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Mutabor-Leben durch den Tod

Leise wisperte er das Wort: „Mutabor!“, während sein Finger ein glitzerndes Pulver zu seiner Nase führte, dass er mit einem Atemzug inhalierte.

Die Muskeln in seinem Körper verhärteten, seine gerade Haltung verkrümmte sich und ein heiserer Schrei entfloh seiner Kehle.

Während sein Kiefer in die Breite ging, verlängerten sich sämtliche Gliedmaßen, so dass man das Bersten der Knochen vernehmen konnte.

Innerlich schrie Servan, doch nur ein Keuchen entkam ihm. Die Lungen füllten sich mit kalter, beißender Luft. Jedes Mal fragte er sich, wieso er es tat, und doch war ihm bewusst, es gab keine andere Möglichkeit.

Die Gelenke knackten, als sich Servan aufrichtete und streckte. Unverständliche Laute entflohen seiner Kehle, die für das menschliche Gehör, angsteinflößend wirkten.

Während die Tiere des Waldes genau verstanden, was er von sich gab. Aufgescheucht versuchten sie, sich in Sicherheit zu bringen. Überschlugen sich bei ihrem Fluchtversuch, und doch schaffte er es, einige zu erwischen.

Tief gruben sich seine Zähne in das frische Fleisch, sogen einem Tier nach dem anderen das Leben aus dem Leib. Seine Lefzen zogen sich gen Himmel. Was wohl ein Lächeln andeuten sollte, erschien eher wie eine bestialische Fratze. Blut verschmiert, lagen die braunen langen Haare an seinem breiten Gesicht. Einzig die waldgrünen Augen erinnerten noch an den Menschen, der in dem Tier lebte.

Servan hasste sich für seine Tat, und doch, er brauchte Leben, um den Tod annehmen zu können. Jeden Monat war es das Gleiche, jeden Monat, wurde er zu dem, was er war. Eine Bestie, ein Monster, die Mischung aus einem Bären und Gevatter Tod.

Im Schein des Vollmondes schritt er den schmalen Weg zu seinem Dorf hinunter, der Boden erbebte unter seinem Gewicht und der Wucht der Schritte. Die kalte Luft schnitt ihm regelrecht ins Gesicht, doch er ließ sich nicht aufhalten.

Servan hatte einen Auftrag, und der musste an diesem Tag erledigt werden. Alles hing von ihm ab, das Leben im Dorf, dass des Waldes und sein eigenes.

So sehr er auch versuchte unbemerkt zu bleiben, gelang es ihm doch nie. Die Vibrationen des Bodens und sein Schnauben durchdrangen die Stille der Nacht.

Nach und nach gingen Kerzen in den Häusern an, jeder wusste, wer kommen und was geschehen würde. Seit Jahren war es jeden zehnten Monat das Gleiche, der todbringende Bär kam ins Dorf, schnüffelte an jeder Tür und nahm sich Menschen mit. Nie kam einer wieder, nie sichtete man einen danach.

Dank seiner feinen Nase tat Servan nur das, was nötig war. Suchte sich kranke und schwache Menschen, die bald das Jenseits auch ohne ihn betreten würden. Dieses Mal waren es lediglich zwei Leute. Eine junge Frau und ein alter Mann, die er mit sich nahm.

Schreiend traten diese um sich, weinten, baten um Hilfe, doch keiner der Dorfbewohner wagte sich aus der Tür.

So lief Servan unbehelligt in den Wald, ignorierte die Schreie und Tritte. Seinen Blick zum Himmel gerichtet sah er, dass es Zeit wurde, er musste sich beeilen. Bis die dritte Stunde geschlagen hatte, musste er an seinem Ziel sein, sonst würde Es hervorkommen und das Leben an sich ziehen, wie er alsbald den Tod.

 

Seine Gedanken schweiften zur Vergangenheit, als er jung und unbedacht war. Zu dem Tag, an dem ihn der Fluch traf, als die Entscheidung fiel: Leben oder Tod.

Mutabor, nicht einfach nur ein Wort, um sich zu wandeln, bezeichnete gleichzeitig auch das Wesen, was ihm den Tod und das Leben brachte. Unbefangen war er in seinem vierzehnten Sommer durch die Wälder gestreift, hatte Höhlen untersucht und war auf Bäume geklettert. Bis er diese eine Höhle fand. Sie sah aus wie ein Schlund, und doch zog sie ihn magisch an. Servan betrat voller Elan die Höhle, ohne Kerze oder Feuer. Stockte vor einem hölzernen Tor, was er abtastend begutachtete. Symbole zeichneten sich auf diesem ab, er ertastete ein kleines Rad. Es war sicher mehr Zufall als Absicht, dass Servan die Kombination dieses Schlosses eingab. Mit einem ohrenbetäubenden Geräusch öffnete sich das riesige Tor. Dann passierte alles sehr schnell. Er wurde ergriffen, sah plötzlich in erdbraune Augen und spürte sofort seinen Geist entfliehen.

Eine zierliche Frau hatte ihn in ihre Arme gerissen, ihr Anblick ließ ihn erstarren. Gerade noch braun, waren die Augen in ein Orange gewechselt. Ihr Mund öffnete sich, die Lippen an seiner Stirn schienen sich festzusaugen. Ein stechender Schmerz durchdrang seinen Kopf, ließ seinen Körper die Kraft verlieren.

„Willst du leben?“, hörte er eine krächzende Stimme ihn fragen. „Dann sei mein Diener. Bringe mir bei jedem zehnten Vollmond mindestens zwei Seelen“, fast schon zärtlich lösten sich die Lippen von seiner Stirn, bedeckten nun seine Lippen: „Ich gebe dir den Tod, der mich ereilen soll, und du bringst mir das Leben, was mich im hier und jetzt hält“, würgend nahm Servan auf, was diese Frau in seinen Mund spie. Eine zähe Flüssigkeit, die seinen Atem zum Erliegen brachte. „Aneinander gebunden kannst du ohne mich nicht leben. Wirst du nicht tun, um was ich dich bitte, werde ich dein Dorf leiden lassen.“

Er sah die Bilder vor seinem inneren Auge, sah den Tod, das Leid, die Qualen, während sein Herz das Schlagen aufgab. Verneinend wollte er in die Ewigkeit gehen, als er seine Familie erblickte. Ihr Leid ließ ihn schreiend bejahen, auch wenn nur sein Geist schrie.

 

Wieder im Hier und Jetzt erblickte er die Höhle, die ihn immer noch magisch anzog. Niemals würde er den Weg vergessen, er war in ihm verankert, in dem Wesen, in das er sich verwandelte. Instinkte trieben ihn nach vorne, seine Fracht war still geworden, hatten das Treten und Schreien aufgegeben, hingen über seinen Schultern wie Säcke. Ehrfürchtig betrat er die Höhle, schritt durch das hölzerne Tor.

Da saß sie, die sein Leben mit ihrem verankert hatte, von der alles abhing. Ihre Zunge streifte über ihre Lippen, zittrig erhob sie sich und blähte ihre Nasenflügel. „Der Mann zuerst.“, sprach sie, und Servan folgte ihrem Befehl. Langsam glitt der Mann seine Schulter hinab, kauerte sich auf dem Boden zusammen. Wie ein ausgehungertes Raubtier stürzte sich Mutabor auf den Alten, ließ ihre Lippen auf dessen Stirn treffen und saugte sich fest. „Herr, ich bitte dich, helfe mir!“, erklang die Stimme der jungen Frau auf Servans Schulter. Er blendete sie aus, durfte nicht hören, kein Mitleid zeigen, ihr Tod war schließlich geschrieben, nun trat er lediglich früher ein, schmerzfreier und schneller.

Leblose Hüllen blieben zurück, als sich Mutabor über ihren Mund wischte und auf Servan zuging. Zärtlich eroberten ihre Lippen die seinen, während ihre Zunge diese teilte. Der Tod fuhr in ihn, ließ ihn schwanken und sein Herz gab das Schlagen auf. Immer wieder erlitt er diesen Tod, der nicht aus der Ewigkeit bestand.

Zuckend kam sein Körper zu sich, er fühlte seine schmerzenden Gelenke und einen pochenden Kopf, wie jedes mal. Eilig stand er auf, streifte sich mit seinen haarlosen Händen die Kleidung glatt und machte sich auf den Rückweg.

Schwerfällig war sein Gang, und doch reagierte keiner auf sein Eintreffen. Das Dorf schlief und schien sich mit dem Verlust abgefunden zu haben.

Mit gesenktem Haupt ging er ins Haus, das ihm zugesprochen worden war. „Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund!“, meditierte er vor dem Altar.

Erst die Morgensonne vermochte ihn am Weitermachen zu hindern, und er zog sich in seine Kammer zurück. Legte das Priestergewand ab und dachte an Mutabor. Ein Wesen aus Himmel und Hölle. Geschaffen, um den Menschen den Tod zu bringen, ohne Schmerz und Leid. Doch schon bald sog sie mehr als das Leben in sich auf, Fähigkeiten sammelten sich in ihr und ihre Gier wurde unermesslich. Man verbannte sie in diese Höhle, die einzig von einem Jüngling geöffnet werden konnte, nahm ihr Leben und ließ ihr den Tod. Bis ein Jüngling kam und sich ihr unterwarf, bis ein natürlicher Tod ihn ereilte, und der Nächste in ihren Bann gezogen wurde.

Impressum

Texte: Rigor Mortis
Bildmaterialien: Rigor Mortis
Lektorat: Bri Mel
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2014

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