

Immer wieder ließ Duncan bei Lars durchklingeln und beide riefen dessen Namen, doch weder hörten sie das Handy noch eine Erwiderung auf ihr Rufen.

Seufzend ließ Duncan sein Telefon sinken. „Vielleicht ist er noch was trinken, und hört sein Handy nicht.“

„Ja sicher, in seinen verschwitzten Sportsachen? Dafür ist er ja wohl zu eitel, oder?“ Samantha sah ihn schief an.

Er nickte zustimmend, folgte ihr weiter den Weg entlang und ließ ein weiteres Mal sein Handy die Arbeit tun. Dann vernahm er es schon, leise und doch erkannte er sofort den Ton. Niemand anders als Lars hatte wohl ein Bauernhofklingeln. Eilig rannte er in die Richtung des Tones, immer hinter ihm Samantha.

„In den Hecken.“ Sie deutete nach links und sofort kämpften sich beide durch das Gestrüpp. Fassungslos sahen sie auf den Körper, der vor ihnen lag. Blut und dreckverschmiert mit einer minimalen Atmungsaktivität.

„Verdammt, verdammt, verdammt. Lars, bitte nicht!“ Verzweifelt schmiss sich Duncan neben seinem besten Freund auf die Knie.

Samantha alarmierte die Kollegen und den Krankenwagen, dann ging sie auf der anderen Seite auf die Knie. „Lars, komm, mach die Augen auf, alles wird gut, okay?“

„Bitte, komm, mein Freund, ich bitte dich.“ Duncan zitterte, unkontrolliert flogen seine Finger über Lars. „Sam, wann kommt der Krankenwagen?“

„Es dauert nicht mehr lange, er wird es packen, glaub mir.“ Erst jetzt sah Samantha auf Lars’ Lippen, sie schluckte hart. „Duncan, wie ich Jack kenne ...“, sie zeigte auf den Mund, „ist da ein Zettel in der Mundhöhle.“

Duncan nickte verstehend, zog ein Taschenmesser raus, wollte schon an den Lippen seines Freundes ansetzen, als Samantha ihm das Messer abnahm. „Lass mich, du zitterst zu viel.“ Langsam führte sie das Messer an den ersten kleinen Knoten. Der erste Knoten öffnete sich so schnell, dass Sam es nicht verhindern konnte, Lars in die Lippen zu schneiden.

„Mist“, fluchte sie leise und begab sich an den zweiten Knoten. „Duncan, geh an die Straße und weise unsere Leute ein.“ Abwesend nickte dieser, stand jedoch nur ungern auf und konnte sich die Schulterblicke zurück nicht verkneifen. Vorsichtig griff Samantha mit zwei Fingern in Lars’ Mund. Der Zettel war weit nach hinten gerutscht und die Mundhöhle mit Speichel gefüllt, was seine sporadische Atmung erklärte. Kaum hatte sie den Zettel entfernt, schnellte Lars’ Oberkörper hoch, er schluckte hart und ein tiefer Atemzug füllte seine Lungen, bevor er wieder zurückfiel. In weiser Voraussicht hatte sich Samantha hinter ihn gesetzt, sodass sein Kopf auf ihren Beinen zum Liegen kam.

Lars’ Augen waren weit aufgerissen, seine Atmung hektisch und er schien noch nicht wirklich zu realisieren, was passiert war. „Ganz ruhig, Lars. Ist alles in Ordnung?“

Seine Stimme war angekratzt, gerade so konnte sie seinen Worten lauschen. „Jack, Betäubungsmittel ... keine Chance. Es tut weh.“

 „Es tut mir so leid, bitte glaub mir.“ Tränen rannen Samantha über die Wangen. Nach Sarah wäre nun auch Lars fast gestorben. Sie brachte den Tod, ob sie wollte oder nicht.

„Ist gut. Ich bring ihn um, er bekommt dich nicht.“

 

Lars’ Augen waren zu kleinen Schlitzen geworden, der blanke Hass und das Versprechen lagen in ihnen. Er hatte mitbekommen, wie Duncan und Samantha riefen, wie sie ihn fanden, und doch hatte er es unterlassen die Augen zu öffnen oder schneller zu atmen.

Der Zettel war so weit zurück gerutscht, dass er Mühe hatte überhaupt noch zu atmen. Die Hoffnung, dass die Rettung wirklich kam, wollte er sich nicht machen, hatte Angst, dass bei der kleinsten Bewegung der Zettel in seine Luftröhre gelangen würde und er dann vor ihren Augen erstickte. Duncan stürmte wieder in die Hecken, das Erste, was er sah, war Samanthas Tränen. „Was ist ...?“ Panik kam in ihm hoch.

„Alles okay“, krächzte Lars.

Erleichtert kniete sich Duncan zu seinem besten Freund. „Erschreck mich nie wieder so, verstanden? Der Notarzt kommt, Leonard ist auch dabei, er will sich selbst ein Bild machen, meint er.“

„Ich bin nicht tot“, grollte Lars, finster dreinblickend. Dann ging alles ziemlich schnell, Samantha und Duncan wurden beiseite gestoßen und der Notarzt kümmerte sich um Lars. Dieser wollte seine Wunden allerdings noch nicht behandeln lassen. „Säubern und Fotos machen“, verlangte er, weniger krächzend als vorher; langsam erholte er sich.

Verwundert sah der Arzt zu Leonard, dem ein Lachen entwischt war. „Es ist eine Nachricht. Vollziehen Sie bitte die Reinigung, danach können Sie mit ihm machen, was Sie wollen.“

„Blödmann“, grummelte Lars, doch dann tat man, wie er sagte. Kaum eine halbe Stunde später war er auf dem Weg ins Krankenhaus. Leonard stand bei Samantha und Duncan, die sich in den Armen lagen und einander Trost spendeten.

 

„Wenn nicht Feierabend wäre, müsste ich euch rügen“, schmunzelte er und übergab dann die Kamera an Duncan, der sich nur ungern von Samantha löste.

„Haben wir aber. Dann schauen wir mal, was Jack zu sagen hat.“ Er drückte auf die Knöpfe der Kamera und besah sich die einzelnen Fotos. „Vorne: Du bist schuld. Hinten: Letzte Chance, geh! Er will es mir gar nicht mehr schwer machen. Was steht auf dem Zettel?“

Den entfaltete Samantha gerade, als sie bei Duncans Worten stockte. Dass sie schuld an allem war, war ihr mittlerweile mehr als bewusst, das hätte Jack nicht noch schreiben müssen. Dann dachte sie an Lars, an dessen Augen, die ihr sagten, dass er ihr nicht böse war, und an das Versprechen in ihnen. Niemals sollte Jack sie bekommen? Langsam schwand die Hoffnung in ihr, wenn Lars sich nicht wehren konnte, wie dann sie?

 

Leonard nahm den Zettel an sich, entfaltete ihn ganz. „Mein Engel, sieh, was du tust. Dein Verhalten trägt die Verantwortung. Du gehörst mir. Rette ihr Leben.“ Sein Blick ging zu Duncan. Beiden war sofort klar, was gemeint war.

Immer fester wurde die Umarmung um Samantha. „Wäre es nicht Lars, hätte es ein anderes Opfer gegeben. Komm, wir fahren ins Krankenhaus und schauen, was Lars noch zu sagen hat.“

Sie nickte abwesend und ließ sich von Duncan nach Hause bringen, um das Auto zu holen. Leonard dagegen fuhr wieder in die Privatklinik, wo Sarah lag und nun auch Lars. Ein kleiner Schachzug, damit auch Daniel in die Klinik kommen und seine Frau sehen konnte.

Sarah ging es den Umständen entsprechend gut. Ihre Wunden heilten, zumindest die körperlichen, doch die seelischen standen auf einem anderen Blatt. Sooft Leonard konnte, war er bei ihr, half ihr bei Erinnerungen, schrieb alles auf und versorgte ihre körperlichen Wunden mit Salben und die seelischen mit Eis und Schokolade.

Nicht das beste Heilmittel, aber es half über so manche Heulkrämpfe.

Sie vermisste ihre Kinder und ihren Mann. Auch wenn sie regelmäßig telefonierten, half das nichts. Dank Freisprechanlage konnte Leonard Daniel während der Fahrt anrufen. „Baker!“, meldete sich dieser auch prompt.

„Hallo hier ist Leonard. Lars ...“

„Ich habe es schon gehört. Sag mir, dass er lebt.“ Daniels Stimme zitterte.

„Ja, ihm geht es ganz gut, außer dass er am liebsten sofort los will, um Jack umzubringen. Pass auf, er liegt in der Franklin Klinik, vielleicht kommst du hin?“ Ein Grinsen ging über Leonards Gesicht.

Daniel war erst sprachlos. „Klar, wow. Danke, Leonard.“

„Kein Problem, aber vergiss nicht: Du besuchst Lars. In Ordnung?“

„Ja verstanden, bis gleich.“

 

Daniel stand da, seine Hände zitterten, er würde gleich seine Frau wieder sehen. Aber Leonards Worte waren in seinem Kopf, offiziell ging er zu Lars. Also keine Blumen, keine Pralinen.

Wie nervös er war, fast wie beim ersten Date mit Sarah. Damals stand sie in einem goldenen, langen Kleid vor ihm, ihr Mund zu einem bezaubernden Lächeln verzogen. Es war das erste Mal gewesen, dass Daniel sprachlos dastand.

Die Fahrt zum Krankenhaus war nicht quälend lang, eher kurz, sodass er sich nicht einmal überlegen konnte, was er seiner Frau sagen wollte. Er war so unendlich glücklich, dass sie lebte, natürlich, aber das waren nicht die richtigen Worte. Langsam ging er den Krankenhausflur entlang, extra langsam, und doch stand er schneller als er wollte vor dem Zimmer, in dem Sarah lag.

Tief durchatmen und Klinke drücken, sagte er sich geistig und tat, wie von sich selbst befohlen. Dann ging alles ziemlich schnell. Kaum hatte er Sarah gesehen, ging er eilig auf ihr Bett zu, schloss sie in eine feste Umarmung und küsste jeden Fleck ihres Gesichtes.

„Daniel, es tut noch etwas weh“, flüsterte Sarah und drückte sich aus der Umarmung.

„Heirate mich“, erwiderte Daniel.

Irritiert sah Sarah ihn an. „Wir sind verheiratet.“

„Aber nicht so, wie du es immer wolltest: am Strand in der Karibik. Mit Voodoo-Priestern oder wie die heißen. Bitte, Sarah: Heirate mich.“ Aus seinen Augen stahlen sich Tränen.

Zärtlich streifte ihre Hand über seine Wange und fing seine Tränen auf. „Ich würde dich immer wieder heiraten. Du bist der wundervollste Mann der Welt.“

So versanken sie, trotz leichter Schmerzen, in einer festen Umarmung und einem unendlichen Kuss.

 

Lars lag im Behandlungszimmer, seine Wunden waren versorgt, das Einzige, was noch schmerzte, waren seine Lippen, die wohl ihre Zeit brauchten, um zu verheilen.

Müde sah er den Arzt an, der gerade in seine Patientenakte sah. „Eigentlich könnte ich doch nachhause, oder?“

„Nein, Ihre Blutwerte müssen erst analysiert und die Wundheilung an Ihrem Bauch und Rücken sollte beobachtet werden. Sie lagen im Dreck, dass es da zu Entzündungen kommen kann, sollte Ihnen bewusst sein. Sie hatten Glück, dass man Sie so schnell gefunden hat. Nach den Spuren in Ihrem Hals war es haarscharf, nicht wahr?“ Doktor Vogt sah ihn eindringlich an.

Lars nickte. „Wenn ich ehrlich bin, hatte ich schon aufgegeben. Ich habe versucht, mich mit Dingen abzulenken, nur um nicht zu schlucken.“

„Das haben Sie gut gemacht. Ich weiß von Leonard, wie die anderen Opfer gelitten haben. Es ist schön, dass es bei Ihnen nicht so war.“

Beide lächelten sich an. Endlich fand sich Lars alleine im Zimmer wieder und schloss erschöpft die Augen. Im Geiste erlebte er alles noch einmal. Seine Gedanken, als er hilflos dalag und den Zettel hinabrutschen spürte. Doch dann saß er plötzlich gerade in seinem Bett mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Duncan, Samantha und Leonard waren unbemerkt ins Zimmer getreten und standen augenblicklich an seinem Bett: „Was hast du?“, fragten sie wie aus einem Mund.

„Ich weiß, wer Jack ist!“ Langsam drehte Lars seinen Kopf zu ihnen.

Kapitel 11

 

„Karla!“, rief Jack durch seine kleine Wohnung am Rande von Los Angeles. Schnell eilte die Gerufene zu ihm. „Ich bin hier.“ Sie nahm ihm Jacke, Schuhe, Hose und das T-Shirt ab und brachte alles auf dem schnellsten Wege in die Waschküche.

In ihrem Kopf schrie es, jede Alarmglocke schellte, sie wusste genau, was Jack gemacht hatte. Sie wusste damals, was sein Vater tat und er fortführte.

Immer wieder fragte sie sich, wieso sie die Gunst der Flucht nicht genutzt hatte und zur Polizei gegangen war. Doch auch da gab es eine Antwort, ihr war bewusst, dass Jack Beziehungen hatte. Dass er selbst in diesen Reihen verkehrte, das ahnte sie bis heute nicht.

Sie zog den Reißverschluss der Jacke zu, schloss die Knöpfe der Hose, legte die Schuhe in einen Sack und steckte dann alles in die Waschmaschine.

Eiskalt lief es ihr den Rücken hinab, in ihren Gedanken malte sie sich die schlimmsten Bilder aus. Wen hatte Jack umgebracht?

Karla wusste, wer sein eigentliches Ziel war, und diese Frau tat ihr unheimlich leid. Während sie selbst nur als Frau an seiner Seite dienen sollte, würde diese sterben. Auf eine bestialische Art und Weise, die Karla fast würgen ließ. Jack hatte alles bis ins kleinste Detail geplant und ihr gezeigt. Sie musste ihre Meinung äußern. Doch was sagte man dazu?

Toller Plan! Mensch, bist du bestialisch! Du bist krank!

Sie hatte nur geschluckt und den Raum verlassen. Die Skizzen waren einfach zu real.

 

Alles, was sie damals an Jack mochte, als sie ihm  begegnet war, verabscheute sie nun. Er war intelligent, wissbegierig, humorvoll, ernst, zärtlich, rau. Es war die perfekte Mischung gewesen. Besonders seine Augen fand Karla anziehend. Was alle abschreckte, war für sie ein magnetischer Pol und sie sein Gegenstück. Damals schien es eine Ehre, ihm nahe zu kommen, bei ihm bleiben zu dürfen. Doch dann hatte sich alles geändert.

Jack nahm sie mit auf diesen Bauernhof seiner Eltern. Sie hatte die leeren Augen seiner Mutter gesehen, die sie anschrien, zu flüchten. Sein Vater, der dieselben Augen wie Jack hatte, doch sie hatten keine lieblichen Gefühle in sich, sie beherbergten den Tod.

Karla hatte ihr ungutes Gefühl verdrängt, schob es auf zu große Fantasie. Bis genau drei Tage später Jacks Vater durch die Haustür trat, blutverschmiert und strahlend. Sofort war dessen Frau herbeigeeilt, hatte ihm Jacke, Schuhe, Hose und T-Shirt abgenommen und war in der Waschkammer verschwunden.

Geschockt hatte Karla dagestanden, den Mund leicht geöffnet. Henry Senior würdigte sie keines Blickes.

„Wenn ich runter komme, steht das Essen auf dem Tisch!“, ließ er verlauten. Dann war er die Treppen hoch in die erste Etage verschwunden.

Ihr Körper bebte, als ihr Arm gepackt und sie mit in die Küche geschleift wurde.

„Ignoriere es, mein Kind. Es wird dir nichts anderes übrig bleiben. Bist du einmal in ihren Klauen, kommst du nie wieder raus“, waren die Worte von Megan, der Mutter von Jack.

„Wie meinen Sie das? Was ist passiert?“

„Stell keine Fragen, mach immer nur das, was man dir sagt. Sonst wirst du nicht überleben. Du lernst damit zu leben, glaub mir, dein Leben ist das Wertvollste, was du hast. Merke dir nur eins: Werde nie schwanger, nur so kann es irgendwann ein Ende geben.“ Mehr hatte Megan nie wieder mit ihr gesprochen.

Innerhalb der nächsten zwei Jahre lernte Karla bedingungslos zu gehorchen. Nie etwas zu hinterfragen und keinen der Männer allzu lange in die Augen zu sehen.

Nur einmal hatte sie die letzte Regel gebrochen und es bedeutete fast ihren tot. Henry Senior hatte sie an der Kehle gepackt und ein Skalpell an ihrem Brustbein angesetzt, das er durch ihre Kleidung bis zum Bauchnabel durchzog.

Der Schmerz war atemraubend. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie schon bald das Bewusstsein verlor. Diese Narbe zierte noch heute ihren Rumpf, und genau diese Verletzung hatte ihren Entschluss vertieft, dass sie flüchten musste. Es herrschte strahlender Sonnenschein, wie immer ging sie die Wäsche aufhängen, während Henry Senior die Tiere fütterte, der Junior sich in der Werkstatt um den Traktor kümmerte und Megan im Garten Gemüse erntete. So schnell war sie nie wieder in ihrem Leben gelaufen. Wie lange? Sie wusste es nicht. Wie weit?

Es war egal. Ihre Füße bluteten in den dünnen Stoffschuhen, ihre Knie waren vom mehrmaligen Fallen aufgeschlagen. Doch alles war egal, Hauptsache sie konnte Henry entfliehen, konnte alles vergessen.

 

Karla lief nach Hause, hatte nie erzählt, wo sie zwei Jahre war. Ihre Mutter hatte oft gefragt, doch es kam kein Ton über ihre Lippen. Reden war Silber, Schweigen eben Gold, und daran hielt Karla sich. Gold fand sie schon immer schöner. Achtzehn Jahre schaffte sie es unentdeckt zu leben, hatte sich seit dem Tod ihrer Eltern allein um Janosch gekümmert.

Dann kam Henry in diese Bar, wo sie sich fast jeden Freitag aufhielt. Sie wusste, es war vorbei, sie würde ihm nicht mehr entkommen.

Hätte sie schreien sollen? Wahrscheinlich, doch blieb Karla ruhig sitzen und wartete ab.

„Du wirst mit mir gehen“, raunte Jack in ihr Ohr.

„Lass mir einen Tag, ich muss mich von meinem Bruder verabschieden, bitte Henry, einen Tag“, flehte sie leise.

„Punkt acht Uhr morgen Abend werde ich vor deiner Tür stehen, solltest du nicht da sein ... schnappe ich mir Janosch. Und glaub mir: So, wie er leiden wird, hat vor ihm noch niemand gelitten.“ Er fuhr die Spur ihrer Narbe nach. Karla nickte nur und erhob sich von dem Hocker.

Sie dachte, es sei einfach, doch konnte sie Janosch nicht sagen, dass sie für immer gehen würde. Er war gerade achtzehn Jahre alt, wie hätte sie es ihm erklären sollen, dass nach ihren Eltern, sie jetzt gehen musste? Doch auch da machte Jack ihr einen Strich durch die Rechnung, als er Janosch sagte, er solle zu einer Samantha Johnson gehen.

Karla kannte den Namen, das war seine Auserwählte, das Geschenk seines Vaters an ihn. Man musste es nicht verstehen und als sie rausbekommen hatte, was dieses Geschenk bedeutete, wäre sie glücklich gewesen, es nie erfahren zu haben. Samantha sollte Henrys Meisterstück werden, die Vollendung des Todes. Qualvoll und doch so drapiert, dass es als Kunstwerk gesehen werden musste.

Es war krank, mehr als das ... Ihr fiel dafür keine Bezeichnung ein, nur der Würgereiz blieb.

 

Wie ferngesteuert ging Karla in die Küche und stellte das schon vorbereitete Essen auf den Tisch. Artig stellte sie sich neben ihren Stuhl und wartete auf Henry. Dieser kam fünf Minuten später frisch geduscht und guter Laune nach unten.

„Das sieht köstlich aus“, kommentierte er den Tisch, der schon als liebevoll gedeckt gelten konnte. Er nahm Platz und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Karla. „Gib mir von allem etwas und dann darfst du dich setzen und selbst auch essen.“

Wie befohlen, so geschah es. Seine gute Laune beruhigte Karla, es würde heute ein ruhiger Abend werden, mit sanfter Musik und einem guten Buch, das Jack vorlas, so wie er es immer machte.

 

Jack sah Karla an, die erleichtert wirkte. Er wusste, dass es an seiner guten Laune lag, dass sie sich auf einen ruhigen Abend freute, den würde er ihr heute schenken. Alles war so gelaufen, wie es sollte, schien wieder perfekt. Sein Ego war befriedigt. Das Samantha und Duncan kamen und sich dann auch noch in den Armen lagen, war eine Schmach, aber das würde sich ändern.

Samantha würde wissen, dass er ernst machen würde, und dann wäre Lars’ Todesurteil endgültig unterschrieben.

Nie hatte er vermutet, dass dieser überlebte, es war wirklich eine Leistung gewesen, die seinen Respekt verdiente. Genüsslich nahm er einen Schluck eines Rieslings aus Deutschland. Die Akten waren vernichtet und Samantha einem Zusammenbruch nahe. Jack hatte wieder die Oberhand. Ja, es war ein perfektes Ende für einen Tag. Doch schon morgen würde es weitergehen, ihm kribbelte es danach, bei jemanden das Leben aus den Augen weichen zu sehen. Und das perfekte Opfer hatte er schon, die Sekretärin von Steve hatte er sich ausgesucht. Es juckte ihm schon lange in den Fingern, und Greg würde ihr Mörder sein, so hatten ihre Blicke wenigstens recht, Misstrauen mit sich zu führen.

 

Mit gerunzelter Stirn sah Duncan seinen besten Freund und Partner an, zweifelte an seinem Gehör.

„Du weißt was?“

„Du kannst mich ansehen, wie du willst; ich weiß, wer Jack ist. Henry Visipo, sagt euch der Name etwas?“ Man sah förmlich die Köpfe heißlaufen, jeder überlegte, wo er den Namen schon einmal gehört hatte. Leonard war am schnellsten. „Das war ein Verdächtiger im Fall von Victoria. Aber Lars - er wurde schnell vom Verdacht freigesprochen.“

„Ja, und doch ist er es. Wisst ihr, wenn man da so liegt und nicht schlucken darf, versucht man sich abzulenken. Das habe ich getan, indem ich mir Gedanken machte. Janosch hat von einem Henry gesprochen. Der Einzige, der jemals mit diesem Namen in den Verdächtigen-Listen aufgetaucht ist, ist Henry Visipo. Fragt nicht, warum; aber ich war mir in meinem Leben noch nie so sicher.“

Samantha biss sich auf ihre Unterlippe, vor dem Kuss von Duncan hatte sie die Verdächtigen-Liste ihres Vaters in der Hand, der hatte Henry nie gestrichen. Ein Fluch bildete sich in ihr. Samuel hatte eine Adresse in Las Vegas notiert, die jedoch durch Janosch vernichtet worden war. Nun gut, dann auf die übliche Art, sie würde anders seine Adresse bekommen, wofür waren sie Polizisten.

„Papa hat ihn nie gestrichen. Dieser Mann muss in Las Vegas leben, in den Unterlagen stand eine Adresse“, informierte sie nun auch die anderen über ihre Gedanken.

Duncan griff zu seinem Handy und ließ sich die Adresse beschaffen, während Samantha neben Lars Platz nahm.

„Wie geht es dir?“

„Ganz gut, es tut alles noch etwas weh, aber sonst ist es schon okay. Und du?“ Lars strich ihr sanft über die Hand.

Schuldbewusst sah sie zum Boden. „Es tut mir alles so leid, ich hoffe du kannst mir irgendwann ...“

Er griff unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Nichts gibt es zu verzeihen. Hey, Sam, nur weil du und Duncan ...“, unwillkürlich musste Lars grinsen, „euch näher kommt, ist das hier nicht deine Schuld. Du hast genauso ein Recht dein Glück zu finden wie jeder andere, okay? Und was Jack angeht, den bekommen wir, und glaub mir, er wird mehr leiden als jeder andere.“ Zuversicht lag in seinen Augen.

 

Ein Lachen kam Leonard über die Lippen, das neue „Traumpaar“ war doch wirklich rot geworden. „Ich wünschte mir, deine Eltern könnten das hier sehen. Samuel und Victoria hätten sich in euch hinein versetzen können. Ihnen ging es damals nicht anders, jeder hat sie aufgezogen. Sie waren ein wunderschönes Paar, genau wie ihr beide.“

Die Ohren von Duncan fingen regelrecht an zu glühen, was war ihm das jetzt peinlich. Wie konnte Leonard von ihnen als Paar sprechen? Sie hatten sich einmal geküsst, Händchen gehalten, in den Armen gelegen, aber mehr nicht, und das war auch alles heute passiert. Sein Blick ging zu Samantha, sie schien es lockerer zu nehmen, war nicht ansatzweise so errötet wie er sich fühlte.

„Wir gehen mal zu Sarah, in Ordnung?“, fragte Samantha kurz Lars und Duncan, die nur zustimmend nickten. Dann verließen Leonard und sie das Zimmer.

Lars’ Blick ging zu seinem besten Freund, er konnte nicht aufhören zu schmunzeln. „Seit wann wirst du verlegen?“

„Seit heute?!“, versuchte Duncan gleichgültig zu klingen. „Alle reden davon, dass wir ein Paar sind, aber das sind wir nicht, nicht wirklich, also...“ Er verzog sein Gesicht und seufzte tief.

„Es ist lange her, dass du so reagiert hast. Schön zu sehen, dass du dein Herz wieder öffnen kannst, aber bitte vergiss Rosemary nicht.“ Lars’ Blick war eindringlich.

„Ich würde Rose nie vergessen, sie ist mein ein und alles“, kam es empört zur Antwort.

„So meinte ich das nicht, aber Sam sollte von ihr erfahren. Rose ist dein Leben und wenn du noch jemanden in dieses rein lässt, sollten beide es erfahren.“

Wieder einmal wurde Duncan verlegen, kniff die Augen zusammen. „Rose weiß von Sam, nur Sam nicht von ihr. Um deiner Frage zuvorzukommen: Rose ist ganz angetan. Paps hat ihr wohl schon von Samantha vorgeschwärmt und sie ist ganz heiß drauf, sie kennenzulernen. Ich weiß nur nicht, wie ich es Samantha sagen soll. Eigentlich wollte ich es machen, bevor wir uns näher kommen, damit sie eine Wahl hat.“

„Was kam dazwischen?“, grinste Lars.

„Zweisamkeit, sie dicht bei mir, ihr Blick ... Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.“ Duncan war verärgert über sich selbst, das war alles nicht seine Art. Lars’ Grinsen wurde dagegen immer breiter, auch wenn es ihn schmerzte.

„Mein lieber Freund, du bist Hals über Kopf verliebt.“

 

 „Wer ist Rose?“ Erschrocken fuhren die Köpfe zur Tür. Erleichtert sahen sie, dass es Daniel war. „Also. Wer ist Rose?“

Duncan lächelte. „Meine zehnjährige Tochter.“

„Wow ... Ähm, ja. Ich dachte, Sam und ich wüssten alles über euch. Nun ja, wir haben euch ebenso kontrolliert wie ihr uns, aber da stand nichts über eine Tochter.“ Daniel war sichtlich überrascht.

„Mit Absicht. Ich arbeite für die Mordkommission, habe wohl mehr Feinde als Freunde. Mit Absprache meines Chefs habe ich Rose nie in meine Akten eintragen lassen.“

Verstehend nickte Daniel. „Und deine Tochter lebt bei ihrer Mutter?“

„Nein, momentan bei meinen Eltern, solange ich hier bin. Roses Mutter war meine erste große Liebe. Wir waren zwanzig, ich dachte es könnte gut gehen. Als sie kam und sagte, sie sei schwanger und ob ich die Verantwortung übernehmen würde, sagte ich sofort ja. Doch ...“ Duncan stockte, die Erinnerung bekam ihm nicht gut. Es war nicht Schmerz, sondern Wut gegen Anne.

Lars erzählte statt seiner weiter: „Anne, so hieß seine Freundin, meinte es jedoch nicht wie Duncan. Er hatte es sich schön ausgemalt, wollte ihr einen Antrag machen nach der Geburt. Doch als er einen Tag später ins Krankenhaus kam, war Anne nicht mehr da. Sie hat ihm einen Brief hinterlassen, in dem sie meinte, er wollte ja das Kind und die Verantwortung. Ihr Leben wäre es nicht und sie wolle damit nichts zu tun haben. Sie ist einfach abgehauen.“

Geschockt weiteten sich Daniels Augen. „Das ist hart. Und du hast es allein durchgezogen?“

„Nicht ganz. Meine Eltern haben mir viel geholfen und Lars. Wir haben eine gemeinsame Wohnung, und er greift mir so gut es geht unter die Arme.“

Lars winkte ab. „Ich bin Rosemarys Patenonkel, da gehört sich das so. Ich schaue auch nur, dass der Papierkram gemacht wird, damit Duncan früher gehen und sich um Rose kümmern kann. Sie ist ein Engel“, setzte er hinzu, kramte nach seinem Portmonee und zog ein Foto raus, dass er Daniel reichte.

Der sah sich das Bild an. Rose war wunderschön. Blonde, kinnlange Haare, azurblaue Augen wie Duncan und einen roter Schmollmund.

„Sehr hübsch. Tja, und Sam weiß es nicht, richtig?“ Ein Nicken bestätigte seine Annahme. „Sie mag Kinder sehr gerne. Meine Lina ist ebenfalls zehn wie deine Tochter, und Devon ist schon zwölf. Sam hat sich immer gerne um sie gekümmert, sogar Babysitter gespielt, wenn Sarah und ich ausgegangen sind.“

„Aber?“, hakte Duncan nach und fühlte einen leichten Schmerz in der Brust. Er hätte sich verfluchen können, wieso musste er sich auch so schnell verlieben?

„Nun, sie hatte noch nie einen festen Freund, konnte ich mir bisher auch nie wirklich bei ihr vorstellen. Seit Jack ... Ich weiß von Samuel, dass Sam jeden auf Distanz hält, versucht eine Mauer zu bauen, damit sie nichts mehr verletzt. Selbst als Samuel starb. Sie hat das erste Mal bei dir geweint, Duncan. Es ist nicht ihre Art. Ich kann dir nicht sagen, wie sie reagiert, ich hätte ja auch nie gedacht, dass es wirklich was wird, mit euch beiden. Doch dieses Strahlen in ihren Augen sagt mir, dass es was werden kann. Ich freu mich wirklich. Sarah ist sie gerade am Löchern, will alles wissen, und es scheint mir, Sam erzählt es ihr gerne.“ Daniel lachte, sein Gegenüber wurde tomatenrot und kniff die Augen zusammen.

 

Wie gerne Samantha alles erzählte. Leonard hatte die Frauen allein gelassen und war mit dem Arzt sprechen. „Ihr habt euch geküsst in deinem Kinderzimmer?“

„Aber nur kurz, dann ging sein Handy. Es war so schön, dieses Kribbeln.“ Verlegen biss sie sich auf die Unterlippe.

Sarah grinste. „Wie doof, blöde Handys. Und dann?“

„Mehr war nicht, außer ein paar Blicken, Umarmungen, und ich bin an ihm eingeschlafen. Sarah, ich habe Angst.“

„Dass er dich verletzt?“, fragte diese und runzelte die Stirn.

Samantha schüttelte den Kopf. „Jack“, sagte sie nur.

Allein der Name reichte, damit Sarah zusammenzuckte. „Ich verstehe, aber es ist nicht deine Schuld. Süße, dieser Kerl ist irre, dafür kannst du nichts. Auch, dass er dich ausgewählt hat. Duncan weiß genau, auf was er sich einlässt, also genieße es.“ Sie lächelten einander an und bei Sam war die Freude momentan größer als die Angst. Doch das sollte sich schon bald ändern.


 

Kapitel 12

 

Lorena Finca trat gerade in die kühle Abendluft. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Seit dem gestrigen Abend liefen die Telefone heiß, hauptsächlich die Presse, die eine Stellungnahme zu Lars Busters Überfall wollte. Eine Bestätigung, dass es Jack war, doch sie wimmelte jeden ab. Steve glich einem Tiger im Käfig, wartete auf einen Anruf aus Las Vegas.

Er wollte Leonard, Duncan, Lars und Samantha für Ermittlungen rüber fliegen lassen, brauchte jedoch die Erlaubnis. Ein Katz-und-Maus-Spiel, denn kein Revier ließ sich gerne den Ruhm nehmen. Schlussendlich hatte man sich darauf geeinigt, dass Las Vegas den offiziellen Ruhm bekam, während die Ermittler aus Los Angeles die Arbeit machen durften. Dafür würde Las Vegas ohne Widerspruch Jack ausliefern, ebenso ihre Ermittlungsergebnisse.

Das alles musste noch auf Papier gebracht werden, und wessen Arbeit war das? Natürlich blieb alles an Lorena hängen. Sie machte den Job gerne, doch manchmal war es einfach zu viel, und mit Steve Trog hatte sie sich einen Chef geangelt, der nicht wirklich der Nervenstärkste war. So sah sie ihr Gehalt nicht als Arbeitsvergütung, sondern als Schmerzensgeld.

 

Leicht nervös bog sie um die Ecke zu den Parkplätzen. Im Normalfall begleitete sie jemand, doch es war gerade ein Einsatz, da wollte sie nicht noch einen Mann dazu abstellen, mit ihr zum Auto zu laufen. Was sollte ihr auch auf einem Polizeiparkplatz passieren?

Die Finger fest um ihr Pfefferspray gelegt, ging sie mutig über den Parkplatz. Wieso stand ihr Auto am Ende? Weil sie nicht gut ausparken konnte und hinten immer Platz war.

Erleichtert ließ sie sich in ihren Volvo gleiten und atmete tief durch. Lorena startete ihren Wagen und machte sich auf den fünf Kilometer weiten Weg nach Hause. Wie sehr wünschte sie sich, dass jemand auf sie wartete, Kinder, einen Mann; doch es war ihr bisher nicht vergönnt.

An einer roten Ampel sah sie in den Spiegel.

Lorena war kein Topmodel, die Figur war mittelmäßig, ihr Gesicht leicht rundlich und doch passte irgendwie alles. Die schwarzen Haare, die ihres Gesichtes perfekt kaschierten. Ihr Körper war immer gut verpackt.

Doch mit den Männern war das so eine Sache. Es gab nur einen, der ihr etwas näher gekommen war in den letzten Jahren. Greg Miller, wie sie fand ein wundervoller Mann, der mit seinen hellbraunen Augen einen in seinen Bann ziehen konnte. Braune Augen sind gefährlich, aber in der Liebe ehrlich, ging es ihr durch den Kopf. Greg Miller und Lorena waren sich einige Male in der Kantine begegnet, hatten zusammen gegessen.

Er war so humorvoll und liebenswert. Doch als sie endlich ihr erstes Date haben sollten, kam er einfach nicht, und am nächsten Tag, tat er so, als sei nie etwas gewesen. Er hatte sich so verändert, in ihren Augen. Schnell verdrängte Lorena die Gedanken, das alles war bereits drei Jahre her und noch immer dachte sie an ihn.

Ihr Blick ging nach rechts, ein Mann torkelte über die Straße und sie erkannte ihn sofort, es war Greg. Kurz überlegend, einfach weiter zu fahren, ließ sie die Fenster runter. „Greg, alles in Ordnung mit Ihnen?“

Er wandte sich zu ihr, schien erst einmal irritiert, doch dann wankte er auf sie zu. „Lorena, mein Engel, der mich nicht will“, lallte er.

 

Jack hätte ausflippen können, war das noch normal? Erst tauchte dieser Frederik auf und nun auch noch Greg? Wie viele dumme Zufälle sollte es denn noch geben? Normal war das ja nicht. Immer wieder schüttelte er den Kopf, doch dann kam ihm die Idee: Wieso nur ein Opfer? Gerade suchte er seine Utensilien aus der Jacke zusammen, als ihm schon wieder ein Stein in den Weg gelegt wurde.

Lorena hatte das Handy am Ohr. „Steve, höre mir bitte zu. Greg ist bei mir, betrunken, und doch hat er gerade erzählt, dass er seit vier Jahren in Kanada in einem privaten Labor arbeitet ... Du hast richtig verstanden ... Gut, wir warten.“ Sie legte ihr Handy weg, half Greg in den Wagen und setzte sich dann selbst hinein.

Jack konnte sehen, dass sie jede Tür kontrollierte, sie hatte abgeschlossen. Es war einfach nicht sein Tag. Wut stieg in ihm hoch, er brauchte ein Ventil und ein Opfer würde es schon richten. Zwar nicht sein erwähltes, doch irgendeine verfluchte Seele, würde seinen Weg schon kreuzen.

 

Steve war in Aufruhr, sein Puls hatte einen Rekordwert erreicht, während er durch sein Büro lief. Innerhalb von drei Tagen waren zwei seiner Leute nicht wirklich seine Leute. Er konnte es nicht fassen.

Endlich kamen die Polizisten ins Revier, die Lorena und Greg abgeholt hatten. „Alles in Ordnung mit Ihnen, Lorena?“ Steve stürmte regelrecht auf seine Sekretärin zu.

„Ja, ich bin nur etwas verwirrt. Nach Frederik nun auch noch Greg. Wem kann man hier noch vertrauen?“, erwiderte sie mit einem Zittern in der Stimme, die ihre Angst untermalte. Ihre Augen zuckten in jede Richtung, besahen sich jeden, der näher an sie heran trat.

Steve zog scharf die Luft ein und zuckte mit den Schultern. „Wenn ich das wüsste, würde ich es Ihnen sagen. Greg, alles in Ordnung?“

„Alles perfekt“, kam es abgehackt. „Außer dass dieser Engel mich nicht will und nicht glaubt, dass ich in Kanada arbeite. Wollte euch besuchen.“ Seine Worte zu verstehen war zwar nicht schwer, doch die langen Pausen dazwischen machten es schwer, ihm zu folgen.

„Natürlich, Greg, Lorena ist nur etwas durcheinander. Kommen Sie in mein Büro, ruhen Sie sich etwas aus. Gleich kommt noch Samantha Johnson und Leonard Lost, sie freuen sich auf Sie.“ Greg grinste breit. „Sam freut sich? Im Leben nicht, sie mag mich nicht.“ Damit hatte er wohl recht.

Wirklich gemocht hatten sich beide nie, waren sich immer wieder auf die Nerven gegangen. Sam ging es nicht schnell genug mit der Analyse und Greg dann nicht schnell genug, wenn er fertig war. Dann bemängelte er, dass er nicht genug Dank bekam. „Leonard? Den mag ich, bin gespannt.“

Kaum eine viertel Stunde später traten Leonard, Samantha, Duncan und Lars in das Büro von Steve. Der Letzte gegen den Rat der Ärzte, doch es war nicht das erste Mal, das Lars nicht auf das hörte, was ihm gesagt wurde.

 

Greg lag auf dem Sofa von Steve, langsam wurde er wieder nüchtern. Der Dank galt Lorena, die ihm immer wieder Kaffee reichte. „Greg?“ Leonard ging vor ihm auf die Knie und sah ihm tief in die Augen.

„Mein Name, gut erkannt, alter Mann. Nun erzähl mir mal, wieso alle denken, ich würde nicht in Kanada arbeiten“, forderte er.

Tief durchatmend legte sich Leonard die Worte zurecht. „Jack hat deinen Platz eingenommen. Wir wussten nicht, dass du den Job gewechselt hast. Wieso überhaupt und ohne Verabschiedung?“ Alles ergab langsam einen Sinn. Greg hatte immer ein gutes Verhältnis zu Leonard gehabt, hatten sie doch durch die Arbeit auch sehr viel miteinander zu tun.

Vor drei Jahren war Leonard zwar die Veränderung an dem Laborchef aufgefallen, doch sich nichts weiter dabei gedacht, manchmal veränderten sich Menschen eben.

Greg bekam rosige Wangen, sein Blick ging kurz zu Lorena. „Ihr dürft gerne denken, dass ich bescheuert bin, doch ... Ich hatte ein Date mit Lorena, sie hat mir abgesagt, per Brief. Nicht sehr freundlich, und als dann dieses Angebot kam, dachte ich: Nichts wie weg. Ich weiß auch nicht, was da in mich gefahren ist. Doch Roland hat mir auch gut zugesprochen, ich verdiene in Kanada sehr gut.“ Duncan sah zu Steve. „Lass Roland Sadetas herbringen, jetzt will ich es wissen.“

Der Angesprochene nickte nur. Zwar wollte Steve immer noch nicht wahrhaben, dass seine Leute ausgewechselt wurden und nun ein Massenmörder statt ihrer im Revier ein- und ausging. Und doch machte er, was Duncan forderte. Wissend, dass es keinen Sinn mehr hatte, ihm zu widersprechen.

 

Gregs Blick ging zu Duncan und Lars, er runzelte die Stirn. „Euch kenne ich nicht.“ Dann sah er zu Samantha. „Sag bloß, aus der Schmeißfliege ist eine Frau geworden, wow.“

„Was, Laborratte? Also eins weiß ich, das ist Greg.“ Sie lehnte sich an Duncan, der hinter ihr stand.

Wie automatisch legten sich seine Arme um sie und sein Blick ging schief zu Greg. „Schmeißfliege? Netter Name.“

„Sobald eine Leiche gefunden ist, ist sie da, manchmal schneller als eine Schmeißfliege. Nur lieb gemeint. Greg Miller, angenehm.“ Er streckte Duncan die Hand entgegen. Dieser drückte sie.

„Duncan Parker, und das ist mein Partner Lars Buster. Wir kommen aus New York zur Unterstützung.“

„Seit wann unterstützt man uns denn so?“, ging die Frage an Steve, als Greg auf Samantha wies, die Duncan verliebt ansah. „Frag lieber nicht, sie sind momentan nicht im Dienst. Während der Dienstzeit mische ich mich ein. Also, Roland kommt gleich. Meint ihr ernsthaft, er ist auch Jack?“ Steves Blick war fast flehend, er wollte nicht auch noch seinen Computerspezialisten verlieren.

Lars gingen andere Sachen durch den Kopf, die er nun aussprach: „Wenn Greg gar nicht hier war und Jack die Analysen gemacht hat, wer sagt uns, das diese korrekt waren?“

„Vorausgesetzt, er hat nichts vernichtet, kann ich gerne ein paar Analysen machen. Ich habe drei Wochen Urlaub, aber erst ab morgen, mein Kopf brummt langsam“, meinte Greg.

„Danke, auf dich ist Verlass.“ Steve atmete durch und sah auf die Uhr. „So, ihr vier solltet jetzt gehen, in vier Stunden geht euer Flug. Greg du kannst gerne ...“

Lorena unterbrach ihren Chef und sagte seit Längerem wieder etwas: „Mein Gästezimmer ist bezugsfertig.“ Dabei sah sie Greg an, der ihr Lächeln gerne erwiderte.

 

Leonard trat mit den anderen aus dem Revier, sog regelrecht die frische Luft ein. Um sechs Uhr in der Früh ging es nach Las Vegas, was für Überraschungen würden da noch auf sie warten? War Lars’ Vermutung richtig oder erwies sie sich als Sackgasse? Wer war Jack noch? Wie reagierte dieser darauf, dass zwei seiner Identitäten aufgeflogen waren?

Die Fragen flogen regelrecht durch seinen Kopf und wollten sich noch nicht beantworten lassen.

 

Jacks Augen funkelten vor Wut, er wusste, dass es keine gute Idee war, dann ein Opfer zu erwählen, und doch konnte er dem Drang nicht widerstehen. Und da kam sie auch schon. „Jung!“, murmelte Jack und grinste boshaft. Er zog eine Spritze mit seinem Spezialmittel aus der Jackentasche, entfernte die Schutzkappe und trat näher an die junge Frau ran, die an einer Ampel stand.

Es brauchte nur eine kleine und doch kraftvolle Handbewegung, damit die Spritze in ihre Hüfte stieß. Mit vor Schock geweiteten Augen drehte die Frau sich um. „Was ...“ Nicht mal ansatzweise konnte sie ihren Satz zu Ende bringen, sackte einfach in sich zusammen. Ein kurzer Blick in jede Richtung und Jack nahm die Frau auf die Arme. „So, meine Liebe, jetzt werden wir zwei Spaß haben.“ Dabei sah er zu der Kamera, die an der Ampel befestigt war.

 

Mit dem Auto fuhr Jack zum Strand, entlud seine Ladung und suchte sich eine relative ruhige, versteckte Lage. Er entkleidete die junge Frau bis auf die Unterhose, die nicht mehr als ein Stück Stoff war. „Hast du dich auf eine heiße Nacht gefreut? Wirst du haben.“ Sein Grinsen wurde breiter. Jack blickte neben sich, das Portmonee seines Opfers lag aufgeschlagen da, und nach nur einem Blick überkam ihn wieder die unbändige Wut.

Samantha Josephine Vogt stand auf ihrem Ausweis. Die ersten Schnitte setzte er im Gesicht an, achtete nicht mehr auf ihre Augen, die immer größer wurde und aus denen unaufhörlich Tränen rannen. Auf jeder Wange befanden sich mehr als fünf Schnitte, kreuz und quer angesetzt. Vom rechten Ohr ließ er das Skalpell bis zur Brust hinabgleiten. Umfuhr diese und dann die linke.

„Du bist es nicht wert, du Hure!“, raunte er und stach in ihre Arme. Das Blut spritzte, landete in seinem Gesicht und doch hörte er nicht auf. Immer wieder hob er seine Hand mit dem Skalpell und ließ es mit aller Kraft in das Fleisch der Frau sinken. Dass diese mittlerweile das Bewusstsein verloren hatte, bekam er nicht mehr mit. Immer mehr Stiche folgten, die Innenschenkel schienen zerfetzt, das Blut floss unaufhörlich in den Sand.

Schweißgebadet sah Jack auf, wollte seinem Opfer in die Augen sehen, doch diese waren geschlossen und der Brustkorb hatte es aufgegeben sich zu heben oder zu senken.

„Verdammt“, fluchte er und doch hörte er nicht auf. Wartete ab, bis das Blut nicht mehr aus den Wunden quoll, nahm Wasser aus dem Meer, das immer noch aufgewärmt schien, und wusch sein Opfer. Nun beschäftigte sich Jack mit seiner Nachricht. Selbst in seiner Wut hatte er darauf geachtet, nicht den Bauch zu verletzen.

Hure, schrieb er in großen sauberen Buchstaben, dann drehte er sie auf den Bauch. Für Duncan musste er ja auch noch etwas hinterlassen. Übersetzt bedeuteten seine Striche und Kreise: Rose

Jack lachte, er wusste von Duncans kleinem Geheimnis. Er wusste alles über ihn und Lars, über dessen Vorlieben im Sex, über Duncans Ex, und dann kam ihm eine neue Idee. Wieso sollte er Duncan nicht eine Freude machen?

Anne ... Wusste Duncan, dass sie nur zweihundert Meilen von hier wohnte? Wahrscheinlich nicht, doch Jack wusste es und er würde sie besuchen, noch heute.

Er erhob sich und sah sein Kunstwerk an, seufzend schüttelte er den Kopf. „Kein Kunstwerk“, stellte er fest. Es war ein Gemetzel. Arme, Beine, das Gesicht überall hingen Hautfetzen herab und zerstörten sein sonst so perfektes Bild. Nein, das konnte er nicht so lassen. Die Schmach würde er sich nicht geben, so konnte er kein Kunstwerk präsentieren.

So begab Jack sich zu seinem Auto, musste etwas im Kofferraum suchen, oft hatte er dieses Werkzeug noch nicht benutzt, nicht direkt an seinen Kunstwerken. Endlich kam eine Axt zum Vorschein, was ihn ein befriedigtes Lächeln entlockte.

Langsam schlenderte er zurück, besah sich kritisch sein Werk. Eindeutig: Arme und Beine mussten weg, anders wäre es eine Blamage geworden. Obwohl seine Schläge gezielt waren, schuldete es der Untergrund, dass die Gliedmaßen nicht schnell vom Rumpf entfernt wurden.

Jack legte die Beine und Arme zur Seite. „Besser.“ Mit vier Würfen entsorgte er die Gliedmaßen im Meer, dann beugte er sich über die Frau, drückte ihren Mund auf und steckte einen Zettel hinein. Gut, der war eigentlich für Lorena gedacht, was ihn ärgerte, aber der Sinn war gleich, also sollte es egal sein. Dann nähte er den Mund zu, kämmte die Haare zu einem Fächer und öffnete die Augen seines Werks.

„Viel besser. Ein wunderschönes Kunstwerk, mal was anderes.“ Er lächelte vergnügt.

 

Karla stand an der Haustür. Gleich als sie Jacks Auto vernommen hatte, war sie aus dem Bett gesprungen. Dieser trat nun ein, entledigte sich seiner Sachen und drückte sie ihr in den Arm.

„Ich habe Hunger und wir werden eine Reise machen, pack für zwei Tage Spezial“, schmunzelte er. Ihre Schritte in die Waschküche waren eilig und doch hatte Karlas Kopf abgeschaltet.

Spezial ... es war noch nie vorgekommen, dass er woanders morden ging, und nun? Selbst sein Vater hatte in Los Angeles gemordet und sich dann auf die über vier Stunden Fahrt zurück nach Las Vegas gemacht.

Doch es gab keine Widerrede, sie hatte zu tun, was gefordert wurde. Punkt! Karla überlegte, wer wohl das nächste Opfer war und wieso? Dass Jack heute eins wählen wollte, hatte sie schon am Morgen mitbekommen und auch, dass es einen Grund gab, welches Opfer er sich nahm. Karla betrachtete Jack, er schien befriedigt und doch auch unzufrieden.

Was war nur passiert? Diese Frage hing ihr noch bei der Zubereitung des Essens sowie beim Kofferpacken nach.

 

Über dreieinhalb Stunden fuhren sie nach Baywood Los Osos, einem kleinen Küstenort mit vielen wunderschönen Parks. Dieser Ort war perfekt und fast hätte Jack gemeint, Anne habe es nur für ihn ausgesucht. Noch kleiner schien das Hotel, in dem sie sich einbuchten und Karla konkrete Anweisungen entgegen nahm.

Dann fuhr Jack los, er brauchte nicht lange, bis er zur Santa Ysabel Ave kam, und fand auch sofort Annes Heim. Ein stattliches Haus, in der Einfahrt stand ihr blauer Pickup und sie fegte die Veranda. Eine wunderschöne Frau, bemerkte Jack. Anfang dreißig, blonde Haare wie Rosemary, eine sehr schmale Figur, die nicht davon zeugte, dass Anne noch mehr Kinder bekommen hatte. Das war auch nicht der Fall, wie er wusste. Die Frau wohnte mit ihrem Mann hier, ohne Kinder, dafür mit einem Hund.

Über zwei Stunden beobachtete er sie, wollte allerdings erst am Abend zuschlagen, wenn sie zum Sportklub ging. Nun würde er sich erst einmal etwas hinlegen, er brauchte Kraft und Ruhe für seine Kreation des Grauens. Er würde Duncan ein Geschenk machen, dass dieser niemals vergessen würde.

 

Es war genau acht Uhr, die Sonne stand noch recht hoch am blauen Himmel, nur kleine Wolken schlichen über ihn dahin. Anne joggte zu ihrem Fitnesscenter, als neben ihr ein Wagen hielt. „Entschuldigen Sie, Miss, ich suche das Sea Oines Golf Resort, könnten Sie mir da weiter helfen?“, lächelte sie ein Mann Mitte Ende dreißig an.

Seine Augen hielten sie sofort gefangen, eine Antwort war ihr gänzlich entfallen und so überhörte sie auch die Alarmglocken in ihrem Kopf, als der Mann sie bat einzusteigen und ihr zu zeigen, wo sich das Golf Resort befand. Noch nie war sie so leichtsinnig gewesen und doch, diese Augen hatten was für sich. Vielleicht lag es daran, dass sie meinte, in einen Spiegel zu sehen. Ihre Augen waren ebenfalls braun, zwar nicht so dunkel wie die des Fahrers, und doch hatten beide eine Kälte in sich, die jeden anderen zum Erschauern brachte.

 

Es war nicht weit bis zum Baywood Park, wo Jack den Wagen hinlenkte und abstellte. „Sag mir, wie es deiner Tochter geht“, sagte er grinsend.

Wie aus einer Trance erwacht, schreckte Anne hoch. „Bitte? Woher?“

„Sag mir, wie es deiner Tochter geht!“, befahl Jack weiterhin.

„Ich weiß nicht, da müssen Sie ihren Vater fragen, ich kenne meine Tochter nicht. Ich habe nichts mit ihr zu tun.“ Zwar klang Panik in ihrer Stimme mit, doch auch Gleichgültigkeit und die Kälte in ihren Augen waren für Sekunden erschreckend zu erkennen.

„Eine Mutter hat für ihr Kind zu sorgen, wenn nicht, gehört sie bestraft.“ Ein Lachen entwischte Jack, als er Anne die Spitze der Spritze in den Oberschenkel schlug.

„Oh Gott, wer sind Sie?“ Sie riss die Spritze aus ihrem Bein und versuchte die Autotür zu öffnen, vergeblich.

„Jack! Duncan sucht mich und ich habe dich gefunden. Du bist mein Geschenk für ihn, ich werde dich bestrafen.“ Immer noch lachte er und sah zu, wie die Frau neben ihm zusammensackte. Mit Leichtigkeit fand Jack die perfekte Stelle für sein Kunstwerk. Wie schon bei Diana band er nun Anne zwischen zwei Bäumen fest. Kurz hatte er auch überlegt sich an ihrem Hintern zu verlustieren, doch dieser war für solche Spiele nicht geeignet. Zu flach, zu klein.

Allerdings hatte er Sekundenkleber dabei. Heute zu nähen kam nicht in Frage, zu sehr hatte er sich in der Nacht an dieser Samantha Vogt verausgabt. So klebte er die Augenlider nach oben. „Du sollst alles mitbekommen, nicht einen Moment dieser köstlichen Strafe verpassen.“ Er zwinkerte ihr zu. Und Anne? Sie weinte, wusste was Jack mit seinen Opfern anstellte, dass noch nie eines überlebt hatte, außer Lars. Wenn das der Wahrheit entsprach.

In ihrem Kopf erschienen Bilder von Duncan und Lars, auch das ihres Babys. Doch nicht mal jetzt, im Angesicht des Todes, bereute sie es, ihr Kind niemals kennengelernt zu haben. Sie empfand nichts. Das Einzige, was sie manchmal bereute war, dass sie Duncan nicht mehr an ihrer Seite hatte. Er war ein guter Mann, doch sein Herz war zu groß, seine Erwartungen an sie erst recht.

 

Innerlich schrie sie los, als Jack den ersten Schnitt an ihrer Brust vollführte. Sie merkte, wie ihr der Speichel aus dem Mundwinkel tropfte, ihr Schluckreflex war zu sehr betäubt. Jack bemerkte es ebenfalls. „Hab ich mich in der Dosis vertan? Also, das geht ja wirklich nicht“, tadelte er sich selbst. Drei Schnitte am Hals folgten, nicht tief, aber schmerzhaft. Jack ging um Anne herum, setzte das Skalpell an und hinterließ seine erste Nachricht auf dem Rücken.

Innerlich flehte Anne um Vergebung für ihre Taten, hoffte, dass Gott sie retten würde, und doch sagte ihr Verstand, dass es bereits vorbei war, als Jacks Auto bei ihr hielt.

Anne sagte jedes bekannte Gebet auf. Doch es rettete sie niemand, keiner kam vorbei und half ihr, sie musste sich dieser Strafe stellen, ob sie wollte oder nicht.

Lächelnd setzte Jack abermals eine Spritze an ihrem Oberschenkel an. „Gegenmittel“, sagte er zwinkernd und setzte sich auf einen Baumstamm. Er wartete ab, bis Anne wieder ihrer Gliedmaßen mächtig war. Der Schmerz in ihrem Körper wurde immer intensiver, breitete sich in ihr wie ein Waldbrand aus. Sie schrie auf, flehte, dass er es beenden sollte, dass sie schweigen könnte, doch er lachte nur.

„Für jedes Jahr, in dem du dein Kind missachtet hast, einen Schnitt!“, sagte er leise und ruhig, stand auf und näherte sich ihr.

„Nein, bitte nicht. Ich wollte sie nie, wieso sollte ich dann leiden?“

„Das höchste Gut auf Erden sind Kinder. Niemand sollte sie missachten“, erläuterte er beim ersten Schnitt, der von der Brust bis zum Bauchnabel ging.

Ein schriller Schrei durchbrach die inzwischen einbrechende Dunkelheit.

„Frauen müssen still sein und gehorchen“, erklärte er und zog einen eingeschweißten Zettel aus seiner Hosentasche, steckte diesen Anne in den Mund und klebte ihn zu.

„Wenn du schluckst, erstickst du qualvoll, hältst du das hier aus, könnte es dir wie Lars ergehen und du überlebst“, war Jacks Rat und bestätigte so die Berichte.

Noch neun Mal wiederholte er die Schnitte, die sich schlussendlich sternförmig von außen nach innen in ihrem Bauchnabel endeten. Fast besinnungslos sah Anne auf, ihre Beine hatten schon nach dem dritten Schnitt nachgegeben und sie hing nur noch in den Seilen zwischen den Bäumen.

Ihre Schultergelenke schienen brechen zu wollen und trotz des Schmerzes schaffte sie es nicht mehr, sich aufzustellen. Nur noch mit Mühe hielt sie ihre Füße so auf dem Boden, dass die Schultergelenke nicht brachen.

„Ich wünsche dir alles Gute, im Jenseits!“ Jack lachte ein letztes Mal auf, trat ihre Beine den Boden entlang und man hörte nur noch ein Knacken, das von den Schultern kam, dann wurde es still.


 

Kapitel 13

 

Um sieben Uhr dreißig kamen Leonard, Lars, Duncan und Samantha in Las Vegas an, nicht mehr als eine Stunde und zehn Minuten hatte der Flug gedauert, und doch waren sie gerädert. Was sicherlich an der schlaflosen Nacht gelegen hatte. Jeder mit leichtem Handgepäck beladen, machten sie sich auf zum Ausgang, wo auch schon Kollegen der hiesigen Polizei sie abholten und auf direktem Weg zu dem Bauernhof von Henry Visipo brachten.

George Paul, wie sich einer der beiden vorgestellt hatte, saß auf dem Beifahrersitz. Es sah gequetscht aus, wie er versuchte, seinen kleinen kräftigen Körper nach hinten zu drehen. „Wie kommen Sie auf Henry Visipo?“

„Jack hat sich mit Namen Henry bei einer Frau vorgestellt, die er entführt hat. Sie schienen sich schon länger zu kennen, was uns zur Vermutung bewegt, dass es sein realer Name ist ... Nennen Sie es Bauchgefühl“, antwortete Lars und nahm einen großen Schluck Wasser.

Der schlanke Polizist, der hinter dem Steuer saß, schüttelte sein rotes Haar und lachte, was bei seinem Bart fast unkenntlich war. „Henry Visipo ist sechzig Jahre alt, vor fünfzehn Jahren gab es einen Scheunenbrand, wo er schwer verletzt wurde. Weshalb wir ihn damals auch als Verdächtigen ausgeschlossen hatten. Er ist ein hart arbeitender Farmer, einer der Letzten hier.“

Samantha beugte sich so weit vor, wie es ihr Gurt zuließ: „Mister Janson, meine Mutter wurde vor 15 Jahren hier in Las Vegas entführt und verbrannt ... komischer Zufall meinen Sie nicht?“ Dabei schlug sie gegen die Kopfstütze, sodass für Marc Janson das Gefühl entstand, als hätte er den Schlag abbekommen.

Er knurrte in seinen Bart: „Das heißt aber nicht, dass er Jack ist. Oder meinen Sie ernsthaft, er hätte sich aus Vertuschungsgründen Arme und Gesicht verbrannt?“

„Den Jack, den Sie meinen, kenne ich nicht. Ich habe seit einem Jahr das Vergnügen mit dessen Sohn“, entgegnete Samantha und verschränkte die Arme.

Marc und George wechselten kurz einen Blick. „Henry Junior ist damals bei dem Brand ums Leben gekommen, mit gerade zwanzig Jahren.“

Duncan schürzte die Lippen. „Also gibt es einen Sohn?“

„Es gab einen!“, korrigierte George.

„Gibt, und dieser ist der Jack, den wir momentan jagen“, beharrte Duncan auf seiner Feststellung. „Wann sind wir da?“, fragte er und wechselte damit das Thema. Mittlerweile waren sie schon eine Stunde unterwegs.

„Zehn Minuten, da vorne sehen Sie es schon.“

Die Blicke gingen aus dem Fenster. Vor ihnen erhob sich, hinter einem kleinen kahlen Hügel, ein Bauernhaus. Blumen blühten, alles war gepflegt und sah bewohnt aus.

Leonard runzelte die Stirn. „Wann haben Sie Henry zuletzt gesehen?“, erkundigte er sich.

Marc schwankte mit dem Kopf. „Bei der Befragung vor fünfzehn Jahren. Er und Megan haben schon immer sehr zurückgezogen gelebt. Vor ... achtzehn Jahren hatte der Junior eine süße Freundin, sie hieß Kath ...“

„Karla, ein wunderhübsches Ding, aber sehr schüchtern“, korrigierte George.

„Stimmt, Karla. Sie lebte zwei Jahre hier, doch dann war sie von einem auf den anderen Tag weg. Nun ja, so einsam hält es auch nicht jeder aus, nicht wahr?“, lächelte er und parkte den Van.

 

Samantha stieg aus, lauschte, doch es war nichts zu hören. Ihr Blick ging über den Hof, irgendetwas stimmt hier nicht. Genau diesen Gedanken hatte auch Leonard.

„Ein wenig ruhig für einen Bauernhof, oder nicht? Wo sind die Tiere?“ Seine Augen wanderten ebenso umher. George zuckte mit den Schultern und ging zur Haustür, um zu klopfen.

„Vielleicht verkauft, sie sind schließlich auch nicht mehr die Jüngsten.“ Nach ein paar Minuten zuckte er abermals die Schultern. „Scheint keiner da zu sein.“

Mit weit aufgerissenen Augen wandte sich Samantha zu George. „So könnte man es auch ausdrücken, schauen Sie mal da rein!“ Sie wies aufs Küchenfenster. An einem Tisch saßen Henry und Megan oder das, was von ihnen übrig war. Ihre Skelette saßen sich gegenüber, die Kleidung hing wie ein Sack an ihnen herunter, die Haare warteten nur auf einen Windzug, um vom Haupt zu verschwinden.

Der Tisch war fein säuberlich gedeckt und am Rand saß eine Katze, die Verwesung war schon fortgeschritten, sodass Leonard selbst durchs Fenster ihren Todestag auf circa 14 Tage festmachte.

Marc brach die Haustür auf, ein Duft von Lavendel kam ihnen entgegen. Alles war sauber, fast schon penibel rein, soweit sie es sehen konnten. Sie streiften sich Schuhschützer über und betraten das Haus.

Leonard ging direkt in die Küche, begutachtete die Leichen. „Ich sehe Einstichspuren an den Rippen, sie wurden ermordet. Ebenso die Katze ...“ Er betastete diese. „Genickbruch. Jack scheint regelmäßig hier zu sein.“

Marc schüttelte fassungslos den Kopf. „Also jetzt mal Klartext! Sie sagen, das sind Henry Senior und Megan, und dass Junior noch lebt und nun Jack ist statt seines Vaters?“

„Genau, gut aufgepasst. Zudem haben Sie hier den Mörder von Victoria Johnson sitzen, müsste bei Ihnen noch als ungeklärter Mord gelten. Karla Josten ist die Frau, die er vor ein paar Tagen entführt hat, wie erklären Sie sich den Zufall?“, entgegnete Duncan.

George sah zu seinem Partner, beide hatten ein Alter von Mitte fünfzig, und das sah man ihnen auch mehr oder weniger an. „Sie hat damals nicht gelogen?“

„Wie meinen Sie das, George?“, fragte Leonard.    

Es schien George peinlich zu sein, er biss sich auf die Unterlippe. „Ich habe Karla auf dem Weg in die Stadt getroffen, wollte sie zurück zum Hof fahren. Ihre Augen waren voller Panik, sie sagte, dass sie dann tot sei. Ich lachte auf und sie rannte weg. Ich habe das junge Ding nicht ernst genommen. Visipos galten immer als eine anständige Familie“, versuchte er sich zu erklären.

Leonard nickte verstehend. „Selbstverständlich. Nun gut, wir wissen mit Sicherheit, Karla kennt Jack und er wird ihr so schnell nichts tun. Wenn er das Erbe seines Vaters entgegen nahm ...“

„Sollte Karla einen Erben gebären!“, vollendete Samantha nickend den Satz. Mit Lars ging sie in die Scheunen, beide sahen geschockt in die Boxen der Pferde, wo wie in der Küche nur noch Skelette übrig waren. Genau der gleiche Anblick zog sich durch die Tierställe. Alle waren tot. Was ungewöhnlich schien, war die Sauberkeit, nicht ein Spinnennetz zeigte sich, geschweige denn großes Staubvorkommen. „Der Typ ist reinlicher als ich“, kommentierte Lars schmunzelnd.

 

Duncan hingegen hatte sich mit Leonard in die oberste Etage begeben, wo sie die Schlafzimmer fanden. Erschreckend normal war der erste Eindruck, bis sie Seniors Schrank öffneten. Dieser war gefüllt mit Bildern von Victorias Todestag. Duncan schluckte, als er die bestialischen Bilder betrachtete. „Die hat Samuel vernichtet, es sollte sie nie jemand zu Gesicht bekommen.“

„Kann ich verstehen, oh Gott sie musste Höllenqualen leiden.“ Es kam selten vor, dass Duncan schlecht wurde, doch heute war einer dieser seltenen Momente. „Wie hat sie die vier Stunden ausgehalten?“

Im ersten Moment wunderte sich Leonard, dass Duncan die genaue Stundenzahl wusste, doch dann sah er die Zeitangabe auf den Bildern und bewunderte ihn für seine schnelle Auffassungsgabe. „Das kann ich mir selbst nicht erklären. Die meisten Opfer haben nicht mehr als zwei Stunden geschafft. Victoria war schon immer besonders, wie Sam. Sie würde auch nicht aufgeben und kämpfen.“

„Leonard, wir müssen verhindern, dass er sie bekommt.“

„Natürlich, mein Junge, wir machen das schon.“

Schnell wischte sich Duncan eine angekündigte Träne weg und schluckte den Kloß runter, der sich bildete. Victoria und Samantha ähnelten sich, und wie von selbst sah er nicht mehr die Mutter auf den Fotos, sondern die Tochter. Sein Herz schien brechen zu wollen, er musste seine ganze Kraft einsetzen, um sich zusammenzureißen. Innerlich tadelte er sich selbst, noch nie war er so verweichlicht, vielleicht bei Rosemary, aber nie einer Frau gegenüber.

 

Es dauerte bis zum Abend, dass alles durchsucht, Beweise gesichert und die Leichen auf dem Weg nach Los Angeles waren. Müde und kaputt checkten Lars, Duncan, Samantha und Leonard in einem Hotel ein und waren auch bald eingeschlafen.

Samantha stand mit dem Handy am Ohr im Hotelzimmer, am anderen Ende der Leitung war Daniel, der ziemlich aufgeregt klang: „Samantha Josephine Vogt, 21 Jahre! Er hat sich nicht mehr unter Kontrolle, hat ihr Beine und Arme abgehackt, dann ins Meer geschmissen. Wir dachten erst, es waren Tiere an den Gliedmaßen, doch es scheint eher, dass Jack sie unkontrolliert attackiert hat und immer wieder zustach. Alles ist zerfetzt. Auf ihrem Bauch steht Hure, auf dem Rücken Rose.“

„Ich bin also eine Hure und Duncan eine Rose? Was soll das jetzt heißen?“, unterbrach Sam ihren Partner.

„Es gibt noch ein zweites Opfer in Baywood ...“

„Jack ist noch nie ...“

„Aber dieses Mal. Sie heißt Anne Miller, 30 Jahre alt, verheiratet. Keine Schrift auf dem Bauch, nur auf dem Rücken Für dich steht dort. Ein Zettel im Mund, worauf uns die hiesige Polizei kontaktierte. Der Zettel ist für Duncan, sie war seine Ex-Freundin. Er hat sie regelrecht gefoltert. Sam, bitte rede mit Duncan, und er soll dir sagen, was es mit Rose auf sich hat.“ Daniel war es ernst und seine Stimme schien zu zittern.

„Du sprichst es aus wie einen Namen“, stellte Samantha fest.

„Bitte rede mit Duncan, aber vor allem bringe es ihm schonend bei. Baywood schickt uns die Leiche, also schaut, dass Leonard so schnell wie möglich kommt. Wir sehen uns“, da hatte Daniel schon aufgelegt.

Verwirrt steckte Samantha das Handy weg und ging zu Duncans Zimmer.

 

Dieser öffnete ihr nur mit Jeans bekleidet die Tür. „Guten Morgen.“ Er lächelte sie an und küsste sie sanft auf die Lippen.

„Guten Morgen, nun ja. Komm, wir setzen uns, es wird wohl ein etwas unangenehmes Gespräch werden.“

Leicht verwirrt folgte er ihrer Bitte, ahnte Böses, doch das Folgende übertraf jede Befürchtung. So berichtete sie vom ersten Fall in Los Angeles.

Bei dem Namen Rose öffnete sich geschockt Duncans Mund, er wollte gerade was sagen, als sein Handy klingelte. „Mein Vater? Hey, Paps“, nahm er das Gespräch an.

„Weißt du schon Bescheid?“

„Die Tote in L.A., ja gerade erfahren ... Er weiß, wer ...“

„Ja, pass auf. Wir sind auf dem Weg nach L.A., bringen Rosemary mit. Unser Flug wurde aufgerufen, alles Weitere nachher, okay?“

„Ja, aber Paps ...“ Doch sein Vater hatte aufgelegt. Duncans Blick ging zu Sam: „Das war noch nicht alles, oder? Meine Familie ist auf dem Weg nach Los Angeles, was hat sie so aufgeschreckt?“

„Es gibt noch eine zweite Tote in Baywood und ja - es ist sicher Jack gewesen. Allerdings ist sie nicht mit einer Nachricht an mich gestorben, sondern an dich. Kennst du eine Anne Miller?“ Ihr Blick war weich und sie umschloss seine Hand. Duncans Blick wurde plötzlich eiskalt und Wut war in seinen Augen zu lesen.

„Ja, kenne ich, sie ist meine Ex-Freundin und ... Moment! Er hat sie umgebracht?“

„Ja, er muss sie gefoltert haben. Was ist los, Duncan?“ Eindringlich sah sie ihn an, sein Blick war zwischen Wut und Besorgnis wankend.

Er seufzte tief. „Ich wollte es dir schon früher sagen, wusste nur nicht wie. Nun gut, ja Anne ist, war meine Ex-Freundin vor fast elf Jahren. Sie wurde schwanger von mir, wir haben ein Kind zusammen, Rosemary. Anne wollte nie etwas mit unserem Kind zu tun haben, ist nach der Geburt abgehauen, seither kümmere ich mich mit meinen Eltern und Lars um Rose. Es tut mir leid, dass ich es dir verschwiegen habe.“

Geschockt weiteten sich ihre Augen, Samantha schlug sich die Hände vor den Mund. „Verdammt, wie konntest du nur? Du weißt, dass jeder in Gefahr kommt, der mit mir zu tun hat, und ziehst deine Tochter da rein?“

Im ersten Moment war Duncan erstaunt: Keine Vorwürfe, dass er Rose nie erwähnt hatte, Sam hatte Angst um sie, ohne sie zu kennen. „Rose steht in keiner meiner Akten drin, ist bei meinen Eltern, wenn ich nicht da bin ... Woher sollte ich wissen, dass Jack rausbekommt, dass es sie gibt? Sam ...“

„Ruhe jetzt. Okay, sachlich bleiben. Also deine Eltern kommen mit Rose nach L.A. Gut, wir können sie beschützen, ich muss mit Steve reden. Dann müssen wir zurück. Baywood schickt uns die Leiche von Anne. Leonard muss sich untersuchen und Greg muss die Analysen machen. An oberster Stelle steht jetzt, deine Tochter zu schützen. In Ordnung, wir schaffen das ...“, sprach sie mehr zu sich selbst und wanderte dabei durchs Zimmer.

„Samantha?“ Duncan hielt sie nun auf und schloss sie in seine Arme. „Es war verantwortungslos, du hast recht, aber es ist mein Job. Wenn nicht Jack, irgendwann hätte es jemand rausbekommen.“

„Wahrscheinlich. Wir packen das, ihr wird nichts passieren.“ Sie lächelte ihn an, streifte sanft mit ihren Lippen seine Wange.

„Du bist nicht geschockt, dass ich eine zehnjährige Tochter habe?“

Samantha schüttelte mit dem Kopf. „Überrascht ja, geschockt nein. Passt irgendwie zu dir, ich weiß auch nicht. Aber meinst du, deine Tochter wird so begeistert von mir sein?“

Ein Lächeln zog sich über seine Lippen. „Bisher war sie das, ihr lernt euch heute kennen, warten wir es ab, in Ordnung?“

Ein zartes Nicken bestätigte seine Bitte, dann fanden sich ihre Lippen; zart, mit aller Zeit der Welt, wollten sie sich erkunden. Auch die Finger standen in nichts nach, erkundeten das Ziel der Begierde. Den anderen, der ein Kribbeln durch den eigenen Körper jagte, sobald er einen nur ansah. Ganz sanft drängte sich Duncans Zunge zwischen Samanthas Lippen.

Sie gab sich dem hin, öffnete den Mund und ließ sich die Zungen vereinen, liebkosen und schmecken.

 

Daniel stand neben Frederik, der die Vorarbeit für Leonard machte. Sie hatten genaue Anweisungen von dem Gerichtsmediziner bekommen, die sie nun befolgten. Nun gut, Frederik befolgte sie und Daniel sah zu und beobachtete. „Öffnest du den Mund?“, fragte Daniel und besah sich die Wunden im Gesicht.

„So sagte es Leonard, ich soll nur vorsichtig sein und ihr nicht mehr Leid zu fügen. Weißt du, ich habe schon mal in der Gerichtsmedizin gearbeitet, aber so einen Pathologen findest du selten.“

„Leonard ist einzigartig. Er behandelt jede Leiche, als sei sie noch am Leben. Eigentlich sehr schön, oder?“

„Gefühlvoll, ja. Aber wie verkraftet er es? So eine Beziehung mit den Leichen zu haben und sie dann aufzuschneiden?“

Daniel zuckte mit den Schultern. „Deshalb gibt es ein Praktikum zum Lernen. Frag ihn, wenn er da ist.“

Ganz vorsichtig öffnete Frederik die Naht, versuchte den Mund zu öffnen, doch die Leichenstarre war schon ausgeprägt. „Wenn ich ihr nicht den Kiefer brechen soll, dann müssen wir warten.“

„In Ordnung, da kommt gerade Anne Miller.“ Daniel nickte zwei Männern zu und unterschrieb den Erhalt der Leiche. Zusammen mit Frederik hievte er den Leichensack auf einen freien Tisch und öffnete ihn.

„Er dreht wirklich durch.“ Fassungslos schüttelte Daniel den Kopf, als er den geschundenen Körper der Frau erblickte. Das war alles nicht typisch für Jack. Der sonst so beherrschte Mörder hatte die Kontrolle verloren und irgendwas sagte Daniel, dass es erst der Anfang war.

 

Es war die reine Anspannung, die herrschte, als Duncan, Leonard, Lars und Samantha wieder in Los Angeles ankamen. Leonard war sofort in die Gerichtsmedizin gegangen, während Duncan und Lars an ihre zugewiesenen Tische verschwanden. Sam sah Duncan leicht wehmütig hinterher. Gerade als sie sich im Hotel einander näher kamen, war doch wirklich Lars reingerauscht. Während sie selbst rot anlief und Duncan leise fluchte, war es Lars nicht einmal unangenehm.

Er berichtete, dass sie in einer halben Stunde am Flughafen sein mussten, wieso wusste er nicht. Somit konnte Sam ihm erst einmal auf dem Laufenden bringen. Damit sie es dann nicht noch einmal wiederholen musste, rief sie auch gleich Leonard dazu. So war die intime Zweisamkeit auf der Strecke geblieben.

Verträumt strich sie sich über die Lippen und seufzte.

 

Trotz dieses schönen Momentes bekam sie ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie dachte an Rose, wie sie wohl aussah? Dann daran, dass Roses Mutter getötet wurde und Sam ihren Vater in Lebensgefahr brachte. Ein Zustand, der nicht tragbar war, und doch konnte sie nichts gegen ihre Gefühle tun. Sie wünschte sich immerzu, bei Duncan zu sein.

Nun war sie es, die fluchte und aus dem Revier verschwand. Samantha musste den Kopf freibekommen und das schnellstmöglich. Es gab nur eine vernünftige Lösung, das war ihr klar, doch wie sollte sie es Duncan bewusst machen?

Tief seufzend stand sie an der Eingangstür des Departments, genoss die frische Luft und sah in den blauen Himmel. „Ommmaaa“, ertönte ein greller Schrei. Ruckartig senkte Samantha ihren Blick und sah sich um. Ein Mädchen saß auf dem Bürgersteig und hielt sich weinend ihr Knie, aus dem Blut rann. Schnell begab Samantha sich zu ihr und ging auf die Knie.

„Ganz ruhig, das wird wieder“, lächelte Sam das Mädchen Mut bringend an. Eine Frau mittleren Alters trat neben sie, kniete sich dann ebenso hin. „Oh Mary ...“

„Oma, das tut weh und blutet“, schniefte die Kleine und ließ ihren Blick zwischen ihrer Oma und Samantha wandern.

Die Letztere griff in ihre Hosentasche und zog ein Taschentuch hervor, wischte dem Mädchen die Tränen aus dem Gesicht. „Tief Luft holen und dann bringe ich dich ins Revier und wir sehen mal, was unser Doc für dich tun kann, in Ordnung?“

Immer noch schniefend nickte Mary. Ihre Oma sah mit großen Augen zu der Frau, die bei ihrer Enkelin kniete. „Sie müssen sich keine Umstände machen ...“

„Gar kein Problem, auch für so was ist die Polizei da“, erwiderte Samantha lächelnd, half Mary aufzustehen und brachte sie ins Revier.

Mit dem Aufzug ging es eine Etage nach unten, Sam bat kurz zu warten und ging zu Leonard. „Hey Leonard, hast du kurz Zeit, ein Mädchen ist vor dem Revier gestürzt und bräuchte nun einen kompetenten Arzt.“

Er lächelte nickend. „Aber sicher doch.“ Dabei nahm er seinen Erste-Hilfe-Koffer und folgte Samantha.

„Das ist Mary und Mary das ist Leonard, er kann dir bestimmt helfen.“ Leonard kniete sich vor das Mädchen, das auf den Wartestühlen vor der Pathologie Platz genommen hatte. Ihre Oma sah ihn schief an, überlegte wohl kurz und erblickte dann das Schild, wo sie sich befanden. „Sie sind ein Pathologe?“

„Das ist richtig. Allerdings bilde ich mir ein, auch ein wenig mit den Lebenden umgehen zu können, wenn es recht ist?“

„Natürlich“, erwiderte sie, doch ihre Augen zeigten deutlich, dass sie etwas irritiert war. Leonard lächelte alles weg, nahm sein Desinfektionsmittel heraus, reinigte die Wunde besah sie sich eindringlich und nahm ein Pflaster. „Sam, bist du so nett?“ Diese verstand sofort, grinste leicht und zückte ihren Stift. Mit diesem wurde das Pflaster verschönert und dann auf die Wunde geklebt.

„So, meine Hübsche, es sah schlimmer aus, als es ist. Allerdings empfehle ich dir ein Eis, hilft gegen die Schmerzen und Tränen. Dafür sorgt jetzt Samantha, in Ordnung?“ Mary nickte und grinste zu der benannten. Diese war leicht irritiert, wieso überkam sie das Gefühl, dass das Grinsen nichts mit dem Eis zu tun hatte?

„Danke, Leonard, wir sehen uns gleich.“

„Ja, obwohl Steve es leicht übertreibt, so schnell bin ich auch wieder nicht. Nun ja, nicht lange aufhalten lassen. Gute Besserung und einen schönen Tag.“ Er verschenkte noch einmal ein Lächeln an die Anwesenden, bevor er wieder in seinen Arbeitsbereich trat.

Samantha führte Mary und ihre Oma nach oben ins Büro, wo alle hektisch durcheinanderliefen.

„Etwas stressig momentan, entschuldigt. So, hier ist mein Schreibtisch, setzen sie sich erst einmal und ich gehe ein Eis holen, besondere Wünsche?“

„Erdbeere, bitte“, antwortete Mary und sah sich im Büro um. Kaum war Sam verschwunden, wandte sie sich an ihre Oma: „Ist sie die?“

„Ich weiß es nicht, aber für mich sieht es so aus. Na, das ist doch mal ein Zufall. Schau mal, ob du deinen Vater oder Lars siehst.“ Ehe die Worte ausgesprochen waren, stand Mary, oder eigentlich Rosemary, schon auf und sah sich um.

 

Tief in die Akten versunken trat Duncan an Samanthas Tisch. „Sam, hast du schon Jahn und Mendes kontrolliert? Kommen sie infrage?“ Verwundert blickte er auf, als er keine Antwort erhielt. Seine Augen weiteten sich überrascht, bevor er auch schon seine Tochter in den Armen hielt. „Rose ... wie kommst du denn hier hin? Mom, du auch?“

„Da war so eine nette Frau, die hat mich mitgenommen, weil ich doch gefallen bin, und dann hat sie mich zu Leonard gebracht. Dad, ich glaube, er ist ein Arzt für Tote, und der hat mir ein Eis verordnet und das geht sie mir holen. Ist sie Samantha, deine Samantha?“, platzte es aus Rosemary heraus.

Duncan musste erst mal geistig alles durchgehen, was ihm seine Tochter gerade gesagt hatte. „Du warst bei Leonard, ist es denn so schlimm?“

Seine Mutter schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, es hat nur geblutet. Nicht verwundert, dass man uns zu einem Pathologen führt?“

„Nicht wirklich, er ist der einzige Arzt hier und zwar ein sehr guter. Vor allem ist er sehr menschlich, was selten an Pathologen ist. Also kann ich davon ausgehen, dass ihr Samantha schon kennengelernt habt?!“ Er spürte es ganz genau und verfluchte sich innerlich dafür. Allein der Gedanke an sie brachte seine Wangen dazu, sich zu röten.

Rosemary nickte begeistert. „Die ist nett. Da kommt sie ja schon!“ Freudig empfing das Mädchen ihr Eis, während Samantha verwundert sah, dass Duncan sie immer noch im Arm hielt.

„Du hast meine Mutter und Tochter schon kennengelernt, wie ich hörte“, schmunzelte er.

Sofort war es Samantha, die leicht rot anlief, sich auf die Unterlippe biss und ihre Blicke zwischen den dreien wandern ließ. „Oh, ich wusste nicht. Mary ... also ...“

„Ich nenne sie gerne so. Es freut mich, Sie kennenzulernen, Samantha, ich bin Vera.“ Duncans Mutter reichte ihr die Hand. Sie ergriff diese. „Ich freue mich auch.“

Ehe die Situation unangenehm werden konnte, stürmte schon Lars auf Rose zu und bekleckerte sich prompt mit Eis, als er sie in seine Arme zog. „Engelchen ist schon hier und keiner sagt mir Bescheid?“

„Onkel Lars, mein Eis“, sagte sie sie missmutig, doch dann strahlte sie. „Bist du wieder gesund?“ Sie blickte auf die Wunden am Mund ihres Patenonkels, die gerade erst begannen zu verheilen. „Tut das weh?“ Sie zeigte darauf.

„Es geht schon, heilt schnell. Wie war dein Flug?“

„Aufregend, wir hatten Turbulenzen.“ Das zehnjährige Mädchen grinste und amüsierte sich köstlich über die leicht schockierten Gesichter. Duncan sah zu seiner Mutter. „Was heißt das?“

„Es war nichts, da war ein Gewitter. Es hat etwas gewackelt, mehr nicht“, beruhigte sie ihn. „Weißt du, wo dein Vater ist? Er wollte zu Mister Trog.“

Samantha wandte sich ab und sah zu Steves Büro hinüber. Da stand Eric Parker und lächelte ihnen zu. „Da steht er“, informierte sie und nahm an ihrem Tisch Platz. Aufgeregt kam Leonard in das Großraumbüro, ließ seinen Blick umherwandern, damit jeder wusste, dass er etwas gefunden hatte. Als auch noch hinter ihm Greg erschien, war es sicher.

„Mom, entschuldigt ihr uns? Wir müssen kurz mal ins Büro.“

„Können wir hier warten?“ Ein Nicken war Antwort genug, dann waren auch schon alle in dem Büro verschwunden, wo eben noch Eric und Steve gestanden hatten.

 

Eric reichte Samantha und dann Daniel die Hand. „Ich bin Eric Parker, Duncans Vater“, informierte er sie formhalber.

„Nicht zu verleugnen.“ Daniel lachte. „Ich bin Daniel Baker, der Partner von Samantha.“

„Oh, mein herzliches Beileid ...“, fing Eric an, doch Daniel schüttelte den Kopf.

„Meine Frau lebt, keine falschen Annahmen. Es war nur für die Öffentlichkeit. Also, Duncan, deinen Vater hättest du ruhig einweihen können.“

Der erhob beschwichtigend die Hände. „Die Leitung war mir zu unsicher. Er weiß es ja jetzt. Nun, Leonard, erst mal danke für die Versorgung meiner Tochter.“

Überrascht weiteten sich dessen Augen. „Sehr gerne, ein bezauberndes Mädchen. Nun zu dem, was wir gefunden haben. Die ersten Untersuchungen ...“

Alle nahmen Platz und hörten Leonard zu, der von den Verletzungen berichtete.

„Um an den ersten Zettel zu kommen, musste ich leider den Kiefer von Miss Vogt brechen. Ungern, aber ich denke gerechtfertigt. Wie erwartet ist er an Samantha gerichtet, nicht mein Wortlaut, also verzeiht die Aussprache: Du kleine Hure, wie kannst du dich nur so beschmutzen lassen? Geheimnisse werden enthüllt und dein Herz gebrochen. Steve, fehlt sie dir schon?

Dieser sah auf. „Wer fehlt mir, Leonard?“

„Ich fragte das nicht, das stand auf dem Zettel. Die Vermutung von Daniel ist, dass Samantha Vogt nicht sein Opfer sein sollte, sondern Lorena.“ Steve saß geschockt da. „Wieso?“

Es war Duncan, der nickte. „Logisch ... Mist ... Als Lorena und Greg hier ankamen - die Beziehung der beiden sollte damals beginnen, richtig?“

„Ihren Aussagen zufolge, korrekt“, bestätigte Steve nickend.

„Also hat Jack Gregs Platz eingenommen, natürlich will er keine Beziehung hat sie somit beendet. Ist Lorena nie etwas aufgefallen?“

Daniel räusperte sich kurz. „Doch, das hat sie uns gestern gesagt. Ihr kam Greg zu verändert vor, er hat sie regelrecht ignoriert. Seine Augen wären dunkel und kalt gewesen.“

„Jack wollte vorbeugen. Zwei Fliegen mit einem Schlag. Er hätte Lorena ausgeschaltet, somit weiteres Misstrauen ihrer Seite nicht mehr zu spüren bekommen und uns wieder einen Schlag verpasst. Wieso ist er nur bei Miss Vogt so außer Kontrolle gewesen?“

Das war Leonards Part. „Die junge Dame heißt Samantha. Am Fundort hat man ihr Portmonee gefunden, offen im Sand. Ich schätze, dass es hinausgefallen ist, und als Jack dem Namen sah ... Er hat nicht wirklich an diese Frau gedacht, sondern ...“ Sein Blick ging zu Samantha.

Diese nickte und seufzte tief. „Was auch sonst. Langsam wüsste ich wirklich gerne, was er so mit mir plant. Nun schaut nicht so, wenn wir ihn nicht bald dingfest machen, bin ich geliefert. Das wisst ihr genauso gut wie ich.“ Ihre Stimme war ruhig, der Blick ging ins Leere. Genauso kannte Daniel sie, sie mauerte sich ein und ihm war bewusst, dass diese Mauer höher und stabiler werden würde als die davor.

Sein Blick ging zu Duncan, hilfesuchend und flehend zugleich. Doch ehe dieser etwas tun konnte, klopfte es an der Tür und Lorena trat ein, mit einem Strauß weißer Rosen.

Lars lachte. „Langsam übertreibst du es, mein Freund. Rose begnügt sich auch mit einer.“

„Die sind nicht von mir.“, Duncan schluckte und zog die Karte aus dem Strauß.

Verwirrt sah er auf die Zeichen, dann zu seinem Vater: „Was ist das für eine Schrift?“

„Gute Frage, keine mir geläufige.“

Doch Lars erkannte sie sofort. „Das ist eine Computerschrift. W... win.. Wing Dings heißt sie. Steve, darf ich?“ Dieser machte sofort an seinem Schreibtisch Platz und Lars scannte die Karte ein. Und kaum zehn Minuten später hatten sie die Übersetzung. Lars schluckte, sprang auf und rannte raus.

Steve sah auf den Computer: „Hallo Duncan, Rosen in deiner Hand, eine Rose in meiner. Halte sie in Ehren wie ich. Jack.“ Nun war auch Duncan verschwunden und der Rest blieb geschockt zurück.

Kapitel 14

 

Duncan hastete durch das ganze Revier, schrie nach seiner Tochter. Doch außer irritierten Blicken kam keine Reaktion der Kollegen. Lars hingegen hatte Vera gefunden, die kopfschüttelnd auf ihren Sohn zuging: „Meine Güte, Jungs! Bleibt mal ruhig, was ist denn passiert?“

„Wo ist Rose?“, wollte Duncan wissen und sah sich weiter um.

„Eben kam ein Mann und meinte wir hätten falsch geparkt, ich wollte Rose schon mitnehmen, da meinte er, er könnte ruhig zwei Minuten aufpassen. Sein Name war Seth Hunter, Dienstnummer 35987.“

Duncan wandte sich ab und lief zu Seths Platz, er war nicht da. Eilig führte sein nächster Weg ihn zu Steve ins Büro. „Wo ist Seth?“

„Er hat heute frei, seine Frau muss zu einer Untersuchung, wieso?“

„Weil meine Mutter behauptet, er passe auf meine Tochter auf. Dienstnummer 35987.“

Steve nickte und schüttelte sogleich den Kopf. „Ja, das ist Seths Nummer, aber er ist nicht hier.“ Schlagartig wurde ihm bewusst, was passiert sein musste, und kaum zwei Minuten später war das ganze Revier auf der Suche nach Rosemary Parker.

 

„Macht eine Suchfahndung fertig. Rosemary Parker, zehn Jahre alt, 145 Zentimeter groß, blonde Schulter, lange Haare, blaue Augen. Bekleidet mit blauer dreiviertel Jeans, weißem Babydoll, weiße Stoffschuhe“, rief Steve. Gerade wollte er noch etwas dran hängen, als er stockte, das konnte doch nicht wahr sein, oder?

„Rose!“ Duncan klang erleichtert, als er seine Tochter lachend durch die Tür kommen sah.

„Hey Dad, was ist?“

„Wo warst du?“, fragte ihr Vater, als er schon hinter seiner Tochter Seth sah, der die Stirn kraus zog.

„Ich sagte deiner Mutter, ich kümmere mich um Rose. Rose erzählte, Lars habe ihr halbes Eis an seinem Hemd, so bin ich mit ihr um die Ecke in die Eisdiele. Ich habe eine Nachricht auf dem Schreibtisch von Sam hinterlassen, so schlimm?“

„Du hast frei“, sagte Steve und schien damit alles erklären zu wollen.

„Moment! Ich sagte, ich will mit meiner Frau zum Termin, komme danach wieder ins Büro. Was ist denn mit euch los?“

Steve schüttelte den Kopf. „Alles zurückrufen, Kind unversehrt aufgetaucht“, rief er durchs Büro, wandte sich dann wieder seinem Kollegen und Freund zu. „Jack hat einen Rosenstrauß zu Duncan geschickt, mit der Nachricht: Rosen für dich und eine Rose für mich.“

„Und ihr dachtet ... dann dieser Zufall ... oh Gott! Duncan, es tut mir leid, wirklich“ Seth sah schuldbewusst drein.

Duncan winkte ab. „Schon okay, und danke fürs Aufpassen.“

 

Samantha war zu ihrem Platz gegangen, fand sofort den Zettel von Seth, seufzend setzte sie sich auf ihren Stuhl.

„Sie ist doch wieder da“, sagte Nico McKenzie und lächelte ihr zu. Sie erwiderte schwach sein Lächeln. „Ja. zum Glück, es hätte auch anders ausgehen können. Hast du den Zettel nicht gesehen?“

„Nein, entschuldige, sonst hätte ich doch sofort was gesagt.“

Nickend wandte sie sich ab, ein kurzer Seitenblick zu Nico verriet ihr, dass er sie mal wieder ansah.

Seit acht Jahren ging das nun so, seit sie Tischnachbarn waren. Nico war putzig, wie ihn Samantha gerne bezeichnete. Anfang dreißig, einen leichten Bauchansatz, Halbglatze. Ein Familienproblem, wie er mal betonte. Sein Rücken war immer leicht gebeugt, manchmal verglich sie ihn innerlich mit Quasimodo und musste sich wie auch jetzt ein Lachen verkneifen.

 

Ihr Blick wanderte zu Duncan, der seine Tochter an sich drückte und ihr immer wieder übers Haar streichelte. Roses genervter Blick entging ihr nicht und so winkte Samantha sie zu sich. Erleichtert löste sie sich aus der Umarmung ihres Vaters. „Ich gehe mal zu Samantha.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, eilte sie schnellen Schrittes zu der Genannten an den Tisch.

„Väter können nerven, richtig?“

„Und frag nicht. War dein Vater auch so?“ Den verwunderten Blick über das war hatte Rose sofort erkannt. „Ich weiß etwas über dich. Als Dad erzählte, dass er her muss zu einem Fall, hat er mir erzählt, worum es geht, und nachher auch ganz wenig über dich. Deine Eltern sind gestorben.“

„Das ist richtig, leider. Ja, mein Dad war auch so, manchmal unausstehlich. Duncan erzählt dir über seine Fälle?“ Was erinnerte sie das an ihren Vater.  

„Ja, wenn ich frage. Ich finde es toll, dass Dad böse Menschen fängt, das will ich auch mal machen.“

Unaufhörlich arbeitete sich die Erinnerung in Samanthas Gedächtnis nach vorne. Alle verdrängten Erinnerungen, gut gehütet, kamen nun wieder zum Vorschein. Es waren schöne Zeiten, wo sie auf dem Schoß ihres Vaters saß und er anfing zu erzählen, wie er böse Jungs schnappte, ganz selten auch mal Mädchen. Dann der Tag, wo ihre Mutter verschwand.

Tränen schossen ihr in die Augen. Sie sah zu Duncan, der sie anlächelte, sah zu Rose, die sie fragend ansah, und sprang auf. Samantha wollte und konnte es nicht zulassen! Niemals durfte Duncan etwas passieren, und sie war sich bewusst, dass es so kommen würde, wenn sie nicht verschwinden würde. Samantha würde verschwinden und alle anderen konnten sich wieder in Sicherheit wiegen. Dass er nicht gehen wollte, hatte er ihr schon einmal klar gemacht, was blieb ihr anderes übrig?

 

McKenzie sah ihr geschockt hinterher. „Samantha, was ist los?“ Er sprang auf, was allerdings nicht wirklich sichtbar war, weil er so gekrümmt da stand. Da war Duncan schon schneller, er warf nur einen Blick zu Lars, der sofort zu Rose ging, und folgte dann eilig seiner Freundin.

Auf dem Parkplatz konnte Duncan nur noch dem wegfahrenden Auto hinterher sehen. Wütend trat er gegen einen Autoreifen und fluchte leise vor sich her.

„Sam ist schon immer gerne weggelaufen“, sagte Nico McKenzie, der zu Duncan trat.

Leicht erschrocken drehte sich dieser um. „Hätte ich ihr gar nicht zu getraut. Ich bin Duncan und Sie ...“ Er überlegte, doch er wusste nicht, ob er diesem Mann schon einmal begegnet war.

„Nico McKenzie, ich habe den Schreibtisch neben Sam seit acht Jahren“, lächelte dieser.   

„Entschuldigung, ich muss dich einfach übersehen haben.“ Leicht verlegen senkte Duncan den Blick. Darauf hatte Nico regelrecht gewartet. Ehe sein Gegenüber reagieren konnte, landete ein Finger von ihm in der unteren Schlüsselbeinvertiefung. Geschockt weitete Duncan seine Augen, Nico hatte genau die Stelle gefunden, wo der Körper gelähmt wurde. Gerade so konnte er sich an einem Auto hinunterrutschen lassen, bevor er keine Macht mehr über seinen Körper verspürte.

„Du hast meinen Respekt, Duncan, und nur deshalb darfst du noch leben. Aber eins sei dir bewusst, noch in dieser Stunde werde ich mir deine Tochter holen und sie ein Leben führen lassen, was einer Frau gebührt. Noch mehr Frauen in diesem Beruf können wir uns nicht leisten, so geht das nicht.“ Nico zog eine Spitze hervor. „Ich bin der Meinung, Frauen haben zu Hause zu sein, und irgendwie glaube ich, dass du es bei Samantha auch lieber hättest. Jede Frau, die sich außerhalb dieser Regeln befindet, muss eliminiert werden. Du kannst mich sicher verstehen.“ Er setzte die Spritze an und stach zu. „Dieser Trick würde dich nur ein paar Minuten außer Gefecht setzen, doch ich brauch etwas länger. Nun schau doch nicht so fragend; ja, ich bin Jack. Und unauffällig genug für euer Profil? Du hast mich nicht mal in Erwägung gezogen.“

Duncan schloss kurz die Augen, er hatte Nico McKenzie ausgesondert. Durch dessen Behinderung am Rücken. Wie unterbelichtet kann man eigentlich sein?, fragte er sich selbst. Natürlich hätte es ihnen Jack nicht so leicht gemacht.

Jack schleifte Duncan zu den hintersten Autos des Parkplatzes. „Auf Wiedersehen an deinem Todestag!“ Er zwinkerte ihm zu und verschwand.

Nun war es eine Zeitfrage. Sich in Duncan zu verwandeln, war nicht gerade eine Sache von einer Minute. Jack zog sich seine Jacke aus, entfernte den Latexbauch und die Krümmstange an seinem Rücken. Er griff sich Vergrößerungsschuhe und zog sie an. Er war gerade 185 Zentimeter groß, hatte Schuhgröße 43 und wog 80 Kilogramm. Gut, sie hatten sich nur in den Größen und Gewicht vertan. Jack grinste, er hatte perfekt getäuscht, sich glatte sieben Zentimeter größer gemacht und seine Schuhgröße hatte er ebenso erweitert.

Natürlich kam er nie an die zwei Meter von Duncan ran, wenn er ihn nachahmte. Jedoch von weitem fielen zehn bis fünfzehn Zentimeter nie auf. Die Latexmaske saß nach fünfzehn Minuten, nun noch die Perücke und es sah schon annähernd perfekt aus. Nach einer weiteren halben Stunde stand er im Büroraum, fand auch sofort Roses Blick und lockte sie lächelnd zu sich.

 

„Onkel Lars, da ist Dad, ich gehe mal hin.“

„Mach das meine Süße!“, lächelte der, grüßte kurz seinen Freund und wandte sich wieder Leonard und Daniel zu, die gerade mit ihm die Ergebnisse der Analysen von Greg durchgingen.

Verwundert sah Rose ihren Vater an, der sie wortlos an die Hand genommen hatte und sie nun regelrecht hinter sich herzog. „Dad, was ist los? Du tust mir weh!“ Sie versuchte ihr Handgelenk zu befreien.

Lachend blieb er stehen, zog eine Spritze aus seiner Jacke. „Hat dein Vater dir nie beigebracht, nicht mit Fremden mitzugehen?“

Erschrocken weiteten sich Roses Augen. Ehe ein Schrei ihrer Kehle entrinnen konnte, hielt Jack ihr den Mund zu und setzte die Spritze an. „Schlaf schön, meine weiße Rose“, hauchte er in ihr Ohr und nahm sie auf den Arm.

 

Duncan lag da, langsam fuhr ein Schmerz durch seine Muskeln. Doch schlimmer war der Schmerz in seinem Herzen. Er wusste, sobald er sich bewegen konnte, würde er feststellen, dass seine Tochter weg war, und wo sie sich befand, war ihm mehr als bewusst.

Hatte Samantha recht gehabt? Wieso war er nicht zurückgereist? Wieso hatte er zugelassen, dass seine Eltern kamen? Wieso hatte er nicht aufgepasst?

„Hilfe“, kam es mehr als flüsternd aus seinem Mund, und doch versuchte er es immer wieder.

 

Samantha war keine zwei Blocks weit gekommen, saß hinter ihrem Lenkrad und weinte. Wütend über diese Schwäche wischte sie die Tränen weg und sah aus dem Fenster.

Sie hatte einen Parkplatz an einer Kreuzung ergattert, sah den vorbeifahrenden Autos hinterher, bis die Ampel auf Rot wechselte und die Wagen zum Stehen kamen. Seit über einer Stunde stand sie hier und sah dem Verkehr zu. Überrascht erblickte sie das Auto schräg hinter ihr. War das Duncan? War er ihr gefolgt? Das konnte nicht sein, denn er beachtete ihren Wagen nicht einmal. Tippte nervös auf dem Lenkrad rum. „Gar nicht seine Art“, flüsterte sie kaum hörbar, doch war es ja auch nur für sie gedacht. Das Auto, es war nicht das von ihm. Sie griff zu ihrem Handy, wählte die Nummer von Daniel, der nach dem zweiten Mal Klingeln abhob.

„Baker.“

„Hier ist Sam, kontrolliere mir das Nummernschild 9JIB697.“

„Kein Problem, was ist los?“ Im Hintergrund hörte man Daniel tippen.

„Eine Vermutung. Ist Duncan da?“

Daniel grummelte: „Nein, er ist mit Rose weg. Seine Eltern ärgern sich schon, er geht nicht ans Handy. Also, das ist das Auto von Nico McKenzie. Ähm, ein Kollege?“

„Mein Büronachbar, du Held. Wieso fährt Duncan dessen Auto? Ist Nico da?“ Samantha wurde immer angespannter, ein unwohles Gefühl machte sich in ihr breit.

Daniel sah sich im Büro um, schrie dann, damit es jeder mitbekam: „Nico McKenzie bitte melden“, doch es regte sich niemand. Lorena trat zu Daniel. „Nico ist eben Duncan und Samantha gefolgt.“

„Du hast es gehört?“, sprach er ins Telefon.

Samantha stieß die Luft aus. „Ja, und ich verfolge ihn jetzt. Ihr geht Duncan suchen.“ Es lief wie ein Film in ihrem Kopf ab. Sie sah Nico, wie er vor acht Jahren neben ihr den Platz einnahm, sie anlächelte. Er war fast immer da, er oder Ben. Manches Mal hatten sich Kollegen lächerlich gemacht, dass sie Behinderte magisch anziehen würde.

Nico passte überhaupt nicht ins Profil und doch kannte er es. Er war immer neben ihr, hatte jederzeit Zugriff auf ihren Schreibtisch und es würde niemanden auffallen. Seit dem Tod ihres Vaters legte er ihr regelmäßig ihre, ehemalige, Lieblings-Schokolade auf den Tisch, nur dadurch wusste sie bei Feierabend, dass er da gewesen war. Sie mochte die Schokolade mittlerweile nicht mehr, alles, was sie an ihre Eltern erinnerte, hatte sie begonnen nicht mehr zu mögen. Es war ein Zwiespalt in ihr, er passte nicht ins Profil und doch passte er genau.

 

Daniel sah zu Lars. „Wir müssen Duncan suchen.“ Verwirrt sah dieser ihn an, doch folgte er ihm, ohne etwas dazu zu sagen. Ihr Weg führte sie durchs ganze Revier und dann nach draußen. Bis hin zum Parkplatz sahen sie sich alles an, dann erblickte Lars seinen Freund. Duncan kroch über den Parkplatz, Zentimeter für Zentimeter kämpfte er sich zwischen den Autos nach vorne. „Verdammt, Duncan was ist passiert?“ Lars rannte zu ihm.

Dieser sah auf, sein Blick war tränenverschleiert und doch wütend zugleich. „Er hat Rose. Nico McKenzie ist Jack. Und nun hilf mir auf, wir müssen ihn finden.“ Seine Stimme zitterte. Lars griff seinem besten Freund unter die Arme, auf der anderen Seite positionierte sich Daniel. „Deckt sich mit dem, was Sam gesehen hat. Sie folgt ihm.“

„Bitte?“ Verwirrt sah Duncan ihn an.

„Sam rief an, hat nach einem Nummernschild gefragt. Dann sagte sie, dass wir dich suchen sollen. Ich habe ihr gesagt, dass du mit Rose weg bist. Sam folgt Jack.“

Hart schluckte Duncan. „Ihnen darf nichts passieren, ortet Samanthas Handy. Informiert euch über Nico, ich will alles über ihn wissen, jede noch so unwichtige Sache.“ Seine Stimme wurde langsam wieder fester und vor allem rauer. Sie waren ins Großraumbüro getreten.

Geschockt eilten Vera und Eric zu ihrem Sohn. „Was ist passiert? Wo ist Rose?“

„Ich habe sie nie hier abgeholt, schön dass ihr mich alle erkennt“, kam gereizt die Antwort.

Lars senkte den Blick. „Er stand an der Tür, Duncan ...“

„Entschuldigt, ignoriert es. Ortet Sam, bringt mir die Infos“, raunte er und nahm auf einem Bürostuhl Platz, mit dem er sich momentan schneller fortbewegen konnte.

Eric legte eine Hand auf die Schulter seines Sohnes. „Jack hat Rose und Sam?“

„Nein, nur Rose, aber Sam folgt ihm. Paps, du hast ein fabelhaftes Gedächtnis: Was kannst du mir zum Verhalten von Nico McKenzie sagen, Tischnachbar von Sam.“

„Ruhiger Typ, Bauchansatz, Halbglatze, Buckel auf dem Rücken. Sehr intensive Augen, hat immer Sam angesehen, ich hatte vermutet, dass er sie sehr mag. Sie scheint die Einzige zu sein, die ihn etwas beachtet. Er ist unscheinbar“, erläuterte er seine Beobachtung seinem Sohn gegenüber.

„Hättest du ihn als Mörder eingeordnet?“ Duncan schenkte seinem Vater einen intensiven Blick.

„Im ersten Moment nicht, nein. Allerdings habt ihr von einer unscheinbaren Person geredet, die kommen und gehen kann, wie sie will. Die nie auffällt, doch da ist. Genau das trifft auf den Mann zu. Wie waren die Profildaten?“

„185-190 Zentimeter, Schuhgröße 44,5 durch eine Fundstelle festgestellt, die Auswertung dieses Schuhabdruckes hat ergeben, dass er ungefähr 95-105 Kilogramm wiegt.“

Daniel nickte bestätigend. „Nico ist mit Buckel knappe 170, ohne schätzt man ihn auf 178-180 Zentimeter. Das Gewicht kommt hin, aber die Schuhgröße ist laut Unterlagen 43. Meine Frau schwört, dass er meine Größe hatte. Ich bin 187 Zentimeter.“

„Meine lieben Jungs, wie schummeln sich Frauen größer?“, mischte sich nun Vera ein. „Schuhe, es ist keine Kunst und manchmal nicht sichtbar“, beantwortete sie selbst ihre Frage.

„Danke Mom ... Okay, wir müssen ein Foto von Nico haben.“ Das hielt Daniel in mehrfacher Ausführung nach oben. „Super, ruft mir Leonard, er soll sehen, ob er was für mich tun kann. Die Lähmung lässt nur langsam nach.“

Er kam sich so hilflos vor, allein der Gedanke, seine Tochter in den Händen von diesem Mörder zu wissen, ließ seinen Magen rebellieren. Und wenn er an Samantha dachte, kamen ihm sofort wieder die Bilder von Victoria ins Gedächtnis. Das erste Mal seit Jahren lehnte er sich mit dem Kopf gegen seine Mutter, ließ sich von ihr die Haare streicheln. Vera brach es bald das Herz, ihren Sohn so zu sehen. „Duncan, es wird alles gut, glaub nur dran.“

„Mom, was mache ich, wenn nicht? Ich habe die Bilder in Jacks Haus gesehen, was sein Vater mit Victoria gemacht hat, sie war Sams Mutter.“

Sie nickte verstehend, ging vor ihrem Sohn auf die Knie. „Ich sag es nur ungern, aber denk dran, wer du bist und was du tust. Du bist Polizist und als dieser darfst du im Moment keine Schwäche zeigen. Reiß dich zusammen und schnapp dir den Kerl. Danach darfst du gerne wieder mein kleiner Duncan werden“, sagte sie in einem mahnenden Ton.

Duncan straffte sich, nickte bestätigend und sah dann Leonard, der mit einer Spritze auf ihn zukam. „Junge, Junge was machst du nur? Sei froh, dass ich mittlerweile seine Zusammensetzung kenne, der Dank gilt Miller und Jahn beizeiten.“

„Ich schicke ihnen einen Präsentkorb“, raunte Duncan und verzog sein Gesicht, als Leonard ohne Vorwarnung zustach.

„Ich werde es ausrichten, geb dem Mittel fünf Minuten, am besten bewegst du dich etwas, damit es schneller jeden Muskel erreicht. Und dann bringst du deine Tochter und Samantha zurück, verstanden? Ich habe Samuel versprochen auf sein Mädchen aufzupassen und dieses Versprechen habe ich nicht gehalten, aber du schaffst das, in Ordnung?“ Leonard wartete keine Antwort ab, verschwand einfach wieder.

Vera lächelte, was wohl bald ein Lachen geworden wäre. „Momentan ist hier eine Sentimentalität.“

„Nun, Sam ist die Tochter zweier Polizisten, die brutal ermordet wurden. Seth, Steve und Leonard waren gute Freunde von ihnen. Sie haben alle geschworen, auf Sam aufzupassen“, erklärte Duncan und fing an in kleinen Schritten durchs Büro zu wandern.

 

Samantha hatte Mühe Jack zu folgen, mittlerweile war sie sich sicher, dass er es war. Er hat Rose, ging es ihr durch den Kopf. Genau das war eingetroffen, was sie verhindern wollte.

Roses Gesicht erschien vor ihr, diese wundervollen Augen, die sie ansahen, offen und freudig. Nie hätte Samantha das erwartet, schließlich war Rose schon zehn Jahre alt und gewohnt, ihren Vater für sich zu haben. Unweigerlich schlich es in ihren Kopf, ob es funktionieren könnte, sie als „Mama“ für Rose?

Als Frau für Duncan? Samantha Parker hörte sich zumindest nicht schlecht an. Schnell rieselte sie sich den Kopf frei, das war der falsche Moment für solche Gedanken, so schön wie sie waren.

Mittlerweile befanden sie sich außerhalb von Los Angeles, fuhren seit einer Stunde und Samantha versuchte so gut es ging, ungesehen zu bleiben. Ob das wirklich funktionierte, wusste sie nicht und doch wollte sie nicht aufgeben. Die Chance würde er sich wohl nicht entgehen lassen, falls er sie gesehen hatte, denn so hätte er Samantha da, wo er wollte.

Drei Stunden lang fuhren sie, bis Jack seinen Wagen in den Mojave National Preserve lenkte. Ein riesiges Waldgebiet. Sein Auto war von der Straße nicht mehr zu erkennen, als er es ins Unterholz lenkte. Samantha blieb an der Straße, schlich im angemessenen Abstand hinter ihm her. Immer tiefer ging es in den Wald hinein, immer dichter standen die Bäume aneinander.

Das Zeitgefühl war weg, nur durch ihr Handy konnte sie ausmachen, dass sie schon eine halbe Stunde liefen. Erschrocken nahm sie wahr, dass der Empfang unterbrochen war, und hoffte inständig, dass er bald wieder bestand.

An einer Hütte hielt Jack an, trat einmal dagegen, was wohl als Klopfen gelten sollte. Eine Frau machte auf, es war Karla, das erkannte Samantha sofort. Ihr Kopf war gesenkt, sie zog Jack die Schuhe aus und ließ ihn eintreten, dann wurde die Tür verschlossen.

 

 

Jack lächelte in sich rein, natürlich hatte er Samantha bemerkt, schon an der Ampel, und als sie telefonierte, wusste er auch, dass er aufgeflogen war. Niemals hatte er mit der törichten Handlung gerechnet, dass sie ihm alleine folgte. Allerdings machte ihm nun seine Voraussicht Freude. Hatte er doch ein Virus in das Ortungssystem der Polizei gespeist, das freigesetzt wurde, sobald man Samanthas Nummer einspeiste.

Es war perfekt, der Computer zeigte falsche Daten an und würde ihre Kollegen an eine andere Stelle führen, bevor sie das entdeckten, wären Stunden vergangen. Seine genaue Beobachtungsgabe hatte ihn verraten, dass sie die ganze Fahrt nicht telefonierte, auch nicht anderweitig kommuniziert. Er hatte also alle Zeit der Welt.

 

Sam blickte immer wieder auf ihr Handy, doch es wollte sich kein Netz zeigen. Was sollte sie nur tun? Ihre Hand glitt zu ihrer Waffe. Genau: Sie würde sie zücken, reinstürmen und schießen. Natürlich und dann versehentlich Rose treffen und sich dann selbst die Kugel geben. Sie lachte innerlich sarkastisch auf.

Wie lange brauchen die denn, sie müssten doch schon längst hier sein, verzweifelte sie in Gedanken und blickte sich um. Gerade als Samantha sich auf den Weg zur Straße machen wollte, hörte sie hinter sich ein Lachen. „Samantha, komme zurück.“ Sie erschauderte bei dieser Stimme. Wollte losrennen, als Rose das Wort an sie richtete.

„Sam, hilf mir.“

Sie drehte sich langsam um. Jack hatte Rose mit einer Hand an den Haaren gepackt, in der anderen hielt er ein Skalpell. „Komm zurück“, grinste er sie an. „Und die Waffe lässt du liegen, sei so nett.“ Schon lag das Skalpell an der Kehle von Rose. „Nicht meine Art, aber besondere Situationen, benötigen besondere Maßnahmen.“

Langsam ließ Samantha ihre Waffe fallen und ging auf Jack und Rose zu. „Braves Mädchen, und nun rein mit euch, wir werden heute Spaß haben!“ Er lachte und stieß Samantha und Rose in ein kleines Zimmer. Die Türe wurde von außen verriegelt und sie blieben zurück. Weinend warf sich Rose in Sams Arme, die drückte sie fest an sich und versuchte das Mädchen zu beruhigen.

 

 

Karla sah nur kurz auf, doch wurde es gleich von Jack wahrgenommen. „Rede offen!“, befahl er ihr.

„Was hast du mit ihnen vor?“

„Rose werden wir beibringen, wie eine Frau zu sein hat; und Samantha, sie wird diesen Tag nicht überleben.“

Bei dem zweiten Namen zuckte Karla zusammen, sie hatte die Fotos von Victoria gesehen und ahnte, was passieren sollte. „Wirst du sie wie diese Frau auf den Fotos ...“

„Das war mein Vater, ein Stümper. Ich erschaffe Meisterwerke.“ Er griff an das Amulett, das er immer um seinen Hals trug. Fuhr das Kreuz auf der Bibel nach, oder den Sarg, wie er es betitelte. Seine Verbindung zu Samantha; und heute würde es eine unwiderrufliche Zusammenführung geben. Er würde sich ihr Herz nehmen.


 

Kapitel 15

 

Roland stürmte ins Büro. Samantha war seit über zwei Stunde ohne Kontakt zu ihnen und jedes Ziel, was das System zeigte, war eine Sackgasse. „Er hat euch gefoppt. Ein Virus ist im System, der Typ meint wohl, er sei genial, aber kannte mich da noch nicht!“ Seine Augen waren zu Schlitzen verkleinert. An seiner Ehre sollte man Roland nicht packen.

Allein dass Jack der Grund war, dass man ihm misstraut hatte, war schon zu viel für sein Gemüt.

Duncan drehte sich um. „Wie hast du es gefunden? Ich sehe nichts!“

„Ich werde nicht dafür bezahlt, nichts zu sehen. Er hat sich in mein Baby eingeloggt und ich sehe immer, wenn jemand meint, mein Baby anfassen zu dürfen“, grummelte Roland.

„Er war an deinem Computer und du hast es nicht bemerkt?“

Daniel schüttelte hastig mit dem Kopf. „Sein Baby ist das System. Er hat es entwickelt, speziell für uns.“

„Genau Dan, du lernst dazu. Und dieser ... meint ernsthaft ich lasse es unbewacht. Mein System lässt Eingriffe zu, allerdings sagt es mir dann Bescheid. Es ist ein versteckter Virus, und als ihr die Nummer von Sam eingegeben habt, ist es aufgewacht. Ich muss an den Computer, wo es geschehen ist, und dann könnt ihr in zwei Minuten weitermachen.“

Duncan stand sofort auf und machte dem Computerspezialisten Platz. Doch kaum zwei Minuten später fluchte Roland. „Sam scheint keinen Empfang zu haben, ich sehe sie nicht. Mein System findet sie einfach nicht.“

Erics Gesichtsausdruck war verkniffen, als er an den Schreibtisch von Duncan trat. „Sagen Sie, Roland, könnten Sie auch einen Kinderfinder orten?“

„Die haben keine große Reichweite. Wenn er nah genug ist, ja.“

„Es ist eine Neuentwicklung. In der Uni, wo ich arbeite, haben sich ein paar Jungs zusammengeschlossen und ihn entwickelt. Rose trägt ihn.“ Duncan sah überrascht zu seinem Vater. „Ich weiß, du hältst nichts davon, Junge, aber es sollte nur als Test sein, und irgendwie dachte ich, es wäre gut.“

„Paps, wenn das funktioniert, hast du einen Wunsch frei, du bist genial.“

So lag alle Hoffnungen auf der Neuentwicklung von ein paar Studenten aus New York, die sofort kontaktiert wurden und ihren Computer freigaben, damit Roland zugreifen konnte.

 

 

Die Tür zum Zimmer von Samantha und Rose wurde geöffnet, lächelnd trat Jack ein. Er hatte die Maskerade entfernt und stand nun für Samantha als Nico erkennbar, da.

„Rosemary“, sagte er grinsend. „Deine erste Lektion, Rosemary. Du wirst sehen, wie es Frauen ergeht, die nicht gehorchen.“ Dabei ging er auf Sam zu, packte sie an den Haaren und zog sie hoch. „Mitkommen, Rosemary!“

Rose schüttelte es immer wieder, wenn er ihren Namen so aussprach. Es klang unheilvoll und drohend. Langsam stand sie auf und folgte ihm. Ihre Nervosität war nicht zu verbergen, sie zitterte unaufhörlich. „Rosemary, zieh dich um.“ Jack wies auf einen Stuhl, wo ein Kleid lag.

„Ich möchte nicht“, wisperte sie.

Schon lag Samantha auf dem Boden und ein Schlag folgte in ihr Gesicht. Sie wischte sich über den Mund, der halb getroffen wurde, und schmeckte sogleich Blut. Rose hatte ihre Augen vor Schreck geöffnet, kam sofort der Aufforderung nach sich umzuziehen.

„Mach ihr nichts vor, du würdest es auch tun, wenn sie dir aufs Wort folgt“, grinste Samantha und stand wieder auf.

„Bitte tu ihr nicht weh, bitte“, schniefte Rose unterdessen immer wieder.

Samantha fiel erst jetzt auf, dass sie fast gleich groß waren, Jack und sie. Lässig lehnte sie sich zurück, plötzlich war sie die Ruhe selbst. „Wie deine Mutter“, lachte Jack. „Erst verängstigt und dann plötzlich locker und die Ruhe selbst. Es wird dir nichts helfen, du stirbst heute.“

„Meinst du also, in Ordnung“, sagte sie leichthin und Jack war irritiert. „Aber sei dir eins gewiss: Ist heute mein Todestag, so ist es auch deiner!“

Kaum den Satz zu Ende, griff Jack zu einer Gerte und schlug Samantha auf die Oberschenkel. Schmerz durchfuhr ihren Körper und doch zeigte sie es nicht. Außer einem leichten Zucken blieb sie ruhig stehen und sah ihm in die Augen. „Du meinst du seist stark? Ich werde dir deine Grenzen zeigen, ich werde dich flehen hören.“

Beruhigt sah Samantha, dass Karla Rose weggedreht hatte, damit diese den Anblick nicht ertragen musste. Um Verzeihung flehend sah Karla in Sams Richtung, Schuldgefühle und Schmerz lagen in ihren Augen.

„Hat meine Mutter gefleht? Nein, niemals!“, sagte Samantha zwinkernd und fühlte sich bestätigt, als Jack wieder die Gerte schwang.

„Mein Vater war ein Stümper, er wusste nichts.“ Er biss die Zähne zusammen und schlug ein weiteres Mal zu. Befriedigt sah er, dass Samanthas Hose aufgerissen war und Blut hervor rann.

Sie nickte immer noch ruhig. „Du hast ihm ja eine gute Lektion erteilt, genau wie deiner Mutter und der Katze. Was hat sie Böses getan? Miaut?“

„Woher? … Ihr habt mein Haus entweiht?“ Wut drang aus seinen Augen, purer Hass. Er griff wieder in Samanthas Haar und zerrte sie nach draußen.

„Ja, haben wir. Sehr interessant, muss man sagen.“

„Wo sind meine Eltern?“, raunte er dicht an ihrem Gesicht. „Wo haben diese Bastarde sie hingebracht?“

Samantha lächelte. „Also gestern waren sie in der Gerichtsmedizin. Ich meine, heute werden sie verbrannt.“ Sie hatte ihn, sie wusste es genau. Fast schon schlampig band er Samantha an einen Baum. Die Fesseln saßen locker, sodass sie nur auf den richtigen Moment warten musste, um sich zu befreien.

„Rosemary, komme her!“, rief er das Mädchen, das sogleich herbeieilte. Ihre Augen wanderten über Samantha, sahen die Wunden am Bein. Doch auch diesen Blick, den Samantha ihr zuwarf der immer noch sagte: Alles wird gut.

„Was macht dein Papa, wenn du böse bist, Rosemary?“, fragte Jack.

„Er schimpft und schickt mich auf mein Zimmer.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein zartes Flüstern.

„Da haben wir das Problem. So geht das nicht, eine anständige Züchtigung ist das A und O einer Erziehung, verstehst du das?“

Das tat sie nicht, schüttelte den Kopf und sah zu Samantha.

Jack nahm ein kleines, aber breites Brett. „Nun, mein Beispiel ist Samantha. Sie ist unhöflich, respektiert mich nicht, und das kann man nicht dulden. Somit muss sie die Konsequenz tragen.“ Das Brett schnellte durch die Luft und traf Samantha auf der rechten Hüftseite.

Sie hatte es geahnt, versucht sich darauf vorzubereiten, doch der Schmerz, der durch ihren Körper schoss, ließ Samantha unweigerlich nach Luft schnappen.

„Du tust ihr weh, bitte hör auf“, jammerte Rose und stellte sich zwischen Jack und Samantha.

Diese lächelte Rose zu. „Geh auf die Seite, bitte Rose. Es ist alles in Ordnung.“ Doch kaum hatte Rose Folge geleistet, traf Sam der nächste Schlag auf die linke Hüftseite. Abermals schnappte sie nach Luft.

„Rosemary, du machst, was ich sage, und ich sagte nicht, dass du zu ihr gehen darfst“, raunte Jack. „Jedes Mal, wenn du was tust, was du nicht darfst, muss ich ihr wehtun.“

Betroffen senkte das Mädchen den Kopf, innerlich schrie sie nach ihrem Vater, flehte, dass er kam. Wie immer, wenn sie was hatte, immer war ihr Vater gekommen und alles war gut.

 

„Wir haben sie. Gott gelobe, wir haben sie!“, rief Roland, obwohl alle neben ihm standen und gebannt den Bildschirm beobachteten. „Es liegt drei Stunden von hier, ein Waldgebiet. Mojave National Preserve.“

Steve schnappte sich sein Handy und keine Minute später sah er zu Duncan. „Schnell zum Hubschrauber, er bringt euch hin. Die Kollegen in der Nähe kommen zur Unterstützung dazu.“

Ein dankbarer Blick kam von Duncan, dann sah dieser zu seinen Eltern, fand keine Worte und lächelte nur. „Dan, Lars und Leonard zum Hubschrauber!“

Leonard sah irritiert zu ihm. „Willst du nicht lieber Seth mitnehmen?“

Es war Seth, der seinem Freund auf die Schulter schlug und ihm dessen Tasche in die Hand drückte. „Nein du, kümmere dich gut um Sam, versprochen?“

Jetzt erst wurde Leonard bewusst, welche Rolle er spielte. Entweder musste er Sam zusammenflicken, oder ... Den Gedanken führte er lieber nicht zu Ende.

 

Es kam ihnen wie unendlich viele Stunden vor, bevor sie endlich landeten und schon von einem Spezialkommando, das aus acht Männern bestand, erwartet wurden. „Parker, Buster, Baker und Lost“, stellte Duncan sie flüchtig bei dem Kommandoleiter vor.

Der nickte jedem zu. „McLain. Also es gibt hier nur eine Hütte in dem Gebiet, sie gehört einem Nico McKenzie, und wie Ihr Chef bestätigt hat, ist er der Verdächtige. Ein Kollege?“, fragte der Polizist noch, dessen Augen in einem intensiven Stahlblau leuchteten. Er musste circa 30 Jahre sein, auch wenn ihn sein Vollbart älter wirken ließ. Er war diese Art Cop, der nur ein Ziel kannte: die Aufgabe erledigen, egal um welchen Preis.

„Korrekt. Allerdings sind drei Menschen in seinen Händen.“

McLain seufzte. „Also keine Hauruck-Aktion, habe verstanden. Trog hat Ihnen das Kommando überlassen, wir werden auf Ihre Anweisungen warten“, sagte er und stellte sich damit unter die Befehlsgewalt von Duncan.

 

Rose weinte nur noch, egal was sie tat oder was nicht, immer wieder verletzte Jack Samantha. Am Anfang noch mit der Gerte, dann mit dem Brett und mittlerweile hatte er zum Skalpell gewechselt. Immer wieder sah Rose zu Samantha, sah das Blut, das aus unzähligen Wunden rann. Angst beherrschte ihren Kopf, auch wenn Samantha ihr mit den Augen zu vermitteln versuchte, dass es ihr gut ging.

Das Skalpell schnitt Samantha durch ihre Bluse an der Brust entlang, sie unterdrückte das Verlangen zu schreien oder die Augen zu schließen, sie sah weiter wach in Jacks Augen. „Es ist erbärmlich, was du ihr antust. Wieso muss sie hierbei zusehen? Brauchst du die Bestätigung?“

Jack grinste. „Nein, es macht Spaß und zudem breche ich sie. Sie wird mir nie wieder widersprechen, nicht wahr, kleine Rosemary?“

Diese nickte, hatte den Blick gesenkt, so wie er es verlangte. Wie gerne hätte sich Samantha aus den Fesseln gelöst, doch Jack stand einfach zu nah an Rose, er brauchte sich nur drehen und hatte das Mädchen als Schutzschild vor sich. Zwar sagte das Profil eindeutig, dass er nie einem Kind etwas antun würde, allerdings hatten sie sich schon zu oft getäuscht, es war zu gefährlich.

Irgendwie musste sie es schaffen, dass Rose weg von ihm ging, am besten hinter sie. Ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren, verdrängte die Schmerzen. Langsam fingen ihre Finger an sich aus den Fesseln zu lösen, Jack würde nicht mehr lange bei diesen leichten Verletzungen bleiben, das war ihr bewusst.

Ausgerechnet Karla schenkte ihr eine Chance, ihren Plan ein Stück näher zu kommen.

Diese trat gerade aus der Hütte, den Blick gesenkt trat sie zu Jack. „Was?“, fragte er rau.

„Verzeih Henry, aber das Feuer ist ausgegangen, ich habe das Wasser verschüttet. Leider sind mir die Streichhölzer ebenfalls nass geworden und ich wollte das Abendessen richten“, kam es leise aber klar verständlich aus ihrem Mund. Jack nickte.

„Das passiert, meine Liebe.“ Lächelnd reichte er ihr neue Streichhölzer. Kaum wollte sie diese entgegennehmen, zog er einmal das Skalpell über ihren Handrücken. „Achte auf dein Werkzeug.“

„Ja und herzlichen Dank“, schluckte sie erstickt und verschwand wieder ins Haus.

 

 Samantha hatte sich in der Zwischenzeit befreit und Rose zu sich gezogen. „Bleib hinter mir, egal was passiert, verstanden?“, flüsterte sie ihr ins Ohr. Das Mädchen nickte eilig und stellte sich sofort hinter Samantha.

Als Jack sich umdrehte, traute er seinen Augen nicht. „Rosemary, komme wieder zu mir.“

Rose zuckte zusammen, wollte schon den ersten Schritt tun, als sie Samanthas Hand an ihrer spürte. „Hör auf dein Innerstes, was sollst du tun?“

„Ich bleibe hinter dir“, sagte Rose mit unverhofft fester Stimme.

„Deine letzte Chance, Rosemary, sonst muss ich sie bestrafen!“

Doch Rose blieb hinter Sam, hielt sich die Ohren zu, um diese grauenvolle Stimme nicht mehr hören zu müssen.

 

 

„McLain wie weit ist es noch?“, raunte Lars und kämpfte sich so leise wie möglich durch etliches Gestrüpp, und das seit einer halben Stunde.

„Wenn wir normal gelaufen wären, hätte eine halbe Stunde ausgereicht. Da wir aber nicht so laufen können, werden wir noch fünfzehn Minuten brauchen. Schwächeln Sie, Buster?“ Der Spezialagent zog die Augenbrauen hoch.

Statt einer Antwort warf Lars ihm nur einen abwertenden Blick zu und richtete seine Aufmerksamkeit zu Duncan. „Wie gehen wir vor?“

„Das ist eine gute Frage. Wenn ich wüsste, was uns genau erwartet, würde ich dir eine Antwort geben. Dein einziger Auftrag ist Rose zu holen und dann so weit es geht zu verschwinden, geht das klar?“ Ein flüchtiger Blick warf Duncan zu seinem besten Freund.

„Natürlich.“ Lars nickte und sah noch mal zu McLain.

Dieser hatte die Stirn gekräuselt. „Darf ich wissen, in welcher Beziehung Sie zu Rose stehen?“

„Sie ist meine Tochter. Wagen Sie es nicht, mich jetzt darauf hinzuweisen, dass ich hier nichts zu suchen habe. Das weiß ich selbst, und doch sind Sie mir alle unterstellt. Somit bitte ich Sie um volle Konzentration.“ Der Blick von Duncan ließ alle verstummen, die gerade noch Protest einlegen wollten.

„Was machen Sie in New York genau?“, fragte McLain Lars leise.

„Spezialagenten der Einheit für Mord bei der Mafia. Oder wie sie geläufiger genannt wird die Selbstmordeinheit.“

Große Augen blickten ihn an. „Wieso sind Sie dann in Los Angeles?“

„Wir wurden angefragt und haben angenommen. Jack wird seit Jahrzehnten gesucht, hat so viel Opfer auf dem Gewissen. Es reizt, was anderes zu machen und zu wissen, wenn wir ihn haben, ist es vorbei. Fünf Jahre lang aussichtslos Morde aufklären zu wollen ist nicht gerade sehr erbauend.“

Verstehend nickte McLain, innerlich wuchs sein Respekt für die Männer um einiges. Fünf Jahre auf den New Yorker Straßen in dieser Einheit zu überleben, kam einem Lottogewinn gleich. Man musste hart, gefühllos und immer auf höchster Konzentrationstufe arbeiten. Allein der Anblick der zwei großgewachsenen Männer hatte schon verraten, dass sie fähig waren, doch das hatte er nicht erwartet. Mit den Größen von knapp zwei Metern und den doch durchtrainierten Körpern war es eher verwunderlich, dass diese beiden nicht die Seiten gewechselt hatten.

Bei der Mafia auch ein gängiges Mittel, die Polizei loszuwerden, diese einfach in ihre Reihen aufzunehmen. McLain hob die Hand, was hieß, dass alle anhalten mussten. „Wir sind da!“, sprach er leise.

Tief durchatmend trat Duncan neben McLain und sah zum Haus, das sich vor ihnen zeigte. Sein Herz blieb fast stehen, als er Samantha sah und hinter ihr, wenn er richtig vernommen hatte, stand Rose. „Sie leben! Habt ihr freie Sicht auf Jack?“ Er sah fragend zu den Scharfschützen. Diese schüttelten mit dem Kopf, war Jack doch gerade hinter dem Stamm des Baumes verschwunden, weil er Samantha immer weiter zurückdrängte.

 

„Rosemary, deine letzte Chance“, hörte man ihn sagen.

„Sie wird nicht auf dich hören. Du wirst sie nicht bekommen, nie in meinem Leben“, kam es lächelnd von Samantha, was Duncan einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.

Lars schaltete ab, nach diesem Satz wusste er, er würde in Samanthas Sinne handeln. Er überblickte die Situation, sah genau wo Rose war, rechnete sich aus, wie lange er bis zu ihr brauchte, und sah zur anderen Seite, wie sein Fluchtweg aussah. „Daniel, ich laufe da lang!“

„In Ordnung, viel Glück“, erwiderte Daniel, der den Auftrag hatte, sich um Karla zu kümmern.

„Das braucht ihr, ich brauche Ausdauer. Tschau“, und ehe ein anderer was mitbekam, rannte Lars los. Trotz seiner Masse hatte er eine beeindruckende Geschwindigkeit, er schnappte sich Rose und rannte.

 

Jack reagierte sofort. Den Überraschungsmoment von Lars auf seiner Seite, schnappte er sich Samantha, und diese hatte sogleich das Skalpell an ihrem Hals anliegen. „Duncan, komm raus!“, schrie er in den Wald. Dieser trat mit Daniel an seiner Seite auf die Lichtung, wo das Haus stand. „Ach, Daniel auch dabei. Sag bloß, du willst deine Partnerin retten, nach der ganzen Geschichte.“

Daniel grinste. „Unserer tollen Vorstellung? Die war grandios, ich weiß. Wie hast du denn meine Reaktion zu Sarahs Tod empfunden? Genauso gut geschauspielert, oder? Sie lebt, Jack!“

Dieser war schockiert, seine Blicke wanderten unstet umher. „Sie ist tot“, sprach er, doch die Unsicherheit war zu hören.

„Als ich vor vier Tagen bei ihr war, waren ihre Wunden noch gut am Verheilen und sie sah recht lebendig aus“, krächzte Samantha. Immer mehr drückte Jack ihr das Messer an den Hals, das sie sich nicht traute, normal zu sprechen oder sich zu bewegen.

Sie spürte das Blut an ihrem Hals hinab laufen und das Brennen, das sich langsam entwickelte und ihre Nervenbahnen vereinnahmte. Hilfesuchend sah sie zu Duncan, allein sein Anblick ließ sie bald weinen und sich den Moment im Hotel zurück wünschen. Er lächelte ihr zu, ein Lächeln, wie sie es Rose geschenkt hatte. Alles wird gut, und doch zweifelte sie daran.

 

Ihr Herz schlug immer schneller, was Jack nicht verborgen blieb. „Wirst du nervös, mein Engel? Er lässt dein Herz höher schlagen? Du bist erbärmlich!“ Er lachte ein unheilvolles Lachen. „Leonard? Bist du auch da?“ Es war eher eine rhetorische Frage, denn seine Stimme sagte, dass er es wusste. So trat dieser aus dem Wald hervor. „Wie nanntest du meine Kunst? Schnitte, richtig?“ Nur ein Nicken des Gerichtsmediziners. „Das sollen Schnitte sein?“, keifte Jack und riss Samanthas Bluse von ihrem Körper. Jeder sah die zugefügten Wunden in ihrem Brustbereich, auch wenn der BH noch einiges verdeckte. „Sieht das für dich wie Schnitte aus?“

 

Jetzt war die Zeit für Ehrlichkeit vorbei, das war Leonard bewusst. „Nicht wirklich, sie sind fein säuberlich und präzise. Es gibt leider kein anderes Wort, um solche Wunden zu dokumentieren. Ich muss mich entschuldigen für die abwertende Bezeichnung Ihrer Kunst.“ Seine Worte klangen ehrlich und aufrichtig.

„Ich wusste, dass du nicht so ein Stümper bist, das Praktikum hat mir gezeigt, mit wie viel Gefühl du dich um meine Kunstwerke kümmerst.“

Daniel flüsterte, fast keine Mundbewegung war zu sehen: „Was ist mit ihm los?“

„Er hat den Verstand verloren, er dreht durch. Was auch immer gerade in ihm vorgeht, es macht ihn unberechenbar“, kam es ebenso leise von Leonard zurück. Langsam, aber sicher verlor auch Duncan den Verstand, er brauchte dringend Lars, nur zusammen waren sie das perfekte Team. Er konnte nicht mehr aufzählen, wie oft sie solch einer Situation gegenüberstanden hatten und doch war er im Moment überfordert.

Sein Blick wanderte umher, dann sah er Karla, die sich aus dem Haus schlich. Duncan machte ein Zeichen an Daniel und der rannte los und fing sie ein. Jack sah irritiert zwischen Duncan und der Richtung, in die Daniel verschwunden war, umher. „Daniel, komm zurück.“ Wie auf Befehl tauchte er wieder auf, zusammen mit Karla, die er fest am Arm gepackt hatte. „Karla, hier hin.“ Sie sah zu Daniel, ihre Augen flehten darum, sie loszulassen, doch er hielt sie weiter fest. „Lass sie los!“

„Lass Samantha los und wir tauschen“, entgegnete diese locker zwinkernd.

„Sie gehören mir, sie sind mein. Karla ist meine Frau und Samantha das Geschenk meines Vaters. Gib sie mir wieder.“ Jack wankte mit der Stimme wie der Wind mit seiner Richtung. Momentan klang er wie ein kleiner bockiger Junge. War er wirklich am Durchdrehen oder versuchte er es nur allen vorzumachen?

Duncan traute der Sache nicht, irgendwas lief hier schief, sie schienen das Ruder zu verlieren. Mit gerunzelter Stirn sah er sich um, eine Idee musste her und das am besten vor fünf Minuten.

 

„Onkel Lars, bitte halt an“, schrie Rose und schlug mit ihren Fäusten gegen ihn.

Schwer atmend blieb Lars stehen und ließ sein Patenkind auf den eigenen Füßen stehen. „Ich muss dich wegbringen, in Sicherheit.“

„Bin ich jetzt, aber nun geh Sam retten, bitte“, flehte sie ihn mit ihren großen blauen Augen an. Die Tränen, die sich in ihnen zeigten, taten ihr Übriges.

„Duncan bringt mich um.“

Erleichtert lächelte Rose. „Aber überleg mal, wie traurig er ist, wenn Sam noch mehr passiert.“

„Noch mehr?“, interessierte sich Lars.

Schuldbewusst sah sie zum Boden. „Ich habe ihm nicht gehorcht, da hat er sie mit der Hand ins Gesicht und einem Starb auf die Beine geschlagen, dann mit einem Brett hier hin“, sie wies auf ihre Hüfte. „Und dann hat er sie an der Brust ganz oft geschnitten.“ Tränen liefen ihr über die Wangen, sie schniefte herzzerreißend.

Sanft zog Lars sie an sich. „Das war nicht deine Schuld, er hätte ihr auch ohne dich wehgetan.“

„Das hat Sam auch gesagt. Bitte, Lars, rette sie!“

Er nickte nur noch, dann nahm er seine Patentochter wieder auf den Arm und rannte zurück. Wut staute sich in ihm auf, wusste er doch selbst, wie weh die Schnitte getan hatten, kannte er Schläge mit Rohr und Paddel, doch alles in gegenseitigem Einverständnis. Das, was hier gerade vor sich ging, war für ihn einfach zu viel.

 

Samanthas Atmung wurde hektischer, als Jack das Skalpell immer tiefer in ihren Hals schneiden ließ. Die Diskussion mit Daniel dauerte einfach schon viel zu lange. Dass der hinter ihr stehende Mann es langsam, aber sicher leid war, bekam sie zu spüren.

„Verdammt, Daniel, lass sie los!“, rief Samantha, was ihren Hals in die Klinge drückte. Heiß lief das Blut ihre Kehle hinab. Daniel zuckte zusammen, sah das Blut fließen und ließ von Karla ab. Diese eilte zu Jack, der ihr erst einmal eine Ohrfeige verpasste.  

„Wo wolltest du hin?“

Von der Wucht des Schlages hingefallen, rappelte sich Karla schnell wieder auf, senkte ihren Blick und schwieg. Sie wusste, dass keine Antwort erwünscht war.

Leider hatte es Samantha nicht geholfen, dass er seine Hand wegnahm, denn es war die ohne Skalpell, das hielt er weiter an ihren Hals und hatte sie während des Schlages abermals geschnitten. Langsam streikte ihr Körper, den Blutverlust aus den unzähligen kleinen Wunden schien sie unterschätzt zu haben. Immer wieder sah sie kleine schwarze Punkte vor ihren Augen tanzen. Waren die Wunden eventuell doch nicht nur oberflächlich, wie sie angenommen hatte? Sie schwankte leicht, versuchte sich mit aller Kraft auf den Beinen zu halten.

„Schwächelt mein Engel? Was dachtest du, was ich dir antue? Nur kleine Verletzungen? Im Prinzip richtig“, hauchte Jack ihr ins Ohr.

„Was?“ Sam nahm es nicht mehr ganz wahr, die schwarzen Punkte wollten nicht mehr vor ihrem Auge verschwinden. Ihr Körper schien in Flammen zu stehen, raubten ihr die Fähigkeit, Luft in ihre Lungen zu bringen. Langsam schlossen sich die Augenlider, ein letzter verschwommener Blick fiel auf Duncan, dann versank sie in die willkommene Ohnmacht.

 

Samanthas Beine gaben nach, der Schnitt, der dadurch an ihrem Hals verursacht wurde, ließ das Blut herausquellen. Bevor Jack zum finalen Druck auf das Skalpell kommen konnte, war auch schon Lars hinter ihm, riss dessen linken Arm herum. Das Skalpell landete auf dem Boden.

Jack sah erschrocken und mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Lars. „Du Bastard. Ich hätte dich töten sollen.“

„Hast du aber nicht und diesen Fehler wirst du nie wieder ausbügeln können“, raunte Lars und schon traf Jack der erste von vielen Schlägen ins Gesicht.

McLain rannte mit seinen Leuten zum Schauplatz und Rose zu ihrem Vater. Leonard ließ sich durch das Gewimmel nicht beirren und war sofort bei Samantha. Er legte einen Druckverband an ihren Hals und schrie zu jeder Verwunderung so laut, das alles innehielt: „Den Hubschrauber sofort.“

 

 

Benommen wachte Samantha auf, alles war hell und weiß, war sie im Himmel? „Mama, Papa?“, fragte sie leise und merkte sofort das Brennen an ihrem Hals. Sie war also nicht tot.

Leonard beugte sich über sie und lächelte erleichtert. „Die warten noch ein paar Jahre auf dich, in Ordnung? Wie geht es dir?“

„Es geht, was ist passiert?“

„Du bist ganz Lady like in Ohnmacht gefallen und hast uns Männern die Drecksarbeit überlassen.“ Daniel grinste und drückte ihre Hand.

Samantha verdrehte die Augen. „Was ist mit Rose?“ Sie riss die Augen auf.

„Mir geht es gut“, kam es tränenerstickt aus einer Ecke.

Mit Mühe richtete sich Sam auf und sah sich um, bald hätte sie gelacht. Es war nur ein kleiner Raum und doch waren alle da. Steve, Leonard, Seth, Lars, Daniel, Duncan und Rose. Die Letztere war am Weinen und lehnte dabei an ihrem Vater. „Was ist los, Rose? Ich sagte doch, alles wird gut.“

Das Mädchen sah auf und rannte zu Samantha, schlang die Arme um ihren Hals. „Ich hatte so Angst, du warst so blass und das ganze Blut“, schniefte sie nach jedem Wort.

„Sah schlimmer aus, wie es war, dafür habe ich doch Leonard, der flickt mich immer zusammen“, sagte Samantha leicht erstickt, denn das Mädchen drückte ihr dabei unbeabsichtigt auf die Wunden. Es war der Pathologe, der Rose von Samantha löste.

„Nicht so fest auf die Wunden, Prinzessin!“ Er lächelte sie an.

Geschockt sah Rose auf die Verbände, die sich langsam rot färbten. „Ich tu dir immer weh, ich bin an allem schuld.“ Gerade wollte sie sich abwenden, als Samantha sie wieder an sich zog.

„Du kannst mir nicht so wehtun, als dass ich deine Umarmungen verschmähen würde Schuld bist du erst recht an gar nichts, verstanden?“ Einen Blick, der für einen winzigen Moment alles in Ordnung brachte, schenkte sie ihr und hielt sie einfach weiter fest. Es würde ein langer Weg werden, das wusste jeder. Rose war traumatisiert, und allzu schnell würde es wohl nicht wieder gut sein. Sie hatten Zeit, sagte sich Samantha und blickte zu Duncan.

Der sah mehr als erschöpft aus, hatte sich auf einem Stuhl niedergelassen, und es schien, als würde er jeden Moment ins Land der Träume versinken.

„Wieso blute ich noch?“, fragte Samantha dann in Richtung Leonard. „Hast du etwa nicht alles wieder heile gemacht?“ Sie grinste schief.

„Noch nicht. Jack hat dich nicht einfach geschnitten. An der Klinge war ein Mittel, dass die Blutgerinnung verhindert. Du solltest noch aufpassen, dass du dir nicht allzu sehr auf die Wunden drückst oder dich aufregst, sonst könnten sie wieder aufreißen.“

„Kann ich dann heim?“

Daniel grinste breit, während sich Duncan hellwach aufsetzte und mit dem Kopf schüttelte. „Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“

„Eigentlich schon, ich kann zu Hause auch Ruhe halten. Also Leonard?“ Sie zog die Augenbrauen zusammen.

„Aber natürlich. Allerdings - wenn was ist, solltest du sofort anrufen, in Ordnung? Und wenn es geht, wäre es schön, wenn jemand bei dir ist.“

Alle Blicke gingen zu Duncan, der doch wirklich leicht rot wurde. Sein bester Freund nickte bestätigend. „Wir kümmern uns schon.“ Dabei betonte er das Wir extra, was jeden schmunzeln ließ.

 

 

Zärtlich streifte Duncan seiner Tochter über die Haare, sie war endlich eingeschlafen. Ganz leise schloss er die Tür von Samanthas Gästezimmer.

„Sie schläft?“

„Ja, so und jetzt zu dir!“ Er drehte sich um und ging auf sie zu. Irritiert drückte sie sich in den Sessel zurück, in dem sie saß.

„Du wirst nie wieder einfach verschwinden, nie wieder Alleingänge machen und vor allem dich nie wieder so verletzen lassen, verstanden?“ Samantha schluckte. Duncans Augen waren nur noch Schlitze und seine Stimme rau und tief.

„Das ist mein Beruf, außerdem war ich nicht gerade heiß darauf, dass er mich schlägt“, versuchte sie fest zu erwidern, doch schwankte ihre Stimme und klang unsicher.

Seine Hände landeten auf der Lehne des Sessels, kesselten sie somit ein. „Hast du mich verstanden?“, fragte er abermals, sein Gesicht so nah an ihrem, dass sie erschauderte, wenn sein Atem sie streifte.

„Ja, habe ich“, wisperte Samantha und wünschte sich nur noch eins, und nichts auf dieser Welt hätte sie davon abgehalten.

Langsam glitten ihre Hände um seinen Nacken und zogen ihn näher, um ihn sanft zu küssen.

Duncan erwiderte nur kurz den Kuss, mit verschleierten Augen sah er sie an. „Das ist nicht gut Sam, du bist verletzt.“

Sie lächelte nur, hauchte wieder einen Kuss auf seine Lippen und drückte ihn sanft hoch, während sie aufstand.

„Richtig, und du heilst meine seelischen Verletzung, verstanden?“ Sie zog ihn in ihr Schlafzimmer. Langsam, schon fast provokativ knöpfte sie sich die Bluse auf, die wohl von Sarah stammte, ihre war es zumindest nicht.

Duncans Augen wanderten über ihren Körper. Besahen ihre Wunden, die sich unterhalb um ihre Brüste verteilten, sahen die blauen Flecken an ihrer Hüfte, als sie die lockere Stoffhose zu Boden gleiten ließ. Und dann die roten, teilweise blutigen Striemen an ihren Oberschenkeln.

Langsam näherte er sich ihr, strich sachte über die Wunden.

„Was hat er dir nur angetan?“, fragte er und wanderte mit seinen Augen zu den ihren. Reine Begierde konnte er lesen; und war sein Verstand noch so dagegen, so wurde er ausgeschaltet, als sie ihre Finger an seine Kleidung legte, um diese zu entfernen.


 

Kapitel 16

 

*10 Jahre später*

 

Mit einem tiefen Blick in ihre Augen umschloss Duncan Samanthas Hand, was ihr nicht minder Mut zusprechen sollte. Es hatte sich so viel verändert. Rose war einundzwanzig geworden und hatte die Zusage bekommen, bei Greg Miller zu arbeiten. Dieser hatte gelacht, als er ihre Bewerbung erhielt. Er war zu Samantha gegangen und gehässig gegrinst. „Siehst du, deine Tochter ist intelligenter als du. Lieber eine Laborratte als eine Schmeißfliege.“

Er hatte nicht lange überlegt und sie als seine Assistentin angenommen. Es war für sie allerdings nicht so einfach gewesen, ihre Entscheidung zu ändern, wollte sie doch zuerst in die Fußstapfen von Victoria treten, doch die Geschichte vor zehn Jahren hatte wohl tiefere Wunden hinterlassen, als sie sich eingestehen wollte.

Lars, der gerade aus einem schwarzen Hummer stieg, sah gestresst aus, hatte er doch seit einem Monat Steve Trogs Platz eingenommen.

Es war ein Knochenjob, er liebte ihn, auch wenn er ihn manchmal seinen Aussagen zufolge hasste. Steve, Seth und Leonard waren nun in Rente und hatten der jüngeren Generation Platz gemacht. Frederik übernahm Leonards Job. Duncan hatte Seth abgelöst, der als taktischer Führer für Notfallsituationen seinen Platz geräumt hatte, nun in Florida lebte und am heutigen Tag nicht kommen konnte, da er sich beim Wasserski das Bein gebrochen hatte.

Daniel und Sarah stiegen aus ihrem silbernen BMW und lächelten verhalten, beide lebten das Leben intensiver, hatten sich viel Zeit füreinander genommen und genossen es jetzt, Großeltern zu sein. Devon schien es da sehr eilig zu haben. Lina studierte zusammen mit Rose, allerdings arbeitete sie in der Computertechnik, hatte den Platz neben Roland eingenommen, der ihr alle Feinheiten beibrachte.

Abgehetzt stieg Rose aus ihrem Cabrio auf dem großen Parkplatz, wo sich alle versammelt hatten. Protestanten und Befürworter der Todesstrafe, Angehörige der Opfer ...

 

Heute war die Hinrichtung von Jack alias Nico McKenzie alias Henry Visipo. Sie schüttelte über die protestierenden Menschen den Kopf. Hätten sie das erlebt wie sie, wäre es ihnen nicht schnell genug gegangen. Das grimmige Gesicht, das ihr aus dem Rückfenster entgegenblickte, brachte Rose zum Seufzen. „Jerome, jetzt sei nicht beleidigt.“

„Mom, Dad! Nicht nur, dass sie mich in diesem weißen Kittel abholen kommt, dann sagt sie noch Kleiner zu mir und streichelt mir über den Kopf wie einem Baby. Dann musste ich auch noch hinten sitzen. Die ist die blödeste Schwester der Welt“, so stürmte Jerome auf Duncan und Samantha zu. Seine blonden Haare flogen durch die Luft und seine grünen Augen zeigten seine Wut auf seine geliebte Schwester. Bei ihrem Auszug hatte er sich an ihr Bein gehangen und gefleht, sie solle bleiben.

Duncan kniete sich hin. „Erstens bist du schon groß, zweitens gehört der Kittel zu Roses Job und drittens bist du erst zehn; du hast hinten zu sitzen. Nun vertragt euch, in Ordnung?“

„Ja, Dad. Rosemary, es tut mir leid“, hauchte Jerome. Er wusste nicht wieso, jedoch dass sie es nicht mochte, so genannt zu werden und vor allem nicht auf diese Art.

Rose erschauderte und schluckte schwer, für einen solchen Spaß war einfach der falsche Tag. Schnell nahm Sam sie in den Arm, drückte sie an sich.

„Jerome Lars Parker, was habe ich dir bezüglich dieser Tonlage gesagt?“

„Ich darf es nicht, entschuldige Mom, aber…“ Er senkte den Blick.

„Nichts aber. So, ich denke, wir sollten rein, oder Steve?“ Der Angesprochene nickte. Mit einem gezwungenen Lächeln traten die beiden in das Gebäude, wo die Hinrichtung stattfinden sollte. Einige Familienmitglieder der Verstorbenen hatten sich eingefunden, man nickte sich nur beiläufig zu, die Spannung im Raum war fast greifbar. Es ging alles seinen gewohnten Gang. Jack wurde auf eine Pritsche gebunden, der Arzt trat ein und kontrollierte die Spritzen, die er nacheinander aufzog.

Als hätte er es gewusst, drehte sich Jack zu Samantha, seine Lippen formten einen Satz. Sie schüttelte hastig den Kopf.

„Hat er gerade gesagt, es sei nicht vorbei?“, fragte sie Steve. Dieser zuckte mit den Schultern, hatte scheinbar nichts mitbekommen. Sie wandte sich ab und wartete, als neben ihr ein Wärter auftauchte. „Miss Parker, ich habe hier etwas für Sie.“ Er lächelte ihr zu und verschwand wieder.

Samantha steckte den Briefumschlag, den er ihr gereicht hatte, in die Tasche. Um nichts in der Welt wollte sie verpassen, wie Jack starb.

 

Erleichtert sahen sich alle im Zuschauerraum an, langsam verließen sie die Strafvollzugsanstalt, fast alle mit einem befriedigten Gesicht. Samantha nahm den Umschlag aus ihrer Tasche, öffnete ihn und wollte ihn schon zerknüllen, als sie Jacks Schrift erkannte, doch war er nun tot ... sie las:

Hallo mein Engel,

es steht nun 1 zu 1. Du hast meine Anerkennung für diese Leistung. Doch nun steht die nächste Generation in den Startlöchern und wird unsere Jagd fortführen.

Ich danke dir für die Zeit, die du mir eingeräumt hast, bedauere allerdings, dass du lebst und ich nun sterben muss.

Nun ist mein Sohn an der Reihe und dein Sohn wird ihm gegenüber stehen.

Wir sehen uns in der Hölle,

dein ergebener Henry Visipo

Sie wankte, das konnte nicht sein, niemals. Steve war mit ihr aus dem Gebäude getreten, langsam ging ihr Blick zu den anderen. Ihrer Familie und Freunden. Allen stand der Schock ins Gesicht geschrieben, den sie nur allzu gut nachvollziehen konnte.

Sie können es nicht wissen!, schoss es ihr durch den Kopf. Keiner hatte den Brief gelesen.

„Sam, entweder erlaubt sich einer einen Spaß, oder ...“, fing Duncan an.

Jerome sah zu seiner Mutter. „Ich weiß, dass man keine Bonbons von Fremden holt, aber ich mag die doch so gern. Der war wirklich nett, hatte nur ziemlich komische Augen, so schwarz.“ Er sah zu Boden. Lars hielt Samantha das Bonbonpapier entgegen und sie schüttelte nur noch fassungslos mit dem Kopf.

 

 

*ICH NEHME DAS ERBE AN*

 

Impressum

Texte: Rigor Mortis
Bildmaterialien: Rigor Mortis
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2015

Alle Rechte vorbehalten

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