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Willst du mich heiraten?“

Wenn aus Spaß Ernst wird.

 

 

 

John und Luc

John saß an seinem Computer und seufzte. Wieder einmal hatte sein Vater ihm die Dateien des schwierigsten Kunden auf den Tisch gelegt. Die Arbeit in der Druckerei Karl Stone, deren Inhaber sich gleichzeitig sein Vater nannte, war alles andere als entspannend. Besonders dieser Kunde hatte die Eigenschaft, immer einen Fehler zu finden und sei es nur das Papier, auf das gedruckt wurde oder die Farbe, die nicht intensiv genug war.

Aber eigentlich war Mister Clodell nicht sein Problem, sondern Karl Stone. Johns Vater hatte sich den Geburtstag seines Sohnes zum Anlass genommen, um potenzielle Ehefrauen einzuladen und das gefiel John ganz und gar nicht. Noch zwei Tage und er durfte sich mit vier Frauen treffen, die angeblich genau zu ihm passten, wenn man seinem Vater glauben wollte.

 

Fünf Stunden später speicherte John die Datei ab und fuhr den Computer runter. Seine Ohren schmerzten und sein Mund fühlte sich trocken an. Feierabend, es wurde Zeit sich zu entspannen. Kaum trat er aus der Firma, lockerte er seine Krawatte und drehte seinen Kopf in alle Richtungen, bis die steife Muskulatur lockerer wurde.

„Junger Mann, sagen Sie mal, ist das der neue Dress in Ihrem Business?“

Lachend drehte sich John um, blickte in die braunen Augen von Luc, seinem besten Freund und Leidensgenossen. „Nun ja, in Ihrer Firma scheint es nicht einmal einen Dresscode zu geben!“ Erfreut sich zu sehen, schlugen sie einander sanft auf die Schulter und grinsten.

„Was wäre das schön, einfach in Jeans und T-Shirt gehen zu dürfen.“ Luc steckte seine Krawatte in die enge Hosentasche seines Anzugs und öffnete das Hemd bis zur Brust.

„In der Immobilienbranche nicht gern gesehen, was?“

Zusammen gingen sie über den großen Parkplatz. Das Immobiliengeschäft von Lucs Vater befand sich auf der gegenüberliegenden Seite und so parkten sie meist nebeneinander bei Johns Arbeitsstelle.

Seit der Kindheit verband die beiden Männer ein inniges Band der Freundschaft. Sie teilten Geheimnisse, schöne Momente, doch auch Kummer und Leid. So gut situiert, wie beide aufgewachsen waren, dank der angesehenen Firmen ihrer Väter, schien ihr Leben doch einem goldenen Käfig gleich. Mit vielen Vorzügen, war ihr Leben doch auch gespickt mit Regeln und Pflichten.

Anforderungen wurden gestellt, die beide meist widerwillig befolgten. So stand auch Luc momentan vor der Forderung seiner Eltern, eine Familie zu gründen.

„Mein Vater hat eine, wie er sie nennt, anständige Frau für mich gefunden. Ich soll sie nächste Woche kennenlernen.“ Luc ließ seine Schultern hängen und kickte einen Stein vor sich her.

„Mist, also meinen sie es wirklich ernst.“

„Ja, sehr ernst sogar. Dad sprach von einer Hochzeit dieses Jahr und von dem Erbe, der daraus hervorgehen soll. John, ich will das nicht, nicht so.“

John nickte verstehend und berichtete Luc von seinem baldigen Treffen mit gleich vier Frauen. „Ich will es auch nicht, vor allem nicht so. Lass uns abhauen!“

Erschrocken sah Luc ihn an. „Du willst was? Hast du Fieber?“ Vorsichtshalber testete er die Temperatur seines Freundes mit der Hand. Das war eindeutig nicht Johns Art, eher seine.

Luc war noch nie der geradlinige Typ gewesen, brach gerne aus dem goldenen Käfig aus, doch nie für lange. Pflichtgefühl war selbst ihm in die Wiege gelegt und bis auf etliche Affären, die sein Vater immer wieder vertuschte, hatte er eine blütenweiße Weste.

„Nein, aber ich will diese Frauen nicht treffen. Es ist mein dreißigster Geburtstag, den ich feiern möchte, wie es mir passt. Was sagst du zu Las Vegas?“

Tief durchatmend sah Luc auf den Boden, kickte ein letztes Mal den Stein vor sich weg und nickte lächelnd. „Ich hätte nie erwartet, dass gerade du mit einer solchen Idee kommst, aber klar, wieso nicht? Lass uns Las Vegas erobern.“

 

„Luc, kommst du mal bitte?“ Erschrocken hob der Angesprochene seinen Kopf von den Unterlagen, auf denen er eingeschlafen war. Die Nacht mit John war eindeutig zu lang gewesen. Sie hatten bis zum Morgen zusammengesessen und geplant. Ein Kasinobesuch war Pflicht, zudem mindestens eine Show irgendwelcher Magier, die gerade dort gastierten. Doch vor allem Alkohol hatten sie einander versprochen. Sie würden Johns dreißigsten Geburtstag feiern und das nicht zu knapp.

Mühsam erhob sich Luc von seinem Sessel, rieb sich den Schlaf aus den Augen und begab sich zu seinem Vater, bevor dieser ungehalten wurde.

„Was kann ich für dich tun?“

„Bitte halte dir Samstagabend frei, wir haben eine Einladung zum Essen.“

„Das tut mir leid, doch da bin ich bereits verplant. Falls du dich erinnern kannst, hat John Geburtstag und ich habe vor, mit ihm zu feiern.“

„Ich kann dich dahingehend beruhigen, er wird ebenso verplant sein, soweit mich Karl informiert hat. Somit erwarten wir dich um acht im Lazzaro.“

Luc schwieg lieber und nickte ergeben, damit er schneller zu seinem Schreibtisch kam. Die Tür hinter sich geschlossen, griff er sofort nach seinem Handy und wählte Johns Nummer.

„Druckerei Karl Stone, sie sprechen mit John Stone.“

Mist, er war mitten in einer Sitzung, fuhr Luc durch den Kopf. „Guten Tag Mister Stone, es gibt logistische Probleme bezüglich des Termins.“

„Mister Herold, machen Sie sich keine Gedanken, ich werde den Termin einhalten können.“

Erleichtert fiel Luc in seinen Stuhl und fragte sich gleichzeitig, wer Mister Herold war, er zumindest nicht. Eindeutig nicht, auf seiner Tür stand groß Luc Gregor Miller. „Ich danke Ihnen, Mister Stone!“

„Ich danke dir, jetzt konnte ich aus dem Gespräch mit meinem Vater raus. Wie kommst du drauf, dass wir Probleme wegen dem Wochenende haben?“

„Weil mein Vater gerade sagte, dass ich am Samstag ins Lazzaro kommen soll. Du hättest sowieso einen anderen Termin.“

Man hörte einen dumpfen Aufschlag und einen verhaltenen Fluch durch die Leitung. „Wir fliegen, egal was kommt. Ich werde die Tussen nicht treffen und mehr sind das echt nicht, ich weiß jetzt, um wen es geht.“

„So schlimm?“ Luc runzelte die Stirn. Auch wenn er selbst nicht begeistert war, dass sein Vater sich anmaßte, für ihn eine Frau zu suchen, konnte es bei John nicht so dramatisch sein.

„Deine Auserwählte ist, soweit du meinem Vater glauben willst, Tamara Blue.“

Es war so schlimm, falsch, es war dramatisch. Was hatte sich sein Vater denn dabei gedacht? Lucs Herz hämmerte gegen seine Brust und er meinte, einen riesigen Kloß im Hals zu haben. Allein der Anblick dieser Frau war eine Katastrophe. Ihr Motto schien „Pink“ zu sein, denn nichts anderes trug sie und glaubte man ihren zahlreichen Lovern, selbst die Unterwäsche und ihr Haus schloss sie da nicht aus. „Das kann nicht sein Ernst sein. Hasst er mich etwa?“

„Ich hol dich morgen Abend ab, dann kannst du bei mir schlafen und morgens um zehn setzen wir uns gemütlich in den Flieger und vergessen diesen ganzen Mist für zwei Tage. Vielleicht fällt uns ja eine Lösung ein. Ich muss jetzt los, melde mich später noch einmal. Und Luc?“

„Hm?“ Luc war nicht mehr bei der Sache, er sah sich in einem pinken Haus sitzen, mit pinkem Sofa, pinker Küche, Pink überall, so dass sein Magen rebellieren wollte.

„Denk an deine Wohnung, wegen mir an meine, aber verdränge diese scheußliche Farbe.“ Eilig nickte Luc und dachte an John und dessen Wohnung. Schwarz und Weiß dominierten darin. Die Küche in Silber, keine unnötige Dekoration, jedoch Palmen, die das Ganze etwas auflockerten. Langsam regulierte sich sein Atem wieder. Ja eindeutig, das war der bessere Gedanke.

 

Drei Hausbesichtigungen später fand sich Luc in seiner eigenen Wohnung wieder. Sein Blick schweifte über die braunen Möbel. Seine Mutter hatte jedes Zimmer eingerichtet, genau gesehen war es auch nicht Lucs Reich. Im Gegensatz zu John hatten ihm seine Eltern die Altbauwohnung nie überschrieben. Sein bester Freund hatte sein Reich zum 25. Geburtstag geschenkt bekommen und lebte dort auch recht zurückgezogen für sich, weit ab von seinen Eltern, während Luc seine direkt nebenan hatte. Diese ließen es sich auch nicht nehmen, regelmäßig unangemeldet vorbeizukommen. Wie just in dem Moment, als er sich auf die Couch fallen ließ. Seine Mutter stürmte regelrecht in seine Wohnung, als sie sich direkt vor ihm aufbaute und ihn tadelnd ansah. „So ruinierst du das Leder. Steh auf Junge, da sollte eine Decke drunter und du bist nicht mal geduscht.“

Luc richtete sich auf. „Ich denke, das verkraftet die Couch sehr gut, aber schön, dass du dich um sie sorgst.“

„Das kannst du ja auch gut sagen, hast du sie bezahlt? Du bist ganz schön undankbar, Luc. Man sollte pfleglich mit Sachen umgehen, die einem nicht gehören.“

Langsam fing es an in Luc zu brodeln. Jedes Mal hielt man ihm die Tatsache vor, dass alles in der Wohnung ihm nicht gehörte, bis auf Kleinigkeiten mit nichtigem Wert und seiner Kleidung, aber diese konnte er sich schließlich auch nur leisten, weil sein Vater so gnädig war, ihn zu beschäftigen. Wut wallte in ihm auf, er dachte an John, an dessen Wohnung und sein Angebot, welches er ihm immer wieder gemacht hatte. „Wenn du es nicht aushältst, pack deine Sachen und komm zu mir. Hier ist immer Platz für dich“, erklangen die Worte seines besten Freundes in seinem Kopf. Zwei Mal atmete er tief durch, wie er es immer machte. Luc durfte nichts überstürzen.

„Würdest du gefälligst reagieren, wenn ich mit dir rede. Nicht mal den gebührenden Respekt schenkst du deiner Mutter? Sieh mich gefälligst an und richte endlich deine Kleidung, du läufst herum wie ein Penner!“

Irritiert sah Luc an sich hinab. Er trug noch immer die Hose des Anzugs und ein weißes T-Shirt. Sein Hemd hatte er beim Betreten der Wohnung abgelegt, wie er es immer tat. „Wenn es dir nicht gefällt, wieso meldest du dich dann nicht vorher an, damit ich mich dementsprechend stylen kann?“ Luc lobte sich geistig für seine souveräne und freundliche Stimme.

„Nun wird der Herr noch frech? Ich glaube, dir geht es zu gut. Wenn du uns nicht hättest, dann ...“

„Dann was, Mutter? Hätte ich eins der anderen Angebote bereits angenommen, die mir Immobilienbüros schicken, oder mich selbstständig gemacht? Was Vater mir bezahlt, ist ein Witz und das wissen wir beide, ich könnte locker das Dreifache verdienen.“

Dora Miller rümpfte die Nase und ließ ein abfälliges Lachen entweichen. „So, meinst du? Und wieso bist du dann noch hier? Pack doch deine Sachen und geh, wenn du denkst, dass es dir woanders besser geht.“

„Gerne“, war das Einzige, was er noch antworten konnte, wandte sich ab und verschwand im Schlafzimmer, um zu packen. Den entsetzten Blick seiner Mutter ignorierend suchte er alles zusammen, was ihm gehörte. Alles, was seine Eltern als billig und unsinnig betitelt hatten.

„Luc Gregor Miller, was hast du vor?“

Die letzten Habseligkeiten fielen in den dritten Koffer und Luc ging zur Tür, entfernte den Schlüssel von seinem Bund. „Gehen, so wie du es mir angeboten hast. Schlüssel von der Wohnung ...“ Der Erste landete vor ihren Füßen. „Vom Büro ...“ Der Zweite klirrte auf den Boden. „Für die Geschäftsräume und die momentan zum Verkauf stehenden Häuser, die ich heute besichtigt habe!“ Letztendlich hielt Luc nur noch seinen Autoschlüssel in der Hand, welchen er in der Anzughose verschwinden ließ und mit Mühe seine drei Koffer nahm, um dann zu gehen.

„Das kannst du nicht machen ... Luc ... Luc Gregor ... bleib gefälligst stehen, wenn deine Mutter mit dir redet.“

Mit einem Lächeln im Gesicht blendete er die Schreie seiner Mutter aus und packte seine Sachen ins Auto, bevor er einstieg und davonfuhr. Er fühlte sich erleichtert und … ja, er fühlte sich befreit. Nun hoffte er nur noch, dass John zu seinem Angebot stand.

 

Es klingelte zum dritten Mal an diesem Abend und John riss die Hutschnur. Während er die Tür öffnete, ließ er seiner Wut freien Lauf. „Ich sagte, dass ich es nicht hören will. Entweder versteht ihr das jetzt, oder es ist das Letzte, was ihr von mir hört. Ich bin verdammt noch mal nicht auf euch angewiesen und sicherlich nicht auf ...“ John stockte und sah Luc verwundert an. „Hey, sorry, ich dachte, es sind meine Eltern.“

„Es brennt die Luft, was? Bei mir auch.“ Verlegen biss sich Johns Freund auf die Unterlippe und blickte zur Straße, wo er dessen Auto sehen konnte, welches auf der Rückbank mit zwei Koffern beladen war. „Scheiß Sportwagen, hab fast nicht alles unterbekommen. Pass auf John, dein Angebot von damals, du musst es nicht aufrecht erhalten, doch ich will nicht mehr in die Wohnung meiner Eltern zurück und wäre dir für eine Nacht wirklich dankbar.“

Johns Lippen überzog ein Lächeln, er atmete tief durch und trat zur Seite. „Mi casa es tu casa, mein Freund. Mein Angebot war ernst gemeint. Hey, hier sind vier Schlafzimmer und eine Wohngemeinschaft mit dir? Ich kann mir nichts Besseres vorstellen.“

Die Erleichterung stand Luc ins Gesicht geschrieben, er trat ein und nahm John in die Arme. „Danke, ehrlich.“
„Ich bin stolz auf dich, es wurde Zeit, dass du ihnen zeigst, wo deine Grenzen sind.“

 

Nachdem sie die Taschen in ein Gästezimmer verstaut hatten, welches sich Luc demnächst so einrichten sollte, wie es ihm beliebte, saßen sie auf dem Sofa und tranken ein Bier.

Betroffen sah John seinen besten Freund an, als dieser alles erzählt hatte. „Du bist also jetzt arbeitslos und obdachlos? Nun gut, eine Wohnung hast du jetzt, aber ... deine Eltern sind das Letzte!“

„Sind sie und was haben deine verbrochen, dass du sie eben derart anfahren wolltest? Lass mich raten, die Wahl deiner Zukünftigen ist dir nicht recht.“

„Korrekt und das habe ich ihnen heute schon mehrfach erläutert, aber irgendwie scheine ich eine andere Sprache zu sprechen. Vater ist enttäuscht, jedoch als ich drohte, den Betrieb zu verlassen, war Ruhe. Ich dachte, Mutter würde es jetzt versuchen.“ Seufzend fuhr er sich durch die Haare und nahm einen Schluck von seinem Bier.

„Was ist nur mit unseren Eltern los? Ich meine, wenigstens einer von uns sollte eine anständige Familie haben.“ Luc lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er ignorierte John, der aufstand und seinen Laptop holte. Lauschte lediglich dem Tippen und reagierte erst, als John ihn anstieß.

„Bist du bereit für Las Vegas?“

„Klar, übermorgen geht es los, ich freue mich drauf.“

„Nein, heute. Wir fliegen in drei Stunden, also pack deine Koffer so weit aus, was du nicht brauchst und lass uns zum Flughafen fahren. Ich hab unsere Tickets umgebucht.“

Luc öffnete die Augen und sah ihn verwundert an. „Heute? Wieso?“

„Weil ich denke, dass es eine sehr gute Idee ist, also auf.“

 

Stunden später kamen sie mitten in der Nacht im Hotel an. Luc konnte es nicht fassen, sein bester Freund war normalerweise sehr organisiert und korrekt, doch wie man sah, konnte er durchaus spontan sein.

„Ein Doppelzimmer?“ Nun war Luc überrascht.

„Es war leider nur noch das hier frei. Aber keine Angst, ich werde nicht über dich herfallen, höchstens etwas kuscheln.“

„Du bist echt doof.“ Beide lachten und begaben sich in den Fahrstuhl.

„Doof? Ach Luc, wenn du mehr willst, musst du mir das schon sagen“, trat John näher an ihn heran und stützte je eine Hand nahe am Kopf an der Wand ab. Fast berührten sich ihre Nasen, während sie einander grinsend in die Augen sahen.

Sie waren nicht allein eingestiegen und das bemerkten sie nun, als jemand neben ihnen zischend die Luft einsog. John drehte sich zu der Frau, die ihn leicht pikiert ansah.

„Das gehört sich nicht“, entkam es ihr dann. „Wissen Sie junger Mann, es ist schön, wenn Sie sich gefunden haben, aber ich bitte Sie höflichst, solche intimen Momente in Ihrem Zimmer auszuleben.“

„Haben Sie etwas gegen Schwule?“

„Nein, wieso auch? Doch seien wir ehrlich, ich packe hier auch keine Schokolade aus und beiße genüsslich rein, während Sie am langen Arm verhungern.“ Die ältere Dame lächelte, während der Fahrstuhl auf ihrer Etage hielt. „Einen schönen Aufenthalt“, zwinkerte sie beiden zu und verschwand im Flur.

John war sichtlich irritiert über die Frau, mit offenem Mund sah er ihr nach, bis ihn der Ellenbogen von Luc in die Rippen traf. „Die denkt jetzt, wir sind ein Paar. Hast du sie noch alle?“

„Das nenne ich mal eine tolle Frau. Nun reg dich ab, es war ein Witz, und wenn sie es denkt, kann uns das auch egal sein.“

„Seit wann bist du so locker? Sonst hast du auch eher einen Stock im Hintern und siehst alles überkorrekt.“

John lehnte sich zurück, während sich die Fahrstuhltür schloss. „Vielleicht weil ich so sein will wie jetzt? Aber das geht halt nicht immer. Entschuldige, ich wusste nicht, dass dich das stört.“

„Nun schau nicht so, so dramatisch finde ich es auch nicht und einen Lover von deinem Kaliber nachgesagt zu bekommen, ist sicher nicht das Schlechteste.“ Luc grinste, als John fast das Kinn zu Boden fiel. Sprachlos sah der ihn einfach an und schluckte. „Komm, mein Schatz, lass uns ins Zimmer gehen und dann verrate ich dir alle meine schmutzigen Träume, mit dir als Hauptdarsteller“, prustete Luc los und zog John mit.

 

Nachdem sie den Rest der Nacht geschlafen hatten, entspannten sie den ganzen Vormittag. Sie lagen am Pool und genossen die Sonne. Zum Abend hin duschten sie, gingen essen und saßen dann bald im Kasino, um ihr Glück zu versuchen. John konnte kein Plus verbuchen, dafür lief es bei Luc umso besser. Er saß beim Pokern und seine Chips hatten sich schon verdreifacht, als sein Freund hinter ihn trat. „Willst du hier abräumen?“, flüsterte er ihm ins Ohr.

„Wenn ich es schaffe, wieso nicht? Sei mein Glücksbringer und die Drinks später gehen auf mich.“

Das tat John und es funktionierte. Angetrunken, lachend und entspannt fielen sie erst in den frühen Morgenstunden ins Bett.

 

Gegen Mittag rafften sie sich auf, um die Gegend zu erkunden. Fasziniert betrachteten sie die einzelnen Geschäfte, gönnten sich ein Eis und feixten über die unterschiedlichen Menschen, die sich dort befanden. Abends machten sie ein weiteres Mal einen Abstecher in das Kasino und an die Bar. Zwei Tage, an denen sie sich keine Gedanken über die kommende Woche machten. Doch der Samstag fing schon ziemlich verquer an, indem sie sich beim Besuch des Badezimmers in die Quere kamen, Luc und Johns Handys nicht aufhören wollten zu klingeln und sie dann auch noch das Frühstück um eine halbe Stunde verpassten.

Ausweichmöglichkeiten gab es zum Glück zur Genüge. Und so befanden sie sich eine weitere halbe Stunde später in einem kleinen Café, mit Kaffee und Pancakes.

„Meine Eltern rufen andauernd durch. Nach ihren Nachrichten zu urteilen, fragen sie sich, wo ich bin und fordern mich auf, den Termin heute Abend nicht zu versäumen.“ John nippte an dem heißen Kaffee und sah aus dem Fenster.

„Vielleicht sollten wir zurückfliegen, es bringt nichts, wenn du auch noch Stress bekommst.“ Luc lächelte sanft und schob ein kleines Päckchen über den Tisch. „Herzlichen Glückwunsch.“

Irritiert sah John auf, er hatte wirklich seinen Geburtstag vergessen. „Danke.“ Wenn es um Geschenke ging, war er fast wie ein kleines Kind, nervös biss er sich auf die Unterlippe und sah immer wieder zu Luc.

„Mach es auf, du brauchst nicht warten. Hier ist niemand, der dich tadelt.“

Eiligst zerriss er das Band, das das Päckchen verschlossen hielt, und öffnete dieses dann in Zeitlupe. Sein Grinsen verschwand, machte purer Verblüffung Platz. „Du bist verrückt, woher weißt du ...“

„Meinst du ehrlich, mir ist entgangen, dass die Zeitschrift seit drei Wochen aufgeschlagen auf deinem Tisch lag? Ich bin froh, dass dir die Uhr gefällt, und nun leg sie an.“

Nickend nahm John die silberne Uhr an seinem Handgelenk ab und legte die lederne Designeruhr um. Seit drei Wochen hatte er damit gekämpft, sie sich zu kaufen, doch der Preis war nicht gerade angemessen für eine „einfache“ Uhr. „Du bist verrückt. Sie ist unheimlich teuer und ...“

„Ich hatte letzte Woche einen Juwelier als Kunde, also war es vertretbar.“

„Gut, ich geb‘ sie nämlich nie wieder her. Der Wahnsinn.“ Fast ehrfürchtig fuhr er über das Leder und umrundete das Ziffernblatt.

„Musst du auch nicht. So alter Mann, welche Wünsche kann ich dir heute noch erfüllen?“

„Sag mir, was ich machen soll. Ich will meine Eltern nicht vor den Kopf stoßen und doch werde ich den Teufel tun und eine der Frauen heiraten.“

Lucs Ablenkungsversuch war gescheitert, er seufzte. „Gute Frage, sag es ihnen klar und deutlich, mehr geht nicht. Außer dir läuft hier deine Traumfrau über den Weg, dann hat sich das Thema erledigt.“

„Sehr unwahrscheinlich. Ich wüsste nicht mal, wie sie aussehen sollte.“

„Welche Attribute müsste sie denn erfüllen?“ Luc lehnte sich mit der Kaffeetasse zurück und sah seinen Freund fragend an. Sie sprachen viel miteinander, auch hier und da über ihre Eroberungen der vergangenen Nächte, jedoch hatten sie nie darüber geredet, wie ihre Vorstellungen einer Traumpartnerinnen aussahen.

„Ich kann es dir nicht mal so genau sagen. Ich meine ... ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Ehe lediglich auf Liebe basieren kann. Da gehört viel mehr dazu, vor allem Freundschaft, Vertrauen und Zuneigung. Man muss den anderen akzeptieren, wie er ist, ihn nicht ändern wollen. Endloses Vertrauen in der Hinsicht, ohne Nachschnüffeln und Kontrolle. Man sollte sich alles erzählen können, vom beschissenen Tag bis hin zum Flirtversuch eines anderen. Ich würde eher eine Freundin heiraten, die mich Jahre kennt, als eine Frau, mit der ich vielleicht gerne das Bett teile.“

Luc verstand seinen Freund nur zu gut, das hatte er auch schon gedacht. „Hast du eine gute Freundin?“

„Würdest du sie dann nicht schon längst kennen? Also bitte. Du bist der Einzige, der dieser Wunschvorstellung entsprechen könnte.“ John hatte es zu schnell ausgesprochen, sah in das überraschte Gesicht seines Freundes, dessen aufgerissene braune Augen, die ihn unergründlich musterten. Hätte er seinen Blick nicht sinken lassen, wäre ihm der Schalk nicht entgangen.

„Dann musst du mich heiraten, eigentlich logisch, nicht wahr? Darauf hätten wir früher kommen können.“ Luc unterdrückte ein Lachen und griff stattdessen Johns Hand. „Aber meinst du, dass du mit mir glücklich werden kannst? Ich bin sehr vereinnahmend und werde Fremdgehen nicht tolerieren.“

John sah ihn fassungslos an, doch dann entdeckte er den Schalk in den Augen seines Freundes blitzen. „Du bist so doof.“

„Entschuldige, aber dein Blick ... herrlich.“ Lachend hielt sich Luc den Bauch.

„Ja, sehr witzig.“ John verdrehte durchatmend die Augen und bezahlte ihr Frühstück. „Wer einen Freund wie dich hat, braucht wirklich keine Feinde.“

„Was für ein Kompliment, du bist ein richtiger Charmeur. Aber mal ehrlich, John … Wenn ich jemals einen Mann heiraten sollte, wärst du das. Denn du bist ebenfalls das, was ich mir irgendwann mal wünsche.“

„Mit dem Fehler, ein Mann zu sein, was?“

Luc nickte und seufzte. „Hattest du schon mal was mit einem Mann?“ Eine leichte Röte bedeckte seine Wangen, auch solche Themen waren nie zwischen ihnen gefallen. Beste Freunde seit Kindertagen, doch derart offen zu reden, war ihnen nie in den Sinn gekommen.

„Kommt drauf an, was du darunter verstehst. Hab ich mal einen geküsst? Ja. War ich mit einem im Bett? Ja. Hatten wir richtigen Verkehr? Nein. Und du?“ Heftig schüttelte Luc den Kopf und kam sich wie ein Teenager vor. Wie oft er daran gedacht hatte, konnte er nicht beziffern, doch er gestand sich ein, dass es sicher interessant gewesen wäre, wenn da nicht ... sein Vater wäre. Der hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, was er von solchen Konstellationen hielt. Er war homophob und das mit Leib und Seele. „Du hast schon daran gedacht, aber dich nie getraut, richtig? Wieso?“

„Mein Vater hätte mich umgebracht. Ihm gefällt nicht mal unsere Freundschaft, weil es Gerüchte gibt.“

John wusste sehr genau, um was für Gerüchte es ging, doch interessierten sie ihn recht wenig und bisher dachte er auch, dass sich ihre Familien nichts aus ihnen machen würden. „Es sind Gerüchte und nichts weiter.“

„Ich weiß ... aber du kennst doch meinen Vater!“ Ein gezwungenes Lächeln sollte John sichtlich ablenken, doch dieser runzelte fragend die Stirn. „Lassen wir das Thema, okay? Also, was willst du heute tun?“

 

Der letzte Tag in Las Vegas verging ruhig und entspannt. Bei einer Massage und am Pool ließen es sich beide gut gehen. Zum Abend hin wollte es John dann noch mal wissen. In schwarzen Hosen und weißen Hemden ging es ein drittes Mal ins Kasino und sie räumten ab. Lucs Glück hielt an und bescherte auch John einen beachtlichen Gewinn, den dieser gleich an einer Bar zu flüssigem Glück machen wollte. Leicht fühlen, nicht mehr nachdenken, mehr wollte er nicht.

Seine Gedanken drehten sich seit dem Vormittag um Luc und das Gespräch zwischen ihnen. Dessen Beichte, Geständnis, wie nannte man so etwas? John selbst hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, ob er was mit einem Mann anfangen wollte, es war auch seitdem nicht mehr passiert.

Sebastian, so hieß sein One-Night-Stand, hatte ihn einfach heiß gemacht, anders konnte er es nicht nennen. Doch das Interesse verflog so schnell, wie das Intermezzo gedauert hatte. Seither teilte er nur mit einem Mann intensiv viel Zeit und im Moment das Bett. Luc! Luc Gregor Miller, sein bester Freund seit der Sandkastenzeit, ohne den er nie wieder sein wollte, der jedoch durch ihn scheinbar Ärger hatte.

Nach drei Gläsern Whisky-Cola wurde seine Zunge locker und er sprach seine Gedanken einfach aus. „Was ist das Problem deines Vaters? Wieso meint er, auf die Gerüchte Wert legen zu müssen?“

Luc wurde rot und beugte sich nah an Johns Ohr. „Wegen dir und ... verdammt John, verfluche mich deshalb bitte nicht. Ich war gerade 16 und Vater hat mich derart genervt, weil ich noch keine Freundin hatte, dass es mir einfach herausgerutscht ist.“

„Was?“

„Er fragte mich, ob ich so eine Schwuchtel sei ... weil ich einem Typ hinterhergesehen hatte. Eigentlich nur, weil er die Schuhe besaß, die ich zu der Zeit auch wollte, aber Vater hat es falsch verstanden. Ich sagte: „Klar, und John ist mein heimlicher Lover, er ist der Einzige, der mir an die Wäsche darf.“

John prustete los, er konnte sich die Szene nur zu genau vorstellen und fand sie urkomisch. „Und dann?“

„Er hat es wohl ernst genommen und seither freut er sich regelrecht, wenn eine Frau behauptet, mit mir im Bett gewesen zu sein. Es tut mir echt leid.“

„Was? Dass du mir gerade gesagt hast, dass ich dir an die Wäsche dürfte, wenn ich wollte, oder du trotzdem reihenweise Frauen flachlegst?“

Luc kippte den Drink vor sich in einem Zug runter. „So viele sind es gar nicht. Viele brüsten sich einfach damit. Ich hab dich belogen, John, viel zu oft.“

Das überraschte ihn doch, damit hatte er nicht gerechnet. „Wieso? Meinst du, ich hätte dich deshalb verurteilt, weil du nicht immer eine im Bett hast?“

„Ich weiß es nicht, es ist doch nur ... ach verdammt, ich weiß es nicht.“

Schweigend tranken sie weiter Whisky-Cola und blickten immer tiefer in ihre Gläser. John seufzte und unterbrach somit die Stille zwischen ihnen. „Belüge mich nie wieder. Sag mir doch einfach, was du willst, oder was es Neues gibt!“

„Ich will auch einmal einen Mann küssen. Ist das gut?“ Luc kicherte über Johns Anblick, der ihn fassungslos ansah. „Nun antworte mir und starr mich nicht an, als hätte ich dir gesagt, ich sei der Teufel.“

Räuspernd suchte John nach Worten. „Na ja, es ist rauer, fester. Es hat was, denn der andere weiß, was man will.“

„Wie weit seid ihr gegangen?“

„Sagen wir so, ich bin noch nie so schnell gekommen.“ John grinste, während Luc nun sprachlos war.

„Wow, ich meine, du sagst das so locker, wie oft hast du die Erfahrung schon gemacht?“

„Einmal. Seitdem reizt mich kein Typ, dass ich es drauf anlegen würde.“

„Bis auf mich!“ Eingebildet reckte Luc seine Nase in die Höhe.

„Stimmt, dich würde ich vom Fleck weg heiraten.“ Sie stießen ein weiteres Mal an und ließen die braune Flüssigkeit ihre Kehle hinunterlaufen. „Und du? Würdest du mich heiraten?“

Luc verzog seinen Mund überlegend, tippte sich ein paar Mal gegen das Kinn und atmete tief durch. „Ja, ich glaube schon. Sogar aus drei Gründen.“

„Und die wären?“ Interessiert sah John ihn an.

„1. Weil ich dich mag, du bist der perfekte Partner. 2. Du magst mich so, wie ich bin und hast noch nie versucht, mich zu ändern. 3. Wir wohnen schon zusammen, also kein Aufwand und dazu würden die Gesichter meiner Eltern sicher unbezahlbar sein.“

Eine Gänsehaut überzog Johns Körper, er meinte, seinen Ohren nicht trauen zu können und schnappte immer wieder nach Luft. Wenn er es nicht besser gewusst hätte ... doch er wusste es besser, davon war er überzeugt. „Gute Gründe, sehr schmeichelnd und das mit deinen Eltern hätte ich auf eins getippt“, grinste er, was allerdings seine Augen nicht erreichte.

„Was ist los? Du schaust so komisch.“

„Würdest du mich ehrlich heiraten, jetzt und hier, sofort?“ Johns Blick war intensiv.

Luc stutzte, grinste dann. „Würdest du mich dann auch küssen?“

„Das gehört wohl dazu.“

„Dann ja. Ja ich würde dich heiraten. Jetzt, hier, sofort!“

John nahm die Hand seines besten Freundes, verfing sich in dessen braune Augen. „Überlege es dir gut, ich werde dich in die Kapelle ziehen und nicht eher wieder rausgehen, bis wir verheiratet sind.“

„Überlege du dir, ob du mir die Frage wirklich stellen willst. Wie gesagt, ich bin sehr vereinnahmend und werde Fremdgehen nicht tolerieren, das heißt keine Frauengeschichten mehr, ich teile nicht.“

So tief, wie ihre Blicke verankert waren, blendeten sie alles um sich aus. Ihre Gesichtsausdrücke waren ernst und innerlich war beiden bewusst, was sie gerade beschlossen. John nickte zustimmend. „Willst du mich heiraten?“

„Ja.“

Sie nahmen einander an der Hand und verschwanden zur Kapelle, die sich neben dem Hotel befand.

Eine nette ältere Dame lächelte ihnen zu, die ihnen durchaus noch in Erinnerung war. „Guten Abend, die Herren, was kann ich für Sie tun?“

„Wir wollen heiraten!“ Es war nicht mehr als ein Flüstern, was aus Johns Mund kam. Eilig räusperte er sich und sprach es noch einmal deutlicher aus.

„Dann sind Sie hier goldrichtig. Ringe?“

Überrascht sah Luc John an, der ihn vorschob. „Such aus, was dir gefällt, ich möchte den Gleichen.“

Es dauerte seine Zeit, bis Luc sich entschied. Die meisten Exemplare waren eher für die regulären Paare gedacht und mit Steinen verziert, was ihm gar nicht zusagte. Bis er zwei recht dezente Ringe entdeckte. Weiß- teilte Gelbgold, schlicht und doch harmonisch. „Die?“ Lucs Blick ging zu John, der über seine Schulter sah und lächelte.

„Sie gefallen mir.“

„Wollen Sie Anzüge ausleihen?“

„Davon haben wir weiß Gott genug im Schrank. Nur die Ringe bitte.“

„Aber gerne doch, dann folgen Sie mir bitte. War es geplant, dass Sie hier heiraten wollen?“

Luc schüttelte den Kopf. „Nein, er hat mir gerade einen Antrag gemacht.“

Sie führte die beiden zu ihrem Mann, der die Trauung vollzog.

 

So sehr John alles mitbekommen wollte, so sehr stand er neben sich. Es war, als wäre er in Watte gepackt, so gedämpft war sein Hörvermögen. Scheuklappen schienen ihn zu hindern, etwas anderes zu sehen als Luc. Was hatte er sich nur dabei gedacht, war er wirklich gerade im Begriff, seinen besten Freund zu heiraten? -Dass er das Beste ist, was dir je widerfahren ist-, sagte eine Stimme in seinem Inneren und er musste lächeln.

John lächelte die ganze Zeremonie lang. Sein ‘Ja‘ war klar und deutlich zu vernehmen, sie tauschten die Ringe und nahmen die Worte wahr, dass sie sich küssen durften.

Während John stockte, schien Luc nur darauf gewartet zu haben, trat näher an ihn heran und legte sanft die Hand auf dessen Wange. Es war nicht mehr als ein Hauch, als sich ihre Lippen das erste Mal berührten, dann schien John aufzuwachen, zog Luc noch näher an sich heran und küsste ihn, wie er es für richtig hielt.

 

Lucs Herz blieb stehen, um dann in doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen. Niemals hatte er so etwas gefühlt wie bei diesem Kuss. Sein ganzer Körper stand unter Strom und schien jeden Moment explodieren zu wollen. Rau kratzte Johns Bartschatten über den seinen, zart spürte er den Atem seines Freundes auf seinen Lippen, während die Hände in seinem Rücken lagen. Zitternd klammerte sich Luc an John fest und meinte den Halt zu verlieren. Enttäuscht seufzte er auf, als sich sein Freund von ihm trennte. Er wollte die Augen nicht öffnen und doch tat er es. „Da, wo der herkam, gibt es noch mehr“, zwinkerte John und wandte sich dem Mann zu, der sie getraut hatte.

Nachdem sie ihre Unterschriften unter die Urkunde gesetzt hatten, verließen sie die Kapelle und gingen zurück zum Hotel. Sie schwiegen, machten sich wortlos auf den Weg zur Bar und bestellten sich eine weitere Runde Whisky mit Cola.

Luc drehte den Ring an seinem Finger und konnte es nicht fassen. Sie hatten geheiratet, sich geküsst und in seinem Magen schien immer noch ein Sturm zu wüten. Natürlich, es war sein Gewissen, was ihm eine Ohrfeige nach der anderen verpasste. Das war wohl die größte Dummheit gewesen, die er je in seinem Leben begangen hatte. Eilig trank er das Whisky-Gemisch und wollte vergessen, sich heute keine Gedanken mehr machen.

Nach vier weiteren Getränken bezahlte John wortlos und zog ihn vom Hocker runter. „Komm, wir gehen hoch!“

Leicht taumelnd folgte Luc seinem Mann und lehnte sich im Fahrstuhl an ihn. „Du bist jetzt mein Mann!“ Zum ersten Mal sprach er es aus und es kam Luc merkwürdig vor.

„Korrekt und du meiner.“ Sie fingen an zu lachen und stürzten aus dem Fahrstuhl in ihre Etage. Im Zimmer entkleideten sie sich und Luc sah routinemäßig auf sein Handy. Eine Nachricht. -Wir haben was zu besprechen, wenn du nach Hause kommst!- Hatte sein Vater geschrieben und ließ Luc zittern. Was sollten sie miteinander zu klären haben, es war alles gesagt, oder?

John hatte sich bereits hingelegt und versuchte den Fernseher anzuschalten. „Kannst du ihn mal anmachen, ich glaube, ich habe ihn heute Morgen vorne ausgemacht.“ Luc nickte verstehend, krabbelte über das Bett und beugte sich nach vorne. Während er sich mit der rechten zittrigen Hand abstützte, drückte er mit links den Fernseher an. Ehe er sich versah, wurde er zurückgezogen und landete mit dem Rücken an Johns Brust. „Was hat in der Nachricht gestanden, dass du so zitterst?“

„Vater will mit mir reden. John, er bringt mich um, wenn er das hört. Wir haben geheiratet!“

„Ganz ruhig, ich werde ihn davon abhalten, versprochen.“ John nahm ihn in den Arm und streichelte ihn sanft.

„Das war ein Fehler, ein riesiger Fehler.“

„Dann lassen wir die Ehe annullieren. Beruhige dich, bitte.“

Luc erzitterte ein weiteres Mal, als Johns Atem über sein Ohr streifte. Sein Magen rumorte und er verfluchte sein schlechtes Gewissen, denn es fühlte sich teuflisch gut an, so gehalten zu werden. Langsam schlich sich Müdigkeit in Körper und Geist, die Luc willkommen hieß. Sich nicht dagegen wehrend, lehnte er seinen Kopf zurück und schloss die Augen.

 

John schmunzelte, es hatte sich so viel und doch wenig zwischen ihnen geändert. Ihm ging einiges durch den Kopf. Zum Beispiel wie Luc dazu kam, seinen Namen anzunehmen, wieso er auf den Kuss bestanden hatte und nun in seinen Armen einschlief. Es war nicht das erste Mal, dass John Luc festhielt.

Damals waren sie gerade 16 Jahre alt gewesen, als Luc an seiner Schulter geweint hatte, weil die Welt seiner Meinung nach bescheuert war. Wieso das so sein sollte, hatte er John nie verraten, doch waren sie eine Nacht zusammengeblieben und er hatte ihn an sich gezogen und nicht mehr losgelassen. Luc sah wesentlich jünger aus, als er selbst. Blond, braune Augen und ein weiches Gesicht, das jedoch auch auf eine gewisse Art männlich war. Eine perfekte Mischung für einen Mann. So sehr John versuchte sich zurückzuhalten, konnte er es nicht. Es gab Sachen, die machte man nicht bei einem Freund, wie durch dessen Haar zu streichen.

„Was machst du da?“ Luc blinzelte, ließ dann aber doch die Augen geschlossen.

„Dich berühren, entschuldige.“ Augenblicklich zog John seine Hand zurück und schämte sich. Er hätte warten sollen, bis Luc tiefer eingeschlafen war.

„Obwohl mein Magen dagegen rebelliert, finde ich es äußerst angenehm. Meinst du, wir könnten für heute alles vergessen?“

„Was willst du denn vergessen?“

„Unsere Eltern, alles, was mich bedrückt.“

„Und stattdessen willst du an was denken?“

„Nicht denken, genießen.“ Luc schmiegte sich näher an John, der daraufhin nichts mehr zu sagen wusste. Hatte Luc nicht vorhin noch von einem Fehler geredet? -Scheiß drauf!-, fuhr es John durch den Kopf und liebkoste den Nacken seines Mannes, bis dieser sich entspannte und leicht stöhnte. „Du willst mich aber nicht verführen, oder?“

„Nein, ich möchte, dass du dich entspannst und irgendwann sanft einschläfst. Luc, du bist mein bester Freund, im Moment mein Ehemann, der sogar meinen Namen angenommen hat, ich will dich nur glücklich sehen.“

 

Luc bezweifelte, dass er je so etwas zu hören bekommen oder sich so wohl gefühlt hatte in der Gegenwart eines Menschen. Wieso rebellierte dann nur sein Magen derart? Was sich so gut anfühlte, konnte doch nicht verkehrt sein und trotzdem wollte sein Innerstes keine Ruhe geben. Das war nicht fair.

„John?“

„Hm?“

„Ich heiße jetzt Luc Gregor Stone, ist dir das klar?“

„Und es hört sich viel besser an als Miller.“

Luc nickte, während ihm ein zweites Mal die Augen zufielen. „Und ob, viel besser. Ich behalte den Namen.“

 

John schmunzelte, eine Annullierung hieß auch den Namen wieder abzugeben, doch damit wollte er Luc nun wirklich nicht vom Schlafen abhalten. Langsam rutschte er runter und zog seinen Mann neben sich, der sich sogleich wieder an ihn kuschelte. Eine Nacht wollte sich John diese Nähe gönnen, ab morgen wäre es wieder vorbei.

 

Der Morgen kam viel zu schnell und brachte John ein unwohles Gefühl. Noch schlief Luc in seinen Armen, doch schon bald würde dieser sich von ihm trennen und feststellen, dass er den Fehler seines Lebens begangen hatte. Tief sog John den Geruch seines Mannes ein, genoss das verräterische Kribbeln im Bauch, was dort nicht sein sollte. -Nur noch ein paar Sekunden-, schwor er sich selbst und hatte dem auch folgen wollen. Doch als er sich löste, rückte Luc näher an ihn heran. Verwundert sah John seinen besten Freund an, der nur kurz die Augenlider hob.

„Unser Flug geht erst heute Mittag … ich will noch nicht in die Realität zurück.“

„Das heißt?“

„Lass uns noch liegen bleiben, auskosten, was wir jetzt haben und nie wieder haben werden.“ Luc öffnete die Augen und ließ John die Angst in ihm sehen. Dieser legte sofort seine Arme um ihn.

„So lange DU willst.“ Er konnte sich nicht verkneifen, das Pronomen zu betonen, denn wenn er sich mit einem in seinem Leben sicher war, dann dem, dass er diese Nähe niemals missen wollte. Sein bester Freund, momentaner Ehemann, gab ihm ein Gefühl, nach dem er bisher vergeblich gesucht hatte. Wahre, unverfälschte Liebe. Natürlich war ihm bewusst, dass ihm sein Verstand und Herz einen Streich spielten, jedoch wollte er daran nicht denken.

 

Luc drehte sich in seinem Arm zu ihm um, blickte seinem Mann tief in die Augen und dann auf dessen Mund. „Meinst du … also du sagtest gestern … da wären noch mehr …“ Nervös biss er sich auf die Unterlippe.

Hauchzart streichelte John seine Wange. „Du willst wirklich einen Kuss?“

-Nicht nur einen-, schoss es Luc durch den Kopf, doch seine Lippen blieben bewegungslos. Stattdessen näherte er sich dem Gesicht seines Freundes und hoffte inständig, nicht abgewiesen zu werden.

Das wurde er nicht, John zog ihn näher an sich und ihre Lippen trafen sich zu einem hauchzarten Kuss. Ergeben schloss Luc die Augen. Sein Magen rebellierte und sein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. Wenn es nicht sein schlechtes Gewissen wäre, was sein unwohles Gefühl in ihm auslöste, würde er annehmen, dass die Zuneigung gegenüber seinem Freund mehr als nur freundschaftlich war. Sein Denken stellte sich ein, als er Johns Finger an seiner Hüfte spürte, die dort Kreise zogen. So war es Luc, der sich immer dichter an seinen Mann drängte, seine Hände über dessen Brust gleiten ließ und noch mehr wollte.

„Luc ...“ John löste sich atemlos und sah ihn mit lustverhangenen Augen an. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“

„Dann finde es heraus!“, unterbrach Luc und schob sich über den Körper seines Freundes. Woher er den Mut nahm, John zu unterbrechen und die Initiative zu übernehmen, wusste er nicht, jedoch wollte er jetzt auch nicht anfangen zu denken. Stattdessen rieb er seinen Unterleib an dem seines Mannes und vereinnahmte abermals die Lippen. Sein Körper erzitterte vor Verlangen und Erregung.

 

John konnte nicht fassen, was gerade passierte. Fest rieben die zwei erigierten Glieder aneinander, nur durch den Stoff der Unterwäsche getrennt. Er wollte seinen Verstand wach rufen, doch die Küsse und Reibungen ließen ihn willenlos daran teilhaben, was sein Mann ihm bot. Seine Hände wanderten zu dessen Gesäß und gaben den Takt vor.

Ihre Bewegungen wurden schneller, ihr Atem hektischer und ihre Berührungen fahriger. Es dauerte nicht lange, bis sich beide in ihrem Orgasmus verloren. Lucs Gesicht schmiegte sich an Johns Hals, der das Gefühl genoss, dass sein Freund Nähe suchte. 

Irgendwann mussten sie doch aufstehen, gingen nacheinander duschen, zogen sich an und packten ihre Sachen. Eine Gänsehaut erfasste John jedes Mal, wenn Luc ihn mit einem unergründlichen Lächeln ansah. Sie schwiegen, wie sie es nur zusammen konnten, ohne dass es erdrückend und unangenehm wurde. Es war ein einvernehmliches, entspannendes Schweigen.

 

Lucs Herz machte mehr als eine Überstunde und das in einem Tempo, welches alles andere als gesund war. Die Nacht und der Morgen hatten mehr in ihm entfacht als ein schlechtes Gewissen, was seinen Magen zum Rebellieren brachte. Er fühlte noch immer Johns Körper unter seinem und wünschte sich nichts sehnlicher, als diesen Moment zurück. Zumindest einen Kuss wollte er sich noch stehlen, bevor alles beendet sein würde.

So wie er seinen besten Freund kannte, hatte dieser schon einen Plan für die Annullierung. Welcher Anwalt es im Stillschweigen regelte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Es war auch besser so, da war er sich sicher und doch, irgendwas in seinem Kopf empfand es anders.

Was sollte man tun, wenn der Kopf gegen das Gewissen kämpfte? Sein Herz zeigte eindeutig, was es von dieser Sachlage hielt und erhöhte seine Schlagfrequenz abermals, als John Luc versehentlich streifte. Innerlich seufzend fragte er sich, ob es nicht doch eine Möglichkeit gab, seinen besten Freund davon zu überzeugen, dass es nicht so eilig war, die Ehe zu annullieren.

-Träum weiter, was für Gedanken hast du eigentlich? Du bist weder schwul noch an Männern interessiert!-, mahnte ihn sein Gewissen. Es stimmte wohl, er interessierte sich nicht für Männer, schließlich reichte einer durchaus und der hatte dunkelbraunes Haar und grüne Augen wie ein Malachit. Gab es eine interessantere Farbe? Mit Sicherheit nicht, wenn seine Meinung zählte.

„Alles in Ordnung, Luc?“ John sah ihn besorgt an, als sie das Flugzeug verlassen hatten.

„Ja sicher, ich war nur in Gedanken. Ich bin froh, wenn wir daheim sind.“

„Na dann, steigen Sie ein, Mister Stone, ich werde Sie nach Hause chauffieren.“

Das war keine Gänsehaut mehr, die Luc überfiel und mit was er es assoziieren sollte, wusste er nicht. Zumindest hinterließ es wohlige Wärme und ein Kribbeln, welches ihm bis in den kleinen Zeh reichte. „Werden Sie das? Und dann?“ Seine Zunge führte eindeutig ein Eigenleben und hatte sich mit seinen Stimmbändern verbündet.

„Dann werde ich für Sie kochen, während Sie sich in einem Schaumbad entspannen und zur Ruhe kommen. Luc?“ Tief blickte John ihm in die Augen. „Dein Kopf überschlägt sich gerade vor Gedanken und du brauchst dringend eine Auszeit. Wir fahren jetzt heim, dann gehst du baden und ich bringe dir ein Bier. Glaub mir, das wirkt Wunder!“

Wenn es nur Lucs Kopf gewesen wäre, der sich überschlagen hätte. Trotzdem nickte er lediglich und stellte seine Tasche in den Kofferraum eines Taxis, das sie nach Hause brachte. Nach Hause, was für ein großes Wort, wie er fand. Luc lächelte sich selbst im Seitenfenster an. Zum ersten Mal seit seiner Jugend freute er sich „nach Hause“ zu kommen. In der Spiegelung des Glases sah er, wie John mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihm herüberblickte.

„Einen Cent für deine Gedanken!“

„So billig bin ich nicht“, sah Luc seinen Mann an und schmunzelte.

„Darüber sollten wir später verhandeln.“ Johns Blick hinterließ bei ihm ein Ziehen in der Lendengegend. Das war gar nicht gut, überhaupt nicht und doch konnte sich Luc nicht wehren und überließ seinem Körper die Kontrolle. Dieser hatte entschieden, einen Mundwinkel zucken zu lassen und sich zu seinem besten Freund zu beugen. „Ich bin nicht mit Geld zu bezahlen!“, hauchte er in dessen Ohr und streifte die Haut dahinter mit seinen Lippen.

Johns Mundwinkel sanken, während er ihn überrascht betrachtete, um sich dann zu einem lasziven Grinsen zu entwickeln. „Du solltest nichts sagen, was du nicht so meinst!“, raunte er ihm zu.

Luc wusste genau, dass es jetzt an der Zeit war, zu lachen und es als Witz darzustellen, doch war es ihm unmöglich. Irgendwas in seinem Inneren hielt ihn auf und wollte John reizen, das zu tun, was er scheinbar geistig vor sich sah, zumindest, wenn man seinen Blick richtig interpretierte.

 

Was war nur mit Luc los? Diese Frage stellte sich John nicht das erste Mal. Sein bester Freund verhielt sich seltsam offen und schien es geradezu darauf anzulegen, dass es nicht bei der Nacht und dem Morgen blieb, wie es sich John vorgenommen hatte. Er wusste, dass er dem widerstehen musste, wenn er ihn nicht verlieren wollte, denn auch wenn es Luc war, der diese Andeutungen von sich gab, so konnten sie nicht von ihm sein. Denn Luc war noch nie offen gewesen, oder hatte derartiges Interesse an ihm gezeigt. Nach Johns Überzeugung war es die Schuld der Millers, dass ihr Sohn sich derart verhielt. Die Zurückweisung schien er nicht zu verkraften und suchte Halt, den er selbstverständlich bei seinem besten Freund fand. Und dieser war auch eindeutig daran schuld, dass sein Beistand auf Irrwegen verlief. Eigentlich hätte sich John ihm gegenüber mit Bedacht verhalten sollen und Luc nicht in Bedrängnis bringen dürfen. Dessen Geständnis, wissen zu wollen, wie ein Mann küsste, hatte ihn jedoch zu sehr gereizt. Als er vor John auf dem Bett kniete, hatte dieser sich nicht mehr unter Kontrolle gehabt. Dabei war es doch seit jeher Johns Aufgabe, bedacht und rational zu sein, während Luc sich fallen lassen konnte, wenn er es brauchte. So sollte es schließlich zwischen Freunden sein.

 

Der bekannte Geruch seiner Wohnung ließ John wieder zu sich kommen, seine Gedanken kurz schweigen, bis die Tür ins Schloss fiel und sich Luc an ihm vorbeischob. Dessen verlegenes Lächeln stoppte sofort seine wiederkehrende Vernunft, stattdessen ging John auf ihn zu und drängte ihn an die Wand. „Einen Kuss für deine Gedanken vorhin im Auto!“ Es war nicht mehr als ein Flüstern, das über seine Lippen kam, die sich denen s

eines Angetrauten näherten.

„Das erste Mal seit Jahrzehnten freue ich mich, nach Hause zu kommen“, wisperte Luc und kam ihm entgegen, bevor es sich John anders überlegen konnte. Jede Synapse ihres Verstandes brannte durch. Sie klammerten sich aneinander wie Ertrinkende und nahmen sich das, wonach sie sich sehnten. Zärtlich umschmeichelten sich ihre Lippen, nahmen die Hitze des anderen auf. Ganz vorsichtig ertasteten sich ihre Zungen, umwarben sich, um dann einander innig zu begrüßen.

Johns Herz schlug hart gegen seinen Brustkorb und seine Hände umfassten Lucs Gesicht. „Luc … das ist nicht gut. Du brauchst Zuneigung, aber ich glaube nicht, dass du das hier wirklich willst.“

„Glauben heißt nicht wissen, John! Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich möchte, meinst du nicht?“ Braune Iriden trafen auf grüne, versanken ineinander und wollten sich nicht mehr lösen. „Normalerweise schon, doch der Streit mit deinen Eltern … ich denke, du interpretierst deine Gefühle für mich falsch.“

„Niemals! Du bist mein bester Freund, für den ich alles tun würde und der auch alles für mich macht. Wir sind schon unser Leben lang füreinander da und das wird sich nicht ändern, nicht durch die Hochzeit, noch durch unsere Intimitäten, im Gegenteil.“

Ergeben, verzweifelt, erleichtert, aber auch vor lauter Unglauben schloss John die Augen. Die Worte gingen so tief in sein Herz, dass er das Gefühl hatte, sie würden es sprengen. Luc ging eindeutig zu weit damit, traf ihn an einem Punkt, wo er nicht getroffen werden durfte. Neugier war eine Sache, doch ließ diese Äußerung eindeutig auf mehr schließen. John wusste nur zu genau, wo das enden würde, zumindest für ihn. Sobald sein Freund wieder zur Besinnung kam, würde er ihn zurückstoßen, fallen lassen wie ein Stück glühende Kohle. John würde im eiskalten Wasser landen und ehe er sich versah, zerbrechen und auf dem Grund eines Sees liegen.

 

Luc betrachtete seinen Freund und wusste, dass dieser ihm nicht glaubte. Wie denn auch, traute er selbst seinen Worten nicht. Fühlten sie sich noch so richtig für sein Herz und Verstand an, rebellierte sein Magen beim Anblick von John. Sein schlechtes Gewissen wollte mit aller Macht gehört werden, nichts anderes konnte es sein. Noch nie hatte sein Magen derart protestiert, nicht einmal als er mit 10 Jahren die teure Vase seiner Mutter zerbrochen hatte. Da hatte ihn lediglich ein bedrückendes Gefühl heimgesucht, was ihn irgendwann dazu brachte, beichten zu gehen.

Wie von selbst ging seine Hand zu Johns Wange und streichelte über die stoppelige Haut. „Glaubst du mir?“

„Du glaubst dir selbst nicht einmal, wie soll ich es dann tun?“

John kannte ihn eindeutig zu gut und trotzdem ließ er Luc gewähren, der sich einen hauchzarten Kuss stahl.

 

„Das darf ja wohl nicht wahr sein!“ Erschrocken fuhren John und Luc auseinander und sahen zur Tür, wo Gregor Miller mit seiner Frau Dora stand und angewidert zu beiden sah. „Nimm deine dreckigen Pfoten von meinem Sohn!“

Luc war erstarrt, sah wie sein Vater die Hand zu einer Faust ballte und zuschlug, doch konnte nicht reagieren. John taumelte zurück, stieß gegen die Wand und rutschte an dieser hinab. Die Hand auf seiner Nase verhinderte nicht, dass das Blut floss und sich den Weg auf sein weißes Hemd suchte. Als sich Luc zu ihm knien wollte, riss ihn sein Vater von John weg und stieß ihn zu seiner Mutter. Diese zog ihren Sohn mit ins Wohnzimmer und ließ ihm keine Chance, sich zu wehren.

 

John wischte sich seine schmerzende Nase am Hemdärmel ab und richtete sich auf. „Verschwinden Sie sofort aus meiner Wohnung!“

„Sonst was? Willst du mich mit deiner Handtasche hinaus prügeln?“

Irritiert runzelte er die Stirn über Gregors Worte. „Nein, so was besitze ich nicht mal. Ich werde ganz ordinär die Polizei rufen!“

„Du willst mir drohen? Ich werde dir zeigen, wie ein richtiger Mann solche Dinge klärt.“ Gregor erhob die Faust, holte aus und schlug zu. Unbemerkt von den zwei Männern, hatte sich Luc an seiner Mutter vorbeigedrängt und stellte sich nun zwischen John und seinen Vater. John wollte die Faust abfangen, doch kam zu spät, sie traf Luc hart am Kopf, wodurch dieser zur Seite geschleudert wurde und gegen den Türrahmen prallte. Mit verdrehten Augen sackte er zu  Boden, das Blut floss sofort aus einer tiefen Wunde an seinem Kopf und verteilte sich auf dem dunklen Parkettboden.

Dora schlug sich die Hand vor den Mund, sah ihren Mann entsetzt an, der auf John losgehen wollte. „Gregor, hör auf!“

Die Chance nahm John wahr, kniete sich neben Luc, fühlte den Puls, presste eine Hand auf die Blutung und griff dann zu seinem Handy, um den Notruf zu betätigen. Nachdem er der Dame am Telefon erläutert hatte, was passiert war, beendete er das Gespräch und zog umständlich sein Hemd aus, welches er auf die Wunde drückte.

Die Atmung seines Mannes war sehr schwach, die Blutung umso stärker. Hilflos saß John da und wusste nicht, was er tun sollte, viel zu lange dauerte es seiner Meinung nach, bis Hilfe kam. Gerade wollte er das Wort an Lucs Eltern richten, als er wahrnahm, wie diese seine Wohnung wortlos verließen. „Verdammt, das ist euer Sohn!“, schrie er ihnen nach, doch hörte schon bald die Absätze von Dora die Stufen hinabgehen. „Scheiße, Luc, komm, mach die Augen auf.“

 

Was John wie Stunden vorkam, waren in Wahrheit weniger als ein paar Minuten, als Polizei und Rettungsdienst in die Wohnung stürmten. Er wurde zur Seite geschoben und der Arzt kümmerte sich sofort um seinen Mann. In ihm wallte die Wut hoch und er drückte sich an den Polizisten vorbei, die eigentlich mit John reden wollten.

Vor der Tür sah er seine Schwiegereltern, die in einem Gespräch mit zwei Polizisten beteuerten, nicht zu wissen, was geschehen sei.

„Erst schlägst du deinen Sohn bewusstlos und nun erzählst du, du wüsstest nicht, was geschehen ist? Du bist das Allerletzte!“

„Ich? Du wagst es, deine Hände an meinen Sohn zu legen und sagst nun, ich bin das Allerletzte? Du Schwu ...“

„Es reicht! Mister Miller, ich bitte Sie, sich nicht im Ton zu vergreifen. Mister Stone, würden Sie uns mitteilen, was passiert ist?“

Das tat John und sah dann nervös zu dem Rettungswagen, in den Luc geschoben wurde. „Dürfte ich wissen, wie schlimm es ist?“ Der Arzt nickte bereits, als sich Lucs Eltern einmischten und verlauten ließen, dass John kein Recht darauf hatte, Auskunft zu erhalten. Diesem riss endgültig die Hutschnur. „Ich habe jedes Recht, zu erfahren, was mit meinem EHEMANN ist!“

Dora riss entsetzt den Mund auf, Gregor war einfach sprachlos, während John das Dokument aus seinem Portmonee zog, welches seine Aussage bestätigte. „Die Blutung haben wir gestoppt, die Vermutung eines Schädelhirntraumas ist nicht auszuschließen, er war zwar kurz bei Bewusstsein, doch ist sofort wieder abgedriftet.“ Der Arzt sah stirnrunzelnd auf Johns Nase, tastete dessen Gesicht ohne Vorwarnung ab, was seinen zweiten Patienten zurückzucken ließ. „Und Sie nehme ich auch sofort mit, das sieht mir ganz nach einem Bruch aus.“

John nickte ergeben, ließ sich von einem Polizisten die Schlüssel zu seiner Wohnung reichen und stieg zu Luc in den Krankenwagen. Besorgt betrachtete er diesen und verfluchte sich innerlich, so die Fassung verloren zu haben. Das Outing ihrer Heirat würde mit Sicherheit noch für Ärger sorgen, zwischen Luc und ihm, doch auch bei seinen eigenen Eltern.

 

Wie recht er hatte und wie falsch er gleichzeitig lag, erfuhr John einen Tag später. Er hatte die ganze Nacht an Lucs Bett gesessen, der vorsichtshalber ruhig gestellt worden war. Wie die Ärzte mitteilten, aus reiner Vorsicht. Morgens nahm John sich ein Taxi und fuhr zu seiner Wohnung, um sich frisch zu machen. Doch kaum war er aus dem Wagen gestiegen und hatte den Fahrer bezahlt, erhaschte ein Räuspern seine Aufmerksamkeit.

Karl Stone stand an der Haustür und sah seinen Sohn mit verschränkten Armen an. „Hast du mir was zu sagen?“

„Wahrscheinlich nichts, was du nicht schon weißt, Vater. Somit lass mich bitte vorbei, ich will mich frisch machen und ein paar Sachen für Luc packen.“

„Ihr habt also wirklich geheiratet? Seit wann hast du Interesse an Männern?“ Karl trat zur Seite und folgte seinem Sohn ins Haus.

„Nicht an Männern, nur an Luc. Ich weiß es nicht, es überkam uns und es ist passiert.“ John erklomm die Treppenstufen und schloss seine Wohnung auf, gefolgt von seinem Vater.

„Was heißt das? Wie lange habt ihr schon ein Verhältnis? Wieso hast du nichts gesagt, dann hätte ich die Verabredungen abgesagt und nicht dumm in dem Restaurant gesessen. Ich musste mir Ausreden einfallen lassen.“

„Das tut mir sehr leid für dich, wirklich. Was heißt, wieso ich dir nichts gesagt habe, ich dachte eher, du machst mir jetzt die Hölle heiß?“

Karl schüttelte seufzend den Kopf. „Für so ein Arschloch hältst du mich? Habe ich wirklich so viel falsch gemacht, dass mein eigener Sohn mir nicht mal mehr vertraut?“ Langsam sank Karls Blick und die sonst so gerade Haltung sackte in sich zusammen. „Ich wollte nur, dass du irgendwann selbstständig auf eigenen Beinen stehen kannst. Du sollst jedem die Stirn bieten können, keiner sollte dich je übergehen. Die schwierigsten Kunden überließ ich dir, damit du es lernst. Lernst gerade zu stehen und hart zu bleiben, aber scheinbar war es ein Fehler, wenn du nicht weißt, dass du mir alles sagen kannst. Mit harter Hand, doch auch mit Herz wollte ich dich erziehen ...“

John stockte, sah seinem Vater ins Gesicht, auf dessen Wangen die ersten Tränen hinabrollten. Geschockt folgte er der Nässe, niemals hatte er seinen Vater weinen sehen. „Dad, so meinte ich das nicht, doch … du hast immer davon geredet, dass ich heiraten soll, Kinder und ... ich wollte dich nicht enttäuschen.“

„Das hast du nicht. Ich möchte doch nur nicht, dass du allein bist, wenn wir mal nicht mehr bei dir sein können, soll dich jemand auffangen, jemand, der dein Herz sein eigen nennt. Wenn das Luc ist, umso besser, dann hast du das, was ich mir für dich gewünscht habe.“

Das überraschte John dann doch. Er kam sich gerade wirklich mies vor, solche Ansichten von seinem Vater gehabt zu haben. Schamesröte legte sich auf seine Wangen, während er ins Gästezimmer ging, um Luc einige Kleidungsstücke zusammenzupacken. 

„Was ist gestern genau passiert?“, durchbrach Karl die herrschende Stille.

„Weißt du das nicht auch schon?“

„Lediglich Gregors Sicht, ich möchte die meines Sohnes, dem vertraue ich mehr.“

John ließ sich auf dem Gästebett nieder. „Wir kamen heim und haben scheinbar die Tür nicht richtig geschlossen. Gregor hat uns bei einem Kuss gesehen und die Nerven verloren. Mich traf er im Gesicht, den zweiten Schlag in meine Richtung vereitelte Luc … er hat ein Schädelhirntrauma, Dad.“

„Sekunde, willst du mir gerade sagen, dass Gregor euch geschlagen hat, weil ihr euch lediglich geküsst habt? Du hast ihn nicht provoziert und angegriffen?“ Heftig schüttelte John den Kopf, was ihm einen Schmerzwall, der gebrochenen Nase wegen, verursachte und sah seinen Vater verwirrt an. „Dieser Mistkerl. Das werde ich regeln!“ Mit diesen Worten verließ Karl die Wohnung und ließ seinen Sohn allein, der verständnislos hinter seinem Vater her sah.

 

Lucs Kopf dröhnte, seine Augen wollten sich nicht öffnen, stattdessen versuchte er, den modrigen Geschmack in seinem Mund hinunterzuschlucken. Piepsende Geräusche drangen durch das Dröhnen in seinem Kopf. -Krankenhaus-, seufzte er innerlich.

„Mister Stone? Hören Sie mich?“ Eine Hand berührte seine Schulter und Luc versuchte, die Worte zu verstehen. Wieso nannte ihn die männliche Stimme Stone? Plötzlich riss er die Augen auf, sein Oberkörper schnellte hoch, wodurch einige Elektroden von seiner nackten Brust abrissen. „John, wo ist er?“ Die ruckartige Bewegung rächte sich schnell, denn ihm wurde übel und ehe er reagieren konnte, krampfte sich sein Magen zusammen und er spuckte Galle auf sein Bett.

„Ganz ruhig, Mister Stone, Ihr Partner ist nur gerade heimgefahren und wird sicher bald wieder da sein. Mein Name ist Doktor Richards, Sie sind gestern hier eingeliefert worden. Wissen Sie noch, was passiert ist?“

„Mein Name ist Miller, Luc Gregor Miller.“

Der Arzt runzelte die Stirn und strich sich durch sein schwarzes Haar. Nachdem das Bett neu bezogen war, setzte er sich zu Luc und holte tief Luft. Nachdem er einige Fragen zum Erinnerungsvermögen von Luc gestellt hatte, die dieser mit verdrehten Augen beantwortete, stand seine vorläufige Diagnose fest. „Es scheint eine vorläufige Amnesie vorzuliegen.“

„Was ist passiert? Wieso bin ich hier?“

„Sie sind gestern angegriffen worden und dadurch gegen den Türrahmen in Ihrer Wohnung gefallen. Eine tiefe Platzwunde am Hinterkopf hat ein Schädelhirntrauma verursacht. Folgeschäden können wir zu 90% ausschließen und Ihr Gedächtnis sollte sich in den nächsten Tagen auch wieder vollständig erholen.“

„Wer hat mich angegriffen und was ist mit John? Ist ihm was passiert?“

„Ihr Ehemann hat eine Nasenbeinfraktur, die zum Glück nicht verschoben war und gut zusammenheilen wird. Ihm geht es den Umständen entsprechend gut. Wer Sie angegriffen hat, kann ich Ihnen nicht mitteilen, darüber liegt mir keine Auskunft vor.“

Automatisch nickte Luc, doch nur noch eins beherrschte sein Denken. Der Arzt hatte Ehemann gesagt und sprach ihn mit Stone an, hieß das … es gab nur einen Grund, weshalb … John und er hatten geheiratet, aber wieso?

Ergeben schloss Luc die Augen, nahm noch wahr, wie ihm Doktor Richards mitteilte, ein Schmerzmittel zu spritzen und dankte diesem schon bald geistig für den schmerzfreien Schlaf.

 

Das nächste Mal, als Luc die Augen öffnete, erblickte er John neben dem Bett sitzend und eine Zeitschrift lesend. Erschrocken sah er auf die Nase seines Freundes, die inzwischen blau, grün und rot verfärbt und angeschwollen war. „Tut es sehr weh?“, entkam es Lucs Mund, ehe er nachdenken konnte.

„Geht schon. Wie geht es dir?“

„Im Moment gut, mein Gehirn scheint aufzugeben, meinen Kopf sprengen zu wollen. Was ist passiert?“

John wand sich regelrecht unter seinen Blicken. „Dein Vater hat die Kontrolle verloren und wollte mir zeigen, was er von mir hält. Leider hat es dann auch dich erwischt, als du dazwischen gegangen bist.“

„Verdammt. Es tut mir leid.“

„Es gibt nichts, was dir leidtun muss.“

„Doch, es war eine Frage der Zeit … ich bin daran schuld, hätte ich ihm damals nicht den Unsinn erzählt ...“

„Damit hat das nichts zu tun“, unterbrach ihn John, streifte seine Hand. Sofort fiel Luc der glänzende Ring ins Auge. Sein Blick wanderte zu seinen Fingern, die jedoch keinen aufwiesen, suchend sah er sich um und entdeckte den kleinen, schmalen Reif auf dem Nachttisch. Eindeutig Eheringe! John schien seinem Blick gefolgt zu sein. „Erinnerst du dich eigentlich noch an die letzten Tage? Richards sprach  von einer Amnesie.“

„Hm … nicht wirklich“, er griff sich seinen Ring und streifte ihn über den Finger, dann wanderte seine Hand zu der von John, der ihn recht überrascht ansah. „Wer hat wen gefragt?“

„Ich dich, als wir in Las Vegas waren.“

Luc grinste, konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie gerade John dazu kam, ihm einen Antrag zu machen, doch allein der Gedanke fühlte sich unheimlich gut an. Sein Leben lang hatte sich Luc Gedanken darüber gemacht. wie es wohl wäre, mit einem Mann … und scheinbar hatte er die Antwort erhalten. Sein bester Freund hatte ihn davon überzeugt. „Hat mein Vater sich deshalb derart vergessen?“

„Ja, er hat uns bei einem Kuss erwischt. Scheinbar war die Tür nicht richtig zu.“

-Kuss-, hallte es in Lucs Kopf und seine Augen wanderten zu Johns Lippen. Er hatte wirklich seinen besten Freund geküsst und … war da mehr gewesen? Allein der Gedanke reichte aus, um es in seinen Lenden ziehen zu lassen. -Nicht mehr nur bester Freund, auch Ehemann!-, verbesserte er sich in Gedanken und es löste in seinem Magen ein Kribbeln aus, von dem er bisher nur gelesen hatte. Auch wenn es angeblich unheimlich angenehm sein sollte und nicht derart intensiv. Oder war es sein Gewissen? Lucs Gedanken überschlugen sich. Die Worte seines Vaters von vor 14 Jahren hallten in seinen Ohren. „Widerwärtige, abartige Individuen, was dem gleichen Geschlecht hinterhersieht. Du wirst nicht so ein aussätziger Widerling, hast du mich verstanden?“ Immer wieder hatte Gregor diese Worte wiederholt und mit seiner Hand lang anhaltende Erinnerungen erschaffen. Aber wenn er John geheiratet hatte und das freiwillig, musste etwas vorgefallen sein, dass ihm den Mut gab. Und auch wenn er seinen besten Freund schon immer über seine Familie gestellt hatte, konnte es nicht nur die Zuneigung gegenüber diesem sein. So tiefgehend sie auch immer gehen mochte, hing Luc nun einmal an seinen Eltern, erhoffte sich mit fast 30 Jahren immer noch Anerkennung und Zuneigung von ihnen.

„Was ist zwischen meinen Eltern und mir vorgefallen?“

„Du hast ihnen die Stirn geboten, deine Sachen gepackt und bist zu mir gezogen.“ Johns Blick haftete weiterhin auf ihren Händen, die ineinander verschränkt auf dem weißen Laken lagen. Sein Atem schien immer wieder anzuhalten, dennoch  rührte er sich keinen Millimeter.

„Alles in Ordnung, John?“ Endlich sah dieser auf und Luc verlor sich fast in seinen Augen. Sanft drückte er dessen Hand und lächelte.

„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Geht es dir wirklich gut?“

„Im Moment bin ich davon überzeugt, dass es mir nie besser ging. Was auch immer zwischen uns beiden vorgefallen ist, dass wir den Schritt getan haben, scheint das Beste zu sein, was mir widerfahren konnte.“

 

Luc war noch nicht bei Sinnen, dessen war sich John nun sicher. Sein Freund sah ihn fast schon … verliebt an, das konnte doch nicht sein. Abermals traf ihn Luc an diesem Punkt, der für John noch sein Verderben war, doch im Moment interessierte es ihn recht wenig. Langsam beugte er sich vor und strich sachte mit seinen Lippen über Lucs Wange. Es gab keinen ersichtlichen Grund für sein Herz, dass er sich nicht endlich das holte, wonach er sich sehnte. Wenn Luc davon überzeugt war, in ihn verliebt zu sein, konnte er ihn vielleicht wirklich dazu bringen, ihn zu lieben. Am besten bevor dessen Gedächtnis zurückkehrte.

Vorsichtig erhob sich auch Lucs Hand und legte sich in seinen Nacken. „Ich habe keine Erinnerung an einen Kuss zwischen uns.“

John nickte verstehend, küsste sich über die Wange hinab zum Kinn und dann hoch zu den Lippen seines Mannes. -Ehemann-, flüsterte eine kleine Stimme in seinem Kopf und ließ ihn genüsslich seufzen, als sich ihre Lippen trafen und sanft übereinander rieben. Der Druck an seinem Nacken wurde erhöht, was ihm zeigte, dass Luc eindeutig mehr wollte, als nur ein Kuscheln ihrer Lippen. Vorsichtig seiner Wunden wegen intensivierte er den Kuss, eroberte Lucs Mund und entlockte diesem einen erregten Laut, der durch seinen Körper vibrierte. Daran konnte er sich eindeutig gewöhnen und alles in ihm verlangte mehr davon. Auch Luc schien es nicht anders zu gehen, zog ihn immer dichter, ertastete mit seinen Händen den Oberkörper seines Mannes. John erfasste ein Verlangen, das er so noch nie verspürt hatte und war fast dankbar für das Klopfen, was Sekunden später ihren intensiven Kontakt unterbrach.

 

Beate Stone sah ihren Sohn schmunzelnd an, dann ging ihr Blick zu ihrem Schwiegersohn, welcher sofort an Farbe gewann und dessen Wangen ein sattes Rot zierte.

„Wie ich sehe, war unsere Sorge recht unbegründet, ihnen scheint es gut zu gehen“, sah Beate hinter sich zu ihrem Mann.

„Das höre ich doch gerne, nun geh auch rein, dass wir sie begrüßen können.“

John setzte sich wieder auf seinen Stuhl und Luc betätigte den Schalter, der dafür sorgte, dass sich das Kopfende des Bettes aufrichtete. So saß er bald im Bett und nickte Karl und Beate verlegen lächelnd zu.

Karl trat zu seinem Sohn und Beate ging um das Bett herum, stellte einen Obstkorb auf den Nachttisch. „Vitamine, damit du schnell wieder gesund wirst, mein Junge.“

„Dankeschön.“ Lucs Stimme war viel zu hoch, was John zum Schmunzeln brachte. Prompt traf ihn ein mahnender Blick aus brauen Augen, was jedoch lediglich dazu führte, dass er sich ein Lachen verkneifen musste. „Du bist doof!“, kommentierte Luc sein Verhalten.

„Unwiderstehlich doof, ich weiß“, entkam es John und er lachte. Es war befreiend, erfüllte sein Herz. Seit langem hatte er sich nicht mehr derart wohl gefühlt und das, obwohl seine Eltern anwesend waren. Diese stiegen in sein Lachen ein und als Karls Hand sich auf seine Schulter legte, wusste John, dass es nicht besser werden konnte. Der Moment war geradezu perfekt.

 

Luc spürte das sanfte Streicheln von Beate an seinem Arm und sah sie an. In ihren Augen erkannte er etwas, was er seit der frühesten Kindheit bei seinen Eltern vermisst hatte. Zuneigung! Schon immer waren die Stones anders als seine Eltern gewesen. Hatten die Freundschaft von John und ihm akzeptiert und er war gerne gesehen. In einer Sache jedoch waren beide Elternpaare gleich und zwar in der  Vorstellung zum Leben ihrer Söhne. Studium, der Einstieg ins Geschäft und eine Heirat, wozu diese auch mehr als eine potenziell geeignete Frau ausgesucht hatten. Unsicherheit machte sich in Luc breit. In Filmen taten die Eltern doch auch immer so, als sei alles in Ordnung und kaum war der Auserwählte mit ihnen allein, baten sie ihn, das eigene Kind zu verlassen. Bezogen sich auf das Beste fürs Kind und derartiges. Würde ihm das auch bevorstehen?

„Du bist ziemlich blass. Geht es dir nicht gut?“ Beate legte ihre Hand auf seine Stirn und sah ihn besorgt an.

„Mir ist etwas flau im Magen. Es war alles etwas viel.“

„Mach dir keine Gedanken. Dein Vater wird sich verantworten müssen, deiner Mutter habe ich höchstpersönlich den Kopf gewaschen und sollte sie das noch nicht zur Vernunft bringen … ich weiß, wir können sie nicht ersetzen, doch sollst du wissen, dass ihr beide bei uns immer willkommen seid.“

„Meine Frau hat recht. Das Einzige, was wir immer für John wollten, war, dass er die wahre Liebe findet und wenn du das bist, soll uns das nur recht sein. Ich wusste nicht, dass dein Vater derart homophob ist. Seine Ausdrücke für euch beide waren nicht gerade salonfähig. Aber sei dir der Worte meiner Frau sicher, wir akzeptieren euch, wie ihr seid.“

Luc nickte beiden zu und schloss die Augen. Er würde sich jetzt nicht die Blöße geben und seinen Tränen freien Lauf lassen. Das hatte er in seiner Jugend das letzte Mal getan und dabei sollte es auch bleiben.

„Mum, Dad, seid nicht böse, aber ich glaube, das reicht für heute. Luc ist fertig.“

„Selbstverständlich, was ist mit dir? Willst du dich nicht auch etwas ausruhen? Sollen wir dich heimfahren?“

Luc hielt den Atem an, er wollte nicht, dass John ging, er sollte bei ihm bleiben, zumindest so lange, bis er schlief.

„Ich bin selbst mit dem Auto hier und habe nicht vor, schon zu fahren. Mum, schau nicht so, ich bin alt genug und weiß, was ich tu.“

Beates Seufzen war zu hören. „Allerdings bist du das und recht hast du. Ich würde auch nicht von der Seite deines Vaters weichen, wenn er hier läge. Pass schön auf Luc auf, damit er bald hier rauskommt.“

„Mach ich. Wir sehen uns.“ Das dumpfe Klacken der Absätze erklang auf dem Linoleum und dann wurde die Türe auch schon geöffnet und wieder geschlossen. „Es ist dir zu viel, kann das sein? Ich meine, was meine Eltern zu dir gesagt haben.“

„Etwas … ich wünschte mir, meine wären auch so. John, ist es unfair, wenn ich es dir eigentlich nicht gönne, dass du so tolle Eltern hast?“

„Solange ich dir gönnen darf, dass sie jetzt deine Schwiegereltern sind.“

Das Wort Eltern haftete sich in Lucs Kopf fest, verfolgten ihn noch, als seine Augen zufielen und er in einen ruhigen Schlaf glitt.

 

John lag dagegen noch wach in seinem Bett und starrte seine Zimmerdecke an. Er brauchte nicht die Augen zu schließen, um Luc vor sich zu sehen. Benötigte nicht die Erinnerung, um dessen Lippen auf seinen zu fühlen. Es war alles noch so präsent in seinem Kopf, auf seiner Haut, als wäre es gerade erst geschehen. Langsam drehte er sich zur Seite, zog das zweite Kopfkissen in seinem Doppelbett zu sich und umarmte es. Noch nie hatte er sich so einsam gefühlt, kam es ihm so falsch vor, nicht bei jemandem zu sein. Es fing also schon an, sein Untergang. John hatte sich Hals über Kopf in seinen besten Freund verliebt, mit dem er nun auch noch verheiratet war. Das konnte nur schief gehen, schließlich war sein Leben kein romantischer Kitschfilm, oder ein Märchen, auch wenn er es sich im Moment wünschte. Wie war das in diesen Kuschelfilmen, auf die Frauen standen? Zum Schluss wurde alles gut, man küsste sich auf einem Footballfeld oder auf einer Brücke … eventuell wurde zum Ende hin sogar eine Hochzeit angedeutet.

Football spielte keiner von ihnen, eine Brücke war mindestens 10 Meilen von ihnen entfernt und die Hochzeit bereits Geschichte. Nichts ließ also darauf schließen, dass sie je so ein Happy End haben konnten. Trotzdem gestattete sich John, diese Nacht so zu tun als ob. Spielte jeden Frauenfilm, den er sich in den Jahren angesehen hatte, als Vorlage für ein Happy End mit Luc. Seinem besten Freund und momentanen Ehemann.

 

Als er am Morgen in der Klinik ankam, saß Luc angezogen auf seinem Bett und blätterte in einigen Unterlagen. Er hatte einen Kuli zwischen seine Lippen geschoben, runzelte seine Stirn und kniff die Augen leicht zusammen.

„Hallo!“

Vor Schreck fiel der Kuli auf das Bett und Lucs Hände verkrampften sich kurzweilig um die Papiere in seiner Hand. „Herrje, hast du mich erschreckt!“

„Entschuldige. Du siehst besser aus als gestern.“

Luc legte die Papiere zur Seite und schwang seine Beine aus dem Bett, um dann Johns Hände zu erfassen und ihn näher zu ziehen. „Mir geht es auch wesentlich besser. Die Untersuchungen zeigen eindeutig, dass mein Gehirn es überlebt hat und ich morgen schon heim kann.“ John wusste nicht so recht was Luc vorhatte, der ihn zwischen seine Beine zog und erwartungsvoll ansah. Langsam dämmerte es ihm dann doch, sein Mann erwartete eine Begrüßung, die weit mehr beinhaltete als ein „Guten Tag“. So beugte er sich zu ihm hinab und kostete dessen Lippen, die sich ihm willig entgegenstreckten. „Darf ich morgen heim kommen?“, fragte Luc flüsternd.

„Natürlich. Ich werde dich abholen, für dich kochen und ins Bett verfrachten, da du dich zu 99% selbst entlässt und der Arzt dich nur gehen lässt, weil du versprochen hast, dich auszuruhen. Das hast du allerdings nicht vor und somit sorge ich dafür!“ Seine Vermutung sah er bestätigt, als er erkannte, welche Papiere Luc da studierte. Risiken einer zu frühen Selbstentlassung.

„Würdest du es unterlassen, meine Gedanken zu lesen? Ist ja schlimm mit dir.“ Luc löste sich, zog seine Beine wieder aufs Bett und die Papiere an sich. „Doktor Richards kann mich aber verstehen und sieht es als ungefährlich an. Solange ich keinen Ausdauersport betreibe oder dergleichen.“

„Korrekt, es ist richtig, ich empfinde seine eigenständige Entlassung als ungefährlich. Ab Morgen dürfen Sie ihren Mann wieder bei sich haben, jedoch sollte er sich wirklich nicht über längere Zeit überanstrengen“, wackelte der Arzt bedeutungsvoll mit den Augenbrauen.

 

Luc sah amüsiert, wie nervös John bei den Worten des Arztes wurde. Er selbst fühlte sich auch nicht sonderlich wohl bei der offenen und ungezwungenen Art, die der Doktor an den Tag legte, doch dass sein Partner dabei war, machte es eindeutig leichter.

„Das beruhigt mich und wann kann ich ihn dann abholen?“

„Morgen früh gegen 10 werde ich alle Papiere fertig und die letzten Untersuchungen durchgeführt haben. Jetzt bekomme ich aber noch etwas Blut, um die Entzündungswerte zu prüfen, nicht wahr, Mister Stone?“

Gequält verzog Luc sein Gesicht. Die Abneigung gegen Spritzen hatte er schon ewig und sie wurde in der Klinik eindeutig nicht besser. Als er die Hand von John auf seiner Wange bemerkte, sah er auf. „Ich lenke dich ab, dann wird es nicht so schlimm, okay?“ Natürlich war das in Ordnung. An sich reichte selbst die Anwesenheit von John, damit er seine Umgebung ausblenden konnte. Das war schon immer so. Sein bester Freund hatte einen besonderen Stellenwert in seinem Leben und schaffte es regelmäßig, alles um sich herum uninteressant werden zu lassen. Dann lag Lucs Fokus komplett auf John. Ob es dem auch so ging? Diese Frage hatte er sich noch nie gestellt, doch auf einmal kam sie ihm unheimlich wichtig vor.

Als er sie aussprach, sah ihn sein Mann recht irritiert an. „Wie meinst du das?“

Es entging Luc vollkommen, dass sich Doktor Richards mittlerweile mit seinem Arm beschäftigte. „Nun ja, ob du es eventuell auch so empfindest wie ich.“ Verlegenheit machte sich in ihm breit, nun empfand er die Frage als recht lächerlich.

„Es war nie anders, seit wir uns kennen. Hey, du warst immer einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben und bist selbstverständlich auch ein Magnet, was meine Aufmerksamkeit anbelangt.“ John schmunzelte, was Luc mit einem Schlag quittierte. „Schlag mich nicht!“

„Verarsch mich nicht.“

„Hab ich nicht, ich wundere mich nur, wieso du gerade jetzt auf so eine Frage kommst. Gab es je einen Moment, wo ich dir nicht zugehört habe? Dich ignorierte?“

„Nein, nicht wirklich.“ Jetzt glühten Lucs Wangen und er hätte sich am liebsten versteckt.

 

„Mich ignorieren die Menschen gerne, besonders meine Anweisungen“, seufzte Doktor Richards gespielt theatralisch und packte zu Lucs Erstaunen die vollen Blutröhrchen in seine Kitteltasche. „Heute noch liegen bleiben, in Ordnung?“

„Wird er schaffen“, antwortete John statt Luc und war froh, als der Arzt sie allein ließ. „Du bist noch nicht ganz fit, wie mir scheint.“

„Scheinbar war der Schlag härter als vermutet.“ Luc zog das Kissen hinter seinem Kopf hervor und presste es sich aufs Gesicht.

Gerade fühlte sich John in der Zeit zurückversetzt. In der Teenagerzeit hatte sein Freund sich immer so vor einer unangenehmen Situation versteckt. Lachend hob er das Kissen an und sah zu Luc, der die Augen zusammenkniff. „Du versteckst dich doch nicht allen Ernstes vor mir und das mit fast 30 Jahren, oder?“

„Doch und das ist nicht zum Lachen.“

„Es gibt bessere Methoden, mich von einer angeblichen Peinlichkeit abzulenken, meinst du nicht?“ Mit einem Ruck war das Kissen vom Gesicht verschwunden und John versteckte es sogleich hinter seinem Rücken.

Luc setzte sich auf, schwang seine Beine wieder aus dem Bett und saß nun genau vor John, dessen Gesicht er in seine Hände nahm und ihn ungestüm küsste.

Es fühlte sich verboten gut an, auch wenn seine Verletzung protestierte, wollte John diesen Kuss nicht beenden. Wer wusste schon, wie lange er noch die Lippen seines Mannes genießen durfte, wenn dieser erst einmal seine Erinnerung zurück hatte … Als jedoch Lucs Hand sein Bein berührte, zuckte John automatisch zusammen. Luc ließ sich davon nicht abhalten, rutschte stattdessen vom Bett auf seinen Schoß und nahm sich mehr von dem, was er sich in diesem Moment ersehnte. Überfordert mit der Situation, von seinen eigenen Gefühlen wehrte sich John nicht, doch konnte es auch nicht erwidern. Das war mehr als er sich erhofft hatte, viel mehr.

„Was ist los?“

Luc saß zu dicht bei ihm und raubte John fast den Verstand, sodass er nicht antworten konnte, sondern einfach wieder einmal seinem Körper die Entscheidung überließ, sich das zu nehmen, nach dem es ihn verlangte. Schon bald passte kein Blatt mehr zwischen sie, ihre Laute des Verlangens erfüllten das Krankenzimmer und sie blickten einander mit lustverhangenen Augen an. „Das ist eindeutig der falsche Ort für so etwas“, keuchte John und küsste Luc abermals.

Dieser lächelte an seinen Lippen. „Ich bin morgen wieder daheim, muss den ganzen Tag im Bett verbringen ...“

Welches Versprechen ihm sein Ehemann machte, ließ sein Herz stocken und dann in einem Tempo weiterschlagen, das eindeutig rekordverdächtig war. „Luc, ich denke nicht ...“

„Du denkst eindeutig viel zu viel. Ich denke, du solltest mir doch noch mal zeigen, wie unsere Hochzeitsnacht verlaufen ist, all das woran ich mich nicht mehr erinnern kann.“

John verhinderte ein Lachen, schluckte es stattdessen hinab und nickte ergeben. Wenn Luc ihre Hochzeitsnacht haben wollte, wäre das sicher das kleinste Problem, doch wahrscheinlich würde ihn das eher irritieren, als die Wünsche zu erfüllen, die in seinen Augen zu lesen waren. Die Gänsehaut, die seinen Körper überzog, wurde begleitet von einem unwohlen Gefühl. Konnte er Luc das geben, was sich dieser scheinbar wünschte?

 

Noch Stunden später, als John schon zuhause war, belagerte diese Frage seine Gedanken. Sicherlich, er fühlte sich zu seinem besten Freund und Ehemann hingezogen, darüber brauchte er nicht weiter nachzudenken. Jedoch hatte er selbst noch nie wirklichen Sex mit einem Mann gehabt und im Moment machte ihm dieser Gedanke Kopfzerbrechen. Irgendwann fand sich John vor seinem Computer wieder und benutzte die Suchmaschine, um herauszufinden, was es zu beachten gab. Als erstes erblickte er einschlägige Videos, in denen eindeutige Sachen zu sehen waren, die er niemals praktizieren wollte. Auf Schläge hatte John noch nie gestanden und die Gerätschaften sahen aus, als wollte man jemanden foltern statt Lust zu verschaffen. Nein, das war nicht sein Geschmack. Berichte über das erste Mal zwischen Männern waren da informativer, jedoch auch eher was für die Theorie und wie sollte das alles in der Praxis funktionieren? Verzweiflung machte sich in John breit. Einen anderen Mann oral oder mit der Hand zu befriedigen, war eindeutig etwas anderes. Dass es jedoch auch Videos gab, wo alles bis ins Detail geschildert wurde, überraschte ihn dann doch. Mehr als eins hatte er sich bis spät in die Nacht angesehen und wusste nicht wirklich, ob er dazu bereit war. Könnte er sich anal penetrieren lassen, oder war bereit, es bei Luc zu tun? Was wäre, wenn es zu große Schmerzen verursachte? Die Gefahren von analem Verkehr waren ebenso wenig zu verachten und mussten eindeutig gut überdacht werden.

Mit den Bildern glitt er wenig später in einen unruhigen Schlaf, der ihm Szenen zeigte, die ihn am Morgen schweißgebadet erwachen ließen.

Schwer atmend stellte sich John unter die kalte Dusche und betete dafür, dass die Bilder aus seinem Gedächtnis verschwanden. -Wenn es wirklich so gefährlich ist, wieso haben dann so viele Spaß daran?-, fragte er sich selbst und hatte keine Antwort darauf.

 

Luc kämpfte währenddessen mit Erinnerungen, die auf ihn einschossen, seitdem er die Augen geöffnet hatte. Der Streit mit seinen Eltern, sein Einzug bei John, der Kuss bei der Hochzeit, ein Ausschnitt im Fahrstuhl. Wie er auf John lag und sich an diesem rieb. Luc erkannte sich selbst nicht mehr in diesen Szenen, doch vor allem sein Freund irritierte ihn. Diese Blicke, die Berührungen und berauschenden Töne hätte er ihm niemals zugetraut. John war seit jeher eher steif und überkorrekt und nun zeigten sich Bilder eines Mannes, den Luc kaum zu kennen schien, jedoch dieses wohlige Kribbeln in seinem Magen auslöste. Es war eindeutig, oder etwa nicht? Langsam, aber sicher war er davon überzeugt, Hals über Kopf in seinen besten Freund verliebt zu sein.

Wann war das nur passiert?

„Die Sachen sind gepackt, wie ich sehe. Dann überreiche ich Ihnen noch Ihre Papiere. Bitte scheuen Sie sich nicht herzukommen, wenn die Kopfschmerzen schlimmer werden.“ Dass Doktor Richards hereingekommen war, hatte Luc nicht einmal bemerkt.

„Werde ich machen. Doktor … hab ich auch an den Organen was abbekommen?“

„Nein, mit Sicherheit nicht, wie kommen Sie darauf, Mister Stone?“

Verlegen drehte Luc seinen Ehering. „Mein Magen rebelliert etwas. Ich kann es nicht genau deuten, jedoch ist es recht merkwürdig ...“

Der Arzt setzte sich ans Bett und lächelte milde. „Nun ja, könnte es sein, dass Sie dieses Flirren meinen, was sich meist in der Magengegend befindet. Es fühlt sich an, als müsste man sich gleich übergeben?“

„Genau das!“

„Das nennt man Limerenz und dagegen kann ich nichts tun.“

„Ist das schlimm?“ Unsicherheit in Lucs Augen, brachte den Arzt zum Lachen.

„Das können Sie sehen, wie Sie wollen. Übersetzt bedeutet es lediglich, dass Sie verliebt sind.“

„Sind Sie sich sicher?“

Doktor Richards nickte und lächelte ihn gutmütig an. „Wenn Ihre Erinnerungen zurückkommen, wird es sich sicher von selbst erklären.“

„Hätte ja auch was anderes sein können, nicht wahr?“

„Dafür geht es ihnen eindeutig zu gut. Ich gehe wirklich davon aus, dass Sie lediglich verliebt sind. Was ist Ihr Problem?“

Seufzend sog Luc die Luft ein und stieß sie wieder aus. „Bis vor ein paar Tagen waren wir „nur“ beste Freunde und ich weiß bei Gott nicht, wann sich das geändert hat.“

„Der Weg von wahrer Freundschaft zur Liebe ist manchmal näher als man denkt. Genießen Sie Ihr Glück, ich denke es gibt Schlimmeres.“ Doktor Richards zwinkerte und verabschiedete sich daraufhin.

 

So nett die Worte des Arztes waren, halfen sie ihm im Moment nicht weiter. Was hätte Luc nicht alles dafür gegeben, seine kompletten Erinnerungen wieder zu haben. Er hätte zu gerne gewusst, wann sie einander die Liebe gestanden hatten, wann ihm selbst bewusst geworden war, sich in John verliebt zu haben. Als sein Mann das Zimmer betrat, war jegliche Frage aus seinen Gehirnwindungen verschwunden, stattdessen biss er sich seitlich auf die Lippe und zog die Schuhe an. Die Vorfreude auf ihr Zuhause war groß. Ob seine Träume der Nacht in Erfüllung gehen würden? Diese waren feucht und ausgiebig gewesen, dass er sich am Morgen gefragt hatte, ob sie der Realität entsprachen, bis seine Erinnerungen zurückkamen.

Dass diese Erinnerungen nicht die letzten für den Tag waren, bemerkte er sofort, als sie in die Wohnung traten und er sich an John vorbeischob. Wie ein Blitz drang die Erinnerung zu ihm durch, wie John ihn an die Wand drückte und sie sich küssten. Lächelnd lehnte er sich zurück und schloss die Augen, bis ein Dialog seine wohligen Erinnerungen verwirrte.

„Luc … das ist nicht gut. Du brauchst Zuneigung, aber ich glaube nicht, dass du das hier wirklich willst.“

„Glauben heißt nicht wissen, John! Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich möchte, meinst du nicht?“

„Normalerweise schon, doch der Streit mit deinen Eltern … ich denke, du interpretierst deine Gefühle für mich falsch.“

„Niemals! Du bist mein bester Freund, für den ich alles tun würde und der auch alles für mich macht. Wir sind schon unser Leben lang füreinander da und das wird sich nicht ändern, nicht durch die Hochzeit, noch durch unsere Intimitäten, im Gegenteil.“

Seine Augen öffneten sich wieder und er sah über seine Schulter direkt in Johns, die ihn besorgt musterten. Was hatte diese Erinnerung zu bedeuten? Wieso hatten sie einen derartigen Dialog geführt? Hieß das … das hörte sich in seinen Ohren an, als wären sie kein Paar, aber das konnte nicht stimmen, davon war er überzeugt. Wieso sonst hatte ihn John im Krankenhaus derart geküsst? Wieso sonst flirrte es in seinem Magen? Wieso sonst lehnte er gegen seinen Ehemann, der ihn behutsam an der Hüfte festhielt und so besorgt ansah? Das alles würde John doch nicht aus reiner Freundschaft tun, oder?

Abermals fing er an mit seinem Ring zu spielen, der sich so gut an seinem Finger anfühlte, aber auch ungewohnt und in diesem Moment falsch. Die Ungewissheit fraß ihn förmlich auf, doch konnte er die Frage nicht stellen, hatte zu viel Angst vor der Antwort. Stattdessen ließ er sich von John die Jacke abnehmen, während er sich selbst die Schuhe abstreifte und in Richtung Schlafzimmer ging. Als sein Mann ihm folgte, lag er bereits auf dem Bett, war zu matt sich zu entkleiden und starrte an die Decke.

„Was schwirrt dir durch den Kopf?“, setzte sich John zu ihm.

„Zu viel als es in Worte zu fassen. Erinnerungen kommen zurück und sind recht irritierend.“

„So? Was für Erinnerungen?“

Täuschte sich Luc oder wurde sein bester Freund nervös? „Ich weiß nicht mal, ob sie real sind. Ein Fahrstuhl, du und ich und eine ältere Dame ...“

„Die ist real. Sehr real, glaub mir. Du hast mir die Sprache verschlagen, als du …“ Eindeutig, John wurde verlegen und zauberte Luc ein Grinsen aufs Gesicht.

Die Bedenken verflogen so schnell, wie sie gekommen waren, er zog seinen Mann zu sich und raubte ihm einen kurzen, aber durchaus sinnlichen Kuss. Auch wenn der Volksmund von Schmetterlingen sprach, die den Bauch in Aufruhr versetzten, waren es bei Luc sicherlich Bienen, die mit ihren Stacheln seinen Magen malträtierten. „Hab ich dir denn gesagt, was ich möchte, nachdem die Frau den Fahrstuhl verlassen hat?“, leckte er John über die Lippen.

„Nein, nicht wirklich!“, entkam es diesem atemlos, während er versuchte, nicht mit seinem ganzen Gewicht auf ihm zum Liegen zu kommen.

„Darüber sollten wir eindeutig noch genauer sprechen, oder ich zeig es dir.“ Luc schnappte nach seinen Lippen, fuhr mit seinen Händen unter Johns Hemd und streichelte dessen angespannte Rückenpartie.

 

Das war eindeutig zu viel für Johns Geduldsfaden, der sich, schon angerissen, am anderen Ende festhielt. Er war auch nur ein Mann mit Wünschen und Sehnsüchten. Was erwartete Luc von ihm? Dass er sich ewig zusammenreißen konnte und nicht über ihn herfiel? Gerade jetzt, wo die Erinnerungen wiederkehrten, war es viel zu gewagt, auf die Verführung einzugehen. Denn was, wenn sein Mann sich daran erinnerte, was wirklich zwischen ihnen war? Was, wenn er ihn aus seinem Leben jagte wie eine räudige Katze, die nicht mehr zum Mäusefang fähig war, vom Bauernhof vertrieben wurde?

Trotzdem konnte er sich den kundigen Fingern auf seiner Haut nicht entziehen, die sich langsam am Bund seiner Hose zu schaffen machten.

Seine Kehle wurde trocken, sein Herz schlug heftig in der Brust und sein Blut sammelte sich ungeniert in seinem Schwanz. Es war also amtlich, er mutierte zu einem Teenager, den die kleinsten Berührungen scharf machten. Sollte es ihn beruhigen, dass es auch Luc nicht anders ging? Das tat es nicht, eher beunruhigte ihn die Tatsache, sich nicht wehren zu können und stattdessen seine Lenden am Bein seines Mannes zu reiben. Das wiederum sorgte dafür, dass sein Oberschenkel an Lucs Hose rieb, was diesem ein kehliges Stöhnen entlockte. Die pure Verführung für John, dessen Verstand aussetzte und sich das nahm, nach dem sein Körper sich sehnte. Heiße, hingebungsvolle Küsse, mehr verlangende Berührungen und Worte, die eine Nacht voller neuer Entdeckungen auf einem beiden unbekannten Feld versprachen.

Eine neue Dimension schien vor ihnen zu entstehen, die sie einlullte und in sich sog. Niemals hatte einer der beiden sich besser gefühlt, während sie mit einem anderen intim wurden. Es war mehr als das pure Verlangen nach Triebbefriedigung, es waren Gefühle, die sie einander in den Augen ablesen konnten.

Zurückhaltung, Scham und Ängste rückten in den Hintergrund. John fing an, Luc die Kleidung abzustreifen, wollte pure Haut auf seiner spüren, unverfälscht und echt. Ihre heißen Atem trafen aufeinander, während sie sich tief in die Seele sahen.

Samtweich legte sich Lucs Glied in seine Hand, passte perfekt dort hinein. Mit geschlossenen Augen suchte John den idealen Takt und Druck für sein Tun. Langsam, dass es seinem Partner bald zu wenig war, führte er seine Hand auf und ab. Jedes Mal, wenn Luc das Tempo steigern wollte, stoppte John, lächelte ihn an und verfing sich in einen Kuss mit ihm. Wann er das letzte Mal derartige Mengen an Küssen im Bett getauscht hatte, konnte er nicht sagen, eventuell, weil es nie der Fall gewesen war. Doch Lucs Lippen waren mehr als nur zwei fleischige Anhängsel des Mundes, sie waren die pure Verführung und zum Küssen erschaffen. Wie hätte er sich dagegen wehren sollen?

 

Noch nie im Leben hatte sich Luc derartig geliebt gefühlt wie in diesem Moment. Was er in Johns Augen las, kam einer Symphonie gleich, die extra für ihn geschrieben wurde. Vertrauensvoll ließ er seinen Mann die Führung übernehmen, genoss, was ihm geboten wurde und gab das zurück, was er erhielt.

Fast unbemerkt rutschte Johns Hand tiefer über den Damm hinab zu seinem Anus. Ein Ruck ging durch seinen Körper, Unsicherheit machte sich in ihm breit, während John ihn musterte und trotzdem nicht damit aufhörte, seine Rosette zu streicheln. Mit aller Zeit der Welt strich er immer wieder über den zuckenden Muskel, dass sich Luc irgendwann wieder entspannte und das Kribbeln in seinem Unterleib genoss. Es war so verheißungsvoll wie ungewohnt, jagte Impulse durch seinen Körper, die seinen Verstand ausschalteten. Selbst als es plötzlich kühl wurde, ignorierte er es, gab sich den Gefühlen hin, die ihn willenlos machten.

Mit einer unglaublichen Geduld liebkoste John seinen Hals, flüsterte irgendwelche Worte in sein Ohr, die Luc nicht verstand und streichelte weiter den Eingang in sein Innerstes. Ein Ruck ging durch Lucs Körper, wobei er selbst dafür sorgte, dass sich der Finger seines Mannes in ihn schob. John riss die Augen auf, wollte zurückweichen, doch er ließ es nicht zu. Lucs Empfindungen überschlugen sich, die Reize, die diese Eroberung in ihm auslösten, kamen nichts gleich, was er sich je vorgestellt oder erlebt hatte.

Sein flehender Blick wurde von John erhört, der sich dazu verleiten ließ, seinen Finger zu bewegen. Luc zuckte unkontrolliert, vereinnahmte den Finger somit noch tiefer und verlangte nach mehr. Es war nicht genug, sein Innerstes brannte vor Verlangen, welches erfüllt werden wollte.

 

John kämpfte mit sich, die Videos der letzten Nacht schlichen sich in seine Gedanken. Er wusste, was er tun musste und doch hielten ihn seine Hemmungen zurück. Was, wenn er Luc wehtat? Wenn dieser ihn dann abwies und …

Seine Gedanken fanden ein jähes Ende, als Luc in sein Ohr biss. „Mehr, tiefer, bitte!“ Der letzte Impuls seines Verstandes gab auf, ihn zu warnen, stattdessen übernahm seine Libido.

Langsam zog John den Finger aus Luc, der missfallende Geräusche von sich hab, um dann mit zweien einzudringen. Mit weit aufgerissenen Augen, angehaltenem Atem und einem Stöhnen wurde er begrüßt, was ihn mutiger werden ließ. Die Bewegungen wurden fahriger, schneller und vor allem härter, was sein Mann sichtlich genoss. Fest presste sich Johns Schwanz an Lucs Oberschenkel, verlangte nach seinem Recht, wollte ebenso eingebunden werden. Langsam glitt er über seinen Ehemann, entzog ihm die Finger und dirigierte stattdessen sein Glied dorthin. „Ich will dich!“, wisperte er an Lucs Lippen, der ihn mit verhangenen Augen ansah und nickte. „Entspann dich, es könnte wehtun.“

Ob Luc die Worte wirklich wahrnahm, wusste John nicht, mahnte sich jedoch, langsam vorzugehen und nicht die Kontrolle zu verlieren. Sein Blick wanderte zu dem Gel, welches auf dem Bett lag und ihm vorher schon behilflich war. Unbemerkt fischte er sich die kleine Tube, öffnete sie geräuschlos und rieb sich selbst damit ein, während Luc wieder nach mehr verlangte.

Schweißperlen liefen über Johns Gesicht, als sich seine Eichel durch den Ring des Anus‘ drückte. Verharrend blickte er in die Augen seines besten Freundes, der um jeden Atemzug kämpfte. Er wartete, kämpfte mit dem Verlangen, sich tief hineinzustoßen und gab Luc die Zeit, sich an die ungewohnte Dehnung zu gewöhnen. Sie reizten ihre Geduld regelrecht aus, ihre Körper zitterten um Erlösung flehend, als John seinen Mann komplett in Besitz nahm. „Das halt ich nicht lang aus“, die Worte waren ihm zu schnell entwischt.

Luc streichelte über seine Wange, fing einige Schweißperlen ab und schenke ihm ein Lächeln. Abermals versanken sie in einem Kuss, der ewig hätte dauern können, wenn sich ihre Unterleiber nicht mehr Aufmerksamkeit gewünscht hätten. Gemächlich zog sich John aus Luc heraus, um sich dann wieder in ihm zu versenken. Ein langsamer, wenn auch harter Takt, der beiden nur noch unverständliche Laute entlockte.

 

Sanft schmiegte sich Luc in Johns Arme, die er um ihn geschlungen hatte. Kämpfte so gegen ein merkwürdiges Gefühl in ihm, was der Bezeichnung „benutzt“ eine neue Bedeutung gab. Der Druck in seinem Darm ließ nur langsam nach, noch immer fühlte es sich an, als sei John in ihm. Dieser war tiefenentspannt und atmete schon bald gleichmäßig und mit leisen Schnarchgeräuschen.

Unbemerkt schlich sich Luc aus dem Schlafzimmer und nach einem Stopp im Bad führte ihn sein Weg in die Küche. Routiniert schaltete er den Kaffeeautomaten an, stellte eine Tasse darunter und wartete, bis der Apparat den koffeinhaltigen Saft herauspresste. Vorsichtig setzte er sich auf einen der Stühle. Nicht dass es ihn schmerzte, doch das Gefühl seiner Kehrseite war ungewohnt und so ging er lieber mit Vorsicht als Nachsicht ans Sitzen.

Auf dem Tisch lag die Tageszeitung, die John scheinbar ungelesen abgelegt hatte. Es war auch gerade erst Mittag und die letzten Tage recht anstrengend. Wie immer schlug Luc das gefaltete Papier in der Mitte auf. Politik und Sport überging er, denn das war auch schon in den Nachrichten berichtet worden. Ihn interessierte das Regionale, was bei ihnen passierte.

Die Anzeige sprang ihn förmlich an und verschlug Luc die Sprache. Das konnte nicht wahr sein, das hatte sein Vater nicht getan. Entsetzt keuchte er auf und fegte die Zeitung über den Tisch hinweg auf den Boden.

-Aus gegebenem Anlass trennen sich Miller & Sohn voneinander. Wir gratulieren unserem Sohn Luc Gregor Stone zu seiner Hochzeit mit seinem besten Freund John Stone, Juniorchef des Unternehmens Druckerei Stone. Die besten Glückwünsche von der Firma Gregor Miller und Belegschaft.-

Luc hörte seinen Vater hämisch lachen, das war nicht mehr als ein öffentlicher Tiefschlag und sicherlich erst der Anfang, wie er ihn kannte. Gregor wollte ihnen das Leben zur Hölle machen und das war der erste Anstoß.

„Verfluchte Scheiße!“, entkam es Luc etwas zu laut.

Kaum zwei Minuten später tapsten nackte Füße über den Boden, zwei Arme umschlangen ihn und Lippen liebkosten seinen Nacken. „Alles okay mit dir?“

„Nein, nichts ist okay. Er wird unser Leben zerstören.“

 

John runzelte die Stirn, ließ von Luc ab und ging um den Tisch herum, wo er die Zeitung auf dem Boden sah, auf die sein Mann zeigte. Es dauerte etwas, bis er das fand, was Luc so aus der Bahn geworfen hatte. Ihn kostete es ein hartes Schlucken, wankend hielt er sich an der Tischplatte fest und setzte sich erst einmal. Tausend Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, aber vor allem einer: Wie sollte er es hinbekommen, dass die Firma keinen Schaden davontrug?

Minutenlang starrten sie nur auf die Tischplatte und schwiegen sich an, bis Luc neuen Kaffee machte und auch ihm eine Tasse vorsetzte, bevor er wieder Platz nahm.

„Du steckst das ganz schön cool weg, oder meine ich das nur?“, fragte John und nahm einen Schluck.

„Nun ja, du warst ja auch recht sanft, ist zwar merkwürdig, aber schmerzen tut es nicht.“

Prustend klopfte sich John auf die Brust, versuchte wieder Luft in seine Lungen zu bekommen und sah Luc aus geweiteten Augen an. „Ich meinte … Herrgott … das meinte ich nicht.“ Immer wieder schlug er sich auf die Brust und versuchte, den verschluckten Kaffee aus seiner Luftröhre zu bekommen.

„Ach so … was soll ich denn machen? Mein Vater ist ein Arsch, ich kann daran gerade gar nichts ändern. Wir sollten jedoch deinen Vater informieren.“

John nickte und räusperte sich noch, als schon das Telefon klingelte. Als wäre es alltäglich, griff Luc zum Hörer, der auf der Ablage neben der Kaffeemaschine lag, und meldete sich mit Stone. Er stellte das Gerät auf Lautsprecher, damit John mithören konnte. Schon bald ertönte Johns Vater durch den Lautsprecher. „Hallo Jungs, ich denke, ihr zwei habt auch schon die Zeitungsannonce gesehen. Ich möchte gerne eine Gegenanzeige starten. Natürlich eine Gratulation zu dem mutigen Schritt zur Hochzeit und wenn du es mir gestattest, Luc, dein Eintritt bei uns in die Firma.“

Sprachlos sah Luc zu John, bei dem das Angebot seines Vaters ein Lächeln hervorrief.

„Ich bin etwas überrumpelt, Karl, sind Sie sich sicher, dass das eine gute Idee ist?“

„Also bitte, Luc, das „Sie“ darfst du mal lassen, schließlich sind wir eine Familie und was könnte der Firma besseres passieren, als einen talentierten Verkaufsstrategen zu gewinnen? Also mein Junge, was sagst du?“

Luc stand auf, lief in der Küche auf und ab, während John ihm Bedenkzeit verschaffte und mit seinem Vater telefonierte. „Dad, hast du keine Bedenken?“

„Inwiefern? Ich weiß, welches Talent dein Mann besitzt.“ Karl klang unwirsch und ihm schien die Frage recht unsinnig.

„Das meinte ich nicht. Heute versteht mich aber auch jeder falsch. Eher, was das Outing angeht. Nicht jeder unserer Kunden wird begeistert sein, dass sich dein Sohn zu seinem MANN bekennt!“

„Was interessieren mich ihre Meinungen? Wem es nicht passt, der soll sich eine andere Druckerei suchen, es werden neue Kunden kommen. Ihr beide bringt bestimmt frischen Wind ins Geschäft und wir wissen, das kann nicht schaden. Junge, ihr beide werdet mich noch zwei Jahre ertragen müssen, dann gehört die Firma euch.“

Nun verschlug es auch John die Sprache, er schluckte hart und sah zu Luc. Sein Vater baute darauf, dass sie beide zusammen übernahmen, als Paar, als Ehepaar, dabei wusste John nicht einmal, ob Luc ihn wirklich noch wollte, wenn dieser seine Erinnerungen wieder hatte.

„Karl, es würde mich freuen, in der Firma anfangen zu dürfen“, erklang plötzlich dessen Stimme. John sah zu seinem Mann, der sich nervös auf die Fingernägel biss und zu seinen Füßen sah.

„Nichts anderes wollte ich hören. Dann werde ich die Annonce aufsetzen lassen. John, dich erwarte ich morgen wieder in der Firma, wenn es irgendwie geht, und Luc, dich nächste Woche.“

„Ich werde da sein, Dad, bei Luc warten wir ab, was der Arzt sagt. Danke.“

 

Luft … es verlangte Luc nach Luft. Das Gefühl der Akzeptanz war unglaublich und für ihn eindeutig unbekannt, dass es ihm den Atem raubte. Alles schien plötzlich so einfach zu sein. Ein Blick auf John zeigte ihm einen Mann, der mit seinen 30 Jahren, dem sportlichen Körper und dem gepflegten Äußeren dem Traumschwiegersohn nahekam. Von seinem Vater war Luc aus dem Geschäft geworfen worden, doch dafür von Karl in dessen Firma aufgenommen. Bekanntlich bezahlte die Druckerei selbst seinem kleinsten Angestellten übertariflich, da konnte man doch von Glück sprechen, oder?

Wäre da nicht dieses Gefühl in seinem Inneren, was ihm Bauchschmerzen verursachte. Irgendwas gab es, was er nicht wusste und eine Vorahnung deutete darauf, dass Johns Blick damit zu tun hatte. Wieso verhielt sich sein bester Freund so merkwürdig? Erst jetzt wurde Luc bewusst, dass es nicht der erste unsichere Blick seines Mannes war, doch wieso?

„Wo ist mein Handy?“

„Sicherlich noch in deiner Jacke, wie bei der Ankunft vor vier Tagen, wieso?“

„Ich habe das Gefühl, als würde ich darin die Lösung für mein ungutes Gefühl finden.“ John blieb sitzen, während Luc seine Jacke suchte, die er bald an der Garderobe fand. Sein Blick wanderte durch den Flur zu einem Gästezimmer, welches offen stand. Überrascht sah er seine Koffer darin. „John? Wieso sind meine Klamotten in dem Zimmer hier?“ Auf eine Antwort wartete er vergebens, was Luc zurück in die Küche trieb. Mit dem Gesicht in den Händen saß John am Tisch. „Wieso habe ich das dumme Gefühl, mehr vergessen zu haben, als gut für mich ist?“ Statt sich auf seinen Stuhl zu setzen, kniete er vor John und zog ihm die Hände weg. „John?“

„Es war nicht geplant und … es passierte einfach, ein Wort gab das nächste, ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll.“

„Wie du mir immer alles erklärt hast, seitdem wir uns kennen. Offen und ehrlich!“

Nickend zog sein Mann Luc auf den Schoss. „Ich möchte dich noch einmal halten, okay?“

„Muss ich das verstehen?“

John ignorierte die Frage, legte sein Gesicht an Lucs Rücken und sog den Duft ein. „Du hast deinen Eltern die Stirn geboten, bist daraufhin hier eingezogen und wir sind direkt nach Las Vegas. Ich hab da nur noch ein Doppelzimmer bekommen. Es waren so viele lustige Situationen, wie die im Fahrstuhl … keine war ernst gemeint. Wir haben zu viel getrunken und irgendwie habe ich dir einen Antrag gemacht. Was erst Spaß war, wurde so schnell ernst, dann der Kuss bei der Trauung, das gemeinsame Einschlafen im Zimmer und der Morgen …“

„Wir kamen zurück und die Stimmung zwischen uns war immer noch aufgeheizt, ich hab dich gereizt“, stellte Luc sachlich fest, sein Körper versteifte sich, als er sich wieder erinnerte. Plötzlich sprang er auf, sah auf John hinunter. „Du wolltest das alles gar nicht. Oh verdammt, ich hab mich komplett zum Deppen gemacht.“

„Nein, Luc bleib hier!“

 

John seufzte schwer, zwar hatte er eine andere Reaktion erwartet als diese und doch war das Ergebnis gleich, Luc war fort. Dass dieser allerdings annahm, dass John das alles gar nicht wollte, überraschte ihn dann doch. Wie kam er darauf? Eine Antwort war er Luc schuldig geblieben, hatte sich mit seiner Kleidung im Bad verbarrikadiert und war angezogen aus dem Haus gestürmt. Mit Sicherheit hatte Luc ihm nicht zugehört, oder aber es war ihm einfach zu peinlich gewesen, was John einleuchtend vorkam. So war Luc schon immer gewesen, seitdem sie sich kannten.

Eine halbe Stunde später stand John an der Haustür und überlegte, wohin sein Mann geflüchtet sein konnte. Im Normalfall zu ihm, wie immer, doch jetzt? Es gab nur einen, mit dem Luc ein relativ gutes Verhältnis hatte, das ihrem glich. Stephan!

Natürlich, Stephan Black, Mitbegründer der Werbeagentur Black & White, der für die Firmen ihrer Eltern schon mehr als eine Werbemaßnahme verwirklicht hatte. Es gab sonst keinen Bekannten, bei dem Luc eine verständnisvolle Schulter fand. Zumindest wenn sich Stephan von seiner Arbeit trennen konnte, denn dieser war der reinste Workaholiker.

Beruhigt nahm John wahr, dass Lucs Auto nach wie vor am Straßenrand parkte. Wenigstens war sein Mann nicht unverantwortlich, das musste man ihm lassen.

Eine Viertelstunde später traf John in der Werbeagentur ein. Ohne auf die Dame am Empfang zu reagieren, ging er zu den Fahrstühlen und drückte den Knopf zur obersten Etage, wo Stephan und dessen Geschäftspartner Christian ihre Büros hatten. Seit Jahren hatten die zwei ehemaligen Studienkollegen dafür gearbeitet, diesen Luxus verwirklichen zu können. Eine ganze Etage nur für sie, ohne störendes Fußvolk, wie es Christian mal witzelnd bezeichnete. Dieser kam ihm auch prompt entgegen, als John aus dem Fahrstuhl trat.

„Stephan ist heute beliebt, doch wenn ich so überlege … erst Luc und nun du? Was ist passiert?“

„Du hast scheinbar heute noch keine Zeitung gelesen, oder?“

„Nicht wirklich!“, verlegen strich sich Christian durch sein blondes Haar. „Die Arbeit erschlägt uns gerade, dabei wollte ich mir endlich mal wieder mehr Freizeit gönnen.“

„Wie klappt es mit Nico?“, es war nur ein Flüstern, als John die Frage aussprach. Christian war alles andere als geoutet, was dieser aber eher als privat ansah. Denn es ging keinen etwas an, nicht einmal seinen Geschäftspartner.

„Nun ja, wir sehen uns relativ wenig, aber ich glaube, er könnte der Richtige sein, sobald ich mir Zeit verschaffen kann. Also, was ist mit dir und Luc?“ John hob seine Hand und sofort reflektierte der goldene Ring das Licht. „Das ist ein Witz, oder? Ihr seid Freunde und kein … seit wann? Ich dachte, ihr zwei seid eher der Frauenwelt zugetan! Ich meine, bei dir wusste ich, dass du nicht abgeneigt bist“, zwinkerte Christian. „Aber bei Luc?“

„Er ist für Überraschungen gut und ich hoffe sehr, dass es ihn nur bei mir zu Männern hinzieht. Weißt du, wo Stephan und er sind?“

„In der Kaffeeecke. So so, nur zu dir? So hab ich die Heteros gerne, kaum wechseln sie das Ufer, schon teilen sie nicht mehr.“ Lachend verschwand Christian in sein Büro und John atmete durch. Der Mann hatte Sprüche, die seine Kundschaft sicher niemals von ihm erwarten würden. Doch noch weniger würde man davon ausgehen, dass dieser Mann schwul war und das nicht erst seit gestern. John hatte ihn damals kennengelernt, als er mit Sebastian angebändelt hatte. Seine Frage, wieso man nicht wüsste, dass er schwul sei, hatte Christian mit einem abschätzenden Blick und den Worten „Es geht keinen etwas an, mit wem ich mein Bett teile. Stellst du dich deinen Geschäftskunden mit den Worten vor, dass du hetero bist?“ abgetan. Recht hatte dieser und jetzt verstand ihn John umso besser. Seit dem unfreiwilligen Outing durch seinen Schwiegervater hatte er ein beklemmendes Gefühl in sich. Das schob er jedoch von sich, denn Luc war es ihm wert. Er würde ihn für nichts auf der Welt wieder hergeben. Das hätte er nie getan, nicht einmal, als sie „nur“ Freunde gewesen waren. Luc gehörte zu ihm, egal auf welche Art und Weise.

 

„Sekunde, du haust mich gerade um mit deinen Informationen. DU bist mit John VERHEIRATET?“

„Das fragst du mich nun zum fünften Mal und abermals sage ich dir JA, so ist es. Ich weiß nicht, was daran so schwer zu verstehen ist. Und ich bin auch nicht hier, um dir die Frage tausend Mal zu beantworten, ich will wissen, was ich jetzt machen soll. Ich habe ihn dazu gedrängt, mit mir …“ Luc rieb sich die Schläfen, sein Kopf schmerzte, oder eher dröhnte er geradezu und erinnerte ihn an Doktor Richards, der ihn ermahnt hatte, noch liegen zu bleiben.

„Gedrängt? Mein lieber Freund, du kannst ja viel tun, aber sicher keinen Mann dazu drängen, mit dir zu schlafen. Hätte John es nicht gewollt, hätte er es zu 100 Prozent nicht getan. Kann es sein, dass du von dir selbst geschockt bist? Dein Verlust der Erinnerung hat deine Gefühle unverfälscht gezeigt und jetzt stehst du da, weißt, was wirklich war. Doch nun ist die Frage in dir, wie du dich verhalten sollst. Denn dass es eher eine Schnapsidee war als eine Herzenssache, schafft gerade Hemmungen, die idiotisch sind. Bei dem, was du mir alles erzählt hast, scheint euch beiden doch mehr aneinander zu liegen als nur Freundschaft. Luc, er hat dir das alles erzählt, während er dich noch einmal in den Armen halten wollte. John wusste, wie du reagierst und nahm sich noch ein wenig Nähe, was sagt dir das?“

Luc fühlte sich schlaff, ausgepowert, doch sah er nun auf. „Dass er meine Nähe genossen hat und sie eigentlich nicht hergeben wollte?“

„Ich wollte eine Antwort und keine Gegenfrage! Er genießt deine Nähe und will diese nicht aufgeben. Doch irgendwas hat ihm gesagt, dass du sie nach eurem Gespräch nicht mehr möchtest.“

„So ist das doch gar nicht, doch ich habe ihn zu etwas gedrängt …“

„Das ich schon vor dir wollte. Du bist derjenige, der von einem Fehler gesprochen hat. Ich konnte dich nur beruhigen, indem ich sagte, dass ich mich um die Annullierung kümmere. Deine Amnesie war für mich das Beste, was passieren konnte. Denn es war, wie es Stephan sagt, du hast deine Gefühle rausgelassen, ungehemmt. Das waren für mich die schönsten Tage, die ich je erlebt habe.“

Erschrocken war Luc herumgefahren, sah seinen Mann mit aufgerissenen Augen an und hörte ihm zu. Die Worte klangen unglaublich, so unfassbar, dass er John weiterhin anstarrte.

„Kann es sein, dass er noch nicht ganz fit ist?“, fragte Stephan.

„Eigentlich sollte er noch ein paar Tage liegen. Aber es ist alles etwas aus dem Ruder gelaufen.“

„Verständlich. Bring ihn heim, lass ihn schlafen und dann sprecht noch mal Klartext miteinander. Herzlichen Glückwunsch, übrigens! Wann wird gefeiert und wo ist euer Geschenketisch?“

Luc sah alles wie durch einen Nebel, hörte dafür die Stimmen jedoch klar und deutlich, besonders Johns Lachen. „Lass Luc gesund werden, dann werde ich eine Feier organisieren und der Geschenketisch … das sehen wir noch.“ Diese Worte erfüllten sein Herz, ließen es schneller schlagen und verscheuchten den dicken Nebel. Nervös biss er sich auf die Lippen und sah tief in die grünen Augen seines Ehemanns. Hatte John gerade gesagt, dass sie feiern würden? Ihre Hochzeit? Von den Gefühlen übermannt zitterten seine Hände unkontrolliert.

„Jetzt bring ihn heim, er wird schon ganz zittrig und eure Liebesbekundungen muss ich nun wirklich nicht mitbekommen. Auf mich wartet Arbeit!“

„Was auch sonst, ob du dich je änderst?“

„Mal sehen, es soll ja Wunder geben, das sieht man an euch beiden!“

 

Genau darauf hoffte John mit Leib und Seele, dass es sich gerade um ein Wunder handelte, was sich zwischen ihnen entwickelte. Luc durfte nur keinen Rückzieher machen, auf einen Versuch kam es an. Würde es Luc versuchen wollen? John hatte Bedenken, dass sich sein Mann doch noch umentschied. Sicherlich gab es so manchen Mann, der Luc wesentlich mehr bieten konnte und eventuell auch mehr Erfahrungen in Sachen Beziehung mitbrachte. Wortlos verlief der Weg nach Hause. Auch in der Wohnung sagte noch keiner etwas und John empfand es als wichtiger, seinen Partner mit Schmerzmitteln zu versorgen und ins Bett zu verfrachten.

So konnte er sich noch ein paar Stunden Gedanken machen, was nun aus ihnen werden würde. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand ging er auf die Dachterrasse. Hier hatte er sich eine gemütliche Wohlfühloase eingerichtet. Mit Hängematte, gemütlicher Sofalandschaft und einem kleinen Grillplatz, inklusive Theke für Cocktails. Ob er irgendwann auch mit Luc hier liegen würde? John streckte sich auf der Sofalandschaft aus und schalt sich für seine Gedanken, denn schließlich war es ein Ritual zwischen ihm und seinem besten Freund, im Sommer hier zu faulenzen, den Grill anzuschmeißen und mehr als ein kaltes Bier zu trinken. Doch würde es nach dieser Woche auch noch zu ihren Ritualen gehören? Oder war ihre Freundschaft beendet? War es das wert gewesen, wegen ein paar Streicheleinheiten, Sex und Küssen, eine über 20-jährige Freundschaft aufs Spiel zu setzen? Bereuen würde er sicher keine ihrer Intimitäten, doch war in ihm die Angst entfacht, alles zu verlieren, was er als wichtig erachtete.

Johns Gedanken drehten sich nur noch darum. Konnte ihre Freundschaft das überstehen, oder würde er bald ohne Luc auskommen müssen? Über die Vorstellung, wie trist ein Leben ohne seinen besten Freund sein würde, fiel er in einen seichten Schlaf.

 

Endlich gaben die Kopfschmerzen nach und Luc konnte die Augen wieder öffnen. Es war mittlerweile kurz vor sechs am Abend und er nahm sich vor, die nächsten Tage wieder einem normalen Schlafrhythmus nachzukommen. Allein aus diesem Grund konnte er Krankenhäuser nicht leiden, da blieb einem nichts anderes übrig, als zu schlafen.

Doch wenn er wirklich am Montag bei Karl anfangen wollte, sollte er fit sein. Der Gedanke an Karl Stone brachte ihn auf dessen Sohn. John war nicht bei ihm im Bett, dabei hatte er gedacht … „Du bist ein Depp!“, schalt er sich selbst und stand auf. Angezogen machte sich Luc auf den Weg, packte seine Koffer zusammen, die sowieso nur geringfügig ausgepackt waren und suchte John.

Luc konnte nicht anders, blieb an der Terrassentür stehen und beobachtete seinen Mann, der entspannt auf dem weißen Sofa lag. Wie viele Stunden sie hier schon gemeinsam verbracht hatten, teils bis in die frühen Morgenstunden. Manches Mal waren sie nur von der Sonne wach geworden, die morgens direkt auf die Sofalandschaft schien. Er würde es vermissen, nicht einen Moment ihrer Freundschaft jemals bereuen, bis auf diesen einen … der nun folgen würde, das Ende.

Er stieß sich vom Türrahmen ab und ging auf John zu. Vorsichtig streichelte er dessen Wange. „Danke für alles!“

„Ich habe dir zu danken!“

Braune versanken in grüne Augen, jeder darauf bedacht, dem anderen seinen Schmerz nicht sehen zu lassen. Luc wandte sich ab, versuchte den Kloß in seiner Kehle hinab zu würgen, woran er scheiterte. Nie im Leben war er derart verletzt gewesen, nicht mal die Taten und Worte seiner Eltern hatten das je geschafft, wie konnte es nur sein, dass gerade John das fertig brachte? Dabei hatten sie sich mal geschworen, immer füreinander da zu sein, immer, egal was passieren würde. Luc wollte seinen besten Freund zurück. Statt weiter zu gehen, drehte er sich um, trat auf die Terrasse und atmete schwer aus. „Ich könnte meinen besten Freund gebrauchen.“

„Ich auch!“ Verlegen lächelten sie sich an, bevor Luc neben John Platz nahm. Dieser holte ihnen zwei eiskalte Flaschen Cola.

„Meinst du, wir könnten unsere Freundschaft irgendwie retten?“, fragte Luc und riss an dem Etikett der Flasche.

„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Versteh es nicht falsch, Luc. Du bedeutest mir viel und in den letzten Tagen sind die Gefühle noch intensiver geworden, dass ich nicht weiß, ob ich einfach da weitermachen kann, wo wir vor fünf Tagen aufgehört haben.“

„Das heißt konkret?“ Lucs Herz schlug hart in seiner Brust. Er hatte es in der Werbeagentur nicht falsch verstanden.

John sah in die andere Richtung, hielt die Flasche fest in seinen Händen und senkte dann den Kopf. „Versteh das richtig, es ist nicht so, dass ich schon immer in dich verliebt war, aber seit Las Vegas … ich weiß echt nicht, wie ich das …“ Weiter kam John nicht, da schlug die volle Flasche Cola auf den Boden, der Inhalt verteilte sich über die Terrassenplatten und drang in den weißen Stoff der Couch. Luc hatte sich auf ihn geschmissen und drückte grob ihre Lippen aufeinander.

 

Perplex verharrte John und versuchte zu realisieren, was gerade passierte. Die Flasche war in ihre Einzelteile zerbrochen und hatte seine Couch ruiniert. Doch dann realisierte er: Luc küsste ihn! Und wie er ihn küsste! Das bedeutete? Es war als würden Ketten gesprengt, die sein Herz in einer eisernen Umarmung hielten. Johns Hände umfassten Lucs Gesicht, unterbrachen mit sanftem Druck den Kuss. „Luc?“

„Später!“, wischte dieser die Frage aus ihren Köpfen, beharrte stattdessen auf der Verbundenheit ihrer Lippen.

Es war unglaublich, John fasste es nicht, Luc gehörte ihm, eindeutig, unmissverständlich ihm. Der Kuss schien unendlich lange und doch viel zu kurz. Als sich das nächste Mal ihre Lippen trennten, saß Luc breitbeinig auf Johns Schoss und blickte ihm tief in die Augen. „Ich sagte dir in Las Vegas, ich teile nicht, toleriere kein Fremdgehen, du gehörst mir allein, das nehme ich nicht zurück!“

„Trifft sich gut, ich geb dich auch nie wieder her.“

„Versprochen?“

„Solange bis du mich bittest, das Versprechen zu brechen!“

 

Lachend standen Luc und John Arm in Arm auf ihrer Feier. Stephan hatte nicht locker gelassen und ebenso einen Grund beigesteuert, dass sie sich drei Wochen später bei ihnen trafen und feierten, bis der Morgen graute. Auch wenn es so manchen überrascht hatte, würde der Werbedesigner bald Vater werden, dank seiner zwei besten Freundinnen, die ihn dazu auserkoren hatten, Samenspender zu werden. Sandra war inzwischen in der achten Woche. Mit dem ersten Bild in den Händen war Stephan auf der Feier aufgetaucht und hatte beschlossen, dass er auch einen Grund zum Feiern mitgebracht hatte.

Luc und John betrachteten ihre Freunde, die mitsamt Johns Eltern an einem Tisch saßen und Wein oder Bier tranken, während die zwei den Grill bedienten.

John schlang die Arme von hinten um Luc und sah über seiner Schulter zu, wie dieser die Steaks wendete. „Bist du glücklich?“

„Mit dir? Schon mein Leben lang und das wird sich auch nicht ändern.“

„Und wenn wir doch mal streiten? Uns die Köpfe einschlagen?“

„Machen wir es wie in den letzten 27 Jahren auch und raufen uns wieder zusammen.“

„Du bist so weise.“

„Ja, das bin ich wohl, ein Glück, dass du mich hast.“ Luc lachte und drehte sich in den Armen seines Mannes um. „Ich liebe dich!“

John schloss die Augen, versuchte Luft in seine Lungen zu bekommen. Drei simple kleine Worte stahlen ihm gerade die lebensnotwenige Luft zum Atmen. Es war das erste Mal, dass Luc sie sagte und das verschlug John gerade die Sprache. „Ich dich auch.“ Hörte sich seine Stimme wirklich derart hoch an? Er betete, dass das nicht der Fall war.

 

„Oh Mann, Liebesbekundungen!“ Theatralisch seufzte Stephan auf und sorgte für ein Lachen bei den Anwesenden. Es waren nicht viele gekommen und vor allem nicht alle, die sie erwartet hatten. Christian fehlte, dessen Absage John zum Grummeln gebracht hatte. Doch so war es nun einmal, nur einer der Geschäftspartner konnte abends früher aus der Firma und scheinbar hatte Stephan dieses Mal das Glück. Sandra und Annabell, die Luc anscheinend näher kannte, hatten ebenso keine Zeit gefunden. Der Grund lag wohl an der Schwangerschaft. Manche Freunde hatten sich abgewandt, dafür waren andere Bekanntschaften gerade dabei, vertieft zu werden.

„Hast du ein Problem damit, baldiger Daddy?“, grinste Luc und streckte Stephan die Zunge raus.

„Nicht Daddy, der Wurm wird zwei wundervolle Mütter haben und mich als Patenonkel. Lediglich auf dem Papier werde ich als Vater geführt, darauf besteht Annabell, falls ihnen was passiert …“ Augenverdrehend machte Stephan eine wegwerfende Handbewegung.

„Weise vorausgedacht“, kommentierte Johns Mutter lächelnd. „Wie sieht es denn bei euch beiden aus? Dürfen wir auch noch Hoffnung hegen, irgendwann Großeltern zu werden?“, sah sie dann zu John und Luc.

Röte zierte die Wangen der frisch Verheirateten. diese Antwort blieben sie Beate an diesem Abend schuldig. Sie waren noch jung, frisch verheiratet und wenn es nach ihnen ging, würden sie erst einmal ihre neue Liebe genießen.

Wie in dieser Nacht, in der Luc die Zügel in die Hand nahm und John zeigte, wie schön es sein konnte, miteinander verbunden zu sein.

Ein Mann für Papa

Stephan und Christian

Stephan war fertig, die Feier bei Luc und John hatte eindeutig zu lange gedauert und war ausgeufert, doch er musste in die Werbeagentur, selbst wenn er nur Zeit für eine Dusche gehabt hatte. Nicht eine Minute Schlaf diese Nacht, dafür umso mehr Wein mit Beate Stone. Eine klasse Frau, wie er fand. Nicht sein Kaliber, aber sicherlich eine Traumschwiegermutter, Mutter und Ehefrau. Allerdings war ihr Sohn nun in festen Händen, eine klasse Story, über die er immer noch schmunzelte. So was konnte auch nur zwei heterosexuellen Männern passieren, die ganz plötzlich Gefühle füreinander entwickelten, wo sie sich doch schon Jahrzehnte kannten. Da war er auf der sicheren Seite, wusste er doch schon seit seiner hormongesteuerten Phase, dass er eindeutig auf das männliche Geschlecht stand. Daran war nichts falsch und das hatten seine Eltern zum Glück ebenfalls so gesehen, auch wenn er es nicht an die große Glocke hing.

Als Mitbegründer der Werbeagentur Black & White behielt er sein Privatleben für sich. Schließlich machte es keinen Unterschied, mit welchem Geschlecht er sein Bett teilte. Als Webdesigner war er gut, sehr gut, wenn man seinen Kunden Glauben schenken wollte. Sein Geschäftspartner Christian White dagegen war ein erstklassiger Texter, brachte es fertig, jedes Produkt an den Mann und an die Frau zu bringen. Dass sie nun zusammen diese Firma hatten, war dem Zufall zuzuschreiben. Ein glücklicher Zufall, der ihnen einen lukrativen Job einhandelte, für einen Sportbekleidungshersteller. Christians Texte, und seine Bilder waren derart überzeugend gewesen, dass sie sich für die zwei Mittzwanziger entschieden hatten. Gewagt, doch sie hatten es nie bereut. Heute, drei Jahre später, lief das Geschäft so gut, dass selbst ausländische Firmen auf sie zukamen. Eine davon wollte sich an diesem Tag ihre Entwürfe ansehen und da musste Stephan dabei sein. Denn auch wenn sein Geschäftspartner hervorragend texten konnte, vor fremden Menschen Sprechen fiel ihm schwer. Das war somit seit jeher Stephans Job und damit kam er sehr gut zurecht.

 

Kaum hatte er die oberste Etage der Werbeagentur erreicht, stand auch schon Christian mit verschränkten Armen vor ihm. „Du siehst verdammt scheiße aus, um es nett auszudrücken.“

„Ja, entschuldige, es war eine harte Nacht. Gib mir noch zehn Minuten, dann wirkt dieses Anti-Augenringe-Zeug und ich sehe aus wie frisch geboren.“

„In zwanzig sind die Kunden aus Großbritannien da, ich hoffe für dich, dass du dann fit bist.“

Abwinkend ging Stephan zur Kaffeemaschine und machte sich erst einmal einen Milchkaffee. Sein Geschäftspartner war manchmal einfach zu steif, eben typisch Hetero, wenn man ihn fragte. Stock im Arsch und fühlt sich gut dabei. Wahrscheinlich hätte Christian wirklich ein Problem mit ihm, wenn er herausfinden würde, dass er schwul war. Obwohl er es sich nicht so recht vorstellen konnte. Denn dieser hatte sich sofort am Geschenk für John und Luc beteiligt und mit netten Worten die Karte verziert. Wahrscheinlich schätzte er seinen Partner falsch ein, doch an sich war ihm das auch recht egal. Privat verband sie nichts und das würde sich wohl so schnell auch nicht ändern. Aus Höflichkeit hatten sie sich das erste Jahr zu Geburtstagen, selbst zu Weihnachten eingeladen, doch schon bald festgestellt, dass sie es beide nicht darauf anlegten, einen privaten Kontakt zu pflegen. Es reichte vollkommen, bis zu 16 Stunden am Tag gemeinsam zu verbringen, auch wenn es nur beruflich war.

 

Am Nachmittag war Stephan froh, in seinem eigenen kleinen Heim anzukommen. Ein kleines Haus, außerhalb der Stadt, welches mit seiner grünen Oase sein Ruhepol war. Workaholiker zu sein, empfand er als eine Sache, doch wenn er Feierabend hatte, dann richtig. Müde legte er die zu korrigierenden Seiten seines Layouts für die nächste Kampagne auf den Schreibtisch und schmiss sich regelrecht auf die Couch. Heute wollte er nichts hören und vor allem nichts mehr sehen.

Doch wie das so war mit guten Vorsätzen, irgendwer hatte etwas dagegen. Als er jedoch Annabell und Sandra vor der Tür sah, entlockte es ihm ein Lächeln. Seine besten Freundinnen seit zehn Jahren waren ein Vorzeigepaar und ausgerechnet die beiden hatten ihn vor nicht minder als neun Wochen gebeten, ihr Samenspender zu sein. Dass es wirklich beim ersten Mal geklappt hatte, schien einem Wunder gleichzukommen. Sandra war schwanger und strahlte regelrecht, auch wenn sie morgens an Übelkeit litt. So viel wollte Stephan zwar nicht wissen, doch als guter Freund und werdender Pate hörte er sich jede Erzählung an und kommentierte diese auch, wie man es von ihm erwartete.

Stolz überkam Stephan. Allein der Gedanke, dass dieses Kind sein Erbgut in sich trug, machte ihn für sich selbst nicht zum Vater, jedoch hatte er einen großen Anteil daran, dass es leben würde.

Er hoffte nur inständig, dass nie jemand auf die Idee kam, dem jetzt noch nicht lebensfähigen Wesen zu erzählen, wie es entstanden war. Röte schoss in seine Wangen, als der daran dachte. Stephan hatte sich in seinem Bett einen Porno angesehen und dabei mit einem Auffangbehälter darauf gewartet, bis sein Erbgut aus ihm heraus spritzte. Sandra und Annabell waren derweil im Gästezimmer und hatten sich ihre Zeit mit … Karten vertrieben, zumindest wollte er an nichts anderes denken, was die zwei Frauen getrieben haben könnten. Das Bett war nach der Einführung frisch bezogen worden und sie hatten gemeinsam gegrillt. Das musste nun wirklich kein Kind erfahren!

Obwohl er sich fragte, wie es „normale“ Eltern ihren Kindern erzählten. „Dein Vater hat mich auf dem Küchentisch durchgenommen und dabei bist du entstanden!“, war sicherlich auch keine adäquate Erläuterung. Nun gut, damit musste er sich nicht befassen und vor allem nicht seine Zeit verschwenden. Es war mittlerweile Mitternacht, Sandra und Annabell daheim und er würde sich seinen wohlverdienten Schlaf gönnen. Morgen war Sonntag und der musste für die Überarbeitung des Layouts herhalten. Nächste Woche, nahm sich Stephan fest vor, würde er Sonntag ausspannen, ganz sicher!

Ein Jahr später

 

Stephan rieb sich abgespannt übers Gesicht und wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich die nervigen Kunden aus dem Büro schmeißen zu dürfen. Doch das würde wohl nichts werden und dann stand auch noch eine Besprechung mit Luc Stone an, damit der Auftrag in den Druck kam. Die Zusammenarbeit mit der Druckerei Stone war wohl das Beste gewesen, was Black & White passieren konnte. Zwar waren diese teurer als ihre vorherige Druckerei, allerdings greifbarer und eindeutig besser. Natürlich war es nicht nur Arbeit, mit einem seiner besten Freunde zusammenzusitzen, doch da auch dessen Mann dabei war, würde es nicht ausbleiben, eben auch dieser nachzukommen.

Sein Lichtblick heute zeigte sich gerade auf dem Arm einer blonden Frau an der Glasfront des Besprechungsraums. Annabell stand mit Susanna da und lächelte ihm entgegen. Sein Patenkind war mittlerweile fünf Monate alt und ein Sonnenschein. Sie hatte eindeutig seine blauen Augen geerbt, welche die beiden Mütter nicht vorweisen konnten, doch das störte keinen, weder ihn noch die Frauen selbst. Denn ebenso hatte das kleine quirlige Mädchen mittlerweile seine braunen Haare, seine Nase und seinen Eifer nach außen getragen, sodass er nicht abstreiten konnte, dass dieses wundervolle Wesen mit seinem Erbmaterial gezeugt worden war.

Christian gab ihm einen Stoß und nickte dann ihren Geschäftspartnern zu. „Nächste Woche werden wir Ihnen die ersten Probeläufe zuschicken, so wie Sie es gerne hätten!“

Scheinbar war Stephan wirklich nicht ganz bei der Sache gewesen, wenn sein Geschäftspartner das Sprechen übernommen hatte und sogar dafür gesorgte, dass sie eine Chance zum Einstieg in die Modebranche bekamen. Endlich aus dem gläsernen Besprechungsraum war Stephan auch schon bei seinem Sonnenschein, die ihn anlächelte und quietschende Geräusche von sich gab.

„Guten Tag, ihr drei, schön, dass ihr uns besuchen kommt“, erschien auch schon Christian bei ihnen, der sich seit Susannas erstem Auftauchen in der Agentur fasziniert gezeigt hatte. Doch verbesserte das kleine Wesen dessen Laune, die seit mehr als einem halben Jahr am Siedepunkt zur Explosion lag. Wieso wusste Stephan nicht, Nachfragen kam nicht wirklich infrage, schließlich gingen sie privat nicht die gleichen Wege. Mit einem geschenkten Keks in der Hand strahlte seine Susanna nun den Blondschopf neben ihm an. Ein brodelndes Gefühl breitete sich in Stephan aus, was er nicht zuzuordnen wusste. Vielleicht verbot er sich auch einfach, an Eifersucht zu denken und bezeichnete es innerlich als Missfallen. Schließlich teilten sie nichts Privates, wieso also musste Christian nun dabei sein, wenn seine Susanna da war?

 

„Wenn du ihn weiter so ansiehst, stirbt er noch. Was ist los?“ Mit diesen Worten zog Sandra ihren besten Freund zur Seite.

„Was will er denn bei Susanna, sie geht ihn gar nichts an, also was soll der Quatsch, sonst interessiert ihn mein Privatleben doch auch nicht!“

„Meine Güte, vor über drei Jahren habt ihr beschlossen, eure Zusammenarbeit auf das Geschäftliche zu beschränken, wobei ihr zu dieser Zeit nicht wirklich ein Privatleben hattet. Und nun kreidest du ihm an, dass er Susanna süß findet? Du verhältst dich lächerlich.“

„ICH verhalte mich lächerlich? Das muss ich mir nicht anhören.“

Sandra hielt ihn sanft an der Hand fest. „Doch, musst du, ausnahmsweise. Und weil ich deine Freundin bin, wirst du mir jetzt zuhören. Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, seit Susanna da ist, aber ich schätze stark, dass es Vatergefühle sind, die du nicht wahrhaben möchtest. Annabell und ich haben damit gerechnet und das ist vollkommen in Ordnung.“

„Unsinn!“, wischte Stephan diese Behauptung zur Seite.

„Wie du meinst, du blockst gerade und ich werde jetzt nicht mit dir streiten. Eher wollte ich dich fragen, ob du am Samstag Susanna nehmen würdest. Wir haben Jahrestag und ich würde Annabell gerne überraschen.“

Grummelnd nickte Stephan und ließ seine Freundin stehen, bevor er zurück zu Susanna ging, um sich noch zehn Minuten mit ihr zu beschäftigen. Dann tauchten auch schon John und Luc auf, die sich ebenso ein paar Minuten mit dem Sonnenschein gönnten, ehe es ans Geschäftliche ging.

 

Stephan war nicht ganz bei der Sache, überließ es Christian, mit John und Luc die Einzelheiten zu besprechen, während er selbst sich Gedanken um Sandras Worte machte. Vatergefühle, wie kam sie nur darauf? Seine Arbeit war nun mal anstrengend und die Auszeiten, die er sich dank Susanna nahm, waren erfüllend und entspannend, natürlich schätzte er es nicht, wenn sich da einer in seine Zweisamkeit mit der Kleinen reindrängte. Das hatte mit Sicherheit nichts mit Vatergefühlen zu tun, auf keinen Fall. Oder wenn, dann nur gering, ja gering, damit konnte sich Stephan anfreunden. Schließlich war er der biologische Vater und die Natur sorgte eben für so manche merkwürdige Gefühlslage, dafür konnte er ja nichts.

Seine Gedanken beiseite schiebend sah er zu den drei Männern am Tisch, die sich flüsternd zueinander gebeugt hatten. „Chris ist nicht schwul, da könnt ihr ihn noch so bezirzen“, zwinkerte er und verkniff sich ein Lachen. Etwas irritiert nahm er dann den Blick zwischen John und Chris wahr, wobei sein Geschäftspartner mit den Schultern zuckte und einem Kopfschütteln die nicht gestellte Frage beantwortete. Wären sie Freunde, hätte Stephan jetzt interessiert, um was es ging, doch weder konnte er das von Chris noch wirklich von John behaupten. Sein Freund am Tisch war Luc und den würde er sicher nicht gegen beide eintauschen. Luc war besonders, zurückhaltend und aufdrehend zugleich. Immer mit einem Lächeln im Gesicht, welches einem den Tag retten konnte und sah verflucht gut aus. Hätte Stephan vorher gewusst, dass sein angeblich heterosexueller Freund auch Männern nicht abgeneigt war, er hätte ihn verführt, es zumindest versucht. Doch irgendwas sagte ihm, dass es nichts genutzt hätte, denn selbst nach über einem Jahr lagen mehr erotische Fantasien in Luc und Johns Blickwechsel als in einem erstklassigen Porno. Da konnte einen schon der Neid heimsuchen.

Stephan fragte sich, wann er das letzte Mal Sex gehabt hatte … und auch nach mehreren Minuten wollte ihm lediglich seine Hand einfallen, die ihm immer zur Seite stand, behilflich war. Vielleicht sollte er sich wirklich mal wieder einen Besuch im Club gönnen, ein kleines Intermezzo im Darkroom war zwar nicht gerade berauschend, aber befriedigend. Wäre da nicht das Problem, dass es ihm an Zeit fehlte und am Samstag hatte er eindeutig was Besseres vor, als sich von irgendeinem Kerl nehmen zu lassen.

 

Doch dafür war nun wirklich keine Zeit, die Arbeit häufte sich auf seinem Schreibtisch und wenn er den Samstag Susanna widmen wollte, dann musste er sich ranhalten. So fiel auch eine längere Unterhaltung flach, denn es zählte für Stephan nur noch eins, seine Arbeit zu erledigen, um das Wochenende frei zu haben.

Dass sich irgendwann am Abend Christian zu ihm gesellt hatte, fiel Stephan erst gar nicht auf, bis sich dieser räusperte. „Wir müssten noch durchsprechen, wie das mit dem neuen Auftrag laufen soll.“

„Okay, und das muss heute sein? Können wir das nicht auf Montag verschieben?“

„Wegen mir auf Samstag, aber Montag sollten wir die ersten Probedrucke versenden, wenn sie pünktlich ankommen sollen.“

„Da habe ich keine Zeit, der Tag gehört Susanna!“

„Ich weiß, ich bin indiskret, aber wenn ich mich nicht ganz täusche, ist sie deine Tochter.“

„Das ist sehr indiskret! Ich bin lediglich mit meinem Erbgut an ihr beteiligt, Eltern sind Annabell und Sandra.“

„Egal wie du es bezeichnest, sie tut dir gut. Es freut mich für dich, dass du dein Privatleben wieder entdeckt hast!“

Stephan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und senkte verlegen den Blick. „Dafür scheint deins momentan brach zu liegen, wie es mir scheint und wenn ich ebenso indiskret sein darf.“

Christian seufzte und nickte gedankenverloren. „Hat nicht sollen sein. Wenig Zeit und wohl zu wenig Gefühl. Ich hab da was verwechselt, eindeutig.“

Zum ersten Mal innerhalb von vier Jahren sah Stephan seinen Geschäftspartner genauer an, der ihm gegenüber saß und dessen Schmerz in den Augen zu lesen war. Automatisch griff er über den Tisch zu dessen Hand und drückte sie kurz. „Schmerzt trotzdem, verständlich. Die Richtige kommt schon noch. Glaub nur dran.“ Damit reichte es dann auch schon an privaten Gesprächen, eilig wechselte er das Thema. „Es geht um Alltagsmode für Männer, korrekt?“

„Richtig, wir wollen sie bewerben, als sei es das einzig Wahre für den Mann!“

Beide sahen sich die Bilder der Modeagentur an und schüttelten ergeben den Kopf. Ihre Mode war alles, jedoch nicht alltagstauglich, zumindest nicht so, wie sie dort präsentiert wurde. „Würdest du hier einen Rock tragen?“

„Mit Sicherheit nicht. Ich weiß, dass sie durchaus männertauglich sein können, aber für mich wäre es nichts. Müsste ich mir ja meine Beine rasieren!“

„Oh Gott, da würde ich niemals zum Ende kommen.“

Beide lachten und fingen an, ihre Ideen auf Papier zu bringen.

 

Die letzte Sicherheitsabdeckung für die Steckdose befestigend, grinste Stephan vor sich hin. Selbst wenn Susanna noch nicht krabbeln konnte, geschweige denn sich fortbewegen, ging er lieber auf Nummer sicher. Heute hatte er die Verantwortung und das zum ersten Mal seit Susannas Geburt, was sein Herz zum Pumpen brachte. Eilig schaute er noch in der Küche nach, ob auch wirklich alles da war. Gläschen, Sorten, die Annabell empfohlen hatte, Windeln lagen inklusive feuchten Tüchern bereit, auch wenn er sich fragte, wozu er die extra kaufen musste, ob es die Papierhandtücher auf der Rolle nicht auch taten? Fläschchen und Milch würden die Mütter ihm mitbringen. Kekse hatte er bereits im Schrank deponiert. Ja, alles war vorbereitet und es war gerade sieben Uhr morgens! Susanna würde erst in einer Stunde gebracht werden und dann war sie ganz sein. Für fast einen Tag und er würde sie mit niemandem teilen. Sein Dauergrinsen verschaffte Stephan ein Ziehen in seinen Wangen, aber das war es ihm eindeutig wert.

 

Pünktlich standen Sandra und Annabell vor der Tür und ebenso auch Stephan, der ihnen seinen Sonnenschein aus den Armen nahm, sich die Tasche schnappte, aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie man ihm den Kinderwagen ans Haus stellte und schon einen Abschiedsgruß auf den Lippen hatte, als er ihre konsternierten Gesichter sah. „Was?“, fragte er kritisch.

„Willst du uns nicht einmal reinbitten?“

„Wieso? Ich dachte, ihr wolltet euren Jahrestag feiern, also könnt ihr auch gleich fahren!“ Stephan verstand ihre Logik nicht, hatten sie ihn nicht extra darum gebeten, die Kleine schon morgens zu nehmen, damit sie bis abends Ruhe hatten? Wieso also wollten sie noch reinkommen?

„Okay … dann wünschen wir euch beiden einen wunderschönen Tag!“

„Werden wir bestimmt haben, bis heute Abend!“ Schon war Stephan im Haus verschwunden, machte die Tür hinter sich zu und stellte die Tasche ab. Susanna sah sich mit großen Augen um und zum ersten Mal wurde er nachdenklich. Was, wenn die Kleine gar nicht bei ihm sein wollte? Nicht schlief, nur schrie? Was sollte er dann machen? Finger an seinen Bart, brachte seine Aufmerksamkeit wieder in das strahlende Gesicht von Susanna, die quietschend auf seinem Arm zappelte. Es würde gut gehen, irgendwie würden sie zwei es schon hinbekommen.

 

Am Nachmittag stand Stephan seufzend in der Fußgängerzone und besah sich sein weißes Hemd, das langsam bunt wurde. Dabei hatte die Kleine lediglich ein Bällchen Eis, ein Stück Schokolade und zwei Kekse bekommen. Woher kamen um Gotteswillen die grünen Streifen an seiner Hemdseite? Und das Rot an seinem Hemdrücken, das er durch Zufall in der Spiegelung eines Schaufensters wahrgenommen hatte. Er wollte es nicht wissen, gab es auf, sich darüber Gedanken zu machen. Woher auch immer, die Reinigung würde es sicher wieder sauber bekommen.

Dann verschlug es Stephan den Atem. Er kniff die Augen zusammen, rieb sie, doch das Bild, das er zu sehen bekam, verschwand nicht. Seine Hände umfassten die Griffe des Kinderwagens, bis seine Knöchel weiß wurden, der Anblick war schockierend.

Christian mit Frau und zwei Kindern!

Seit wann hatte sein Geschäftspartner eine Familie? Enttäuschung machte sich in Stephan breit, die er sich selbst nicht erklären konnte. Doch dass er so wenig über seinen Partner wusste, selbst Kinder vor ihm verborgen geblieben waren … und hatte Chris nicht vor ein paar Tagen erst gesagt, dass seine Beziehung den Bach runtergegangen war?

Sein Starren blieb nicht unbemerkt, die blonde Frau neben seinem Geschäftspartner machte auf ihn aufmerksam. Christians Kopf drehte sich langsam in seine Richtung und dann trafen sich ihre Augen. Lächelnd kam sein ehemaliger Kommilitone auf ihn zu. „Oh Mann, das sieht aus, als hättest du einen harten Kampf hinter dir.“

„Nicht wirklich, nur Susanna!“, flüsterte Stephan und sah auf die Frau, die Christian mit beiden Kindern gefolgt war.

„Hallo, ich bin Lisa, Christians Schwester“, reichte sie ihm die Hand.

„Angenehm, Stephan Black, sein Geschäftspartner“, erwiderte er ihre Begrüßung und schämte sich innerlich für sein dummes Gefühl.

„Ach, von Ihnen habe ich schon eine Menge gehört. Ebenso ein Workaholiker wie mein Bruder.“ Lisas Aufmerksamkeit wanderte zu Susanna. „Du bist aber eine Hübsche, ganz der Papa.“

Christian unterdrückte sichtlich ein Lachen, während Stephan sich fragte, wie er jetzt reagieren sollte. Er hatte noch nie etwas für Frauen übrig gehabt und ihre netten Worte meist sogar ignoriert, doch nun stand er der Schwester seines Geschäftspartners gegenüber und wollte sie mit Sicherheit nicht vor den Kopf stoßen.

„Lisa, er wird auf deine Avancen nicht eingehen und gerade ist er damit auch schlicht überfordert.“

Ihr Lächeln erfror kurz, dann seufzte sie theatralisch. „Ist doch immer das Gleiche. Die besten Männer sind entweder vergeben oder nicht an Frauen interessiert. Nun ja, sei es dem Mann vergönnt, der an Ihrer Seite ist“, lächelte sie.

„Ich bin Single …“ Die Begegnung wurde Stephan zusehends unangenehmer. Woher wusste Chris, dass er schwul war? Wann hatte er sich verraten? Doch gerade als sich Lisa abwendete und den Kindern folgte, sah Chris ihn seufzend an.

„Entschuldige, aber meine Schwester ist vor einem Jahr von ihrem Mann verlassen worden und nun sucht sie einen neuen.“

„Schon okay, aber woher …“

„Du hast nie ein Geheimnis daraus gemacht. Ist es dir unangenehm, dass ich es weiß?“

„Nein, eigentlich sogar egal, doch dass du es so locker nimmst, hätte ich nie erwartet.“

Stirnrunzelnd legte sein Geschäftspartner den Kopf schief. „Du hältst echt so wenig von mir? Wow, damit habe ich wiederum nicht gerechnet. Ich wusste ja, dass mir eine recht konservative Art nachgesagt wird, aber dass ich auch als homophob gelte, war mir neu und würde sicher nicht zu mir passen!“ Damit wandte sich auch Christian ab und verschwand mit seiner Schwester zwischen den Menschen in der Einkaufspassage.

 

Stephan sah zu Susanna, die halb schlafend im Kinderwagen lag. Es war wohl das Beste, nun heimzugehen, vor allem da er das Gefühl hatte, als würde das Hemd bald mit seiner Haut verschmelzen. Das dumpfe Pochen in seinem Kopf schob er zur Seite. Wieso musste ihm auch gerade jetzt sein Partner begegnen und er in ein Fettnäpfchen stolpern, was ihm ein schlechtes Gewissen einbrachte? Der Mittag verlief ja beinahe „berauschend“, da konnte der Abend nur besser werden, ging Stephan augenverdrehend durch den Kopf.

Wie recht er damit hatte, wurde ihm um acht Uhr abends bewusst und er wünschte sich, das nie gedacht zu haben.

 

Seit zwei Stunden wartete Stephan bereits auf Annabell und Sandra, die nicht einmal angerufen hatten, was mehr als ungewöhnlich für die zwei pflichtbewussten Frauen war. Langsam wurde er unruhig, doch zum Glück schlief Susanna tief und fest in ihrem Kinderwagen. Sie in sein Bett zu legen, war ihm nach langer Überlegung dann doch zu unsicher gewesen.

Als es gegen neun an der Tür klingelte, legte er sein Handy zur Seite und war erleichtert. „Na endlich, ich dachte schon, euch sei was passiert …“ Seine Ansprache blieb ihm im Halse stecken, als er die uniformierten Polizisten erblickte. „Guten Abend“, brachte er gerade so mit belegter Stimme heraus.

„Guten Abend, Sie sind Mister Stephan Black?“

„Das ist korrekt.“

„Kennen sie Annabell Selver und Sandra Gregorius?“

„Ja, das sind meine besten Freundinnen und die Mütter meiner Tochter Susanna.“ Stephan wurde schlecht, eine üble Vorahnung suchte ihn heim und er betete zum ersten Mal in seinem Leben, dass er sich täuschen mochte.

„Dann sind wir richtig. Mister Black, wir müssen ihn leider mitteilen, dass es zu einem schweren Unfall kam, bei denen Miss Selver und Miss Gregorius ums Leben kamen.“

Stephan wurde schlecht, er suchte Halt am Türrahmen und schloss die Augen. Ein schlechter Witz … natürlich, das war ein makabrer Witz von Annabell und Sandra, die hatten schon immer einen schwarzen Humor. Doch als er die Augen wieder öffnete, sah er sich abermals den Polizisten gegenüber, die ihn betroffen ansahen. „Ein Scherz?“, entkam es Stephan hoffnungsvoll.

„Es tut uns leid, Mister Black.“

„Wie?“

„Auf einer verlassenen Landstraße hat ein Fahrer die Kontrolle über seinen Lastwagen verloren und sie frontal gerammt. Wenn es sie beruhigt, sie haben nicht gelitten.“

Das beruhigte Stephan keineswegs, sein Blick wanderte zu Susanna, die weiterhin friedlich im Kinderwagen schlief. „Ich muss mich um Susanna kümmern“, entkam ihm sein Gedanke, was die Polizisten zum Nicken brachte.

„Morgen wird der ansässige Seelsorger vorbeikommen und mit ihnen alles Weitere besprechen.“

Stephan nickte ebenfalls und schloss die Tür. Vorsichtig hob er Susanna aus dem Kinderwagen, legte sich mit ihr ins Bett und weinte stille Tränen. Innerlich hoffte er immer noch auf einen Witz, einen bösen Traum. Doch die Schmerzen in seinem Herzen wurden von Minute zu Minute stärker, dass er bald einsehen musste, dass ihm die Realität gerade versuchte, das Genick zu brechen.

 

Die Nacht verlief schlaflos und auch Susanna schien bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmte. So saßen Stephan und sie seit drei Uhr in der Nacht auf dem Sofa und sahen eine Dauerwerbesendung. Bis die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne ihre Gesichter trafen. Immer noch paralysiert von der Nachricht des Abends, griff Stephan zum Telefon und wählte Lucs Nummer.

„Stone, am Sonntagmorgen um sechs Uhr“, ertönte die verschlafene Stimme seines Freundes.

„Hey, hier ist Stephan. Hat heute irgendwo ein Möbelgeschäft auf?“

„Was?“ Im Hintergrund hörte Stephan etwas rascheln und einen verschlafenen John murren.

„Ich brauche dringend Möbel für Susanna, oder ein Bett, weißt du, wo ich das noch heute herbekomme?“ Das war ihm siedeheiß eingefallen, als der Kleinen die Augen in der Nacht immer wieder zugefallen waren.

„Es ist Sonntag, heute haben keine Geschäfte auf, aber wieso brauchst du Möbel?“

„Sandra und Annabell sind … sie kommen nicht wieder und irgendwo muss die Kleine doch schlafen, oder nicht? In meinem Bett geht das nicht, ich habe kein Gitter!“

„Stephan, was ist passiert? Wieso kommen Annabell und Sandra nicht wieder?“ Lucs Stimme war brüchig geworden.

„Sie hatten einen Unfall, gestern … ich … ich …“ Abermals fühlte Stephan, wie ihm schlecht wurde, eilig legte er auf und seine Tochter in den Kinderwagen, bevor er im Badezimmer verschwand. Er erschrak über das weiße Gespenst, das ihm aus dem Spiegel anblickte. Sah er wirklich derart fertig aus? Tiefe Augenringe, blutunterlaufene Augen und ein verflucht bleiches Antlitz. Gerade spritzte er sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, als es an der Tür klingelte. Seufzend schlurfte er den Flur entlang zur Tür. Ein etwas älterer Mann stand davor und sah ihn mitleidig an. Seelsorger peitschte es durch seinen Gedanken und er hätte am liebsten die Tür zugeschmissen. Stephan wollte mit keinem Fremden reden und vor allem nicht so angesehen werden.

„Guten Tag, ich bin der Seelsorger in dieser Gemeinde. Ich würde gerne mit Ihnen über den Tod ihrer „Freundinnen“ sprechen.“

„Haben Sie was gegen Homosexuelle?“, sprach Stephan aus, was er dachte, als der Mann vor ihm „Freundinnen“ in einem abwertenden Tonfall ausgesprochen hatte.

„Es geht nicht um meine privaten Ansichten, sondern um Ihren Verlust…“

„Ich finde schon, dass es auch darum geht. Wenn Sie ein Problem mit gleichgeschlechtlicher Liebe haben, sollten Sie mein Grundstück verlassen.“

„Mister Black…“

Erleichtert sah Stephan zur Straße, wo gerade John und Luc hielten. „Ich bitte Sie, jetzt einfach zu gehen. Dieses Haus steht nicht für Menschen offen, die die Liebe ablehnen!“

„So habe ich das doch gar nicht gesagt. Ich bitte Sie, Mister Black, seien Sie vernünftig und lassen Sie uns die nächsten Schritte besprechen.“

Luc drängte sich an dem Seelsorger vorbei und drückte Stephan ins Haus. „Bitte wenden Sie sich an meinen Mann, wie Sie sehen, steht Mister Black noch unter Schock.“

John stellte sich nun an die Tür und verschränkte die Arme, sehr deutlich sah man ihm das Missfallen über das Gehörte an.

 

Luc drückte Stephan aufs Sofa und verschwand in der Küche. Kurz darauf erschien John im Wohnzimmer und sah nach Susanna, die unbeeindruckt weiterschlief.

„Meine Mutter wird bald vorbeikommen. Sie hat noch ein Gitter für dein Bett, damit Susanna nicht rausfallen kann. Bis morgen wird das ausreichend sein, in Ordnung?“

„Ich denke. Was mach ich denn jetzt?“

„Wir sollten die Familien informieren, hast du Nummern?“

„Annabell hat niemanden, ist im Heim groß geworden und Sandras Vater ist letztes Jahr an Krebs gestorben. Wir waren eine Familie.“

John nickte verstehend und lief mit dem Handy am Ohr den Flur entlang.

 

Es war bedrückend und als Beate das Haus betrat, für Stephan unerträglich. Johns Mutter erklärte sich bereit, auf Susanna aufzupassen und er verließ das Haus, fuhr dahin, wo es absolute Ruhe gab. In der Agentur war das eindeutig so. Es war schließlich Sonntag und keiner der Angestellten pflegte zu arbeiten. Er konnte in Ruhe über alles nachdenken und zu sich kommen. Wie in Trance begab er sich in den Fahrstuhl und drückte den obersten Kopf.

Kaum hatte sich die Fahrstuhltür an seinem Ziel geöffnet, fiel Stephan auf seine Knie und brach in Tränen aus.

Er hatte alles verloren, was ihm die letzten Jahre ans Herz gewachsen war. Obwohl er ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern hatte, waren die zu weit weg, um an seinem Leben teilhaben zu können. Als Ergebnis einer neugewonnenen Liebe zweier Mittvierziger, was ebenso dazu beitrug, dass sie sich über seine Mitteilung eines Enkels gefreut hatten. Durch ihren Gesundheitlichen Zustand, war es ihnen jedoch unmöglich zu kommen. Sie lebten in Frankreich und von einem mehrstündigen Flug war ihnen abgeraten worden. So belief sich ihr Kontakt aufs Internet und Telefon.

Sandra und Annabell dagegen waren immer für ihn da gewesen. Hatten ihm gezeigt, dass es mehr als Arbeit gab, doch auch Verständnis gezeigt, wenn er keine Zeit hatte. Luc war zwar ein guter Freund, doch nicht immer derart aktuell in seinem Leben gewesen. Weitere Tränen rannen über seine Wangen.

„Stephan? Herrgott, Stephan, was ist passiert?“, bestürzt kniete sich Christian neben seinen Geschäftspartner nieder.

Nur verschwommen nahm ihn Stephan wahr. „Es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe, oder wie ich von dir gedacht habe, du bist okay!“

„Was? Stephan, was ist passiert?“

„Annabell und Sandra, sie sind tot.“ Stephan wischte sich die Tränen aus den Augen und sah seinen Partner an. Dem war jede Mimik aus dem Gesicht gewichen, inklusive der Farbe.

„Verdammt, das tut mir leid. Aber was willst du jetzt hier? Solltest du nicht bei Susanna sein?“

„Beate guckt nach ihr.“

„Sehr gut, Johns Mutter hat ein Händchen für Kinder. Und was willst du jetzt hier? Du kannst so nicht arbeiten!“

„Ich weiß nicht, ich wollte Ruhe. Chris, was mach ich jetzt nur? Susanna … ich weiß nicht, ob ich das allein kann.“

„Klar doch, jetzt steh erst einmal auf, ich mach uns einen Kaffee und dann erzähl ich dir was von deinen väterlichen Qualitäten.“

 

Wie lange sie sich unterhielten, konnte Stephan nicht sagen, zumal sie auch lange Abschnitte des Mittags schwiegen. Christians Argumente, wieso er ein guter Vater werden würde, hatte Stephan lediglich ein Stirnrunzeln beschert.

„Du hast Herz, Verstand, Humor und liebst die Kleine, seit sie auf der Welt ist. Nichts anderes braucht man, um ein guter Vater zu sein. Glaub mir, Stephan, Annabell und Sandra haben dich nicht nur als Samenspender ausgesucht, weil du ihr Freund warst. Sie wussten, dass du für Susanna sorgen kannst, wenn ihnen was passiert!“

Woher wusste sein Geschäftspartner so viel von seinen Freundinnen? Diese Frage fiel Stephan erst in der Nacht wieder ein, als sich Susanna neben ihm drehte. Das Gitter von Beate hielt, was es versprach und ließ ihn sich wieder in sein Kissen sinken.

Ebenso fiel Stephan jetzt erst auf, wie bedrückt Christian geschaut hatte, die Tränen in dessen Augen und wie abwesend der andere in ihren verschwiegenen Pausen aus dem Fenster gesehen hatte.

Doch die Gedanken verdrängte er weit weg, dafür hatte er keine Zeit, keinen Nerv. Morgen würden John und Luc wiederkommen und mit ihm zusammen zur Wohnung von Sandra und Annabell fahren. Beate hatte sie darauf hingewiesen, dass dort alles war, was Susanna brauchte und sie ihr dort das Nötige holen sollten. Abermals wurde Stephans Magen umgestülpt und er entlud seinen Inhalt in die Toilette.

Wie gut es sein Freund mit John hatte, durfte Stephan in der folgenden Woche erleben. Denn dieser kümmerte sich um alles. Die Beerdigung, eine Annonce in der Zeitung und den Umzug von Susannas Möbeln und Erinnerungen. John sorgte dafür, dass sich Stephan voll und ganz seiner Tochter widmen konnte, was dieser ihm innerlich mehr als dankte. Jedoch lag sein Fokus mehr auf Luc, der teilweise auch die Nächte bei ihm verbrachte. Sie sprachen Stunde über Stunde, liehen sich ihre Schultern und lachten sogar miteinander. Luc war einmalig, ein fantastischer Mann, der es schaffte, sein Herz zusammenzuhalten. Das tat er noch zwei Wochen lang, bis zu diesem einen Abend.

 

Gerade war Stephan aus der Agentur nach Hause gekommen, als er einen Streit zwischen John und Luc mitbekam. Um was es genau ging, konnte er nicht sagen. Denn kaum war er ins Haus getreten, presste sich John an ihm vorbei und stürmte zu seinem Wagen.

Luc saß derweil kopfschüttelnd auf dem Sofa und lächelte ihn an. „Alles klar in der Agentur?“

„Ja, Christian schafft alle Aufträge. Auch wenn ich die Grafiken lieber selbst zeichnen würde, leistet Dennis durchaus gute Arbeit.“

„Dennis?“

„Ein Grafiker, er ist gut, aber hat einen ganz anderen Stil als ich. Nicht schlechter … ach. Und was ist mit dir und John?“

„Das gibt sich wieder, mach dir keine Gedanken. Allerdings solltest du dir langsam Gedanken um eine Tagesmutter machen. Ich muss auch wieder in die Druckerei und Johns Mutter fällt wohl länger aus. Der Bruch an der Hand heilt nicht gut.“

Dieser Gedanke gefiel Stephan gar nicht, wen sollte er einstellen, um seine Tochter zu hüten? Er würde doch keinem Fremden gestatten, Susanna anzufassen, geschweige denn derart zu vertrauen, dass er sie mit diesem allein ließ. „Ich hol sie mit in die Agentur, irgendwie schaffe ich das schon.“

Luc zog ihn zu sich auf die Couch. „Das wird eine Zeit lang gehen, aber nicht auf ewig. Du brauchst eine Tagesmutter, das ist dir klar, oder?“

„Ja schon, oder einen Partner, der sich aufopfernd um die Kleine kümmert.“ Langsam näherte sich Stephan seinem Freund.

Sanft umfasste dieser sein Gesicht, lächelte milde und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Vergiss deine Gedanken, was zwischen uns zweien sein könnte, denn das wird nie passieren. Du bist mein Freund, doch mein Herz gehört John, das weißt du auch.“

Stephans Gesicht in den Fingern seines Freundes sank. „Es tut mir leid.“

„Muss es nicht, doch ich werde nun zu meinem Mann gehen und mich entschuldigen. Denn darum ging es eben. Er meinte, du würdest Gefühle für mich entwickeln und diese sollte ich unterbinden, ich sagte ihm, er sei bescheuert.“

„Oh Gott …“

„Nicht so dramatisch, ich weiß, wie ich ihn wieder friedlich stimme“, wackelte er mit den Augenbrauen und zwinkerte. „Susanna schläft, hat gut gegessen und viel gespielt. Somit sollte sie dich diese Nacht in Ruhe lassen.“

„Danke!“ Noch nie kam sich Stephan so dumm vor. Was war ihm da nur eingefallen? Wie kam er darauf, dass aus ihm und Luc mehr als nur Freunde werden können?

War das sein Dank an John, weil dieser ihm geholfen hatte? Mit dem Babyfon in der Hand ging er in den Garten und fluchte vor sich hin. Das Leben war scheiße und das schien ihm gerade sehr seicht ausgedrückt.

Dass er das Gefühl hatte, es würde noch schlimmer kommen, empfand Stephan als i-Tüpfelchen seines Unglücks.

 

Wenigstens lief der nächste Morgen wunderbar. Susanna war gut gelaunt, lachte schon, als Stephan sie aus dem Bett holte und zeigte ihm, wieso er jeden Tag aufstand und er trotz des schweren Verlustes seiner Freundinnen nicht den Kopf in den Sand stecken sollte.

Mit einer schwer bepackten Wickeltasche, einer Decke und etlichen Spielsachen ging es in die Agentur. Die Blicke seiner Angestellten ignorierend fuhr er mit dem Fahrstuhl in Christian und seine Etage. Der Blondschopf stand mitten in der Kaffeeküche, das Telefon am Ohr und verdrehte die Augen. „Lisa, ich sagte dir bereits, ich kläre das … wie ist meine Sache und nun sei mir nicht böse, ich muss arbeiten. … ja … ja.“

Schmunzelnd legte Stephan die Sachen ab und Susanna auf den Boden, bis er die Decke ausgebreitet hatte und ihr das Spielzeug darum verteilte. Inzwischen schien auch Christian seine Schwester losgeworden zu sein und kniete sich zu Susanna, die lachend nach ihm grapschte. „Na Prinzessin, was machst du denn bei uns im Büro?“

„Ich wusste nicht wohin … Beate hat die Hand gebrochen und Luc … kann nicht.“

Misstrauisch stand Christian wieder auf und sah ihn fragend an. „Was ist vorgefallen? Luc würde dich nicht im Stich lassen ohne einen Grund.“

„Er muss in die Druckerei.“

„Und? John war gestern auch schon so komisch und hat rumgedruckst. Hätte ich nicht so viel mit meiner Schwester am Hut, wäre ich sicher dahintergekommen, aber mir hat es an Zeit gefehlt, um nachzuforschen.“

Stephan wusste, dass er nicht ohne eine Erklärung aus der Geschichte rauskam. „Seit wann teilen wir uns einen Freundeskreis?“, schoss es ihm durch den Kopf.

„Schon etwas länger, wie mir seit Kurzem bewusst geworden ist. Also, was ist los?“

Seufzend nahm sich Stephan einen Kaffee und setzte sich auf das Sofa in der Kaffeeecke. „John hat es wohl geahnt und ich … ach geradeaus und gut. Ich habe etwas mehr in Luc und meine Freundschaft interpretiert.“

„War zu erwarten, wo er sich seit einer Woche so rührend um Susanna gekümmert hat. Was ist jetzt?“

„Ich denke, Abstand tut dem Ganzen gut. Keine Ahnung was da in mich gefahren ist, als ich ihn küssen wollte, aber … oh Mann, ich bin einfach kopflos!“

Wissend nickte sein Geschäftspartner. „Verständlich und Abstand wird deine Gedanken klären.“

„Ja, wohl wahr. Was ist mit Lisa? Hat sie Probleme?“ Christian machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nun erzähl, wenn ich dir hier schon mein Herz ausschütte, kannst du es auch tun.“

„Sie hat Ärger mit dem Jugendamt. Vor drei Tagen ist sie gekündigt worden, ihr Ex will die Kinder, weil sie angeblich nicht für beide sorgen kann. Das Jugendamt war bei ihr und es sah … verdammt, sie hat mir nicht gesagt, dass es finanziell so beschissen ist, sonst hätte ich schon längst gehandelt. Ihre Wohnung ist eine Katastrophe und den Kindern fehlt es an allem. Ich schäme mich richtig, doch ich wusste von nichts. Die letzten Wochen, Monate, ich war einfach zu egoistisch, habe mich nicht um sie gekümmert.“

„Du hast mir jetzt zwei Wochen den Rücken freigehalten. Ich glaube eher, dass es meine Schuld ist. Wann hättest du dich kümmern sollen? Es tut mir leid.“

„Wäre eine tolle Ausrede, nicht wahr? Doch Lisa ist nun schon ein Jahr von Jeff getrennt, somit … Nun gut, ich werde mich jetzt kümmern. Eine neue Wohnung habe ich organisiert, auch die ersten Mieten bezahlt. Die Kinder sind neu eingekleidet und meiner Schwester habe ich den Kopf gehörig gewaschen. Jetzt muss sie sich um einen Job kümmern, dann müsste Ruhe herrschen und ich kann das tun, was ich eigentlich sollte, unsere Kunden beliefern.“

Stephan sah zu Christian und dann zu Susanna, sein Kopf arbeitete auf Hochtouren und ein Lächeln zeichnete sich auf seine Lippen. „Deine Schwester ist aber eine gute Mutter?“

„Natürlich, sie würde alles für die Kinder tun. Nur weil sie zu stolz war zu fragen, heißt es nicht gleich, dass sie keine gute Mutter ist“, Wut klang in Christians Stimme mit.

„Ganz ruhig. Ich brauche eine Tagesmutter für Susanna.“

Christian runzelte die Stirn, riss die Augen auf und schluckte. „Willst du meiner Schwester gerade einen Job anbieten?“

„Wieso nicht? Ich brauch dringend Hilfe, allein schaffe ich es nicht, das Jugendamt hat sich bei mir schon angemeldet und mein Anwalt hat mir empfohlen, für eine perfekte Umgebung zu sorgen.“

„Anwalt?“

„John hat sich darum gekümmert, als der Anruf vor einer Woche kam. Ich stand noch so neben mir und … Nun ja, meinst du, deine Schwester würde das tun? Sie könnte einen Job nachweisen und ich eine Tagesmutter.“

„Klar, sicher würde sie das tun. Somit wäre auch sicher gestellt, dass sie sich um ihre Kinder kümmern kann. Stephan, wenn du das wirklich tust, bin ich in deiner Schuld.“

„Rede keinen Unsinn. Gib mir lieber ihre Nummer und wenn es geht, schau kurz nach Susanna.“

Während Stephan in sein Büro verschwand, saß Christian auf der Decke und spielte mit der Kleinen. Stephan beobachtete sie, während er mit Lisa sprach und auch danach amüsierte er sich über Christians Versuche, den keksverschmierten Fingern von Susanna zu entkommen. Diese hatte es allerdings auf den Geschäftspartner ihres Vaters abgesehen und schaffte es sogar, sich wenige Zentimeter über den Boden zu robben, um näher an ihn heranzukommen.

„Du entkommst ihr nicht!“, trat Stephan lachend aus seinem Büro.

„Es scheint mir auch so, aber ich habe kein Ersatzhemd dabei, somit wird die Prinzessin mit ihrem Vater vorliebnehmen müssen, den sie wegen mir beschmieren darf, wie sie will.“

„Ach, das darf sie also?“ Stephan grinste, schnappte sich seine Tochter vom Boden, die quietschend lachte und hielt sie mit dem Gesicht zu Christian. Wie erwartet schossen die kleinen Finger des Mädchens nach vorne und versuchten das schwarze Hemd zu erreichen.

„Stephan, das ist nicht fair!“ Christian presste sich rücklings auf den Boden und versuchte so den Angriffen zu entkommen. Stephan stand jedoch über ihm und brachte seine Tochter immer näher an ihr auserkorenes Ziel.

„Erwartest du ernsthaft von einem fünfmonatigen Kleinkind Fairness?“

„Nein, aber von ihrem Vater! Ich nehme Rache, das verspreche ich dir!“ Christians Drohung ging im Lachen von Susanna unter, die endlich an das schwarze Hemd gelangte. Mit viel Mühe verteilte sie kleine, kaum erkennbare, beigefarbene Fingerabdrücke. Seufzend ergab sich Christian, stand auf und nahm Susanna auf den Arm. „Heute Mittag gibt es für dich Eis!“, grinste er zu Stephan, der die Augen aufriss und ihn entsetzt ansah.

„Du bist nicht fair.“

„Dann haben wir ja was gemeinsam, nicht wahr?“

 

Seit langem war es wohl der lockerste Arbeitstag für Stephan. Durch Susanna war es nicht möglich, sich lange und intensiv mit seinem Layout zu beschäftigen, was ihm zum ersten Mal nichts ausmachte. Für seinen Sonnenschein hätte er wahrscheinlich sogar den ganzen Tag auf dem Boden gesessen, Keksbrei aufgewischt und Windeln gewechselt. Es fühlte sich erfüllend an, wie sonst nur seine Arbeit es schaffte.

Jedoch am Abend saß er allein auf dem Sofa. Susanna schlief und Stephan wusste nicht, was er tun sollte. Die letzten zwei Wochen war Luc bei ihm gewesen … und nun? An wen sollte er sich lehnen, Trost suchen und kuscheln?

Das ausgerechnet in dem Moment Susanna nach ihm verlangte, war ihm nur recht. Zusammen kuschelten sie sich auf die Couch, sahen irgendeinen Film und Stephan kribbelte ihren Rücken. „Maus, ich brauch einen Mann. Was hältst du davon, wenn wir uns einen Mann für Papa suchen?“ Das folgende Glucksen nahm er als Zustimmung. „Na dann werden wir uns morgen auf die Suche machen, oder ich. Irgendwo sitzt doch sicher ein netter Mann, der uns beide in sein Herz lässt, nicht wahr?“ Darauf hatte seine Tochter nichts mehr zu sagen, vergrub ihr Gesicht lieber in seinem T-Shirt und schloss die Augen.

 

Mission „Ein Mann für Papa“ startete bereits am nächsten Morgen. Susanna war zum ersten Mal bei Lisa, die sich allerdings jede Stunde bei Stephan melden musste, während er am Computer saß. Statt Layouts zu machen, suchte er Partnerschaftsbörsen ab. Doch welche war da die richtige?

Irgendwann gab er es auf und machte sich an seine eigentliche Arbeit. Wieso war es auch so schwer, einen Mann kennenzulernen, der nicht nur auf ein Intermezzo aus war? Irgendwie schien es ihm plötzlich unmöglich und er musste sich eingestehen, nicht besser gewesen zu sein. Wieso auch? Stephan war gerade 29 Jahre, hatte nie Verantwortung für einen anderen Menschen übernehmen müssen. Sicherlich war er immer für Annabell und Sandra dagewesen, aber die hatten ihr Leben bestens im Griff.

Nun zählten allerdings nicht nur seine Belange, auch Susanna wollte er gerecht werden, doch wie? Welcher Mann würde ihn schon nehmen, wenn ein Baby mit im Spiel war? Aufgebend legte er den Kopf auf den Schreibtisch und seufzte schwer. Wie sollte er mit solchen Gedanken seiner Arbeit nachkommen?

„Alles in Ordnung?“

Langsam hob sich Stephans Kopf und er sah zu Christian. „Nein! Ich bin im Arsch. Mir ist gerade aufgefallen, dass ich wahrscheinlich nie wieder einen Mann abbekomme.“

„So? Wie kommst du darauf?“

„Ich habe ein Kind. Wer will mich da schon? Frag deine Schwester, selbst sie findet keinen. Vielleicht sollte ich doch auf ihre Avancen eingehen.“

„Dein Gesichtsausdruck bei dem Gedanken sagt eindeutig Nein! Wieso denkst du, dass es keine Männer gibt, die dich mit Kind wollen? Ist doch Unsinn, viele wünschen sich Kinder.“

Christians Überzeugung ließ in Stephan neuen Mut aufkommen. „Vielleicht hast du recht. Doch wo soll ich suchen? Hast du dafür auch eine Idee?“ Ehe Christian antworten konnte, winkte Stephan ab. „Entschuldige, dass ich gerade dich frage, ist etwas irrsinnig.“

„Wie meinst du das?“

„Ich denke nicht, dass du dich damit beschäftigst, wo sich zwei Männer kennenlernen, wenn du eher eine Frau suchst.“

Christian lachte leise und verließ kopfschüttelnd das Büro, was Stephan unverständlich hinter ihm hersehen ließ. Manchmal war sein Partner wirklich kurios in seinem Verhalten.

Den Rest des Tages beschäftigte sich Stephan dann doch mit seiner Arbeit und den Gedanken an den Feierabend, wenn er seine Tochter wieder in die Arme schließen konnte.

 

-Anfang Dreißiger mit Anhang sucht netten Mann für gemeinsames Leben.-

Stephan starrte auf die Annonce, die er geschaltet hatte und gerade in der Tageszeitung erschienen war.

-Nichts geht mir über meinen Sonnenschein, jedoch möchte ich mein Leben auch nicht alleine verbringen. Du magst Kinder? Kannst du dir auch ein Leben zu dritt vorstellen? Dann melde dich doch einfach mit Foto.-

Irgendwie erschien ihm seine Wortwahl recht lapidar und er war überzeugt, dass Christian ihn besser angepriesen hätte, doch es war zu peinlich gewesen zu fragen. So saß er nun vor seinem stümperhaften Versuch, einen Mann zu finden und fragte sich, ob sich darauf wirklich jemand meldete. Vor allem ein Mann, der Susanna mochte, vielleicht irgendwann so liebte, wie er selbst es tat. Oder war das zu viel verlangt?

Vielleicht musste er sich auch mit weniger zufrieden geben, nicht unbedingt mit wahrer Liebe und eventuell auch nicht damit, was er sich unter einer Beziehung vorstellte. Aber eine Sache war zwingend, der Mann an seiner Seite musste gut zu Susanna sein, der Rest würde sich irgendwie ergeben.

 

Zwei Wochen später stand sein erstes Treffen an. Carlos hatte sich gemeldet, ein Barbesitzer Mitte vierzig und vom Äußeren nicht wirklich sein Typ, jedoch wollte es Stephan darauf ankommen lassen. Lisa bezahlte er extra eine Nanny für ihre Kinder, damit sie auf Susanna aufpassen konnte. Nichts anderes wäre für ihn in Frage gekommen und da Carlos sich abends treffen wollte, konnte er seine Tochter wohl nicht mitnehmen.

Nervös stand Stephan vor dem Spiegel und sah sich an. Schwarz dominierte eindeutig seinen Kleidungsstil und da er nicht wusste, was sein Date-Partner vorhatte, entschied er sich für eine schwarze Hose und ein ebensolches Hemd. Legerer Schick. Sein Bart leicht gestutzt, denn das würde er Susanna nicht antun, die den Bart ihres Vaters liebte. Mit klopfendem Herzen sah er ein letztes Mal bei seiner Tochter ins Schlafzimmer und machte sich dann auf den Weg.

Die Adresse, die Stephan von Carlos erhalten hatte, führte ihn zu einer Bar, zumindest stand diese Bezeichnung über dem Eingang. Der Putz bröckelte von den Wänden, die Eingangstür hatte ihre besten Tage hinter sich und trotzdem überwand sich Stephan einzutreten. Qualm, abgestandener Gestank nach Alkohol, Erbrochenem und Fäkalien schlugen ihm entgehen, was seinen Magen zum Rebellieren brachte. Gerade als sich Stephan umdrehen wollte, um diese Spelunke zu verlassen, wurde er an eine nackte, jedoch behaarte Brust gezogen und während der Mann sprach, lief dessen Speichel in sein Ohr. „Du musst Steph sein, verdammt gutes Fahrgestell, siehst ja besser aus als auf den Fotos!“ Dabei prallte dessen Pranke auf seinen Hintern.

Eine vor Ekel entstandene Gänsehaut erfasste den Angesprochenen. Stephan hasste es, Steph genannt zu werden und der Mann vor ihm sah eindeutig auf dem Foto besser aus als real. Keine Haare auf dem Kopf, zwei dicke goldene Ketten drängten sich in sein Gesicht, während die Brusthaare ihren Geruch direkt in seine Nase transportierten. Das war eindeutig zu viel des Guten. Stephan versuchte sich aus dem eisernen Griff zu befreien, als Carlos Hand sich in seine Hose schob und direkt zwischen seinen Backen verschwand. –Desinfektionsmittel-, schoss es Stephan durch den Kopf und stemmte sich mit ganzer Kraft gegen den bulligen Mann, dessen Bauch den Anschein machte, alles in sich aufnehmen zu können, so weich und wabbelig fühlte er sich unter seinen Fingern an. Carlos Unterleib, welcher sich an seinem Bein rieb, vermittelte ein anschauliches Exemplar, doch so gut konnte der Typ nicht bestückt sein, dass er es drauf anlegen würde. Endlich lockerte Carlos den Griff und Stephan konnte sich von ihm distanzieren. Der ganze Anblick des Mannes verursachte noch mehr Ekel und ohne ein Wort zu verlieren, verließ Stephan die Bar.


Gedanklich ging er jegliches Reinigungsmittel in seinem Haus durch und überlegte. welches ihm dabei helfen konnte, jegliche Erinnerung an Carlos auszulöschen.

Kaum war er durch die Haustür, eilte er auch schon zu seinem Putzschrank, kramte darin herum und las die Inhaltsangaben, bis Lisa auftauchte. „Suchst du was Bestimmtes?“

„Irgendwas, was mich reinigt und jeglichen Gedanken auslöscht.“

„Oh ha, war wohl nicht so berauschend?“ Lisa verzog mitleidig das Gesicht und Stephan etwas aus dem in die Wand eingelassenen Putzschrank. „Scheuermilch hilft von außen und ein Drink von innen. Du duschst und ich werde dir einen guten Cocktail mixen.“

„Danke, ehrlich.“ Mit der Scheuermilch fest im Griff betrat Stephan angezogen die Dusche. „Die Klamotten müssen verbrannt werden!“, entfuhr es ihm.

Die körnige Milch verfärbte seine Haut rot, was von dem heißen Wasser, das auf ihn niederprasselte, verstärkt wurde. Selbst sein Hintern wurde nicht verschont und obwohl Carlos nicht an sein Gemächt gekommen war, durfte sich auch dieses über eine körnige Reinigung erfreuen.

In frischer Kleidung und mit einer halben Dose seines Deos besprüht, verließ er das Bad, wo Lisa ihm direkt einen Drink hinhielt. Dieser brannte sich ohne Widerstand seine Kehle hinab.

„So schlimm?“, fragte Lisa nun mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Schlimmer … keine Dates mehr, nie wieder. Ich bleibe solo und werde mich aufopfernd um meine Tochter und die Arbeit kümmern. Wer braucht schon einen Mann? Ich nicht!“

„Nun übertreib mal nicht, so schlimm kann es nicht gewesen sein.“

„Denk, was du willst, mir kommt kein Mann mehr zu nahe.“ Stephan schnappte sich eine Flasche aus seiner kleinen Bar und nahm sich einen Schluck seines teuersten Whiskys. Langsam beruhigten sich seine Gedanken und er ließ sich auf das Sofa nieder.

„Lass dir Zeit, es gibt auch nette Männer auf diesem Planeten.“

„Das sagst du?“

„Klar ich, irgendwann begegnet mir der Richtige. Aber weißt du, manchmal sollte man die Augen auch aufmachen, um einen guten zu sehen! Ich wünsche dir eine gute Nacht, bis Montag!“ Mit diesen Worten verschwand Lisa und ließ einen vor sich hin grübelnden und leicht schläfrigen Stephan zurück.

 

Nach dieser Nacht war Stephan noch mehr davon überzeugt, nie wieder einen Mann zu brauchen. Er hatte von Carlos geträumt. Dessen Finger über seinen gesamten Körper fuhren, die Zunge, die zwischen den Zahnlücken ihren Weg auf seine Haut fanden und dessen Geruch, der ihn würgend aufwachen ließ, nachdem der Alptraum-Carlos ihm seinen Schwanz zwischen die Lippen geschoben hatte.

Der Geruch hatte sich in seinen Geruchsknospen festgesetzt, ein modriger Geschmack hing tief in seiner Kehle und sein Körper fühlte sich abermals beschmutzt an.

Ein Glück für ihn, dass seine Tochter noch schlief, somit konnte sich Stephan wieder einer Waschorgie unterziehen. Dieses Mal ließ er lediglich den Alkohol aus seinem Magen und gönnte sich stattdessen einen starken Kaffee.

Er brauchte dringend einen besseren Geruch in der Nase, doch das schaffte nicht einmal seine Tochter mit ihrem Babygeruch, der sonst alles übertünchte. Selbst die vollgemachte Windel vermochte seine Geruchsnerven nicht zum Vergessen anzuregen. Was sollte ihm da noch helfen?


Als am Nachmittag Luc bei ihm anrief und sich erkundigte, ob Stephan und Susanna noch zu seinem Geburtstag kamen, fiel er fast aus allen Wolken. Das hatte er vollkommen vergessen. Zum Glück für ihn hatte er allerdings schon vor einer Woche ein Geschenk organisiert. So brauchte er seine Tochter und sich selbst nur noch ausgehtauglich zu machen und schon ging es zu John und Luc.

 

Es war Entspannung pur für Stephan, denn Susanna wurde von Gast zu Gast gereicht, denen sie ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Besonders John hatte einen Narren an der Kleinen gefressen und zeigte es ihr, indem er gespielt an ihr herumknabberte. Es gab nichts Schöneres als strahlende Kinder und ihr Lachen, davon war Stephan mehr als überzeugt.

Gegen Abend wurde der Grill angeworfen und weitere Freunde von John und Luc tauchten auf, unter anderem Christian. Dieser hatte sofort die Aufmerksamkeit von Susanna, die mal wieder mit keksverschmierten Fingern sein Hemd anvisierte, als er sie begrüßte. „Oh nein, meine Hübsche, das Hemd bleibt sauber.“ Sein strenger Blick kippte schon bald, als die Unterlippe des halbjährigen Kindes anfing zu zittern. „Du magst mich in Wirklichkeit gar nicht und willst mich nur immer dreckig rumlaufen lassen, damit ich mich zum Gespött mache, oder?“ Ergeben fiel Christian neben John auf die Couch und ließ zu, dass Susanna sich zu ihm rüber schob. Allem voran ihre Finger, die sogleich Spuren hinterließen.

„Ich glaube, sie mag dich sogar sehr. Bis gerade wollte sie nur bei mir bleiben!“, sprach John und griff sich theatralisch ans Herz. „Luc, mein Herz bricht.“

„Dann komm und hilf mir bei den Getränken, schließlich hab ich Geburtstag und nicht du! Trotzdem muss ich hier alles allein machen.“

John erhob sich grinsend, wackelte mit den Augenbrauen. „Ich werde meinem Mann mal zur Hand gehen.“

Einheitlich verdrehte man die Augen und lachte. Es war schon neidvoll mit anzusehen, wie verliebt die zwei waren. Stephan seufzte, doch bevor sich der Neid in ihm ausbreiten konnte, schob sich der Gedanke an Carlos in seinen Kopf. Er erschauderte und beugte sich über die Lehne hinter Christian und Susanna, um seiner Tochter einen Kuss aufzudrücken und Christian zu informieren, dass er frische Luft brauchte.

„Immer noch nicht überwunden?“, fragte Christian und sah ihn grinsend an.

„Deine Schwester ist ein Klatschweib.“

„Oh ja, konkurrenzlos sogar.“

„Nein, noch nicht. Ich habe sogar davon geträumt, mir ist immer noch schlecht und der Geruch … es ist ekelhaft.“

„Hm, ich biete dir gerne meinen Geruch an, aber ob der besser ist?“, schmunzelte Stephans Geschäftspartner, während sich Susanna an ihm heraufzog und nach seinen Haaren griff. „Meine Haare sind tabu und da kannst du mit deiner Unterlippe zittern wie du willst.“

„Sie liebt Haare, besonders Bärte.“ Was auch immer in dem Moment in Stephan fuhr, er konnte es auch im Nachhinein nicht erklären. Er beugte sich hinab zu Christians Hals und sog tief dessen Geruch ein. Die Gäste in ihrer Nähe blickten verwundert, der Beschnüffelte hob ebenso die Augenbrauen und Stephan rieselte sich den Kopf frei. „Entschuldige“, murmelte er beschämt.

„Kein Problem, hoffentlich hilft es.“

Darauf antwortete Stephan nichts, schnappte sich stattdessen ein Wasser und trat auf den Balkon.

Herb, Moschus, wenn er sich nicht ganz täuschte, haftete an seinen Geruchsknospen. Es verdrängte den widerlichen Gestank der letzten Nacht und ersetzte diesen komplett. Das war nicht gut, gar nicht gut!

Ergeben lehnte sich Stephan gegen die Wand und schloss die Augen. Die folgenden Bilder waren für ihn nicht sonderlich überraschend, sicherlich angenehmer als der Traum letzte Nacht und doch ließ es ihn verzweifeln. Stephan sah sich selbst unter Christian liegen, der ihn mit seinen blassroten Lippen Küsse auf die Haut hauchte und …

„Mir fehlt Sex!“, seufzte er, öffnete die Augen und sah prompt in die grünen von Christian.

„Nicht nur dir, glaub mir. Deine Tochter hat die Hose voll und ich finde die Windeln nicht.“

„In der Tasche an der Garderobe … Musstest du gerade jetzt vor mir stehen?“

Christian tat überlegend, grinste dann und nickte. „Ich glaube schon. So bin ich wenigstens bestens über dich informiert.“

„Das sind eindeutig zu viele Informationen für dich. Herr, lass ein Loch auftauchen, das mich verschluckt.“ Stephans Blick ging hoch zum Himmel, doch wie sollte es anders sein, es passierte nichts.

„Willst du darauf warten, dass er dich erhört, oder zeigst du mir, wo genau die Tasche ist?“

Seinem Schicksal ergeben ging Stephan voran und schwor sich, nie wieder mit dem alten Herrn im Himmel zu reden, brachte ja doch nichts.

 

Wenige Minuten später stand Stephan in Johns kleinem privatem Büro und wickelte seine Tochter. Christian blieb bei ihnen, um die nach seiner Ansicht verboten riechenden Windeln zu entsorgen. In Gedanken versunken legte Stephan diese am oberen Ende des Tisches ab, was seinen Geschäftspartner dazu veranlasste, über ihn hinweg zu greifen.

Stephan erstarrte, das war eindeutig zu nah und nicht förderlich, um seine Gedanken von der Terrasse zu verdrängen. Fest presste sich Christians Körper von hinten an seinen, dessen Atem streifte seine Wange und der Moschusgeruch verbreitete sich abermals in Stephans Riechorgan. „Ich entsorge sie dann mal. Alles okay?“ Mit diesen Worten hatte sich Christian wieder von ihm gelöst.

„Ja … klar … entsorg du, ich kleide an.“

„Gute Idee, das nennt man Teamarbeit, darin sind wir doch geübt.“

„Ja, sind wir.“ Seine Stimme hörte sich an, wie er sich fühlte. Stocksteif und peinlich berührt.

Ob es Christian nicht auffiel oder er es ignorierte, konnte Stephan nicht sagen und es war ihm auch egal. Immer noch hegte er den Wunsch nach einem Loch, das ihn aufsog. Im Moment konnte er nicht vom Schreibtisch weg und versuchte ein mittelgroßes Problem unter Kontrolle zu bekommen. Selbst vor seiner Tochter war es ihm peinlich, dabei bekam sie nicht mal mit, wie es um ihren Vater stand, dessen Erektion sich gegen die Kante presste. „Südpol … Nordpol … alte Frau … Frau …“, sprach er wie ein Mantra vor sich hin, bis endlich wieder mehr Platz in seiner Hose war.

Er wollte nur noch weg hier, weit fort von Christian, den er dann erst in … weniger als 24 Stunden wieder sehen musste. Ob das half? Irgendwas in ihm verneinte diese Frage und sein verräterisches Anhängsel regte sich bei dem Gedanken wieder. Das durfte alles nicht wahr sein. Stephan verzweifelte und fragte sich, was mit ihm nicht in Ordnung war. Erst dieser Möchtegern-Casanova und nun sein heterosexueller Geschäftspartner, konnte es noch schlimmer kommen? Das Wochenende ging als Katastrophe durch.

Ein Date und andere Katastrophen, was sollte dem noch folgen? Hatte er ein Fettnäpfchen ausgelassen? Scheinbar nicht und irgendwie befürchtete Stephan, dass das noch nicht alles war.

 

Ein Glück war der Rest von Lucs Geburtstagsfeier ohne weitere Vorfälle verlaufen und so saß Stephan am Montagmorgen ausgeruht und frohen Mutes in seinem Büro. Positiv denken war die Devise, denn sonst würde es wohl zu noch mehr peinlichen Zwischenfällen kommen. Seine Kontaktanzeige hatte er zurückgezogen und darum gebeten, alle Bewerbungen kommentarlos zu löschen. Sollten Männer wie Carlos ihn doch für einen Arsch halten, doch er würde sich nicht noch einmal auf so etwas einlassen. Wenn das Schicksal ihm keine Möglichkeit für den passenden Partner bot, sollte es nicht anders sein. Aber auf die Suche gehen? Nein, davon war er abgekommen.

 

„In zwei Stunden kommen die Australier, die mit dem Porzellan-Auftrag und wollen unsere ersten Ideen sehen!“, sah Christian ins Büro.

Stephan riss die Augen auf. „Die waren erst am Freitag hier und haben uns den Auftrag erteilt.“ Er hatte nicht einen Strich für diesen Kunden getätigt.

„Ja, ich weiß und muss mir jetzt irgendeinen Unsinn aus den Fingern ziehen, um ihnen was zeigen zu können, also geht es mir nicht besser als dir.“

„Hast du schon was?“ Hoffnungsvoll sah Stephan auf.

„Nein, also … Gott, das ist total bescheuert.“

So saßen sie die nächsten zwei Stunden zusammen. Lachten über hirnrissige Ideen, was den Text und das Layout betraf, und bekamen doch nichts zustande. Das mussten sie dann auch dem Kunden mitteilen, der nicht gerade begeistert abreiste, sich jedoch auf das Wochenende mit fertigem Layout und Text vertrösten ließ.

 

„Wenn wir bis zum Wochenende nichts hinbekommen …“, grinste Christian.

„Sind wir geliefert“, beendete Stephan und packte seine Sachen zusammen. „Magst du mit mir Mittagessen gehen?“

Das verwunderte Gesicht seines Partners überging er absichtlich und ergriff sein Portemonnaie. Christian schloss sich an und ohne dass er es wollte, klopfte sein Herz hämmernd gegen die Rippen. Es war komisch, das gab Stephan gerne zu, schließlich hatte gerade er immer darauf geachtet, dass sie Privat und Beruf auseinander hielten. Doch irgendwie fühlte es sich gut an. Die Grenzen hatten sie die letzten Wochen mehr als einmal überschritten, erst recht, seit Lisa sich um Susanna kümmerte.

 

Es wurde zu einem kleinen Ritual: Ohne ein Wort gingen sie jeden Tag um die gleiche Zeit gemeinsam essen. Sprachen über das Weltgeschehen, über Lisa und die Kinder, Susanna, doch nie über die Arbeit. Erholsam, wenn Stephan bedachte, dass er mit keinem Menschen so viel Zeit verbrachte wie mit Christian. Selbst Susanna sah ihn weniger und eine wirkliche Unterhaltung kam da bisher auch nie zustande. Doch zum Ende der Woche musste Stephan sich eingestehen, sich selbst mit der ganzen Ablenkung von der Arbeit abgehalten zu haben. Das war schlecht, schließlich musste er bereits Freitag das Layout für die Porzellan-Werbung fertig haben und das war bereits morgen.

Ein Anruf bei Lisa und ihre Zusage, solange bei Susanna bleiben zu können, bis er nach Hause kam, ließ ihn aufseufzen. Seine Maus zahnte, zumindest war Lisa überzeugt davon und das hieß für Stephan lange Nächte und keine Ruhe für Arbeiten, die er unbedingt erledigen musste, so ging es nur auf diese Art, auch wenn er lieber selbst bei seiner Tochter geblieben wäre.

Leider hatte sein Partner schon die Texte fertig und so saß Stephan allein im Büro, was vielleicht auch besser war.

 

Als es irgendwann an seiner Glasfront klopfte, schrak Stephan hoch. „Verdammt Florian, was machst du noch hier?“, sein Blick wanderte zur Uhr, die kurz vor Mitternacht anzeigte.

„Ich hab noch was fertig gemacht und wollte mal mit dir reden.“

Florian arbeitete seit drei Jahren für Christian und Stephan. Als Steuerfachangestellter hatte er damals die besten Voraussetzungen gehabt, Steuern, Rechnungen und dergleichen zu verwalten.

„Na dann raus mit der Sprache. Heute schockt mich nichts mehr.“

„Ein Glück“, zwinkerte der schwarzhaarige Endzwanziger. „Nachdem ja zwei gekündigt haben, was du hoffentlich mitbekommen hast?“ Florian wartete auf das Nicken seines Chefs. „Dachte ich mir, ihr sucht sicher jemand neuen. Ich kenne da einen sehr begehrten Layouter und gleichzeitig Texter.“

„Her mit ihm, zwei in eins ist immer gut.“

„Heißt, ich soll ihm ein Angebot schicken?“

„Sicher, mach das. Umso schneller desto besser. Du weißt, dass die Auftragslage momentan enorm ist, wenn du ihn also überzeugen kannst herzukommen, sind wir angetan.“

„Gut, dann werde ich mich darum kümmern.“

„Danke, aber mach das morgen, du solltest nach Hause! Es ist schon lange Feierabend.“

Florians Augenbrauen hoben sich. „Im Gegensatz zu dir habe ich niemanden, der auf mich wartet. Solltest du als Vater nicht langsam mal deinen Feierabend pünktlich nehmen?“

„Liebend gerne, aber der Auftrag muss morgen fertig sein, sonst verlieren wir einen Kunden. Ich brauche nicht mehr lange. Muss nur noch Christians Text einfügen und dann husche ich nach Hause und hole mir morgen frei“, grinste Stephan stolz.

„Beide Chefs gehen verfrüht ins Wochenende? Wunder soll es ja geben, aber das grenzt ja an Hexerei!“

„Nun aber, verzieh dich und hab morgen ein Auge drauf, dass der Auftrag rausgeht, ich leg ihn dir auf den Tisch.“

„Christian sagte schon so was. Per Eilbote innerhalb von 24 Stunden nach Australien, wird erledigt.“

Stephan nickte bestätigend und machte sich wieder daran, den Text ins Bild zu fassen.

 

Müde schleifte sich Stephan aus seinem Auto zum Haus. Einzig der Gedanke an sein verlängertes Wochenende hielt seinen Körper noch auf den Beinen. Das Haus lag im Dunklen und so schlich er erst einmal in die Küche, schaltete das Licht an und griff sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Während die kalte Flüssigkeit seine Kehle hinabrann, sah sich Stephan um. Sein Blick wurde von einem Zettel aufgehalten, der auf dem Tisch lag.

Hallo Stephan,

entschuldige, dass ich nicht mehr da bin, aber meine älteste Tochter hat sich am Abend so schlimm übergeben, dass ich mit ihr zum Arzt musste. Nun schau nicht so entsetzt, natürlich ist Susanna nicht allein. Ich habe meinen Bruder gebeten, auf sie aufzupassen. Hoffentlich nimmst du es mir nicht übel, aber ich weiß, er wird mit der Kleinen gut umgehen, ich vertraue ihm da wirklich.

Wir hören uns morgen.

Liebe Grüße Lisa

Stephan atmete tief durch, um den Schock nach dem ersten Satz zu verdauen. Dann schlich er im Dämmerlicht des Flures zum Wohnzimmer, wo Christian auf dem Sofa mit Susanna auf der Brust schlief. Dieser Anblick ließ ihn lächelnd und seufzend am Türrahmen stehen bleiben. Genau das Bild wollte er haben, doch mit seinem Partner, der sich danach an ihn kuschelte. Stephan stieß sich vom Rahmen ab und näherte sich der Couch. Automatisch streichelte er über Christians Wange und flüsterte. „Schlaf weiter, ich bring Susanna ins Bett, nicht erschrecken.“ Ob dieser ihn nun gehört hatte, oder lediglich derart tief schlief, dass er nicht mitbekam, dass Stephan Susanna auf den Arm nahm, blieb offen.

 

Es klingelte, doch Stephan mochte nicht reagieren, sein Kopf pochte auf eine Auszeit. Susannas Lachen, Christians Stimme und die einer Frau ließen ihn dann doch aufschrecken.

„Guten Tag, mein Name ist Meyer vom Jugendamt. Ich komme zu einer, vor einiger Zeit angekündigten, unangekündigten Kontrolle der Lebensumstände von Susanna Gregorius-Black.“

„Angenehm, mein Name ist White, kommen Sie rein. Mein Partner schläft noch, er musste die Nacht länger arbeiten, um einen Auftrag fertig zu bekommen.“

„Ihr Partner?“ Stephan hörte genau die Verwunderung der Frau, dabei hatte er sie doch informiert, dass er einen Geschäftspartner hatte.

„Seit über vier Jahren, wussten Sie das nicht?“

„Nein, darüber hat mich Mister Black nicht informiert.“

„Gar nicht seine Art, möchten Sie einen Kaffee?“

„Sehr gerne, Mister White.“

Die Schritte verhallten in Richtung Küche und Stephan fuhr sich durchs Gesicht. Da lief gerade was gehörig schief. Mühsam quälte er sich aus dem Bett, verschwand kurz ins Bad und schlich sich zur Küche.

Christian stand mit Susanna auf dem Arm da und machte Kaffee, während sich die Frau vom Jugendamt kritisch umsah. „Ist ein Kind in Ihrer Beziehung nicht etwas hinderlich?“, sah sie Christian an.

„Finde ich nicht. Durch die Tagesmutter und ein paar Umstrukturierungen in der Firma lässt es sich gut vereinbaren.“

„Aber finden Sie nicht auch, dass es Susanna in einer regulären Familie besser hätte? Vater und Mutter?“

Von einem zum anderen Augenblick verfinsterte sich der Blick von Stephans Geschäftspartner. „Ach und was sollten diese ihr mehr geben können als Stephan? Er liebt sie abgöttisch. Hat sich von einem Workaholiker zu einem freizeitliebenden Vater entwickelt. Was also meinen Sie, sollte ihr eine „reguläre“ Familie mehr geben?“

„Er hat aber bis in die Nacht gearbeitet, weil irgendein Unternehmen auf die Arbeit wartete. Ist das Ihre Erläuterung zu einem freizeitliebenden Vater?“

Mit einem lächelnden Blick zu Susanna setzte Christian sie in ihren Sitz am Tisch, dann verfinsterte sich sein Blick wieder, als er die Frau ansah. „Er arbeitet, sorgt dafür, dass es der Kleinen an nichts fehlt. Sie hat eine Tagesmutter und wenn diese verhindert ist wie die Nacht, bin ich sofort hier und versuche mein Bestes, damit es der Kleinen an nichts fehlt. Ja, wir arbeiten viel und gerne, jedoch können Sie sich mit einer Sache sicher sein, Nummer eins ist und bleibt Susanna. KEINE reguläre Familie kann ihr das geben, was sie hier bekommt, wahre, unverfälschte Liebe von ihrem leiblichen Vater!“

Miss Meyer war etwas zurückgeschreckt, doch lächelte dann nickend. „Und Sie meinen, Sie können Ihren Partner da vollkommen unterstützen? Wieso leben Sie dann nicht hier?“

Christian stockte, sichtbar begriff er erst jetzt, auf was die Jugendamtsmitarbeiterin raus wollte. Doch ehe er was erwidern konnte, geschweige denn richtigstellen, trat Stephan in die Küche. „Guten Morgen, entschuldige.“

„Kein Problem, war sehr spät, was?“, lenkte sein Eintreten seinen Geschäftspartner ab.

„Zwei, glaube ich. Florian kümmert sich darum, dass es per Eilexpress rausgeht und morgen bei Winstons auf dem Tisch liegt. Guten Tag, Miss Meyer“, wandte sich Stephan an diese.

„Guten Tag. Muss ein wichtiger Auftrag gewesen sein?!“

„Allerdings und da Susanna zahnt, hatte ich im Haus keine Ruhe“, beschämt färbten sich seine Wangen rot.

„Das kann ich durchaus nachvollziehen. Ich würde mich gerne einmal in Ihrem Haus umsehen, wenn es Ihnen recht ist?“

„Nur zu, ich gönne mir inzwischen einen Kaffee.“

Etwas irritiert erhob sich die Frau und verschwand im Flur. Selbst Stephan war klar, dass sie man nie alleine durch ein Haus gehen ließ, jedoch brauchte er die paar Minuten mit Christian alleine. „Dir ist endlich klar geworden, was sie unter Partner verstanden hat, oder?“

„Ja … es tut mir leid, darüber habe ich nicht nachgedacht!“ Das war Stephan durchaus bewusst, denn sie bezeichneten sich den ganzen Tag als Partner, waren sie schließlich auch. Aber es konnte ebenso missverstanden werden. „Ich kläre das gleich auf, meine Güte, es tut mir leid, Stephan.“

„So schlimm ist es auch nicht und es kann nicht unser Problem sein, dass sie uns falsch versteht.“

Grinsend sahen sie sich an.

„Nun ja, lässt dich gut dastehen. Schließlich geht sie von einer vierjährigen Beziehung aus.“

„Könntest du davon absehen, es richtigzustellen? Ich hab echt Angst, dass sie mir Susanna …“

„Schon okay. Selbst als „Fake“-Partner bist du bisher der beste, den ich je hatte.“

„Dito!“, grinste Stephan, griff sich die Tasse Kaffee von der Arbeitsplatte. Genüsslich nahm er den ersten Schluck.

„Sie haben ein sehr schönes Haus. An jegliche Kindersicherung ist gedacht und das Zimmer von Susanna ist ein Traum.“

„Herzlichen Dank.“, schmunzelte Stephan. Ein Glück wollte die Frau nicht wissen, was ihn das alles gekostet hatte.

„Gerne, jedoch bin ich immer noch davon überzeugt, dass sie sich unser Angebot noch mal durch den Kopf gehen lassen sollten. Susanna käme in eine liebevolle Familie. Sie dürften sie jederzeit besuchen gehen und doch würde sie normal aufwachsen.“

Stephan nickte und runzelte die Stirn. „Normal? Ich würde sagen, es ist nicht normal, wenn sie von ihrem Vater getrennt wird, wo ihre Mütter bereits verstorben sind. Was denken Sie eigentlich, was diese Familie ihr bieten kann und ich nicht? Mir fehlt es weder an Geld noch an Zuneigung für meine Tochter. Selbst wenn ich hetero wäre und somit Ihrer Vorstellung einer regulären Familie näherkäme, könnte keine Frau Susanna ihre Mutter ersetzen. Christians Schwester ist die Tagesmutter. Susanna wird von ihr sehr gut versorgt, wenn ich nicht da bin und wie Sie sehen, selbst wenn diese keine Zeit hat, findet sich jemand. Ich verstehe ehrlich gesagt ihr Problem nicht.“ Es kostete ihn alle Kraft ruhig zu bleiben, doch sein Anwalt hatte ihm dazu bei ihrer ersten Begegnung geraten. Denn ein ausfallender, aggressiver Umgang mit dem Jugendamt würde ihm schneller seine Tochter nehmen, als er sich vorstellen konnte.

„Ich finde es einfach nicht rechtens.“

„Interessant, dann werden wir uns an Ihren Vorgesetzten wenden, damit er eine neue Sacharbeiterin damit beauftragt, diesen Fall zu bewerten. Denn wenn Sie voreingenommen zu derartigen Familien-Konstellationen sind, dann wäre es wohl der beste Weg, um eine objektive Beurteilung zu erhalten.“ Christian kochte vor Wut und das blieb Stephan nicht verborgen, denn dieser umfasste die Arbeitsplatte derart fest, dass seine Handknöchel weiß hervortraten. Sanft streichelte Stephan über die Hand, was Christian dazu brachte, sich etwas zu entspannen.

„Ich werde Sie objektiv beurteilen“, die Stimme von Miss Meyer wurde zu einem Flüstern, als sie sich auch schon erhob und mit keinem weiteren Wort das Haus verließ.

 

Der Rest des Tages verlief ruhig. Christian hatte kurz nach der Jugendamtsmitarbeiterin das Haus verlassen, was Stephan zwar irritierte, aber sogleich von Susanna abgelenkt wurde. Seit langem war er entspannt, was eventuell daran lag, dass er sich mal keine Gedanken um Jugendamt, Arbeit und irgendwelche Termine machen musste. Dazu hallten noch die Schwingungen des Morgens in ihm nach. Der Gedanke, dass jemand Christian und ihn als Paar sah, hatte in ihm ein kleines Feuer hinterlassen. Es brannte sich warm durch seinen Körper, verursachte ein penetrantes Lächeln auf seinen Lippen und ließ sogar zu, dass Susanna Narrenfreiheit hatte.

Zwar nannte sich Stephan einen Narren, aber das Gefühl war zu schön, um es nicht zu genießen. Die Realität kam bekanntlich früh genug, wieso also nicht ein wenig in der Traumwelt wandeln, in der Christian und er mehr waren als nur Geschäftspartner?

Am Abend, als seine Tochter schon schlief, juckte es ihm in den Fingern, oder im gesamten Körper und er rief bei Lisa an, die ihm mittags schon mitgeteilt hatte, dass es ihrer Tochter besser ging. Eine Allergie war schuld gewesen, dass sich ihre Tochter derart übergeben musste. Trotzdem fragte er noch drei Mal nach dem Befinden des Kindes und dann erst, ob sich Lisa bereit erklären würde, auf Susanna aufzupassen.

Sie bejahte und als auch ihr Kindermädchen zusagte, machte sich Stephan fertig. Mit seiner engsten Jeans, einem fast durchsichtigen Hemd und gestylten Haaren stand er schon bald an der Tür, um die Schwester seines Geschäftspartners einzulassen. „Ich danke dir“, begrüßte und verabschiedete er sie zugleich mit einem Kuss auf die Wange.

Wie lange er schon nicht mehr in den Clubs der Stadt unterwegs gewesen war, konnte Stephan nicht sagen, jedoch, dass er diesen Abend komplett auskosten wollte. Die erste Bar brachte lediglich sein Blut in Wallungen, dank den Drinks. In der nächsten verzog er sich kurz nach dem Eintreten wieder, es war Themenabend und der lag ihm so gar nicht.

Irgendwann nach Mitternacht kam er in einem der bekanntesten Clubs für Homosexuelle an. Es war wenig los, sodass er sich in Ruhe umsehen konnte und schon bald an drei Personen hängen blieb. Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu John, Luc und Christian. Was machte dieser in so einem Club? Eilig drängte sich Stephan an die Bar und kippte drei Gläser eines beliebigen Schnapses runter. Erst dann traute er sich zu seinen Freunden und Christian. Der Mann, der ihn debil grinsen ließ und sich nicht mal bewusst war wieso.

John erblickte Stephan als erster und stieß lachend seinen Mann an. Der wiederum machte auch Christian auf ihn aufmerksam, der sofort grinste und ihn als erster begrüßte.

Stephan fluchte, in seinem Magen breiteten sich diese bösen Viecher aus, denen er am liebsten jeden Flügel ausgerissen hätte, damit sie nicht mehr so ein Gefühl verursachten. Das durfte einfach nicht sein, nicht bei Christian, seinem heterosexuellen Geschäftspartner.

Irgendwie fühlte er sich in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diesem kein Mann zu nahe kam. Herrgott, was sollte Christian sonst von homosexuellen Männern denken, wenn sie ihn alle anbaggerten? Das war nicht gut, gar nicht gut.

 

Eine Stunde lang wich er Christian nicht mehr von der Seite, was ihm schiefe Blicke von John und Luc einbrachte, die die Chance wahrnahmen, mit Stephan zu reden, als dessen Geschäftspartner auf die Toilette verschwand.

„Dürften wir wissen, was du da machst? Du hängst regelrecht an Chris.“

„Sagt mir lieber, wieso ihr ihn in so einen Laden schleppt. Das ist nichts für ihn und für euch beide übrigens auch nicht. Habt ihr eigentlich gemerkt, wie man euch mit Blicken auszieht? Christian kommt wie ein Top rüber und so einen lassen sich hier wenige entgehen!“ Er sprach durcheinander, merkte es selbst, doch der Alkohol machte seine Gedanken etwas schwerfällig. Denn auch wenn er auf Christian aufpassen wollte, musste er die nervenden Tiere in seinem Magen dazu bringen, mit ihren Flugkünsten aufzuhören.

Überrascht weitete Luc die Augen, verkniff sich ein Grinsen und flüsterte in Stephans Ohr. „Christian hat uns mit hierher genommen, nicht wir ihn.“

Irritiert runzelte Stephan die Stirn, diese Aussage wollte nicht verarbeitet werden, stattdessen nahm er noch einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Als eine Hand auf seinem Hintern landete, sah er sich irritiert um und blickte einem fremden Mann ins Gesicht, der allerdings nicht so fremd war. Carlos stand mit einem fast zahnlosen Lächeln vor ihm, abermals mit nacktem Oberkörper und einem muffeligen Geruch. Stephans Herz blieb stehen, er schluckte schwer und versuchte wegzukommen. Doch der Stehtisch, an dem er sich mit seinen Freunden befand, hielt ihn ab. Immer näher trat Carlos, leckte sich mit der Zunge über seine aufgesprungen Lippen, als er plötzlich herumgerissen wurde.

Christian stand dort und ließ sofort von Carlos ab, als dieser das Ausmaß sah. „Mein Partner schätzt es nicht, bedrängt zu werden.“ Er schauderte.

„Sah letztens anders aus. Hatte ein Date mit mir, aber dann ist er plötzlich weg.“

„Warum nur? Hat er sich seither bei dir noch mal gemeldet? Nein? Dann verzieh dich!“

Stephan traute seinen Augen nicht, als er Christians Blick sah. Der maß sich in allem Ernst mit Carlos und gewann. Dieser zog unter wilden Flüchen ab.

„Alles klar, Stephan?“ Er reagierte nicht, griff stattdessen nach einem Schnaps, den sich Luc bestellt hatte. „Meinst du nicht, du übertreibst es heute mit dem Trinken?“

„Schon.“

„Gut, soweit bekommst du noch was mit. Was ist los?“

„Du! Ist alles deine Schuld!“ Stephan wollte sich den Mund verbieten, doch irgendwie schien dieser seinen eigenen Willen zu haben.

„Meine, inwiefern?“

„Seit heute Morgen. Alles ist durcheinander und das ist deine Schuld. Was macht dein Hetero-Arsch auch hier?“

„Deinen vor Carlos retten“, lachte Christian. „Und was ist durcheinander?“

„Tzz, du kannst nicht mal auf deinen aufpassen, jeder will ihn, ALLE.“

„Aber scheinbar hast du was dagegen, dass ihn irgendwer bekommt, wieso?“ Christian war näher getreten, was Stephan nur recht schien, denn er packte ihn am Kragen und verringerte ihren Abstand, bis sich ihre Nasen berührten.

„Ich will ihn ja auch, aber auch nicht, also … oh Mist … du bist hetero, das ist ätzend.“

„So, bin ich und dürfte ich mal erfahren, wie du darauf kommst? Ich hatte noch nie eine Freundin und stehe auch nicht auf Frauen, aber irgendwie scheint dir das komplett entgangen zu sein.“

„Nicht wahr!“ Stephan riss die Augen auf und Christian noch näher zu sich, sodass ihre Körper nur durch den Stoff auf ihrer Haut getrennt wurden.

„Doch, seit mehr als 15 Jahren bin ich mir da sehr sicher. Ein Problem für dich?“

„Ja. Das machst du alles extra, oder? Bin ich so ein Arsch? Susanna, Meyer, alle überzeugst du …“

Christian schmunzelte, biss sich auf die Unterlippe und nickte. „Ja, eventuell schon, zumindest was deine Tochter angeht. Sie ist bezaubernd, wie ihr Vater. Schlimm?“

„Ganz schlimm. Du hast verdammt schöne Augen und die Tiere hören nicht mehr auf und außerdem, Susanna mag dich.“

John schlug Christian auf die Schulter. „Bring ihn heim, der ist dicht und ich glaube …“ Dann tuschelten sie, was Stephan nicht gefiel. Er sah nur noch das Nicken seines Partners und wie Luc mit seinem Mann Richtung Ausgang verschwand.

„Komm, ich fahr dich heim. Ist Lisa bei dir?“

„Ja, bis morgen, denn ich lass mir heute nix entgehen, brauch unbedingt was in mir.“

„Aber sicher nicht hier. Komm mit.“

Stephan ließ sich mitziehen und sah einigen potenziellen Männern hinterher, die zu seinem früheren Geschmack gepasst hätten. Früher, vor Christian, dessen liebenswerter Art und … ach verdammt, ist doch scheiße.“ Statt es nur zu denken, hatte er es ausgesprochen.

„Und was ist so scheiße?“ Christian hielt nicht an, zog ihn weiter über den Parkplatz. Irritiert sah sich Stephan um, waren sie nicht gerade noch im Club gewesen?

„Du! Vermiest mir alles. Kann nicht mehr denken.“

„Das ist der Alkohol, meinst du nicht? Steph, was ist los?“

Er hasste es, wenn sein Name abgekürzt wurde, doch aus dem Mund seines langjährigen Geschäftspartners hörte es sich verdammt gut an. „Nicht Alkohol, du! Alles ist hier komisch, alles!“ Innerlich verprügelte er sich, während äußerlich lediglich seine Hände wild gestikulierend seinen Bauch umkreisten. Nie wieder Alkohol, schwor er sich.

„In deinem Bauch sind Tiere? Wie kommen sie da rein?“ Christian grinste und fing Stephans Hände ein.

„Durch dich. Du warst das, ganz klar. Was musst du auch so nett sein, so berauschend, so gut riechend, so nett zu Susanna. Du hättest einfach ein Arsch sein können, ganz einfach.“

„Ich rieche gut?“ Der Typ machte sich doch über ihn lustig, ja wieso auch nicht? Er war besoffen, hatte seine Zunge nicht unter Kontrolle und verhielt sich gerade wie ein pubertierender Jüngling. So murrte er lediglich eine Antwort, die nur mit gutem Willen einer Bestätigung gleich kam.

Plötzlich drehte sich alles, irgendwas erdrückte Stephan und presste ihn an kühles Metall. Erst wollte er sich wehren, bis es in seinem alkoholgetränkten Gehirn ankam, er wurde geküsst. Christian küsste und drängte sich an ihn, als würde es kein Morgen mehr geben. Die letzten Gehirnzellen gaben ihre Arbeit auf, jetzt hieß es nur noch genießen. Egal was der nächste Morgen brachte, das war zu gut, um es zu beenden.

 

Atemlos nahm Christian Abstand, schluckte hart und sah ihn an. „Scheiße, es tut mir leid.“

„Du hast es endlich verstanden. Alles deine Schuld.“ In Stephan tobte ein Sturm, wollte gebändigt werden, doch nur durch einen, der sich gerade von ihm entfernte.

„Halt einfach den Mund, Steph!“, es war kein Raunzen, wie man es erwartet hätte, eher kam es einem Flehen gleich. „Das hier ist gar nicht gut, ich halt mich seit Jahren von dir fern, das sollten wir auch nicht ändern. Wir sind Geschäftspartner und alles andere wäre nicht gut.“

Christian hatte recht, das war Stephan nur allzu bewusst. Es drang allerdings nicht so tief in sein Gehirn, wie es besser gewesen wäre, denn nun war er es, der den anderen ans Auto drängte und dessen Mund verschloss. Rechnete er damit, dass sich Christian wehren würde, wurde er überrascht. Denn dieser schlang die Arme um ihn und genoss den Kuss in vollen Zügen. „Das ist nicht gut“, wisperte Stephan an seine Lippen.

„Überhaupt nicht gut“, bestätigte Christian.

„Wir sind Geschäftspartner, wir müssen an die Agentur denken.“

„Genauso ist es.“

Statt sich zu trennen, zogen sie sich noch näher, ihre Hüften trafen sich, zeigten die Spannung und Lust, die in ihnen steckte.

„Eine Nacht kann nicht schaden“, schluckte Stephan hart und sah tief in Christians grüne Augen.

Dieser biss sich auf die Unterlippe, schloss kurz die Augen und nickte dann. „Eine Nacht.“

Es kostete beide unendlich viel Kraft, sich nicht schon auf dem Parkplatz die Klamotten vom Leib zu reißen. Christian fuhr sie zu seiner Wohnung, die vollkommen unbeachtet von Stephan im Dunklen blieb. Dieser hatte einzig das Bedürfnis, seine Träume endlich real zu machen und riss Christian die Kleidung herunter. Begehrlich fuhren seine Finger über den Körper, den er seit Tagen nicht mehr aus seinen Gedanken bekam. Stürmisch folgten seinen Händen die Lippen, was Christian aufstöhnen ließ.

„Steph …“

„Genieße!“, raunte er und Christian dirigierte sie in Richtung Schlafzimmer. Stephan befreite sich selbst von seiner Kleidung, schmiss den Traum seiner letzten Nächte aufs Bett und schob sich über ihn. Begleitet von seinen Lippen ertastete er jeden Zentimeter von Christians Haut, der sich stöhnend unter ihm wandte. Mit sanfter Härte biss Stephan in die Erhebungen der Brust, um sie danach mit seiner Zunge um Verzeihung zu bitten. Als sich ihre Glieder berührten, kämpften beide um die Beherrschung, dem Ganzen nicht zu schnell ein Ende zu bereiten. Genießen war die Devise, denn es sollte bei einer Nacht bleiben, das nahm sich Stephan vor. Für die Agentur, ihre Mitarbeiter und ihrer Geschäftsbeziehung war es sicher das Beste, auch wenn sich diese Situation verboten gut anfühlte und er sich nichts sehnlicher wünschte, als mehr zu bekommen.

Inzwischen schien Christian die Führung übernehmen zu wollen, drehte sich mit Stephan und eroberte mit seinen Lippen dessen Körper. Das Geräusch einer Schublade drang in Stephans Gehörgang und ließ ihn vor Erwartung zittern. Als sich die ersten Finger über seinen Schwanz Richtung Rosette aufmachten, stöhnte er auf. Ein verlangendes Kribbeln durchzog seinen Unterleib, ließ seinen Schwanz noch mehr anschwellen. Sachte, mit aller Ruhe verteilte Christian Gleitgel an der zuckenden Öffnung, während sein Gesicht dem von Stephan nahe kam. Zärtlich hauchte er einen Kuss auf die Lippen. „Bist du schon mal nur durch anale Stimulierung gekommen?“ Stephan riss die Augen auf, denn in diesem Augenblick drangen Christians Finger in ihn ein und trafen zielgenau seine Prostata. „Mehr?“ Allein die Stimme jagte Stephan den nächsten Impuls in sein Glied, welcher dieses verlangend zucken ließ.

„Ja!“, japste er die Antwort und schloss ergeben die Augen. Das Reißen der Kondomhülle drang kaum zu ihm durch, stattdessen erwartete er sehnsüchtig die Dehnung.

Christian legte sich Stephans Beine auf die Schulter, drang ein letztes Mal mit seinem Finger in ihn ein, als er auch schon seinen Schwanz hineingleiten ließ. Stephan hatte nicht die Zeit sich zu verspannen, als Christian ihn schon komplett erobert hatte. „Entspann dich, heute Nacht gehörst du mir und du wirst sie nie vergessen!“

Dieses Versprechen hielt Christian und das ganze drei Mal.

 

Stephans Kopf erfüllte ein dumpfes Trommelspiel, während sein Hintern brannte und seine Glieder sich erschöpft gegen jede Bewegung sträubten. Jedoch wollte er eiligst verschwinden und das nicht nur, weil Christian und er eine klare Abmachung hatten. Lisa war schon viel länger bei ihm, als es normal der Fall gewesen wäre und so schlich er morgens um sechs Uhr aus dem Bett seines Geschäftspartners, rief sich ein Taxi und betrat eine halbe Stunde später sein Haus.

Lisa war schon wach, begrüßte ihn mit einem ehrlichen Lächeln, was er nur ungenügend erwidern konnte. Das dumpfe Gefühl in ihm sprach von einem riesigen Fehler. So machte er sich wortlos einen Kaffee und verschwand samt Babyfon im Garten. Seine Gedanken brauchten Platz und diesen hatte das Haus ihm nicht bieten können.

Christians Geruch haftete noch auf seiner Haut, die Spuren der Nacht ebenso und das löste in Stephan ein beklemmendes Gefühl aus. Jedoch konnte er sich nicht dazu überwinden, unter die Dusche zu steigen. Endlich war er seinem Traum so nahe gewesen und wollte ihn festhalten. Wie sollte er nur am Montag vor Christian treten und so tun, als hätte es die Nacht nie gegeben? Der Druck in seinen Augen, der zugeschnürte Hals und die Kälte, die sein Innerstes erfüllte, ließen es zu, dass er den Tränen freien Lauf gewährte. Stephan fühlte sich wie eine Vase, die kurz vor dem Zerbrechen war und nur durch ein Puzzleteil zusammengehalten wurde. Susanna, für sie würde er bestehen bleiben. Egal was noch kommen mochte und wie sehr er sich nach der Nähe der Nacht sehnte, die er nie wieder verspüren durfte.

 

Montagmorgen und Stephan fühlte sich bereit für den Tag, ebenso Christian gegenüberzutreten und sich nichts anmerken zu lassen, was genau zwischen ihnen passiert war.

Der australische Geschäftspartner wartete schon per Videokonferenz im Besprechungsraum und erzählte ihnen, wie hervorragend das Layout und der Text seien, um ihr Produkt zu bewerben. Kaum war die Videoübertragung beendet, seufzten Christian und Stephan erleichtert auf. Automatisch schlugen sie beieinander ein, doch dann schien es, als bliebe die Welt stehen. Sie sahen einander in die Augen wie in der Nacht, versanken darin, ohne wirklich wahrzunehmen, wie sie sich näherten.

„Einmal ist keinmal“, hauchte Christian und machte den letzten Schritt, sodass sich ihre Körper aneinander pressten. Stephan konnte nichts sagen, wartete stattdessen, dass sich die aufgeheizte, knisternde Luft um sie abkühlte und ihren Verstand zurückholte. Doch das passierte nicht, stattdessen spürte er Christians Lippen das zweite Mal innerhalb von weniger als zwei Tagen auf seinen. Und wieder schaffte es sein Geschäftspartner, ihn willenlos zu machen. Stephan gab sich dem hin, was ihm geboten wurde und fand sich schon bald auf dem Konferenztisch wieder. Christian drängte sich zwischen seine Beine und dessen Hände unter Stephans Hemd.

„Zweimal ist Absicht!“, stöhne Stephan, unter den kundigen Fingern, die seine Brustwarzen bearbeiteten.

„Sag, ich soll aufhören und ich tue es.“ Christian verharrte in seinen Bewegungen, wartete darauf, dass sein Gegenüber reagierte, doch Stephan blieb stumm.

Wie hätte er auch etwas gegen die Berührungen sagen können, nach denen sich sein Körper sehnte und welche sein Herz erreichten. Seit langem hatte er wieder Herzklopfen und sehnte sich nach einem bestimmten Mann und auch wenn dieser nicht das gleiche Interesse hegte wie er, was war daran verkehrt, sich für wenige Minuten dem Glauben hinzugeben?

Gerade als Christian wieder mit den Lippen auf seine traf, stieß Stephan ihn zurück. Dank des Glases sah er den Fahrstuhl kommen. Eilig richtete er sich auf und wischte Christian über den Mund. „Da kommt wer“, entkam seinen Lippen atemlos.

 

Es war John, der in die Büroetage trat und sie beide sofort erblickte. Seine Stirn runzelte sich und er sah sie durchdringend an. Christian ging sofort zu ihm und dirigierte den Besuch in die Kaffeeecke.

Stephan blieb zurück, mit einem pochenden Herzen und einer schmerzhaften Erektion. Eilig besuchte er die Toilette, dachte an die Nacht von Freitag auf Samstag und ergoss sich schon nach geringer Reibung. Ergeben sackte sein Kopf nach vorne, während er immer noch die grünen Augen vor sich sah. Es war um ihn geschehen, das wusste Stephan nur zu genau. Sein Herz schlug schneller, seine Gedanken drehten sich um seinen Geschäftspartner auf eine Art, die nicht sein sollte. Es war nicht gut für ihre Agentur, sich auf ein Intermezzo einzulassen, welches sicherlich in weniger als einem Monat der Vergangenheit angehörte. Sein Herz wäre zerbrochen und Christian würde sich sicherlich den nächsten Typ anlachen.

Seine Gefühle stellten ihre Arbeit ein, mit hängendem Kopf wusch sich Stephan die Hände, richtete seine Kleidung und ging wieder an die Arbeit. Er würde sich die Gedanken aus dem Kopf schlagen und sicherlich nicht noch einmal zulassen, dass Christian ihm derart nahekam.

 

Doch auch Christian schien nachgedacht zu haben und hielt sich von ihm fern. Vielleicht, oder sogar sehr wahrscheinlich lag es an Johns Besuch, dass sich dieser plötzlich distanzierte.

Abends saß Stephan mit Susanna auf der Couch, wiegte sie in seinen Armen und verkniff sich vereinzelt Tränen. „Unser Plan wird nichts. Ich schaff das einfach nicht, einen Mann zu finden, dem auch so viel an mir liegt, wie mir an dir“, sanft küsste er die zarte Haut der Stirn und sog den Geruch seiner frisch gebadeten Tochter ein. Diese hustete ein wenig und schmiegte sich noch enger an ihren Vater. „Du wirst doch wohl nicht krank?“ Sanft legte er sich Susanna auf die Brust, schaltete den Fernseher ein und ließ sich vom Abendprogramm berieseln.

Gerade noch hatte sich Stephan im Traum an Christian geschmiegt und dessen verführerischen Worten gelauscht, als ein ersticktes Husten an sein Ohr drang. Irritiert hatte er den Traummann angesehen, der abermals krächzend hustete. Plötzlich bemerkte Stephan eine feuchte Hitze auf seiner Brust. Verschlafen öffnete er die Augen und sah direkt in die glasig blauen seiner Tochter. Ihr Gesicht war von der Hitze, die sie ausstrahlte, gezeichnet und ihr ganzer Körper zitterte. In Sekunden war Stephan hellwach. „Susanna, was ist los? Hey komm, schau mich an.“ Doch das tat das kleine Mädchen nicht, sah stattdessen durch ihn hindurch und wimmerte leise.

Panisch sprang Stephan auf, lief mit seiner Tochter auf dem Arm zum Telefon und versuchte den Kinderarzt zu erreichen. Doch wie zu erwarten, war die Praxis nachts nicht besetzt. Mit zittrigen Fingern glitt seine Hand zum Handy, sicherlich wusste John oder Luc, was zu machen war. Vielleicht auch Beate Stone, schließlich war sie Mutter. Lisa, eindeutig, Lisa würde ihm helfen können. Abermals hustete Susanna, was Stephans Herz zerriss, derart schmerzlich klang es. Als er Lisas Nummer rausgesucht hatte und das Gespräch angenommen wurde, sprudelte es aus ihm heraus. „Ich brauche Hilfe. Susanna atmete so komisch, der Husten hört sich schmerzhaft an und sie ist so heiß.“

„Steph? Was ist los?“ Das war nicht Lisa, wurde Stephan bewusst, doch es war ihm egal.

„Chris, Susanna ist krank und ich erreiche den Kinderarzt nicht, was soll ich tun?“

„Ruf einen Krankenwagen, ich bin gleich bei dir.“ Schon war das Gespräch beendet und Stephan tat, wie ihm empfohlen.

 

Zeitgleich mit dem Notarzt tauchte Christian auf und auch wenn dieser an sich nichts tat, war Stephan froh, nicht allein zu sein. Der Arzt untersuchte Susanna und legte eine Infusion. Als sich die Nadel in die Haut seiner Tochter bohrte, versteckte Stephan sein Gesicht an Christians Schulter. Dieser streichelte seinen Rücken und hörte dem Arzt aufmerksam zu. Dieser diagnostizierte den Verdacht einer Lungenentzündung und informierte über eine Mitnahme ins Krankenhaus.

Stephans Gedanken überschlugen sich, als er seine Tochter da so liegen sah und die Bemühungen des Arztes. Betend saß er an der Tür und flehte Sandra und Annabell an, ihre Tochter zu schützen.

Etliche Untersuchungen, eine Röntgenaufnahme und eine weitere Infusion später lag Susanna in einem Bett und schlief, während ihr Vater daneben saß und seinen Kopf in die Hände gestützt hatte. Hinter ihm stand seit zwei Stunden Christian, sagte keinen Ton, aber ließ sich auch nicht heim schicken. Stattdessen sorgte er dafür, dass sich Stephans Kaffeetasse niemals leerte.

Als Susanna tief und fest schlief, überredete er Stephan sogar, für eine Pause mit nach draußen zu kommen. Eine Runde streiften sie durch die Dunkelheit des Krankenhausparks. „Hast du verstanden, was der Arzt gesagt hat?“, durchbrach Christian ihr Schweigen.

Stephan schüttelte den Kopf. Er hatte nichts mitbekommen, einzig seine Tochter im Blick gehabt, die weinend die Untersuchungen über sich ergehen lassen musste. „Nein, um ehrlich zu sein.“

„Dass es nicht so dramatisch ist, erst der Anfang einer Lungenentzündung und sie aus reiner Vorsicht über Nacht hierbleiben soll. Morgen wirst du sie bereits mit heim bekommen.“

„Wirklich? Gut! Aber ich kann nicht arbeiten kommen, ich muss …“

„Natürlich, die Woche bleibst du daheim. Florian hat mir heute was von einem Seth Bolin erzählt, den wir als Texter und Layouter einstellen wollen?“

„Er fragte mich, der Typ muss gut sein und ich habe ihn ein Angebot abschicken lassen.“

„Okay, zumindest wird dieser morgen mit mir ein Vorstellungsgespräch haben, zwar nur über die Cam, weil er arbeiten muss, aber immerhin. Wenn er unseren Vorstellungen entspricht, kann er innerhalb von drei Tagen hier sein. Sein Vertrag läuft übermorgen ab und er will weg.“

„Sehr gut, wir brauchen Leute. Ich kann nicht mehr alles machen, Susanna ist mir wichtiger.“ Stephan sah zum Sternenhimmel und blinzelte eine Träne weg.

„Ich wäre enttäuscht, wenn nicht. Statt deine Tränen zu schlucken, solltest du ihnen ruhig freien Lauf lassen, denn es hat keinen Sinn, seinen Kummer zu ersticken.“ Ganz langsam schob sich Christian vor Stephan, zog ihn an sich und schloss ihn in die Arme. „Ich bin für dich da, wenn du mich lässt.“

Seufzend ließ Stephan die Nähe zu, inhalierte Christians Geruch. „Als was? Guter Freund? Geschäftspartner? Chris, das ist nicht das, was ich momentan will, danke, aber es ist besser, wir beschränken uns wieder auf das Geschäftliche, wie wir es die letzten Jahre gehandhabt haben.“ Mit diesen Worten, einem flüchtigem Kuss und Blick in Christians grüne Augen verschwand Stephan wieder im Krankenhaus.

Es war die beste Lösung, davon war er überzeugt, denn was sollte es ihm bringen, Zeit und Energie in eine Beziehung zu stecken, die nie über eine Affäre und eventuelle Freundschaft hinausging. Irgendwann stände dann Christian mit einem anderen vor ihm und sein Herz zerbrach. Nein, das würde er sich nicht antun. Mit der Hand seiner Tochter in seiner schlief Stephan schon bald an ihrem Bett ein.

 

Susanna spuckte den Brei wieder aus und lachte vergnügt. Nach nur drei Tagen hatte sie bereits wieder allerhand Flausen im Kopf und trieb damit ihren Vater zur Verzweiflung. Jedoch konnte nicht mal das Schlachtfeld in der Küche Stephans Laune mindern. Seiner Tochter ging es wieder gut und das freute ihn mehr, als die Sauerei ihn ärgern konnte. Zwar war der Husten noch nicht komplett verschwunden, auch das Fieber kam zum Abend hin immer noch und sie schlief viel, aber es ging Susanna eindeutig besser. „Du bist mir ein Früchtchen, wer muss das alles wieder sauber machen?“

„Dada!“, quietschte sie und zeigte auf ihn.

„Genau, ich!“, seufzte er und kniete sich nieder. Geistig notierte er sich, keine Gläser mehr zu kaufen, eindeutig zu schleimig, ließen sich viel zu gut ausspucken und klebte wirklich überall. „So, ab heute isst du mit mir, ich lerne auch kochen, versprochen.“ Susanna schien ihn auszulachen, ob es an seinem Versprechen lag, dem sie nicht glaubte, oder an der vollen Windel, deren Geruch gerade die Küche flutete, vermochte Stephan nicht zu sagen. Ergeben seufzend stand er auf, wusch sich die Hände und hob seine Tochter aus dem Kinderstuhl. Susanna hatte sichtlich Spaß daran, ihren Vater mit den Fingern am Bart zu kitzeln und dabei den Brei zu verteilen, den er vergessen hatte wegzuwischen. „Das darf doch nicht wahr sein. Sag mal, willst du mich heute ärgern?“ Dass es ausgerechnet jetzt jemand für notwendig befand, bei ihm zu klingeln, hatte Stephan gerade noch gefehlt. Es war zehn Uhr, er hatte nicht mehr an, als eine Jogginghose und ein T-Shirt, beide mit Brei versaut und sah wohl an sich aus, wie gerade aus diesem gekrochen. Mit dem Ellenbogen öffnete er die Tür und stand schon bald vor John, der ihn mit verschränkten Armen und einem ernsten Blick ansah.

„Wir müssen reden!“, war dessen Begrüßung, dann musterte John sein Gegenüber und konnte sich nur schwer ein Schmunzeln verkneifen. „Was ist mit dir passiert?“

„Meine kleine, süße, tollwütige Tochter. Komm rein, aber mit einem Gespräch wirst du warten müssen, bis wir zwei wieder sauber sind und diese kleine Stinkbombe eine neue Windel hat.“

„Ich übernehme Susanna und du versuchst, dich wieder menschlich herzurichten, wie wäre der Vorschlag?“

„Absolut, dafür bekommst du gleich den besten Kaffee der Welt, okay, meines Hauses.“

Lachend verschwand John mit Susanna in ihrem Zimmer und Stephan schleifte sich zum Bad. Eine Dusche später, frische Kleidung und nachdem seine Haare sogar einigermaßen in Form gebracht waren, lag Susanna auf ihrer Spieldecke im Wohnzimmer und Stephan saß mit John auf dem Sofa.

„Was gibt es denn zu besprechen, dass du hier auftauchst, als wolltest du mir den Hals umdrehen?“

„Ehrlich gesagt wollte ich das echt.“ Johns Blick verfinsterte sich abermals.

„Und wieso? Ich dachte, das mit Luc sei geregelt. Ich weiß, dass es nicht okay war und es tut mir auch leid.“
„Wer spricht von Luc? Ich möchte mit dir über Christian reden.“

Überrascht weiteten sich Stephans Augen. „Ist was mit der Agentur?“

„Nein, davon wüsstest du wohl eher als ich. Das zwischen euch beiden …“

„Da ist nichts und gut ist. Das werde ich mit Sicherheit auch nicht mit dir besprechen.“

„Ihr hattet was miteinander und nun gehst du hin und schiebst ihn ab wie ein benutztes Taschentuch. Meinst du ehrlich, ich schaue mir an, wie du einen guten Freund von mir derart behandelst? Das hat er nicht verdient. Ihr seid Geschäftspartner und mir ist durchaus klar, dass es kompliziert ist. Jedoch kann es nicht angehen, dass du ihn erst derart anmachst, ihm Hoffnung gibst und dann fallen lässt wie eine heiße Kartoffel!“

„Ich ihn? Geht’s noch? Er sprach von einem Fehler, einer einmaligen Sache. Dass es nur eine Nacht geben würde. ER hat mich im Konferenzzimmer überrumpelt, nicht ich ihn. Scheinbar kennst du deinen ach so guten Freund nicht wirklich. Er will nicht mehr als einen Fick.“ Stephan klang nur halb so wütend wie er wollte, eher schwang die Enttäuschung in seiner Stimme mit, die er einfach nicht verbergen konnte.

„Du hast doch den Schuss nicht gehört. Christian war noch nie so. Er sucht schon seit Jahren einen festen Partner, dachte diesen auch in Nico gefunden zu haben, doch der hat ihn von vorn bis hinten verarscht. Seit Wochen liegt Chris mir mit dir in den Ohren, dass ich es bald nicht mehr hören kann. Verdammt, Stephan, er ist in dich verschossen und das bis über beide Ohren.“

Stephan schwankte, obwohl er saß. Das Gehörte drang in seinen Verstand ein, aber wirklich verstehen tat er es nicht. Christian sollte in ihn verschossen sein? „Was meinst du mit verschossen?“

Johns Stirn verzog sich leicht, kam einem Runzeln gleich. „Er ist verliebt in dich. Du weißt schon, das mit den Schmetterlingen im Bauch, Herzklopfen und rosaroter Brille!“  

In Stephans Innerem herrschte helle Aufruhr, vom Himmel zur Hölle, wieder ab auf Wolke sieben, wo er gerade auf seinen freien Fall ins Fegefeuer wartete. Doch irgendwas hielt ihn fest, setzte ihm eine rosarote Brille auf und verpasste ihm ein debil aussehendes Lächeln. „John, du meinst das ernst, oder?“

„Ich hab mich nicht getäuscht, du bist genauso verknallt … aber wieso seid ihr dann nicht zusammen?“

„Die Agentur, wir sind Geschäftspartner und ich wusste doch nicht …“

„Man könnte meinen, ihr zwei habt euch abgesprochen. Christian fing auch so an. Stephan, wenn ihr zwei es wollt, schafft ihr das. Ihr kennt euch schon seit dem Studium, seid seit 4 Jahren Geschäftspartner und dann eben auch noch privat ein Paar, was spricht dagegen? Klar ist es nicht immer leicht, da kann ich ein Lied von singen, seit Luc in der Firma ist. Aber ihr könnt es schaffen, wenn ihr es wollt.“

„Susanna …“

„Also wenn du noch nicht gemerkt hast, dass ihm viel an der Kleinen liegt, ist dir nicht mehr zu helfen. Soll ich aufpassen?“ Die Frage war noch nicht ausgesprochen, da stürmte Stephan auch schon aus dem Haus. Seine Tochter war versorgt und er konnte kopflos handeln. Das musste schnell geschehen, bevor er es sich anders überlegte, so gut kannte er sich schon.

Mit klopfendem Herzen stürmte er den Agenturkomplex, ignorierte die Empfangsdame, die ihm einen guten Morgen wünschte und sprang in den Aufzug, der sich gerade fortbewegen wollte. Mit seinem Schlüssel nahm er sich sein Privileg, den Fahrstuhl allein zu nutzen. Auf der obersten Etage angekommen, betrat er auf schnellstem Weg Christians Büro, der ihn scheinbar noch nicht bemerkt hatte und sich stattdessen mit dem Telefon am Ohr der Aussicht widmete.

Im Moment konnte es allerdings nichts Wichtigeres geben, als das Ungesagte auszusprechen. Also zog Stephan kurzerhand die Schnur des Telefons aus der Buchse in der Wand.

Christians Blick brachte ihn zum Lachen, denn der sah ziemlich perplex auf das Telefon. Dann wandte er sich um, Stephans Lachen verstummte, stattdessen sahen sie einander an.

„Was machst du hier?“, brachte Christian stockend heraus.

Nervös biss sich Stephan auf die Unterlippe. „John passt auf Susanna auf.“

„John war bei dir? Oh verdammt. Pass auf, egal was er zu dir gesagt hat, vergiss es, das muss dich echt nicht kümmern.“

„Nein? So sauer wie er war, schien es mir doch, als würde es mich was angehen.“ Langsam wie ein Raubtier schlich Stephan um den großen Schreibtisch von Christian herum.

„Ich … ich hab mich etwas bei ihm ausgelassen, aber wusste doch nicht, dass er gleich zu dir rennt und dir alles auf die Nase bindet. Gott, ist das unangenehm.“ Verlegen setzte Christian sich auf seinen Bürostuhl und ließ den Kopf hängen. „Ich meine, verdammt, Steph, ich bin nicht blind. Seit Monaten bist du komplett anders, offener, ehrlicher, fröhlicher. Deine Tochter hat dich verändert und vor allem noch attraktiver gemacht. Ich hab halt Augen im Kopf und ich mag dich schon seit der Studienzeit.“

Es war Balsam für seine vernarbte Seele, die die letzte Zeit derart gelitten hatte. „Ehrlich, das hast du mich nie spüren lassen.“

„Wie denn auch, ich wusste da ja nicht mal, dass du ebenso auf Männer stehst. Und seit ich es weiß … wir sind Geschäftspartner und es ist besser, wenn wir die Distanz waren, um unsere Agentur zu führen.“ Christian schwieg und Stephan, der hinter ihm stand, konnte sich vorstellen, wie er die Augen verwundert umherwandern ließ. „Schon wieder ohne einen Ton weg. Ach verdammt!“ Wütend fuhr Christians Hand über den Schreibtisch und fegte diesen leer. Mit einem Ruck drehte Stephan den Bürostuhl zu sich um und nahm auf dem Schoss seines Partners Platz. Die grünen Augen sahen ihn erschrocken an.

„Schon wieder?“, fragte Stephan interessiert.

„In der Nacht, nach dem Clubbesuch, du bist einfach gegangen. Ohne was zu sagen …“

„Ich hatte es so verstanden, eine Nacht, nicht mehr und nicht weniger. Woher hätte ich wissen sollen, dass du mehr willst? Ein Glück gibt es John.“ Ganz sanft streichelte Stephan Christians Wange und kam ihm noch näher.

„Die Agentur, deine Tochter und …“

„Die Agentur wird hierunter nicht leiden und meine Tochter? Wir haben einen Mann für Papa gesucht, wenn du den Platz einnehmen möchtest, wäre sie sehr glücklich. Sie mag dich nämlich, weißt du?“

„Ich sie auch … Steph, du bist dir sicher? Wenn du mich jetzt küsst, gebe ich dich nicht mehr her.“
„Sehr gut!“, damit trafen sich ihre Lippen.

Nach gefühlten Stunden trennte sich Christian, atmete tief durch. „Du solltest jetzt aufstehen.“ Nervös rutschte dieser auf dem Sessel herum.

„Und wenn nicht?“, rieb sich Stephan an dessen Unterleib.

„Leg ich dich auf dem Schreibtisch flach.“ Die Ernsthaftigkeit der Worte war nicht zu überhören und doch konnte Stephan es nicht unterlassen, seinen Partner zu reizen, bis dieser ihn auf den Tisch hob.

Was beiden nicht auffiel, war der Aufzug, der aufging und drei Minuten später wieder mit dem neuesten Mitarbeiter der Firma hinabfuhr.

 

Alles nur aus Liebe

Seth und Florian

Schwer seufzend legte Seth seinen Kopf auf den Schreibtisch, der ihm zugewiesen worden war. Von draußen prasselte der Regen gegen die Fensterfront. Zugegeben, das war eins der schönsten Büros, in denen er bisher gesessen hatte und doch … Seine Arbeitskollegen hörte er immer noch freudig lachen über das, was er in der Chefetage zu sehen bekommen hatte. Seth selbst fand das überhaupt nicht in Ordnung, nicht dass er etwas dagegen hatte, dass sich seine zwei Chefs miteinander vergnügten, aber doch bitte nach der Arbeit und vor allem nicht in den Büroräumen, wo jeder ungehindert Zutritt hatte. Gab es denn keinen Anstand mehr auf dieser Welt? Er wollte sich lediglich bei Stephan Black vorstellen, der nach Informationen der Empfangsdame das Gebäude betreten hatte. Tja, und als Seth die Chefetage betrat, sah er beide Agenturoberhäupter in einem leidenschaftlichen Austausch von Körperflüssigkeiten, welche sie auf dem Schreibtisch von Christian White zelebrierten. Im Normalfall hätte Seth diese Aussicht genossen, beide Männer waren eine Augenweide und sicherlich würde er keinen der beiden von der Bettkante stoßen, jedoch im Moment… Sein Leben war ein Scherbenhaufen, sein Freund hatte ihn abserviert wie ein benutztes Taschentuch. Davor hatte er Seth allerdings noch geoutet und somit den Zorn der Familie Bolin auf sich und ebenso den einzigen Sohn der Familie gezogen. Seth war im hohen Bogen aus dem Haus seiner Eltern geflogen, mit Vorwürfen, die absolut haltlos waren. Denn plötzlich gab man ihm die Schuld daran, dass seine Schwester sich allerhand Geschlechtskrankheiten zuzog. Denn das war ja typisch für Schwule. Nur durch sie wurde es übertragen, das hatte Seth bis zu diesem Tag zwar nicht gewusst, aber als sehr informativ erachtet. Es bewies mal wieder, dass seine Eltern nicht nur komplett bescheuert, sondern auch noch wortwörtlich dumm waren.

 

„Seth Bolin?“, rief plötzlich jemand seinen Namen. Alle Büros in dieser Etage waren, wie das der Chefs, mit Glasfronten versehen, es gab somit nichts, was man nicht sah. Ob das der kompletten Kontrolle diente oder eher freundlicher wirken sollte, konnte Seth nicht sagen. Nun war auch nicht der richtige Augenblick, sich darüber Gedanken zu machen, stattdessen erhob er sich und ging in den Flur. Dort stand Stephan Black an der Sprechanlage, die jedes Büro erreichte.

„Da ist er. Herzlich willkommen bei uns in der Agentur.“

„Ich danke für die Chance bei Ihnen arbeiten zu dürfen, Mister Black.“

Der dunkelhaarige Mann mit dem Dreitagebart sah ihn nun stirnrunzelnd an, bevor er die Sprechanlage abermals betätigte. „Florian, bitte in den Flur.“

Ein schmaler Mann, mit gerauften schwarzen Haaren und einer typischen Streberbrille auf der Nase, trat aus einem Büro. Verwundert sah Seth, dass dessen Glasfront nicht durchsichtig war.

„Hallo Stephan, wie geht es Susanna?“, trat Florian, wie ihn der Layout-Chef nannte, zu ihnen.

„Besser, ich bin aber auch gleich wieder weg. Hast du ihn nicht richtig eingewiesen?“

Seth kam sich vor, als würde er gar nicht existieren, so wie Black über ihn sprach.

„Ich habe ihm ein Memo zukommen lassen, mit allen Regeln und Informationen der Firma, wie wir es bei jedem Neuen machen.“ Irritiert stupste der Kleine seine verrutschte Brille wieder auf die richtige Stelle.

„Florian, einweisen heißt nicht ein Memo zu verschicken.“ Nachsichtig lächelnd schüttelte Stephan den Kopf. „Also, Seth. Hier duzen wir uns, es gibt kein Sie. Kommst du nicht damit klar, du kennst sicherlich den Ausgang. Dein Büro kannst du mit dem „Lichtschalter“ direkt an der Wand isolieren, damit keiner hineingucken kann. Licht geht hier automatisch an oder aus, je nach Sonnenintensität. Du bist für Texte und Layouts eingestellt worden und natürlich erlauben wir uns einen Test. Für diesen Kunden wirst du bis morgen einen ersten Entwurf fertigstellen. Schaffst du das nicht oder traust es dir nicht zu, steht es dir frei zu gehen. Wo du deine Arbeit erledigst, ist uns an sich egal. Florian ist auch fürs Inventar zuständig und kann dir einen Laptop mit neuester Technik zur Verfügung stellen. Lediglich zu Meetings hast du hier zu sein. Noch Fragen?“

Seth stockte der Atem, bis er sich wieder besann. „Nicht wirklich, damit sind alle Fragen beantwortet!“ Er nahm den Zettel seines Chefs entgegen und sah sich den Kunden an. Ein Parfümhersteller, dessen neues Produkt beworben werden sollte, mit dem Namen Couple. Bis morgen einen Entwurf zu machen, war an sich nicht zu viel verlangt, wenn es sich nicht gerade um einen Duft für Verliebte handeln würde. Kurz spielte Seth mit dem Gedanken, seine Sachen zu packen, doch was dann? Schließlich hatte man ihn offiziell abgeworben und sein alter Chef hatte das schmunzelnd wahrgenommen, während er ihm hämisch alles Gute wünschte. Black & White war für Perfektionismus bekannt. Wer es einmal in ihr Team schaffte, war in jeder Werbeagentur angesehen. Und doch dauerte es, bis man sich bewiesen hatte und dazu gehörte. Hart, aber herzlich, unnachgiebig, aber loyal. So die Gerüchte, die sich um die beiden Chefs rankten.

„Florian, ich erwarte, dass du ihm alles gibst, was er braucht. Wenn was ist, Christian und ich sind per Handy jederzeit zu erreichen, aber bitte nur im Notfall!“

„Selbstverständlich.“

„Seth, wir sehen uns.“

Schon war Stephan Black weg. Etwas überfordert mit dessen Art sah Seth zu Florian, doch auch dieser war schon losgegangen. „Komm!“, forderte er ihn auf. Seth musste schon bald rennen, um dem Mann zu folgen, dessen Hinteransicht ein Ziehen in seiner Lende auslöste. Es wurde eindeutig Zeit, Druck abzulassen, aber sicher nicht in der Firma, auch wenn er dem Hintern nicht abgeneigt war. Klein, schmal und wenn er seine Handflächen und dessen Backen betrachtete, würden sie sicher miteinander harmonieren. „Ich kann dir gerne ein Bild machen lassen!“

„Bitte?“ Irritiert sah Seth auf, doch Florian hatte sich nicht umgedreht.

„Wenn dir mein Hintern so gut gefällt, kann ich dir ein Foto machen, dann brauchst du nicht so offensichtlich in der Öffentlichkeit zu starren.“

„Habe ich gar nicht!“

Langsam drehte sich das Objekt seiner Begierde um. „Ich bin nicht blind und dein Blick hat mich fast ausgezogen. Wenn du ein Foto brauchst, sag es, aber hör auf, mir auf den Arsch zu starren!“

Das schlug nun wirklich dem Fass den Boden aus. Was fiel diesem Kerl ein? Seth traute seinen Ohren nicht, setzte zu einer Antwort an, doch dann sah er seinem Gegenüber in die Augen. Bernsteinfarbige Iriden funkelten ihn an und verschlugen ihm komplett die Sprache. Statt etwas zu erwidern, nahm er den Laptop in Empfang, welchen Florian aus einer Kammer nahm. Woher diese plötzlich kam, wusste Seth nicht, es war ihm auch schlichtweg egal. Gerade hatte er genug damit zu tun, diese Augen aufzunehmen, die er nicht einzuordnen wusste. Doch eins war klar, er kannte sie bereits und das sicher nicht aus irgendeinem Darkroom. Es war ein warmes Gefühl in ihm, was eher auf eine Art Freundschaft tippen ließ. „Kennen wir uns?“, fragte er nun geradeheraus.

„Du heißt Seth, ich Florian, wir haben uns schon am Telefon unterhalten, somit gehe ich davon aus, dass wir uns nicht unbekannt sind. Nun entschuldige, meine Arbeit wartet auf mich.“ Damit wandte sich Florian ab und fuhr sich durch sein schwarzes Haar. Seth konnte nur starren, kam sich irgendwie vor wie im falschen Film, doch warum verstand er nicht.

Wahrscheinlich lag es an seiner mentalen Verfassung, die momentan wirklich nicht die beste war. Das Outing, die Trennung, der Umzug, der Bruch mit seiner Familie, das alles schien ihm näher zu gehen, als er wahrhaben wollte. Im Moment konnte er nur noch einen Gedanken verfolgen und der war, aus der Agentur zu verschwinden. Eilig packte er seine Sachen und machte sich auf den Heimweg. Zumindest wenn man es so nennen wollte. Das Apartment, was man ihm besorgt hatte, war lieblos eingerichtet und gerade mit dem Nötigsten bestückt.

Erschöpft ließ Seth seine Sachen auf den Boden gleiten und sich selbst die Wand hinab. In Selbstmitleid versinkend schloss er die Augen und hoffte, dass alles nur ein Traum war.

 

Florian lehnte schwer atmend an seiner Bürotür. So hatte er sich die Begegnung mit Seth nicht vorgestellt, vor allem nicht, dass dieser ihm … Herrgott, Seth Bolin hatte ihm auf den Arsch gestarrt … was war das für eine verdrehte Welt? Der Frauenheld aus Highschool-Tagen starrte einem Kerl auf die Kehrseite? … Irgendwas hatte Florian verpasst. Im Nachhinein fragte er sich auch, wieso er Seth nicht erzählt hatte, woher sie sich kannten. Vielleicht aus Angst, dass der andere nicht mehr wusste, wer er war? Oder eher die Befürchtung, dass Seth herausfand, wieso er die Stellung hier bekommen hatte? Florian wollte sich nicht erklären, lediglich eine alte Rechnung begleichen.

Seufzend stand er da und seine Augen wanderten durch das Büro, blieben auf einem Päckchen hängen. „Verdammt!“ Das hatte er vergessen. Eilig suchte er die Handynummer von Seth raus und schickte ihm eine Kurznachricht, dass das Paket der Parfümfirma noch im Büro lag, was ihm eventuell helfen würde bei seiner Idee. Wieso er ausgerechnet seinen Namen darunter geschrieben hatte, fragte er sich, nachdem die Nachricht fort war. Seth brachte ihn aus dem Konzept und das war gar nicht gut.

 

„Sag mal Flo, hattest du schon mal eine Freundin?“

„Nein!“

„Du bist fast 17 Jahre, meinst du nicht, es wird mal Zeit, oder stehst du etwa auf Kerle?“

Florian ignorierte das spöttische Grinsen seines Klassenkameraden. „Ja!“, antwortete er stattdessen ehrlich.

„Scheiße, der Kleine steht auf Kerle! Rettet eure Ärsche!“, hallte es durch die Umkleide. Ergeben senkte Florian seinen Blick. Wieso hatte er auch ehrlich auf die Frage seiner Klassenkameraden geantwortet? Gerade waren sie vom Sportunterricht gekommen und zogen sich um.

„Sicher nicht auf deinen, wenn es dich beruhigt!“ Seine Stimme klang gelangweilt und desinteressiert. Woher er diese, als Coolness bekannte, Art nahm, wusste er nicht.

„Ach, hast du auch noch Ansprüche? Ich dachte, solche Typen wie du wären um jeden Schwanz froh, den sie lutschen dürfen!“ Dabei packte der Kerl seine Schultern und versuchte ihn nieder zu drücken.

In dem Moment ging die Tür zur Umkleide auf und das Footballteam mit seinem ältesten Bruder tauchte auf. Genau dieser schien mit einem Blick die Situation zu erfassen.

Tom war schon 18, spielte seit Jahren Football und war angesehen, doch all das interessierte ihn nie, wenn einer sich an seinen Geschwistern verging. Florians Homosexualität war in der Familie bekannt und akzeptiert. „Finger weg von meinem Bruder!“

„Uhhh, soll ich Angst vor dir haben, Kennedy? Dein Bruder ist eine Schwuchtel und du?“

Statt Tom drängte sich Seth Bolin vor, riss den Klassenkameraden von Florian weg und drängte ihn an die Wand, während seine Hand den Hals umfasste. „Pass mal auf, du hast die Finger von Florian zu lassen, solltest du das nicht tun, wirst du ein schweres Leben haben. Ich mach dich fertig!“

Das war der Beginn der Freundschaft von Florian zu der Footballmannschaft. Wieso sich diese auf seine Seite gestellt hatten, wusste er nicht, auch sein Bruder hatte sich diesbezüglich nie geäußert. Doch gerade bei Seth stand er in der Schuld. Der Mädchenschwarm der Schule verbrachte jede Pause bei ihm, begleitete ihn selbst zu manchen Freizeitaktivitäten. Bis Florian ein Jahr später ging. Die Eltern hatten sich getrennt und seine als Lehrerin arbeitende Mutter hatte sich versetzen lassen. Florian ging mit ihr, Tom und ihr jüngster Bruder Noah hatten sich für den Vater entschieden.

 

Florian hasste es, an die Vergangenheit zu denken, auch wenn sie ihm immer wieder schöne Frequenzen seiner Jugend zeigte, konnte er die Zeit seiner „Selbstfindung“, wie es seine Mutter bezeichnet hatte, nicht leiden. Das waren mittlerweile gut zehn Jahre her und seither hatte sich so viel verändert. Seine Haare färbte er sich seit Jahren schwarz, um nicht mehr als kleiner blonder Twink aufzufallen. Diese Bezeichnung hatte ihn schon immer gestört. Den Genen sei Dank, oder eben nicht, sah er verdammt jung aus. Als er sich vor vier Jahren bei Stephan und Christian vorgestellt hatte, dachten diese erst, er wollte ein Praktikum bei ihnen machen … welch Trugschluss das war, hatte er ihnen bewiesen. Sie waren gerade an den Kalkulationen für ihre Preise dran und Florian zeigte den zwei Männern, dass sie sich so in den Ruin arbeiten würden. Seither hatte er das Rechnungswesen der Firma übernommen. Alles, was mit Zahlen zu tun hatte, war seine Arbeit. Die Chefs vertrauten ihm und das war mehr Lob, als Florian je erwartet hatte.

Ein zaghaftes Klopfen holte Florian aus seinen Gedanken und als er die Tür öffnete, stand ein durchnässter Seth vor ihm. „Ich wollte das Paket holen.“ Die Schultern hingen, seine Mimik war versteinert, obwohl Florian meinte, Schmerz in den Augen erkannt zu haben.

„Klar, steht da. Willst du ein Handtuch?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, zog Florian eines aus seinem Büroschrank. Dank seines „Glückes“ kam er meistens in einen Regenguss und somit nass im Büro an. Wechselkleidung und Handtücher lagen seither in dreifacher Ausführung in seinem Schrank.

„Danke. Was ist in dem Päckchen?“

„Ich weiß es nicht. Guck rein.“

Das tat Seth und Florian beobachtete ihn, wie er es vor zehn Jahren schon gerne tat. Heimlich selbstverständlich, wie hätte er auch erklären sollen, wieso er den besten Freund seines Bruders anhimmelte. Damals war er davon ausgegangen, dass sich Seth nur für Mädchen interessierte … doch seit dem Morgen war er sich da nicht mehr so sicher. Wie früher kaute Seth voller Konzentration seitlich auf den Lippen, während sich seine Stirn runzelte. „Parfüm, soll ich das jetzt auch noch testen?“ Augenverdrehend öffnete er eine der Schachteln, entnahm eine lilafarbene Flasche. Den Zerstäuber auf sein Handgelenk gerichtet, sprühte er die feinen Tröpfchen auf seine Haut. „Riecht nach Flieder … Oh Mann.“ Florian roch keinen Flieder, schloss bei dem Geruch, der bei ihm ankam, genussvoll die Augen. Frisch gebackener Schokoladenkuchen mit einem flüssigen Kern … er schmeckte es förmlich. „Du magst Flieder?“

„Nein, aber den Geruch von frisch gebackenem Schokoladenkuchen … Es ist fast so, als würde er vor mir stehen.“

Seth sah ihn irritiert an. „Du riechst was anderes als ich?“

„Scheinbar, gib mal her!“ Schon entnahm er ihm den Flakon und sprühte das Parfüm auf seinen Arm. „Flieder? Scheinbar hast du recht … Aber wie komm ich dann auf … was ist?“

Nun war es an Seth, die Augen genussvoll zu schließen. „Kakao mit Sahne und Schokoladenraspeln … Aber nicht dieses Pulverzeug, der richtige Kakao …“ Langsam leckte er über seine Lippen und neigte sich Florian zu. Dieser trat mit aufgerissenen Augen zurück. 

„Hey, was hast du vor?“ 

Wie benommen öffnete Seth die Augen und entfernte sich verlegen. „Entschuldige, der Duft war zu verlockend.“

„Okay … aber wieso riecht es so verschieden? Steht da was dabei?“

Seth packte das Paket weiter aus und versuchte, nicht dem Drang nachzugeben, wieder näher zu Florian zu rücken. Neben allerhand Einpackpapier fand er dann eine Produktbeschreibung. „Couple, ein Parfüm, das bei jedem Menschen anders wirkt. Das Produkt geht mit den Hormonen der Person eine Verbindung ein, so dass es einen individuellen Duft entstehen lässt. Die Person selbst riecht es an sich als Flieder, doch auf die Menschen in der Umgebung wird es jeweils eine andere Duftrichtung haben. Blumige Düfte lassen auf Sympathie deuten, scharfe bis beißende eher auf Abneigung. Von tieferer Zuneigung spricht man bei Obst oder süßen Düften.“

„Das ist doch ein Witz!“, kommentierte Florian, schmiss die Flasche in den Karton und reichte alles zu Seth. „Viel Erfolg. Meeting ist um neun, dann sollte dein Entwurf stehen.“ Dass er sein Gegenüber damit vor den Kopf stieß, war ihm nur allzu bewusst, doch sein Körper kribbelte, der Geruch wollte nicht mehr aus seiner Nase weichen und ließ Erregung in ihm aufsteigen. Die musste er unterdrücken, denn es hatte sowieso keinen Sinn. Nie wieder würde er jemanden an sich heranlassen.

Kaum hatte Seth das Büro verlassen, sackte Florian an der Wand hinab, presste seine Hand auf seinen schmerzenden Penis und versuchte, sich die Erregung wegzudrücken. Er hasste dieses Gefühl, welches sein Gehirn vernebelte und ihn zu einem willenlosen Etwas werden ließ. Was andere genossen, hatte er mehr als einmal bereut, dank seines Ex, doch an diesen wollte er nicht denken. Stattdessen setzte er sich an die Rechnungen, die raus mussten und verdrängte so die Gedanken der Vergangenheit.

 

Wieso war Seth eigentlich so schnell ins Büro zurückgekommen? Nur weil dieser Kerl ihm geschrieben hatte? „Natürlich nicht!“, raunte er zu sich selbst. „Das Paket, nur deshalb!“ Umso öfter er sich das einredete, schien es auch Früchte zu tragen, wenn dieser Geruch in seinem Riechorgan nicht gewesen wäre. Kakao mit Sahne und Schokoraspeln, alles frisch zubereitet, wozu benötigt man da schon Fertigprodukte. Es gab nichts Besseres, um die Nerven zu beruhigen und Seth‘ waren zum Zerreißen gespannt. Also wieder im Eiltempo durch den Regen nach Hause, dort stellte er sich sofort vor den Herd und strampelte seine nassen Klamotten ab, während er den Topf beobachtete, in dem die Milch langsam anfing zu köcheln.

 

„Ich dachte, du liebst mich.“ Standhaft hielt Seth seine Tränen zurück und sah seinem Ex-Freund in die Augen.

„Liebe, du machst immer so, als wäre das so ein großes Wort. Ich liebe auch den Fernseher und wechsle ihn durch ein besseres Modell aus.“

In dem Moment brach alles in Seth. Hatte ihn der Mann, mit dem er seit einem Jahr das Bett teilte, ernsthaft mit einem Fernseher verglichen? Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hatte sich Seth abgewandt und war gegangen. Die Kälte der Nacht berührte ihn nicht, den weinenden Himmel ignorierte er geflissentlich, was war das alles schon wert? Er hatte nichts mehr, keine Familie, keinen Freund, keine Liebe. Tränen mischten sich mit dem Regen und blieben somit ungesehen. Das dumpfe Gefühl in seinem Inneren schien sich auszubreiten. Blind lief er durch die Nacht. Was sollte jetzt werden?

Durchnässt, zitternd, mit blauen Fingern fand er sich auf einer Brücke wieder, sah hinab auf den Fluss, der durch den Dauerregen in die Breite gegangen war. „Wenn ich nicht so feige wäre …“ Seine eigene Stimme verstummte durch eine eingehende Nachricht. Ein kleiner Hoffnungsschimmer machte sich in ihm breit, vielleicht hatte es sich sein Freund anders überlegt.

Es war nur eine E-Mail. Irritiert sah Seth den Absender Black&White … was wollten die von ihm? „Stellenangebot als Werbetexter und Grafiker!“ Erst wollte Seth sie löschen, doch dann fiel sein Blick auf den Ring, den er vor einem halben Jahr von seinem Ex bekommen hatte. Mit Mühe streifte er ihn ab und schmiss ihn in den Fluss. „Viel Spaß mit deinem Fernseher!“, schrie er dem Ring nach, sank zu Boden und vergaß alles um sich herum, während seine Tränen zu einfachem Wasser wurden.

 

Die Gedanken verdrängend nahm Seth seinen Kakao und zog sich damit auf die Couch zurück. Den Laptop auf den Beinen wartete er, dass sich dieser hochfuhr und preisgab, was er in sich beherbergte. Genüsslich schlürfte Seth am Kakao, den er dann missmutig betrachtete. Dieser schmeckte nicht so wie sonst. Stattdessen dachte er an Florian und dessen Geruch, der viel intensiver war, als es je diese braune Brühe in seiner Hand sein konnte. Deprimiert stellte er die Tasse weg und begab sich stattdessen daran, was er bis zum Morgen fertig haben musste. Gedanken an die Vergangenheit oder Gegenwart brachten ihn nicht weiter. Seth atmete tief durch und begann alles aufzuschreiben, was ihm zu dem Parfüm einfiel. Als er das letzte Mal auf seinen Bildschirm blickte, war ein Rohentwurf zu sehen, der Text stand und er klappte den Laptop zu.

Mit einem bedrückenden Gefühl in der Brust ging er ins Bett und versuchte, in einen ruhigen Schlaf zu gleiten. Stattdessen verfolgte ihn der Geruch nach Kakao und braune Augen, die ihn verschreckt ansahen und doch auch forsch und herausfordernd. Selbst im Traum fragte er sich, woher er Florian kannte.

Der Morgen verlief in geregelten Bahnen. Seth stand um sieben auf, gönnte sich einen Kaffee und ein Brötchen, bevor er sich für die Arbeit fertig machte. Das Wetter versprach einen schönen Tag und die gute Laune stellte sich von alleine ein. Pünktlich stand er im Konferenzbüro und präsentierte seinen ersten Entwurf.

Stephan saß mit der Lupe darüber und dann zoomte er das Bild am Laptop näher. „Du musst die Ränder besser bearbeiten, auf einem Plakat würde es einem direkt ins Auge springen.“

„Ich werde darauf achten“, mühsam unterdrückte Seth ein Grummeln, er hasste es, kritisiert zu werden.

„Der Text ist nicht schlecht, aber findest du die Behauptung, mit dem Parfüm die Liebe zu finden, nicht etwas übertrieben?“ Christian sah ihn stirnrunzelnd an. Statt einer Antwort reichte Seth seinem Chef den Flakon. Kritisch schnüffelte Christian daran, sprühte es erst Stephan und dann sich auf die Hand. Was dann folgen würde, ahnte Seth schon und packte seine Sachen zusammen. Doch so schnell kam er nicht weg, da fingen seine Chefs bereits an, sich zu küssen. In seiner Eile stieß Seth gegen das Parfümfläschchen, welches auf dem Boden landete und zerbrach. Die Flüssigkeit tränkte seine Hose, doch das war ihm jetzt egal. Während Stephan sich gerade auf Christians Schoß niederließ und der dessen Hemd aufknöpfte, stürmte Seth auch schon zum Aufzug. Er hatte nichts gegen Verliebte, doch es ging eindeutig zu weit, dass er die zwei abermals in solch einer prekären Situation sah.

Doch wie das so ist, bei einem Unfall sollte man auch nicht hinsehen, tut es aber trotzdem. Schmunzelnd verbarg sich Seth hinter der Fahrstuhltür und war froh, als sich diese schloss. Er würde unten von einer Konferenzschaltung erzählen, damit die zwei ihre Ruhe hatten. Liebe war an sich etwas Schönes und selbst wenn sein Herz noch nicht verheilt war, gönnte Seth anderen ihr Glück. Schließlich dachte er vor weniger als zwei Wochen auch noch, er wäre auf Wolke sieben, dabei war er da schon am Fallen gewesen. Es gab so viele Anzeichen, wie er im Nachhinein feststellte, doch er hatte nicht eines ernst genommen.

Als sein Ex ihm dann auch noch vor seiner Familie die Zunge in den Hals steckte, in den Schritt griff und die schockierten Eltern angrinste, spätestens da hätte Seth es wissen müssen. Einen Tag später bestätigte es sich dann auch. Es war enttäuschend, dass dieser Mistkerl sich nicht dafür interessierte, dass Seth sich noch nicht outen wollte.

Seufzend trat er aus dem Fahrstuhl und stieß prompt mit Florian zusammen. Dieser sah schlicht gesagt beschissen aus, tiefe Augenringe, zerzaustes Haar und die Schultern hingen herunter. Gerade als Seth fragen wollte, ob er ihm helfen könnte, wurde er zurück in den Fahrstuhl gedrückt, dessen Tür sich schloss, und fand sich schon bald an der Aufzugwand wieder. Florian stand eng an Seth gepresst. Dann schien ihm erst bewusst zu werden, was er tat und suchte Abstand. „Entschuldige, der Geruch…“

„Mir ist die Flasche zerbrochen.“ Seth war zu irritiert, als dass er außer diesem Satz etwas herausbekam.

Die glühenden braunen Augen fixierten seine Lippen und dann spürte er sie. Florian küsste ihn, nicht zart und alles andere als liebevoll, jedoch konnte Seth nichts dagegen tun, dass er es trotzdem genoss.

„Fuck!“ Fluchend trennte sich Florian und zerzauste sich sein Haar noch mehr. Und dann erkannte Seth ihn.

„Flo … Florian Kennedy, du bist der Bruder von Tom.“

Die sich öffnende Tür kam Florian scheinbar nur recht, denn schon rannte er raus. Sprachlos sah Seth ihm hinterher, verstand nicht wirklich, was passiert war. Gerade kosteten sie voneinander und nun stand er alleine da, mit wirren Gedanken und einem Kribbeln in den Lenden. Was war nur in den Typ gefahren, lag es daran, dass er wieder wusste, wer er war?

In Gedanken versunken ging er zu seinem Büro und fragte sich, was er jetzt tun sollte. Unbewusst öffnete Seth den Laptop und suchte Tom Kennedys Nummer.

Seinen Freund aus Schultagen anzurufen, war sicher nicht die Lösung für seine Fragen, die ihm im Kopf herumschwirrten, jedoch gab es ihm Halt wie in früheren Zeiten.

„Kennedy!“
Das Glück war Seth hold und so hatte er direkt seinen alten Freund am Telefon. „Bolin, guten Tag!“

„Seth?“

Das Erstaunen konnte er hören und sich ein Lachen nicht verkneifen. „Hallo, wie geht’s dir?“

„Gut … ich bin nur gerade erstaunt. Seth Bolin, wir haben uns mindestens fünf Jahre nicht gehört.“

„Es sind schon sechs, aber ich will nicht überkorrekt erscheinen. Ich habe eben an dich denken müssen und dachte, es wäre an der Zeit, mich mal zu melden.“

„So? Und wieso musstest du an mich denken?“

Seth atmete durch, unterdrückte, die letzten Minuten wieder wachzurufen. „Ich arbeite jetzt in einer Werbeagentur … Black und White …“

„Du arbeitest mit Flo zusammen? Wie geht es ihm?“ Aufregung klang in der Stimme seines ehemaligen Schulkameraden mit.

„Recht gut, würde ich behaupten. Ich hab ihn erst nicht erkannt. Aber solltest du das nicht besser wissen als ich?“

„Nun ja … seit er mit Mutter weggegangen ist, haben wir uns selten gesehen, wie du weißt, und seit er seinen Freund hat, erst recht nicht.“

Die Information sackte nur langsam in Seth’ Gehirn. „Freund?“

„Den hatte er zumindest vor ein paar Jahren und da ging es ihm alles andere als gut. Er war abgemagert und aschfahl.“

„So sieht er nicht aus. Wirklich nicht. Florian ist schmal wie immer, also wie er schon in der Schule war, aber sonst erscheint er mir recht gesund und mit genügend Schlaf.“

„Das beruhigt mich wirklich. Wieso rufst du tatsächlich an?“

Tom kannte ihn zu lange und viel zu gut. „Er verhält sich etwas merkwürdig. Ich bin überzeugt, er weiß, wer ich bin, aber hat sich nichts anmerken lassen. Was mich natürlich etwas irritiert.“

„Merkwürdig, eindeutig, aber da kann ich dir nicht helfen, oder gar sagen, was ihn dazu bewegt hat. Wieso fragst du ihn nicht einfach, soll ich dir seine Adresse geben?“

Die Idee war genial und kaum dass Seth sie notiert hatte, war ihr Gespräch auch schon beendet und er auf dem Weg zu seinem Wagen. Hoffentlich war Florian überhaupt zu Hause und hatte sich nicht bei irgendeinem Freund verkrochen, an den Seth nicht denken wollte. Er hätte ihn doch nicht geküsst, wenn er …

Grummelnd stieg Seth aus seinem Auto und ging auf das Mehrfamilienhaus zu, zu welchem ihn die Adresse geführt hatte. Ein Blick reichte und zeigte ihm die Klingel zu Florians Wohnung. Doch ob dieser ihm überhaupt öffnen würde, wenn er sich über die Gegensprechanlage meldete, war fraglich. So entschied sich Seth, bei einem Nachbarn zu klingeln. Mit einer Ausrede wartete er auf eine Reaktion, doch ihm wurde lediglich die Tür per Summer geöffnet, ohne überhaupt zu fragen, wer er war. Fünf Minuten später klopfte Seth gegen die Tür, die den Namen Kennedy auswies.

 

Mit gesenktem Blick öffnete Florian die Tür und rieb sich müde durchs Gesicht, bevor er aufsah und die Augen aufriss. „Was … wie …“

„Tom hat mir deine Adresse gegeben, er lässt dich grüßen und schien sehr besorgt um dich.“

„Tom? Oh Gott, was hast du ihm erzählt?“

„Nichts, er fragte nach dir und war recht erstaunt, dass es dir nicht so schlecht geht, wie er wohl erwartet hat.“

Die Erleichterung stand Florian ins Gesicht geschrieben. „Gut, und nun geh bitte!“

Seth traute seinen Ohren nicht. „Wie, ich soll gehen, wieso? Ich wollte was mit dir klären.“

„Ein anderes Mal, versprochen, aber jetzt musst du wirklich gehen.“

„Wieso bist du so nervös? Erwartest du deinen Freund?“ Wie er das Gefühl in sich beschreiben sollte, wusste Seth nicht, doch irgendetwas in ihm verlangte sich das Recht heraus, diese Frage zu stellen.

„Nein … ja, also …“ Florian sackte regelrecht in sich zusammen. „Mein Ex kommt und holt seine letzten Sachen ab und wenn er dich hier sieht .... ich weiß nicht, wie er reagiert.“

„Was soll das heißen?“ Ein unwohles Gefühl breitete sich in ihm aus. Die Worte von Tom kamen ihm in den Sinn … die Besorgnis, der angeblich schlechte Zustand.

In dem Moment schlug im Flur die Haustür des Mehrfamilienhauses zu und schwere Schritte erklommen die Treppe. „Verdammt.“ Florian atmete hastig und fuhr sich fahrig durchs Haar.

„Wie lange seid ihr getrennt?“

„Sechs Monate … ich konnte das nicht mehr und … verdammt, was jetzt?“

Seth sah die blonden Haare, die zuerst von Florians Ex zu sehen waren, dann tauchte dieser komplett auf. Gerade hatte er noch mit einem Bär von einem Mann gerechnet, doch dann stand da eher ein Durchschnitts-Exemplar. Ungefähr seine Größe, somit 180 Zentimeter, blonde kurze Haare und grüne Augen blitzten ihm schon bald entgegen. Ein leichter Bauchansatz wurde von einem hautengen T-Shirt gefangen gehalten. Abschätzend maßen sich ihre Blicke und Seth lehnte sich gelassen gegen den Türrahmen und sah zu Florian, der erstarrt wie eine Salzsäule die Luft anhielt.

„Wer ist das?“, raunte der Typ und entlockte Seth ein Schmunzeln. War der Kerl wirklich eifersüchtig?

„Das geht dich nichts an. Hol deine Sachen und verschwinde!“, regte sich Florian und zog Seth hinein. „Bleib jetzt bitte!“, flehte er ihn leise an. Seth nickte kaum merklich und stellte sich hinter seinen Arbeitskollegen, dessen Hände zitterten, als würde er eine Katastrophe erwarten. Dabei sah sein Ex nicht wirklich brutal aus und machte ihm nicht den Eindruck, als würde er Florian gefährlich werden können. Vor allem, was wollte der Typ nach einem halben Jahr? Dann verschlug es Seth die Sprache, der Namenlose fasste Florian an der Schulter, streifte mit seinem Daumen an dessen Schlüsselbein entlang.

Florian trat zurück, stand somit direkt an Seth gelehnt und versuchte, den Berührungen zu entkommen. „Lass mich in Ruhe, Lex, ich will das nicht!“

„Wie lange? Komm, sag nein und ich beweis dir, wie sehr du es willst!“ Lex trat wieder näher, erhob seine Hand, doch dieses Mal reagierte Seth und fing sie ab.

„Was verstehst du nicht? Dass du ihn in Ruhe lassen oder verschwinden sollst? Beides erläutere ich dir gerne.“ Langsam brodelte in ihm die Wut hoch. Die Bilder von ihrer Schulzeit blitzten in seinem Gedächtnis auf.

„Bist du sein neuer Stecher? Ich kann dich verstehen, ist schon Wahnsinn, was der Kleine alles für ein bisschen Streicheleinheiten macht, nicht wahr? Solange du in seinem Sichtfeld bleibst, kannst du richtig Asche mit ihm machen!“ Lex grinste, riss sich von Seth los, fuhr Florian mit den Fingern über die Lippen und zwinkerte. „Ich bekomm dich wieder.“ Mit diesen Worten ging er in ein angrenzendes Zimmer und verschwand samt einer Tasche aus der Wohnung.

Seth drehte Florian um, der sich sofort von ihm löste und an der Wand hinabrutschte.

„Was war das gerade? Flo?“

„Du hast doch gehört, was er gesagt hat, was soll ich dir da noch erklären?“

„Vielleicht, wie er das gemeint hat!“

„Dass ich so blind vor Liebe war, dass er mich verkauft hat, an jeden, der einen Schein springen ließ.“

 

Er hasste es, ehrlich zu sein. Florian kämpfte mit den Tränen, die sich unaufhörlich ihren Weg aus seinen Augen arbeiteten.

„Er hat dich prostituiert und du hast nichts dagegen getan?“

Florian wagte es nicht aufzusehen, aus Angst, Ekel zu erkennen, den er durchaus nachempfinden konnte. Der begegnete ihm jeden Morgen im Spiegel. Jedes Mal, wenn er Lust empfand, seine Hormone die Kontrolle über seinen Körper erlangten und ihn zu einem willenlosen Stück Fleisch machten. Wie viele Männer sich an und in ihm oder wie auch immer vergangen hatten, konnte er nicht sagen. Sein Blick war immer auf Lex gewesen und dann war für ihn alles gut. Die Therapie wegen der Sache hatte ihm klar gezeigt, wie sehr er seinen Gefühlen verfallen war und lehrte ihn deutlich, Abstand zur Liebe zu suchen. Auch wenn sein Therapeut was anderes sagte, war es für Florian die einzige Möglichkeit, dem Ganzen aus dem Weg zu gehen. Nie wieder würde er sich so auf einen Mann einlassen. Sich nicht mehr vergessen und willig folgen, nicht einmal seiner Jugendliebe, für den er extra einen Job frei gemacht hatte. Langsam hob sich sein Blick und er sah in Seth‘ mitfühlende Augen.

„Es war nicht gewollt, richtig? Wie hat er dich dazu gebracht?“

„Ich bin selbst schuld … ich hätte nein sagen müssen, doch ich hab alles um mich vergessen.“

„Du hast dich fallen lassen, hast ihm vertraut … was normal ist in einer Beziehung und er hat es schamlos ausgenutzt, hat DICH benutzt. Flo, dafür kannst du nichts!“

„Das sagte Chris auch, als er mich aus dem Club geholt hat, aber … Ich muss die Distanz wahren. Darf mich nicht vergessen, niemals mehr.“ Es war gerade Mittag und doch konnte Florian nichts dagegen tun, dass seine Augen eine Auszeit verlangten.

„Ich heb dich hoch und leg dich ins Bett, okay? Bitte erschrick nicht, Florian, ich bin dein Freund und will dir nichts tun … niemals!“ Das Letzte hatte Seth nur geflüstert und doch blieb gerade das Wort in Florian hängen. Es klang so ehrlich wie ein Versprechen, das ihm sein Freund schon vor Jahren gegeben hatte.

 

Sanft tupfte Seth an Florians Lippe mit einem Taschentuch entlang, trocknete seine Tränen und lächelte ihn aufmunternd an. „Sagte ich dir nicht, du sollst warten?“

„Hab ich doch, aber die haben mich hierher gezerrt.“

„Die bekommen ihre Abreibung, mach dir darüber keine Gedanken und ab jetzt wirst du immer auf Tom und mich warten, denn bei uns passiert dir nichts. Ich werde dir nie etwas antun, niemals! In Ordnung?“

„Versprochen?“

„Ein Eid auf mein Leben, Kleiner.“ Seth lächelte, drückte ihm das Taschentuch in die Hand und tauschte mit Tom den Platz, dann rannte er los.

Das nächste Mal, als Florian Seth sah, hatte er ein anschwellendes Auge, die Wange verfärbte sich und er grinste. Ebenso drei weitere Jungs des Football-Teams, die sich beglückwünschten, wie gut sie den „Arschlöschern“ ihre homophoben Gedanken aus dem Hirn geprügelt hatten.

Jeder hatte eine Verletzung, doch statt sich deshalb zu bemitleiden, hatten sie sich um Florian gekümmert. Sie versuchten, dessen Selbstbewusstsein aufzubauen und seine trüben Gedanken zu verscheuchen.

Doch niemand war ihm so in Gedanken geblieben wie Seth, denn dieser war den ganzen Tag an seiner Seite geblieben, hatte sich um ihn gekümmert und sich gleichzeitig einen ewigwährenden Platz in seinem Herzen geschaffen.

 

„Entschuldige, Christian, ich hab … oh Mann. Ähm, sag mal, hast du viel mit Florian zu tun … ja gut, pass auf, Lex war hier und … super, danke.“

Das Gehörte drang nur langsam in seine Gehirnwindungen, bis er verstand, was vor sich ging. Seth hatte Christian angerufen. Oh nein, das würde heute böse enden. Ergeben ließ er sich abermals in die Dunkelheit seines Schlafes ziehen und hoffte, den Besuch seines Chefs und gleichzeitig Vertrauten zu verschlafen.

 

„So Flori, jetzt atmest du tief durch und ich verspreche dir, dass du es genießen wirst.“ Lex fuhr ihm mit der Zunge über die Lippen, seinem Ohr entlang hinab bis zum Schlüsselbein. Florian verlor in diesem Moment seinen Verstand. Sein Körper war von Geilheit besetzt und wollte Erlösung. Lex nahm vor ihm Platz, vereinnahmte seinen Blick und winkte währenddessen den ersten an den Tisch, über den er seinen Freund gelegt hatte.

Hart und unerbittlich wurde Florian erobert, wollte schreien und sich dem entziehen, doch wurde von Lex angehalten: „Tu es für mich, für dich, du wirst sehen, so gut wurdest du noch nie gefickt.“ Abermals fuhr seine Zunge ihren Weg. Stellen, an denen Florian seinen Verstand verlor und zu einem willigen Stück Fleisch mutierte. Er ließ sich nehmen, von wie vielen, wie oft, konnte er nicht sagen, sah immerzu in die grünen Augen seiner vermeintlich großen Liebe.

 

„Florian, komm, wach auf. Flo, er ist nicht hier, du bist nicht dort, komm, wach auf!“

Langsam sackten die Worte in Florians Gehirn und als er die Augen öffnete, sah er Christian. „Chris?“

„Ja! Verdammt, wieso war dieses Arschloch hier und wieso hast du mir nicht Bescheid gesagt?“

„Ich … Mensch Chris, ich kann doch nicht immer zu dir kommen. Ich will nicht, dass Stephan was weiß und jetzt, wo ihr …“

„Was nichts daran ändert, dass ich dein Freund bin. Ich bin für dich da, wie im Club damals und werde es immer sein. Bin ich froh, dass Seth hier war.“

Florian richtete sich auf, lehnte sich gegen den Bettrücken und zog die Beine nah an seinen Körper. „Er will mich wieder.“ Unweigerlich erzitterte sein Körper, der Gedanke machte ihm Angst.

„Du ihn aber nicht, somit hat sich das erledigt. Schau mich an.“ Erst als Christian in seine Augen sehen konnte, sprach er weiter. „Ich lasse das nicht zu.“

Florian sah die grünen Iriden und wusste, dass sein Vertrauen gerechtfertigt war, wie schon seit einem halben Jahr und das, obwohl sich Christian die Augenfarbe mit Lex teilte. „Danke.“

„Nicht dafür. Und nun erzähl mir mal, woher du Seth kennst und wieso du ihn uns empfohlen hast.“

Beschämt senkte Florian seinen Kopf. „Du weißt schon woher, oder?“

„Ja. Hey, Seth war hier, ich wollte wissen, was er hier zu suchen hatte. Doch wieso hast du ihn hergeholt? Du weißt, ich halte nichts von Freundschaftsdiensten.“

„Er ist gut in seinem Job, wirklich begehrt und hat eine neue Stelle gesucht, dass ich ihm noch was schuldig war, hatte damit nicht wirklich etwas zu tun, ehrlich. Ich hätte ihn auch woanders unterbringen können.“

„Okay, und was ist da zwischen euch? Wieso bist du ihm was schuldig?“

Diesen Blick kannte Florian, sein Chef war mehr als skeptisch. So erzählte er ihm von seinem Outing und den dadurch resultierenden Problemen in der Schule. Wie Seth ihm den Rücken frei hielt und mitsamt dem Footballteam sogar die Verteidigung übernahm, auch wenn er bis heute nicht begriff, wieso. „Ich hätte ihn wirklich nie in die Firma geholt, wenn er nicht gut wäre.“

„Das glaube ich dir. Seth scheint echt nicht verkehrt zu sein und wieso er dich damals verteidigt hat, liegt wohl auf der Hand.“

„Ja sicher, er war der beste Freund meines Bruders.“

„Nein, das meine ich nicht. Du hast das gemacht, was viele wohl gerne auch getan hätten. Zu sich stehen, offen damit umgehen.“

Florian lachte auf. „Er hatte damals mehr Freundinnen als ich Blicke für Jungs.“

„Tarnung ist alles, glaub mir, ich kenne solche Kerle. Und du scheinst ihn ja auch ziemlich im Blick gehabt zu haben.“ Mittlerweile hatte es sich Christian am Ende des Bettes gemütlich gemacht und grinste Florian wissend an.

„Eventuell, hey, hast du ihn gesehen? Er sah als 17jähriger schon so gut aus.“

„Stephan in der Uni auch, obwohl er da noch nicht diesen Bart getragen hat, aber Susanna ist verrückt danach.“

„Deine Augen strahlen richtig, Wahnsinn.“

Christian verdrehte die Augen. „Übertreib nicht … ich bin gerade ziemlich glücklich, ist ja auch ganz frisch und kam doch etwas unerwartet.“

„Bitte? Bei uns liefen die Wetten, wann ihr es endlich packt. Also wenn das für euch nicht klar war, wir waren uns da alle ziemlich sicher.“ Florian lachte los, denn Christian sah ihn überrascht und mit offenem Mund an. „Guck nicht so, ihr seid das perfekte Paar. Harmoniert miteinander, eure Blicke zeigen das, was sich jeder wünscht, Zuneigung und Liebe, was will man mehr?“

„Das auch die Freunde glücklich sind und dazu zähle ich dich, Florian. Es wird Zeit, dass wir Lex aus deinem Gedächtnis verbannen und für dich den perfekten Mann finden.“

Heftig schüttelte Florian den Kopf. „Ich will keinen mehr.“ Unweigerlich überzog ihn eine Gänsehaut und ein Zittern erfasste seinen Körper.

„Nicht jeder ist so, ich verspreche dir, ich lass nur noch einen Kerl an dich ran, der dir zu Füßen liegt und den du in den Händen hast. Glaub mir, solch einen Mann gibt es und der wird dich auf Händen tragen, wenn du es wünschst.“

„Jetzt wirst du echt kitschig, bin ich ein Mädchen? Ich bitte dich.“

Beide lachten los und bemerkten einen Lauschangriff von Seth, der an der Tür stand. „Hey, kann ich euch was Gutes tun? Wenn ihr Hunger habt, ich hab mir erlaubt zu kochen!“

Florian biss sich auf die Unterlippe. „Zufällig Spaghetti mit dieser leckeren Carbonara-Soße?“

„Ganz zufällig, ja und wenn ihr jetzt kommt, dann könnte sie auch noch schmecken.“ Seth schmunzelte und ging wieder zur Küche.

Eilig schälte sich Florian aus dem Bett und stürmte schon fast hinter Seth her. Es war sein Lieblingsessen und das wusste dieser scheinbar noch. Seit dem ersten Mal, wo Seth es gekocht hatte und davon sprach, einmal Koch zu werden.


Christian sah mit geweiteten Augen zu seinem neuen Mitarbeiter. „Du wolltest Koch werden? Wieso bist du dann Grafiker und Texter?“

„Weil meine Mutter es nicht angemessen fand. So bleibt es mein Hobby, dem ich gerne nachkomme.“

„Er hat immer heimlich Kochsendungen geschaut, stelle man sich mal vor. Dann kam er zu uns und statt die Footballspiele zu gucken, zwang er alle, seiner heimlichen Leidenschaft beizuwohnen.“

„Ihr hattet alle was davon! Gegessen habt ihr es gerne“, wehrte sich Seth und sah verlegen auf seinen Teller.

Florian erhaschte Christians Blick, der ihn lächelnd ansah. Nun war es auch an ihm, seine roten Wangen zu verstecken und stattdessen das Essen zu genießen. Natürlich war es seinem Freund nicht verborgen geblieben, schließlich hatte er selbst es indirekt schon zugegeben. Seth hatte sich in einem Teil seines Herzen einen Platz geschaffen und beanspruchte ihn nach zehn Jahren erneut, ohne es zu ahnen.

„Sag mal, Seth, hast du einen Freund?“ Christians Frage traf Florian unvorbereitet, sein Herz setzte kurz aus und er fragte sich, wohin er flüchten konnte, damit er die Antwort nicht hörte.

„Nein. Mein letzter hat mich kurz bevor ich herkam verlassen, nachdem er mich vor meiner Familie geoutet hat!“ Die Bitterkeit der Worte war klar herauszuhören.

„Oh, das hört sich nicht gut an.“

„Es war ungewollt und ich musste einsehen, dass er ein Arschloch ist, und meine Eltern nicht nur gestört, sondern auch dumm sind. Aber, na ja, ein neues Leben hat doch was für sich, oder?“

„Wenn du das sagst, klar. Wenn du mal unter Leute willst, John, Luc, Stephan und ich sind ein recht passabler Umgang. Ich glaube, mit uns kann man Spaß haben und Florian würde es sicher auch guttun, mal wieder einen ausgelassenen Abend zu verleben.“

Florian verdrehte betont auffällig die Augen. „Mit euch Pärchen auf Tour? Wozu? Um John und Luc in ihrem Eheglück zu bewundern, oder dem frisch verliebten Paar beim Turteln zuzusehen?“

„Im Notfall hast du Seth, der dich vor uns rettet. Ach kommt, wir sechs einen Abend und dann könnt ihr euch für immer von uns abwenden!“

Es war beschlossen und Florian wusste, dass er dem nichts entgegensetzen konnte, vor allem aber war er dankbar. Dankbar für einen Freund, der genau wusste, was er brauchte. Ablenkung war der beste Weg, um den Tag zu vergessen und die zwei Paare waren alles, aber sicherlich keine unangenehme Gesellschaft. John und Luc waren ihm durch einige Aufträge bekannt und hatten beide einen sympathischen Eindruck hinterlassen.

Dass allerdings erst Donnerstag war und den nächsten Tag die Arbeit rief, schien keinen zu interessieren, stattdessen stand Christian mit Stephan pünktlich um zehn vor seiner Haustür.

„Du bist ja noch gar nicht fertig!“ Stephan hob seine Augenbrauen und taxierte ihn unverhohlen.

„Sorry, ich bin wohl eingeschlafen und hab mich dann in der Zeit vertan.“

„Nicht dramatisch, dein Aufzug entschädigt die Wartezeit.“

Sprachlos schnappte Florian nach Luft und sah Christian hilfesuchend an. Dieser lachte auf. „Ja, der Anblick ist nett. Sollte ich mir Gedanken machen, dass du gerade mal nach zwei Tagen einen anderen Mann derart ansiehst?“

„Natürlich nicht, aber wenn ich dich ansehe, haben wir gleich ein Problem.“

„Ihr fangt ja jetzt schon an … der Abend wird sicher berauschend.“

 

Hatte er etwas falsch verstanden? Falscher Club oder Uhrzeit? Seth kam sich selten so dämlich vor, er saß in diesem Club und das allein, während um ihn herum Kerle ihre Partner abschleckten. „Sucht euch ein Zimmer, ist ja widerlich!“, raunte er und erntete dafür irritierte Blicke und ein Lachen.

„Du bist sicher Seth!“, sah ihn ein blonder Mann an und grinste.

„Luc und John? Freut mich!“

„Genau, also mit was haben wir es hier zu tun? Frustrierter Single oder frisch verlassen?“, fragte John.

„Das Zweite, so ersichtlich?“

„Oh ja. So hart getroffen?“ Die beiden Männer setzten sich und Seth fielen sofort die schmalen Streifen um ihre Ringfinger auf.

„Es geht, schlimm war wohl eher mein unfreiwilliges Outing einen Tag vorher und …“ Er stoppte sich selbst, seit wann war er so redselig? Zumal er die Männer nicht mal kannte.

„Jetzt ist ihm aufgefallen, dass er uns nicht kennt und keinen Seelenstrip vor uns tätigen sollte“, stellte Luc sachlich fest und grinste über Seth‘ dümmlichen Blick. „Hey, du redest hier mit zwei eigentlichen Heteros, die sich seit dem Sandkasten kennen und während drei Tagen Las Vegas mal eben geheiratet haben, um im Nachhinein festzustellen, dass sie sich lieben.“

„Nicht euer Ernst, oder?“ Seth sah sie fassungslos, wenn auch lachend an.

„Hey kommt, wir können da mithalten“, zog Christian die Aufmerksamkeit auf sich.

„Allerdings, vor allem, wenn wir an Carlos denken“, wackelte John mit den Augenbrauen und grinste Stephan an, der sichtlich kurz mit einem Würgereiz kämpfte.

Da selbst Florian die Geschichte nicht bekannt war, erzählte jedes Paar seine, was für mehr als einen erheiterten Ausbruch sorgte.

 

Es war amüsant, entspannend und seit langem fühlte sich Seth wieder wohl in seiner Haut, ohne sich verstellen zu müssen. Dass das in der Öffentlichkeit geschah, war eine Premiere und äußerst angenehm. Vor allem da das Zusammensein mit den Männern angenehm war und gerade neben Florian, dem Bruder seines Schulfreundes, überkam ihn eine angenehme Wärme. Wie lang war es her, dass er so nah bei ihm sein durfte, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen, ohne sich Gedanken zu machen? Er war nicht mehr Florians Aufpasser. Seth saß hier als Freund, der es wert war, beachtet zu werden, ohne dass er den Beschützer spielte oder neben Tom auftrat. Das war besser als jeder Balsam für seine Seele.

Ein Bier floss nach dem anderen ihre Kehlen hinab, während sie sich angeregt unterhielten, tanzen gingen, oder nur nebeneinander die anwesenden Männer beurteilten. Eindeutig hatten sie alle einen anderen Geschmack und doch ähnelte er sich, was immer wieder zu Gelächter führte. Gerade hatte Seth Florian einen Arm um die Schulter gelegt, um dessen Geschmack zu verteidigen, der wohl keinen der bisher taxierten Männer traf, als sich dieser verspannte. In Seth schrillten alle Alarmglocken, als er seinen Blick umherwandern ließ. Dann sah er ihn, den Grund für Florians Anspannung. Lex stand dort und suchte scheinbar nach einem neuen Opfer, bis sein Blick auf den Tisch der sechs Freunde fiel. Mit einem Drink in der Hand schlenderte er zu ihnen, oder eher zu Florian, der sich immer mehr an Seth drängte und hilfesuchend zu Christian sah. Dessen Blick sprach Bände und dies ließ nun auch Stephan, Luc und John kritisch zu dem Mann schauen, der immer näher trat.

„Wer ist das?“, wollte John wissen und runzelte die Stirn.

„Florians Ex, ich will euch nichts erklären, aber sie sollten sich nicht zu nahe kommen!“, grummelte Christian.

John nickte verstehend und man sah ihm an, wie sich seine Muskeln anspannten. Seth dagegen grinste lediglich, stand von seinem Hocker auf, der sich in einer Ecke befand und schob dort nun Florian hin, während er sich nach außen setzte. Somit war ein direktes Rankommen unmöglich. Lex grinste trotzdem, kam nun direkt zu Seth und stellte sich derart dicht vor ihn, dass dieser nur mit Mühe nicht zurückwich.

„Was verlangst du für ihn?“ Lex‘ Blick ging nur kurz zu Florian, der die Hände zu Fäusten ballte.

„Er ist unbezahlbar und ich steh auf Exklusivrechte.“

„Es gibt immer einen Preis.“

„Nein, bei ihm nicht. Ich steh nicht so drauf, wenn er es einem anderen besorgt!“ Seth war die Ruhe selbst, nahm einen Schluck seines Biers und lehnte sich an Florian, der sich das Erstaunen unterdrücken musste, was seine Augen bereits eingenommen hatte.

Auch Lex schien erst einmal sprachlos, wechselte seinen Blick zwischen den zwei Männern. „Das ist doch ein Witz. Flori legt doch keinen flach, als könnte er es einem besorgen!“ Kaum ausgesprochen, lachte er los.

Seth richtete sich auf und stand dann Nase an Nase mit Florians Ex. „Oh Gott, du hast ihn nie rangelassen? Verdammter Depp, er ist grandios, du weißt gar nicht, was du verpasst hast. Seine Zungenschläge in meinem Inneren, seine Finger, sein Schwanz, der siebte Himmel ist ein Scheiß dagegen!“, flüsterte er gegen Lex Lippen, leckte sich selbst dann lasziv über seine und setzte sich wieder. Die fragenden Blicke seiner Tischnachbarn ignorierend, beugte er sich zu Florian, zog dessen Gesicht an seinen Hals, bis es so aussah, als würde dieser ihn liebkosen.

„Was tust du da, Seth?“

„Aus dir einen Top machen!“, stöhnte er so leise, dass es kaum einer hören konnte und er sich nicht mal sicher war, ob Florian ihn verstand. Denn dessen Lippen hatten beim Sprechen seine Haut gestreift und hinterließen ein wohliges Kribbeln.

„Du bist verrückt, weißt du das?“

Damit musste Florian dringend aufhören, Seth Körper stand in Flammen und das zeigten seine flatternden Augenlider eindeutig. Er konnte sich auf nichts mehr konzentrieren, sah zwar Chris, der sich in die Wange biss, aber es war ihm egal.

 

Ein Räuspern ließ Seth wieder zu sich kommen, schwerfällig sah er zu Stephan, der ihn breit angrinste. „Falls es euch interessiert, er ist weg!“

Florian atmete durch und es war für Seth beruhigend, dass auch er einer schnelleren Atmung nachkam. Sie sahen sich lediglich kurz an und beschäftigten sich dann lieber mit ihren Getränken. „So, Florian, du liegst also auch ab und an oben, irgendwie habe ich das nicht erwartet.“ Der ernste Gesichtsausdruck von Christian wurde durch den Schalk in seinen Augen zunichtegemacht.

„Du kannst ja nicht alles wissen, wie sieht es denn bei dir aus?“ Ungewohnt locker grinste Florian und beugte sich leicht über den Tisch.

„Also … ich glaube, das geht dich nichts an.“

„Sowohl als auch!“, schmunzelte John und bekam von seinem Mann einen Stoß in die Rippen. „Was denn, ich steh dazu.“

„Deswegen musst du ja für mich nicht gleich mit antworten, das geht doch echt keinen was an“, empörte sich Luc.

„Nun hab dich nicht so, ist doch nicht schlimm.“

Luc schüttelte ergeben den Kopf. „Du bist so unmöglich. Wo ist der alte John hin?“, schmunzelte er dann und hauchte seinem Mann einen Kuss auf die Lippen.

 

„Die Flasche hat gar nicht auf ihn gezeigt, also aufhören!“, lachte Christian und erklärte sich sogleich, als ihn nun die irritierten Blicke trafen. „Flaschendrehen, ihr kennt das noch, oder?“

Eifrig nickte Seth, stand auf und besorgte eine Flasche. „Auf den die Flasche zeigt, der muss den Ententanz machen!“, sprach es und drehte.

John kniff die Augen zusammen und grummelte, während er aufstand und sich auf die Tanzfläche begab. Mit angewinkelten Armen, leicht gebeugten Knien, watschelte er im Tanzschritt zwischen den anderen Gästen hindurch. Prustend saß Seth am Tisch und biss sich auf die Faust, es war ein Anblick, der für die Nachwelt festgehalten werden musste und zu seinem Glück tat das Luc.

Hochrot trat John zurück zum Tisch. „Der, auf den die Flasche zeigt, küsst einen seiner Nachbarn für fünf Minuten!“

Die Flasche drehte sich und zeigte auf Stephan, der sich prompt seinen Freund schnappte und überschwänglich küsste. „Das Spiel gefällt mir! Okay, auf den die Flasche zeigt, der legt einen erotischen Tanz auf dem Tisch hin!“

Florian sah die Flasche vernichtend an, als sie bei ihm stehen blieb. „Mist, oh Mann. Aber wehe, ihr lacht!“ Eilig trank er sein Bier aus und stieg auf den Tisch. Beim Beginn des nächsten Songs bewegte Florian seine Hüften, ließ sie kreisen und fuhr über seinen Oberkörper.

Seth sah sprachlos zu ihm hoch, sog jede Bewegung in sich auf, was seine Fantasie antrieb, mehr in diesem Tanz zu sehen, als es wirklich war. Sollte es ihn beruhigen, dass selbst die anderen Männer am Tisch und in der Umgebung eher starrten, als sich lustig zu machen? Irgendwie störte es Seth gerade, dass sich jeder an Florian aufgeilen konnte.

„Auf den die Flasche zeigt, der bekommt von einem am Tisch einen Knutschfleck!“

„Knutschfleck?“, echoten Christian und Luc. „Wo?“

„Euch überlassen!“, grinste Florian und sah der langsam werdenden Flasche zu, die direkt vor ihm stehen blieb. „Noch mal?“, sah er unsicher zu den anderen.

„Nein, du darfst deinen Auftrag ausführen lassen!“, bestand Christian darauf.

Seth sah Florian dabei zu, wie er zu Luc und John sah, dann Christian und Stephan in Augenschein nahm. „Unfair, ihr bringt mich um, wenn ich mir von einem eurer Partner einen Knutschfleck verpassen lasse, oder?“ Viermaliges Nicken bestätigte dessen Annahme und entlockte Seth ein Schmunzeln, bis ihm bewusst wurde, was das hieß. Das konnte Florian nicht verlangen, alles, nur nicht das. Wie sollte er Florians Haut kosten und dann die Kraft finden, von ihm abzulassen?

„Wie hättest du mich gerne?“

Nackt, willig und über mir, schoss es Seth durch den Kopf. Doch bekam er keinen Ton heraus.

„Schulter ist in Ordnung für dich?“, lächelte ihn Florian an.

„Ja, sicher!“, rutschte Seth vom Hocker runter und schob diesen zur Seite. Mittlerweile hatte Florian zwei Knöpfe seines Hemdes geöffnet und somit sein Schlüsselbein freigelegt. Schulter war eindeutig etwas anderes. Tief durchatmend sammelte sich Seth und neigte seinen Kopf.

 

Florian fluchte innerlich, jeden hätte er gewählt, doch freiwillig niemals Seth. Dessen Lippen auf seiner Haut ließen sein Innerstes in Aufruhr geraten. Hatte es nicht gereicht, dass er schon mitgespielt hatte, um Lex loszuwerden? Immer noch haftete an Seth das Parfüm, welches in Florian das Verlangen auslöste, ihm näher zu kommen. Immer intensiver legten sich die Lippen unter sein Schlüsselbein und Seth fing an zu saugen. Florians Puls raste, sein Verstand fing an, sich zu vernebeln, während sich seine Hände selbstständig machten. Eine legte sich in Seth‘ Nacken, die andere umfasste dessen Hand. Gerade als er ihn näher ziehen wollte, legten sich Seth‘ Finger auf seine Seite und kitzelten ihn.

„Du bist gemein!“, lachte Florian und schupste Seth sanft von sich.

„Das tut mir aber leid“, erwiderte der sein Lachen und doch sah er mehr in dessen Augen. Es war Absicht gewesen, damit er sich nicht verlor. Florian wusste nicht, ob er dankbar oder verletzt sein sollte. War es wirklich nur, um ihn zu schützen, oder hatte es andere Gründe?

Seth‘ Berührungen an seinem Schlüsselbein ließen ihn zusammenzucken. „Der erinnert dich noch etwas länger an den Abend. Entschuldige! Ist ewig her, dass ich so was gemacht habe.“

Irritiert griff Florian nach seinem Handy und schaltete seine Kamera ein, sodass sie ihn selbst zeigte. „Oh Mann, Seth!“, schlug er diesem auf den Oberarm. „Ich sagte Knutschfleck und nicht Hämatom, das als Körperverletzung durchgeht.“ Vielleicht war seine Reaktion leicht übertrieben, jedoch kam es ihm anders vor. Tiefrot und drei Finger breit war das Mal.

„Ich sagte doch, es tut mir leid.“

„Revanchier dich! Wir halten ihn auch fest“, zwinkerte Luc.

„Gute Idee, müssen sie dich festhalten, oder hältst du freiwillig still?“ Sein Blick war herausfordernd, auch wenn es in ihm schrie, dass er den Quatsch sein lassen sollte.

„Ich halte still!“, schluckte Seth, was Florian an seinem hüpfenden Kehlkopf sehen konnte. „Wo willst du es hin machen?“

„Gleiche Stelle!“ Bevor sich Seth das Hemd aufknöpfen konnte, begab sich Florian daran. Senkte seine Lippen auf die Haut und genoss den Geruch wie auch den Geschmack von Seth. Erst sanft sog er an dem Fleck, welchen er sich auserwählt hatte, dann immer fester.

 

„Das nennt man Vorspiel, oder?“, erkundigte sich Luc und holte dadurch Florian wieder in die Gegenwart. Verlegen löste er sich, schloss das Hemd von Seth und setzte sich schweigend auf seinen Hocker. Die Blicke der anderen konnte er sich denken, wollte allerdings nichts weiter dazu sagen. Er hatte sich vergessen, doch ohne diesen Nebel im Kopf. Dagegen schien Seth seine Umgebung verdrängt zu haben, denn seine Finger der linken Hand hatten sich mit Florians verschränkt und seine genussvollen Laute waren zwar sehr leise und doch klar und deutlich bei diesem angekommen.

„Leute, es ist bereits drei, seid mir nicht böse, aber meine Tochter interessiert es nicht, wann ich heimkomme, sie will spätestes um neun bei Lisa abgeholt werden“, erhob sich Stephan und Christian schloss sich an.

„Ihr beide schlaft aus. Ich glaube, für morgen steht nichts Wichtiges an“, grinste dieser zu Florian und Seth, bevor er sich samt seinem Freund nach draußen begab.

Luc seufzte und rümpfte die Nase. „Wir müssen auch, um acht kommt ein Kunde, dem kann ich nicht absagen. War nett, euch kennenzulernen, vielleicht wiederholen wir es mal?“

„Gerne“, kam es wie aus einem Mund von Seth und Florian, die schon bald allein da saßen.

 

Florian wusste nicht wirklich, was er tun sollte. Sich verabschieden? Eigentlich wollte er das nicht, denn er fühlte sich unheimlich wohl in Seth‘ Nähe. Ob es wie damals werden konnte?

Miteinander ausgehen, Gespräche führen, füreinander da sein, wie damals? Nur ohne seinen Bruder dazwischen, der ebenso die Aufmerksamkeit forderte. Nur Seth und er, irgendwie klang das zu gut, um wahr zu sein.

„Hast du vielleicht Lust, noch etwas zu trinken? Oder willst du auch heim?“, unterbrach Seth seine Gedanken.

„Da wir nicht früh auf der Arbeit sein müssen, würde ich einen letzten Drink nehmen, aber vielleicht nicht hier?“

„Ich hoffe nicht, du erwartest, dass ich dich zu mir einlade, da sieht es wirklich noch provisorisch aus.“

„So schlimm wird es nicht sein, oder?“ Florians Interesse war geweckt und so gab sich Seth schon bald geschlagen. Mit dem Taxi ging es zu ihm. Der Wagen hielt vor einem modernen Neubau, welcher einladend wirkte. „Sieht nett aus.“

„Ja schon, nur … ach, du wirst es gleich sehen, aber ich hab dich vorgewarnt.“ Damit öffnete Seth die Haustür und führte Florian in den dritten Stock.

Schmunzelnd ging er hinter Seth her und genoss den Ausblick auf dessen in Jeans gepackten Hintern. Wie lange es her war, dass er diesen derart beobachten konnte, wusste er nicht mehr, umso mehr nahm er diese Chance wahr. Wenn sich Florian nicht irrte, sah Seth besser aus als damals, männlicher und sein Hintern bot mittlerweile wesentlich mehr zum Anpacken. Ob er es wagen konnte?

Eilig verscheuchte er den Gedanken, schmunzelte stattdessen in sich rein und erklomm die letzten Stufen. Ab und an musste es auch ihm gestattet sein, zu träumen, wenn er es dabei auch belassen wollte, sollte, musste. Nicht noch einmal würde er sich derart an einen Mann verlieren, auch wenn Seth seinen Vorsatz zum Schwanken bringen konnte.

„Irgendwann werden Sie sich noch einmal in eine Beziehung wagen, was sicherlich nicht verkehrt ist, Mister Kennedy!“, hatte sein Therapeut zu ihm gesagt. Florian konnte sich noch nicht mal vorstellen, wieder Sex zu haben, wie sollte er da an eine Beziehung denken?

 

Die Wohnung war wirklich nicht unbedingt einladend, geradezu spartanisch eingerichtet. Nicht ein Gegenstand schien persönlich zu sein und vor allem fand Florian nicht einen Farbtupfer, der es etwas auflockerte.

„Wirklich trist hier!“

„Sag ich doch, mach es dir trotzdem so bequem, wie es geht.“ Mit zwei Flaschen Bier setzten sie es sich aufs Sofa. „Schon ein Zufall, dass wir in einer Firma sind.“

„Nicht wirklich, ich habe dich empfohlen!“, gab Florian freimütig zu und biss sich kurz darauf selbst auf die Zunge. Wieso hatte er das gesagt?

„Wie, du? Wieso?“ Überrascht hatten sich Seth‘ Augen geweitet.

Nervös kaute Florian auf seiner Unterlippe, wusste nicht so recht, wie er es sagen sollte und der Geruch, der ihn umgarnte, half auch nicht gerade dabei. Schokoladenkuchen mit einem flüssigen Kern, wer konnte dem schon widerstehen? „Du hast bei mir noch was gut gehabt, wegen damals.“

„Was meinst du?“

„Du hast mir so oft geholfen … irgendwie wollte ich mich erkenntlich zeigen.“

„Ich hab dich bewundert, du hast offen gesagt und gezeigt, wer du bist. Ich konnte das nie, hab mich hinter dieser beschissenen Sportlerfassade versteckt. Bin mit Mädchen ausgegangen und diese Nähe, die sie wollten, war …“ Seth schüttelte sich und Florian meinte, sich zu verhören.

„Du hast mit ihnen ungeniert rumgeknutscht und sie befummelt, was willst du mir jetzt sagen? Dass du das nie genossen hättest?“

„Mit Sicherheit nicht.“ Seth sah zu der Flasche in seiner Hand und knibbelte am Etikett. „Du kennst meine Familie, oder auch nicht.“

Das war wohl wahr, er kannte sie nicht wirklich, denn nachdem seine Homosexualität herausgekommen war, durfte er nicht einmal mehr ins Haus. Selbst Tom hatte zu Beginn mit argwöhnischen Blicken zu kämpfen, wurde schlussendlich jedoch akzeptiert. Nur Florian nicht, denn er war in ihren Augen einem Aussätzigen gleichgekommen. „Du wusstest schon länger, dass du schwul bist?“

„Ja, seit meinem sechzehnten Lebensjahr.“

Florian fühlte sich innerlich verraten, verarscht, als hätte er ihn belogen und sogar betrogen, dabei war das völliger Unsinn. Doch wie oft hatte er nachts in seinem Bett gelegen, sein Glied in der Hand und hatte sich seine Träume vor Augen gerufen. Seth war seine Vorlage, um Druck abzubauen, doch auch für unendliche Sehnsucht. „Ich dachte, du stehst auf Mädchen.“, entkam es Florian, um nicht schweigend dazusitzen und in seinen Gedanken zu versinken.

„Nein, aber was hätte ich tun sollen? Meine Eltern wären ausgeflippt, wie hätte ich ihnen von dem Jungen erzählen können, der sich heimlich in mein Herz geschlichen hat …“

Es fühlte sich an, als würde Florians Herz brechen. „Oh, und ist was draus geworden?“

Seth lächelte und schüttelte den Kopf. „Nein, wie auch? Ich war 16 und ich wollte mich nicht outen. Sam war der erste Freund, den ich hatte. Bis dahin gab es nur den Darkroom.“

„Was ist derart schief gelaufen zwischen dir und Sam?“

„Ich dachte, es wäre Liebe … aber langsam glaube ich, ich hab mich geirrt. Ich wollte es wohl so gerne.“

Das Verlangen Seth zu trösten, war übermächtig. Langsam glitt seine Hand zu dessen Fingern, die immer noch die Flasche festhielten und deren Knöchel weiß hervorragten. Grüne trafen braune Augen, versanken ineinander und ließen den anderen ins Innere blicken. Schmerz, Verzweiflung, Trauer und das Herz waren klar zu erkennen. Doch blieb ihnen eins verwehrt, dort hineinzusehen, ins Herz, in die Seele, die mehr offenbaren konnten, als beiden lieb war.

Florian musste dieser Situation entkommen, sonst würde er einen Fehler begehen, der nicht mehr gutzumachen war. Auch wenn nun feststand, dass Seth schwul war, hieß es schließlich nicht, dass er Interesse an ihm hatte. Doch das schien Florians Herz nichts auszumachen, es pochte hart in der Brust und versuchte überzuspringen. So unfair er es fand, dass er seine alten Gefühle für den besten Freund seines Bruders nicht unter Kontrolle hatte, musste er sich eingestehen, selbst schuld zu sein. Denn hätte Florian Seth nicht den Job vermittelt, wäre ihm seine erste große, unerwiderte Liebe nicht wieder begegnet. Es fühlte sich so gut an, in Seth‘ Nähe zu sein, wie es grausam war.

„Also hast du Sam nie geliebt?“

Seth lehnte sich zurück und entzog sich so Florians Hand, sein Kopf fiel in den Nacken, während das Bier seine Kehle hinunterfloss. „Geliebt eventuell nicht, ich hatte schon Gefühle für ihn, mehr oder weniger. Dass er mich geoutet und dann verlassen hat, war ein schwerer Schlag, somit muss da wohl was gewesen sein, oder?“

Den fragenden Blick erwidernd, dachte Florian nach und wackelte mit dem Kopf. „Mein Therapeut würde jetzt sagen: Mister Bolin, haben Sie Ihren Partner wirklich geliebt, oder sich lediglich jemanden gesucht, der Ihre Nähe, Ihr wahres Ich akzeptiert?“

Überrascht riss Seth die Augen auf. „Wie meinst du das, oder er?“

„Na ja, er hat es zu mir gesagt. Irgendwie erinnerst du mich gerade dran. Lex war für mich ein Weg, um ich selbst sein zu können, ein Halt, der Fels in der Brandung, doch habe ich wohl nicht erkannt, dass er eigentlich die Flutwelle ist, die mich mitreißt und untergehen lässt.“

„Wer war dann dein Fels?“

„Keine Ahnung, aber ich kann dir sagen, wer mein Rettungsschwimmer war. Christian, denn ihm habe ich es zu verdanken, nicht mehr kopflos meinen Körper benutzen zu lassen.“

„Dafür konntest du doch nichts, er hat deine Zuneigung, dein Vertrauen ausgenutzt, dafür gehört ihm das Gesicht poliert.“ Seth zog ihn in seine Arme und Florian konnte sich dem nicht entziehen. Versuchte es nicht einmal, denn es fühlte sich viel zu gut an. Der Duft des Parfüms schwängerte die Luft und half weiterhin nicht dabei, den Verstand bei sich zu behalten. „Du hättest damals nicht weggehen dürfen!“

„Wieso nicht?“

„Weil ich doch auf dich aufpassen wollte, aber es nicht mehr tun konnte, weil du nicht mehr da warst. Dabei hatte ich es doch versprochen!“

„Doch nur, weil du Toms bester Freund warst“, versuchte sich Florian aus der Umarmung zu befreien.

„Denkst du wirklich, dass dein Bruder einen solchen Einfluss auf mich gehabt hätte? Dass ich mich sogar für dich verprügeln lassen habe? Manchmal bist du echt verdammt naiv.“

„Na danke, das wusste ich schon, wurde mir oft genug gesagt!“ Grummelnd wand sich Florian aus Seth‘ Armen und stand auf. „Ich muss jetzt heim. Danke für die Einladung.“

„Jetzt schon?“ Seth war sichtlich erstaunt. „Ich wollte dich nicht beleidigen, wirklich nicht, Flo.“

Das glaubte dieser ihm durchaus, jedoch war es wirklich Zeit zu gehen, bevor sich sein Verstand verabschiedete dank des Alkohols, den er nun schon zur Genüge konsumiert hatte. „Schon okay, muss aber echt los, heute Nachmittag muss ich in die Firma.“ Damit ging er zur Tür und drückte die Klinke nieder, als Seth ihn aufhielt.

„Würdest du … also hättest du Interesse … ich meine, also …“

 

Seth kam sich selten dämlicher vor als in diesem Moment. Aber wie bat man um ein weiteres Treffen, ohne dass sein Gegenüber annahm, … obwohl er das wegen ihm annehmen konnte, aber Seth wollte nicht den Eindruck machen, als sei er lediglich … selbst seine Gedanken spielten verrückt. „Würdest du eventuell Interesse daran haben, unsere Freundschaft wieder aufleben zu lassen?“ Freundschaft?, fragte er sich selbst. Hatten sie je so etwas besessen?

„Hast du es denn?“

„Ja, klar, auf jeden Fall!“ Es war so schnell ausgesprochen, dass er es selbst kaum wahrnahm, doch seine Stimme überschlug sich fast zur Bestätigung seiner Worte.

„Na dann, gerne!“ Verlegen wandte sich Florian endgültig ab und verschwand aus Seth‘ Wohnung. Dieser blieb zurück, seine Mundwinkel formten ein Lächeln und seine Beine trugen ihn zurück zum Sofa, wo er sich das Kissen schnappte, welches die ganze Zeit bei Florian gelegen hatte und verschwand damit ins Bett.

Ein wenig Träumen musste erlaubt sein, zu lange hatte er darauf gewartet, zu lange es sich verboten. Damals war Florian einfach zu jung und er hatte sich nicht getraut, doch diese Chance, zumindest eine Freundschaft zu ihm aufzubauen, würde er sich nicht entgehen lassen. Aus Freundschaft konnte so viel mehr werden, wie er bei John und Luc gesehen hatte, wieso also nicht? Auf einen Versuch kam es an.

Samt Kissen fiel Seth in sein Bett, schmiegte sich daran und kam sich ein klein wenig dämlich vor, doch nur solange, bis Florians Geruch ihn einhüllte und ihn lächelnd einschlafen ließ.

Es kam seiner Teenagerzeit gleich, diese Träume, die seine Nacht beherrscht hatten. Ebenso die feuchte Hose, die er beim Aufwachen bemerkte, und unangenehm an ihm klebte. Selbst wenn es außer ihm keiner mitbekam, spürte Seth die Hitze in seinen Kopf steigen.

 

Dieser Zustand hielt Wochen an. Immer wenn sie auf der Arbeit beieinander waren, essen gingen, gemeinsam mit Luc, John, Christian und Stephan die Clubs unsicher machten. Es war amüsant, witzig, immer wieder verrückt und vor allem verführerisch. Florian roch für Seth wie die pure Verführung, sicherlich reine Einbildung, dass er ihn immer noch mit Kakao verglich. Heute Abend würden nur sie beide ausgehen. Christian und Stephan hatten sich das Wochenende für ihre Tochter aufgespart, Luc und John waren auf dem Geburtstag von Johns Vater.

Ein Blick in den Spiegel zeigte Seth in sehr eleganter und verführerischer Kleidung, er wollte trumpfen, Florian die Sprache verschlagen und hoffte, es mit der eng anliegenden schwarzen Jeans und dem körperbetonten blauen Hemd, was seine Augen zum Leuchten brachte, hinzubekommen.

Plötzlich erhaschte eine Parfümflasche seine Aufmerksamkeit … es war verführerisch, wenn auch nicht ganz in Ordnung, trotzdem griff Seth danach und sprühte sich den Verführungsduft an den Hals.

Die letzten Wochen hatte er sich intensiv mit der Firma auseinandergesetzt, denen seine Ideen schon gut gefallen hatte, die jedoch mehrere Versionen, spezialisiert auf die Zielgruppen haben wollten. So hatte er mehr von dem Parfüm erfahren und die Sicherheit gewonnen, dass Florian und er mehr als nur Freunde werden konnten. Denn das, was sie an dem anderen riechen konnten, war ihre Leidenschaft, ihr Begehren, dem sie nicht widerstanden.

Das Klingeln an der Tür zeigte ihm, dass sein Freund endlich da war. Eilig suchte Seth seine Sachen zusammen und ging nach unten, wo Florian an seinem Auto lehnte. Jetzt musste Seth aufpassen, damit er nicht mit offenem Mund dastand. Die Jeanshose saß gerade mal auf dessen Hüften und das Shirt verdiente den Namen nicht. „Was hast du vor?“ Seth schluckte hart.

„Wieso? Nicht passend gekleidet? Dann musst du dich aber auch umziehen. Bei dir bleibt nichts verborgen.“

Das war wohl ein verstecktes Kompliment, welches nicht mal wirklich versteckt war, oder? Seth‘ Gedanken überschlugen sich und ruhten sogleich, als Florian ihn anlächelte und ihm die Tür aufhielt. „Das hätte ich auch selbst hinbekommen.“

„Ich wollte mich mal als Gentleman versuchen.“

„Dann machst du alles richtig. Heißt das, du führst mich heute auch aus?“

„Ausführen? Haben wir ein Date?“ Wortlos stieg Seth ins Auto, versuchte seine schnelle Atmung unter Kontrolle zu bekommen und sein Herz, welches sich gerade überschlug. „Ich habe das Gefühl, du wirst mir keine Antwort darauf geben“, lachte Florian leise auf und setzte sich hinters Steuer.

Wie mehrfach in den letzten Wochen, fragte sich Seth, was aus dem schüchternen Mann geworden war. Denn Florian verhielt sich offen, fast losgelöst und war besser denn je gelaunt. Auch von dessen Bruder hatte er gehört, dass er sich plötzlich wieder regelmäßig meldete und sogar einer Einladung zu Weihnachten fest zugesagt hatte. Tom traute der Sache nicht wirklich, schließlich waren es noch gute vier Wochen hin.

 

Eine Stunde später war Seth schon angeheitert, Florian hielt sich an seiner Cola fest und wehrte einen Kerl ab, der es sichtlich auf seinen Hintern abgesehen hatte. Grinsend betrachtete Seth diese Situation, bis Florian ihm einen Ellenbogen in die Rippen stieß und mit den Lippen Hilfe formte.

Gemächlich schob sich Seth von seinem Hocker und zwängte sich zwischen den Typ und Florians Hintern. „Falls du es immer noch nicht begriffen hast, er will nichts von dir und noch dazu hat sein Arsch ebenso wenig Interesse an dir.“

„Ich glaub, du kennst den Kleinen nicht richtig, denn diesen geilen Arsch hatte ich schon mal und da klang es eindeutig, als hätte er es genossen.“

Anspannung erfasste Florians Körper, was Seth dazu veranlasste, sich sofort gegen ihn lehnte, um zu zeigen, dass er da war. „Ich würde sagen, du verziehst dich jetzt, bevor ich mich vergesse und dir zeige, wie geil es ist, einen wegzustecken, wenn man es nicht will!“ Mit diesem Satz hatte sich Seth Körper begradigt und seine Faust geschlossen.

„Reg dich ab, ich hab dafür bezahlt und er hat nie nein gesagt.“

„Hab ich, aber das hat dich grunzendes Arschloch nicht interessiert, also verpiss dich!“, drehte sich Florian um, dessen Blick gefährlich wirkte, so wie die Stimme, die viel zu ruhig war.

Die unausgesprochene Drohung schien gewirkt zu haben, denn der Typ wandte sich ab. Seth drehte sich um und blickte tief in die braunen Augen. „Alles okay?“

„Es muss und ich bin ja nicht allein, danke.“ Hauchzart, fast wie ein Windhauch berührten ihn Florians Lippen. Doch so sanft der Kuss auch war, löste er in Seth einen wahren Sturm aus. Mit Mühe unterdrückte er das Verlangen, Florian an sich zu ziehen und zu verschlingen. Doch nach dessen Vorgeschichte war es wohl besser, zu warten. Der Geruch von frischem Kakao umwehte seine Nase und ließ Seth genussvoll einatmen. Irritiert sah er sich um, doch nur Florian stand ihm derart nah … dieser Geruch stammte eindeutig vom Parfüm.

Mit verhangenen Augen trat Florian einen Schritt näher an Seth, sog dessen Geruch ebenso ein, wie dieser schluckend wahrnahm. „Du trägst das Parfüm!“, stellte er fest.

„Du auch, Flo … wieso?“

„Das könnte ich dich auch fragen. Wenn ich lügen würde, wäre meine Antwort wohl, weil ich hier eventuell jemanden für die Nacht suchen wollte.“

„Und wenn du nicht lügst?“ Seth biss sich nervös auf die Unterlippe, während seine Hände sich langsam um Florians Hüfte legten, der mittlerweile derart nah bei ihm stand, dass er dessen Atem auf der Haut spüren konnte.

„Ich wollte sehen, wie du reagierst, ob es immer noch so ist. Du riechst für mich nämlich wie die reinste Verführung!“

„Schokoladenkuchen mit einem flüssigen Kern?“

Florian nickte, streifte mit einem Finger über die geschundene Unterlippe. „Wenn ich ehrlich bin, sogar besser. Seth …“ Seine Worte gingen in einem Tumult unter, der plötzlich im Club ausbrach. Sie wurden auseinander gedrängt und kämpften beide darum, nicht zu stürzen. Was genau passiert war, konnte Seth nicht sehen, doch dafür, wie Florian es zum Ausgang schaffte. Er selbst entschied sich für die Hintertür, die mittlerweile näher lag. Wie lange er dafür brauchte, konnte er nicht beurteilen, jedoch spürte er die vielen Kollisionen, die ihm wahrscheinlich blaue Flecken bescherten.

 

Florian sah sich suchend um, doch fand Seth einfach nicht. Wie er allerdings mitbekam, hatte es einen kleinen Brand im Club gegeben, der für die Unruhe gesorgt hatte.

Sein Gedanke schweifte zum Hinterausgang und gerade, als er dorthin wollte, hörte er, wie jemand nach einem Krankenwagen brüllte und sah drei in Schwarz gekleidete Männer davonlaufen. Ein unwohles Gefühl machte sich in ihm breit. Ehe er den Befehl an seine Beine senden konnte, rannten sie schon los. Die schlimmsten Szenarien sah er vor Augen, wie Seth dort lag, vor Schmerzen wimmernd, zusammengeschlagen und um sein Leben kämpfend.

„Verdammt, jetzt holt doch mal jemand Hilfe!“

Florians schlimmste Gedanken trafen zu, nur lag dort nicht Seth, der um sein Leben kämpfte, sondern ein anderer Mann. Seth dagegen schien bei bester Gesundheit und half dem Verletzten, während er die wildesten Flüche aussprach. Eilig wählte Florian den Notruf und kniete sich dann zu Seth. Dieser sah ihn dankend an, schenkte ihm sogar ein Lächeln, um dann weiter auf die Bauchwunde des Mannes vor ihm zu drücken.

Das Blut floss trotzdem ungehindert aus der recht großen Wunde, das selbst Florians Hände, die Seth halfen, nicht wirklich etwas ausrichten konnten. Der Atem des Mannes wurde flacher, aus dem Mundwinkel drang der erste Tropfen, der beiden zeigte, dass mehr verletzt war, als sie gehofft hatten.

„Diese Schweine …“, spie Seth aus und Florian spürte, wie der Atem zum Stillstand kam, das Herz seine Tätigkeit einstellte, und der Verletzte regungslos liegen blieb.

Dann ging alles recht schnell, die Rettungssanitäter zogen beide weg und stellten nach minutenlangen Reanimationsversuchen den Tod fest und transportierten den Mann ab, während die Polizei sich um Seth und Florian kümmerte.

„Wie sahen die Täter aus?“, wurde Seth befragt.

Dieser schloss die Augen und atmete tief durch. „Sie waren in Schwarz gekleidet, einer war blond und zwei dunkelhaarig. Die Gesichter habe ich nicht erkennen können. Ich bin aus dem Hinterausgang herausgetreten und hab gesehen, wie man auf den Mann eintrat und dann auch einstach, ehe ich bei ihm war.“

„Mister Kennedy, was haben Sie gesehen?“

„Eigentlich nichts. Ich habe Seth gesucht und bin dann darauf gekommen, dass er eventuell hinten raus ist und da hörte ich auch schon seine Aufforderung, dass jemand Hilfe rufen sollte. Die Männer habe ich lediglich wegrennen gesehen.“

„Das ist nicht wirklich hilfreich.“ Der junge Polizist verdrehte genervt die Augen.

„Entschuldigen Sie, dass ich mich lieber um den Mann gekümmert habe, statt nach den Personalien der Täter zu fragen!“, blaffte Seth.

„Hat dem Typ ja auch nichts genützt.“

„Clear, bitte gehen Sie zum Streifenwagen!“, bat der ältere der beiden Polizisten seinen Kollegen und schüttelte den Kopf. „Bitte entschuldigen Sie, er ist neu und ziemlich ehrgeizig. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfsbereitschaft und werde mich, falls nötig, bei Ihnen melden!“

Erleichtert gingen Florian und Seth zum Auto, wo sie sich erschöpft in die Sitze fallen ließen.

„Meine Klamotten sind voller Blut!“

„Man sieht es nicht!“, kommentierte Florian und betrachtete seine Hände, die nur notdürftig gereinigt waren. „Wir brauchen beide eine Dusche, Tee und ein Bett.“

„Das hört sich fantastisch an. Flo, hättest du ein Problem damit, wenn ich nicht allein sein möchte?“

Florian antwortete nicht, schnallte sich stattdessen an und fuhr zu sich nach Hause. Er wollte ebenso wenig allein sein wie Seth. Die Aussicht, mit ihm zusammen die Nacht zu verbringen, verursachte ein wohliges Kribbeln in seinem Bauch. Auch wenn die Gedanken ziemlich unpassend kamen, wenn man die letzte Stunde bedachte, und doch konnte er sie nicht abstellen.

Schokoladenkuchen … dieser Geruch drang derart tief in ihn, dass er sich am liebsten auf Seth gestürzt hätte. Doch erst einmal galt es, das Auto nach Hause zu bringen und den geplanten Aktivitäten nachzukommen, bevor er eventuell seinen Gedanken freien Lauf lassen durfte.

Das Wasser prasselte auf die Fliesen der Dusche und wahrscheinlich auf den Körper von Seth. Schwer atmend stand Florian neben der Badezimmertür und lauschte den Geräuschen, die von innen kamen. Die Vorstellung, wie kleine Wassertropfen Seth‘ Körper entlangliefen, seine Lippen befeuchteten, seinen Schwanz entlangrannen und sich an der Spitze hinabfallen ließen, kostete Florian jegliche Beherrschung.

Wie sollte er sich zusammenreißen, wenn der Mann seiner Jugendträume in der gleichen Wohnung wie er war? Noch immer schlug sein Herz heftig in der Brust, wie damals in der Schule. Immer wenn er Seth gesehen hatte, überschlugen sich jegliche Gefühle.

 

„Wo ist denn dein kleiner Bruder, will er nicht mit?“, hörte Florian gerade noch Seth fragen, als dieser auch schon seine Zimmertür aufstieß. „Hey Kleiner, komm, wir fahren in die Stadt ein Eis essen, ist verdammt heiß heute.“

„Ich muss lernen!“, es war mehr ein Fiepen als ein anständiger Satz, der Florian entkommen war.

„Nun stell dich nicht an. Schmeiß dich in eine kurze Hose und T-Shirt und dann fahren wir, ohne Widerrede.“ Zur Bestätigung seiner Worte hatte Seth in Florians Schrank gegriffen und scheinbar wahllos zwei Kleidungsstücke herausgezogen.

Entweder hatte der beste Freund seines Bruders wirklich Glück, oder es war doch gewissenhaft ausgesucht, denn selten sah Florian derart „cool“ aus, wie sein Bruder meinte. Aus diesem Grund durfte er an diesem Tag vorne bei Seth sitzen, den er so fast unverhohlen mustern konnte, während sein Herz wild hämmerte.

 

„Willst du ins Bad?“

Erschrocken fuhr Florian herum und sah in Seth‘ Augen, die ihn müde anblickten. „Ja, genau, ins Bad!“

„Alles in Ordnung?“

„Ich glaub schon, bin etwas müde, entschuldige.“ Das war die perfekte Ausrede, die Seth hinnahm und sich gerade mal mit einer Jogginghose bekleidet ins Wohnzimmer begab. Mehr hatte Florians Kleiderschrank nicht hergegeben. Er war schmaler als Seth und trug an sich gerne engere Kleidung und somit konnte er nicht viel bieten, was seinem Gast passte. Allerdings hatte er ihm ein T-Shirt zur Verfügung gestellt, welches noch im Bad lag.

Eilig entkleidete sich Florian und steckte seine Kleidung zu Seth‘ in die Waschmaschine, welche er sofort anschaltete. Mit einem Kribbeln im Körper stieg er dann unter die Dusche. Die Vorstellung, dass vor wenigen Minuten noch sein heimlicher Schwarm darunter gestanden hatte und sich berührte, ließ seine Libido abermals Impulse durch seinen Körper schicken. Seine Hand glitt zum Temperaturregler und stellte das Wasser auf kalt.

Zitternd trat Florian ins Wohnzimmer, wo sich Seth auf der Couch ausgebreitet hatte und durch das aktuelle Programm im Fernseher schaltete. „Bequem?“

„Absolut“, grinste Seth und sah ihn dann an. „Du zitterst ja“, nahm er mit gerunzelter Stirn wahr, setzte sich auf und griff nach Florians Hand, um ihn zu sich zu ziehen. Kaum saß dieser zwischen seinen Beinen, schlang er eine Decke um sie und lehnte sich wieder zurück. Sanft rieb er ihm über die Arme, was Florian aufseufzen ließ. Die kalte Dusche war umsonst. Abermals stellte sich sein Schwanz auf und drückte fest gegen den lockeren Stoff seiner Trainingshose. Ein Glück lag die Decke über ihnen, somit konnte er sich wenigstens sicher fühlen, dass Seth es nicht mitbekam. Dessen Arme lagen mittlerweile um seinen Bauch und er fuhr mit den Fingern den Bauchnabel nach. Florian musste sich auf die Zunge beißen, damit kein Stöhnen nach außen drang. Das würde böse ausgehen, blamabel und sicherlich nicht in Seth‘ Sinn. Dennoch kreiste dieser weiter über Florians Bauch, zog dabei das T-Shirt zur Seite und berührte die blanke Haut. Das war zu viel, ein genussvolles Stöhnen entfloh seiner Kehle.

Statt dass sich Seth zurückzog, wie es Florian erwartet hatte, streichelte dieser weiter, breitflächiger über seinen Bauch. Genussvoll schloss er die Augen, lehnte seinen Kopf an Seth Schulter und betete, dass dieser nicht aufhörte.

 

Es war seine Chance, dessen war sich Seth nur allzu bewusst. Florian zerging gerade unter seinen Fingern, bemerkte scheinbar nicht einmal die Wirkung, die er auf ihn hatte. Hart drängte sich sein Glied an dessen Rücken und verlangte schmerzhaft nach Aufmerksamkeit. Der Anblick war aber auch die reinste Verführung, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, stöhnte Florian seine Lust heraus. Ein Kuss, Seth sehnte sich nach einem einzigen, intensiven Kuss, wie er es sich seit Jahren wünschte.

Langsam, sodass Florian jederzeit unterbrechen konnte, küsste sich Seth an dessen Kinn entlang. „Darf ich dich küssen?“

Verhangene braune Augen blickten tief in seine, das eine Antwort unnötig machte. Stattdessen vereinnahmte Seth die blassroten Lippen und drang tief in den Mund ein, den er schon so lange erobern wollte. Von diesem Gefühl, welches sich in seinem Magen breit machte, wollte er eindeutig mehr und scheinbar sah es Florian nicht anders, denn dieser drehte sich in seinen Armen um. Ihre Zungen duellierten sich und ihre Körper fanden den des anderen.

Sie rieben sich aneinander, versuchten jegliche Störung zwischen ihren Körpern zu entfernen, was jedoch bedeutete, dass sie sich lösen mussten. Eilig riss Florian sich das T-Shirt und die Hose vom Leib, während Seth sich sein Beinkleid abstrampelte.

Plötzlich sah ihn Florian schwer atmend an, Unsicherheit machte sich in seinem Gesicht breit, in seinen Augen flackerte die Angst.

Langsam umfasste Seth seine Hand, lächelte sanft und zog ihn zu sich. „Vertraust du mir?“

„Das habe ich schon immer, nur mir selbst nicht.“

„Du entscheidest, was passiert, kein anderer. Ich will dich nur berühren, dich in meinen Armen halten und wenn ich darf, küssen, wie ich es mir seit der Schulzeit wünsche.“ Seth verkniff sich ein Lächeln über das geschockte Gesicht von Florian.

„Seit … ich bin das damals … aber …“

„Du warst damals genau so berauschend wie heute. Als du weggezogen bist, dachte ich, du reißt mir mein Herz raus. Ich wollte dich nicht gehen lassen.“

Florians Lippen verzogen sich zu einem verlegenen Lächeln, seine Wangen verfärbten sich rot. „Und ich dachte, ich hätte nie eine Chance bei dir.“

Jetzt war es an Seth, irritiert zu schauen. „Du in mich, wie ich in dich?“ Ein einfaches Nicken bestätigte ihn seiner Annahme und dann war es um ihn geschehen. Er zog an Florians Hand, der sofort nachgab und neben ihm zum Sitzen kam. Seth setzte sich auf seinen Schoß, nahm Florians Gesicht zwischen seine Hände. „Immer noch?“

„Ich habe nie aufgehört, es nur verdrängt!“

„Bist du dir sicher? Wenn das wahr ist, lass ich dich nie wieder gehen, ich will dich dann immer bei mir haben.“

Kurz flackerte die Unsicherheit in Florians Augen auf. „Ich hab Angst!“

„Kann ich verstehen, doch ich nehme sie dir, genau wie die Befürchtung, dass ich dir wehtun könnte.“ Verlangend, um Bestätigung heischend, küsste Seth Florian. Nie wieder würde er ihn gehen lassen, niemals zulassen, dass ihm noch mal jemand wehtat.

Schon bald wurde der Kuss zärtlich und noch intensiver als zuvor. Seth drängte sich immer mehr an Florian und ließ ihn unmissverständlich wissen, wie dieser auf ihn wirkte.

„Seth, wenn du so weitermachst, leg ich dich flach und das meine ich so, wie ich es sage!“ Die verhangenen braunen Augen ließen keinen Zweifel daran, dass der Jüngere es ernst meinte.

Seth erfasste eine Gänsehaut und obwohl er diese Position im Bett selten einnahm, ging er darauf ein. Alles war ihm egal, Hauptsache, er durfte endlich die Verbundenheit mit Florian spüren, nach der er sich seit Jahren sehnte.

Dieser schien sein Vorhaben sofort umsetzen zu wollen, schmiss Seth rücklings aufs Sofa und schob sich über ihn. Das Verlangen in seinen Augen war deutlich zu sehen, der Blick nicht mehr ganz so verhangen, stattdessen schien er klar und deutlich wahrzunehmen, was er zu tun bereit war.

Wie gerne hätte Florian abgeschaltet, so wie er es in Seth Augen sehen konnte. Dieser lieferte sich ihm aus, vertraute und gab sich hin, wie er es einst auch getan hatte. Doch Florian konnte es nicht, so sehr es ihn nach dieser Nähe mit Seth gierte, so wenig konnte er vergessen, was passiert war, wie Lex ihn in solchen Momenten zu einer Marionette der Lust deklariert und verkauft hatte. Seine Hände streiften über Seth Seite, entlocktem diesem ein erregtes Stöhnen. Immer mehr drängte er sich an ihn, als wären sie die Verbindung schon eingegangen.

Florian kostete von dem Mann, den er schon so lange begehrte, spielte mit diesem und wusste, dass es ein Drahtseilakt war, Lust und das Verlangen nach Erlösung hinauszuzögern.

Jedoch durfte es noch nicht so weit sein, er wollte Seth genießen, alles von ihm haben, seinen Körper erkunden und seine Seele berühren. Bereitwillig hatte dieser die Beine unter ihm gespreizt, hob seine Hüfte immer wieder an, dass es sich Florian nicht nehmen ließ, zwei seiner Finger mit Speichel zu benetzen und zum Zentrum des Unterleibes glitt. Sanft rieb er über den Muskel, der unter seinen Berührungen zu zucken begann.

„Willst du das wirklich?“ Die Stimme war lediglich ein Hauch und Seth nicht fähig, ihm zu antworten. Er hatte sich selbst auf Florians Finger geschoben und empfing diesen mit einem lauten Stöhnen. Die Frage war vergessen, Florian gab seine Zurückhaltung auf und eroberte Seth mit Fingern und Mund.

Die Kontrolle zu behalten, mit dem Kopf klar dabei zu sein, war neu und doch extrem erregend für Florian. Wie Seth sich unter seinen Berührungen zu winden begann, dessen Lippen leicht offen und glänzend. Er war die pure Verführung und Florian hatte nicht vor, dieser zu widerstehen. Stattdessen belegte er Seth Mund mit seinem, um ihn gleichzeitig mit hochzuziehen.

„Schlafzimmer!“, kommentierte er sein Handeln. Sie taumelten durch den Flur, ertasteten ihre Körper und tauchten mit den Zungen in die andere Mundhöhle ein.

Kaum auf dem Bett, griff Florian in seine Nachttischschublade und nahm dort die Utensilien raus, die er vor Monaten das letzte Mal benutzt hatte.

Mit zitternden Händen streifte er sich ein Kondom über, drückte das Gel in seine Hand und schob sich über Seth. Während seine Finger wieder im Inneren verschwanden, sahen seine braunen Augen in die grünen unter ihm. Zärtlich berührten Seth‘ Lippen und Finger Florians Gesicht, umspielte mit seinem Daumen dessen Lippen. Zeitgleich mit Seth‘ Finger, der in seinen Mund eindrang, versenkte Florian sich tief in Seth.

Verbunden verharrten sie, genossen das Gefühl, welches beide vereinnahmte. Es schien, als würde die Zeit stillstehen.

Langsam wurde Seth unruhig, ließ sein Becken ein wenig kreisen und animierte so seinen Partner, nicht zu verharren. Es kam Bewegung in Florian, der das Verlangen der letzten Monate in sich schreien hörte. Mit einem sanften Kuss sah er Seth tief in die Augen und stieß dann zu. Jeder Stoß ließ beide nach Luft schnappen. Schweißperlen überströmten ihre Körper, so sehr sie die Erlösung herbeisehnten, schien der Drang, es ewig anhalten zu lassen, noch zu groß.

Immer schneller, tiefer und fester stieß Florian zu, ließ Seth vor Verlangen schreien und diesen Moment unvergesslich erscheinen. Vereint, wie sie es sich seit Jahren wünschten, mit einer Zukunft, die für sie zusammen geschrieben wurde.

 

Die Nacht war lang und intensiv, somit war es kein Wunder, dass sich Seth und Florian noch um zehn Uhr vormittags im Bett befanden. Jedoch schien einer etwas dagegen zu haben, denn das Telefon wollte nicht stillstehen. Erschöpft befreite sich Florian aus Seth Armen und griff nach dem Hörer, wo ihm Sekunden später sein Vater aufgeregt ins Ohr sprach.

„Hast du ihn gesehen? Ist er bei dir?“

„Hey Dad, was möchtest du? Wer soll bei mir sein?“

„Noah, ist er bei dir, oder hast du von ihm gehört?“

„Nein, weder das Eine noch das Andere. Was ist denn passiert?“ Florian stand auf und lief in Richtung seiner Küche, innerlich betend, dass nichts passiert war.

„Wir hatten mal wieder einen Streit“, seufzte Robert Kennedy. „Du weißt doch, wie er reagieren kann, ab und an ist er einfach etwas …“

„Sag mir jetzt nicht, du hast ihn wieder mit dem Thema genervt? Dad, ich bitte dich, er wird am besten wissen, ob er schwul oder hetero ist und muss sich das bestimmt nicht jedes Mal von dir anhören.“

Robert schnaubte. „Aber wenn ich doch davon überzeugt bin, dass er schwul ist und ich habe ja auch kein Problem damit, kann ich ihm das doch mitteilen, oder nicht?“

Florian schüttelte den Kopf und ließ sich am Esstisch nieder. „Ganz ehrlich? Nein, und das sage ich dir zum hundertsten Mal. Noah wird schon herausfinden, für welches Geschlecht sein Herz schlägt und braucht sicher nicht einen Vater, der es ihm sagt. Dass du nichts gegen Homosexualität hast, das weiß er. Und er ist abgehauen?“

„Allerdings. Mitten in der Nacht, mit vierhundert Dollar, einem zurückgelassenen Schreiben, dass er mal weg müsse von zu Hause. Bei Tom ist er nicht, sonst wäre er da schon heute Morgen angekommen, also dachte ich, er könnte zu dir sein.“

Das würde Florian gerade fehlen, sein sechs Jahre jüngerer Bruder, der ihm die Tür einrannte. „Ausgerechnet zu mir? Dad, er wird bei dem Thema nicht gerade mich …“ Es klingelte und mit einem mulmigen Gefühl bat Florian seinen Vater, zu warten. Als er die Tür öffnete, blickte er in die braunen Augen seines jüngsten Bruders. „Dad, er ist hier, ich melde mich später!“, legte er auf und trat zur Seite.

Die Ähnlichkeit der Brüder war nicht zu übersehen. Selbst den Gang und die Blicke schienen sie zu teilen. „Kaffee?“, fragte Florian und ging Richtung Küche zurück.

„Kakao, wenn es geht.“

„Klar und du fängst an zu erzählen, wieso du ausgerechnet bei mir aufschlägst und nicht bei Tom.“

Während Florian die Milch aufstellte und Kaffee aufsetzte, bediente sich Noah an einem Schrank, wo sein Bruder immer die Kekse hatte. „Dad hat sie nicht mehr alle und Tom fing auch schon an. Wieso denken alle, dass ich wie du bin?“ Es klang fast vorwurfsvoll.

„Oh entschuldige, wegen mir sei wie Tom. Noah, es ist mir egal, mit wem du dein Bett teilst, aber verdammt, akzeptier, dass ich eben einen Mann habe.“

Der Angesprochene grummelte und nahm den Kakao entgegen, den sein Bruder ihm reichte. „Ich habe nichts dagegen, dass du auf Männer stehst, aber ich stehe nicht auf sie!“

 

Seth rieb sich verschlafen durchs Gesicht und nahm das Gespräch wahr, welches aus der Richtung kam, wo er den Kakaoduft ausmachte. „Guten Morgen!“, trat er in die Küche und stockte. Er sah doppelt, zumindest machte es den Anschein, doch dann arbeitete sein schlaftrunkenes Gehirn. „Noah? Hey!“

„Seth? Oh bitte, nicht du …“

„Es freut mich auch, dich zu sehen. Was bitte, nicht ich?“ Lächelnd sah Seth zu Florian und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, welchen dieser mit leicht roten Wangen erwiderte.

„Du bist schwul? Warst du nicht immer der Mädchentraum?“

„Noah, im Gegensatz zu deinem Bruder war ich nicht mutig genug, zu mir zu stehen. Was ist bei dir los, dass du hier bist?“

Kurz berichtete Florian, was vorgefallen war und setzte sich dann mit einem Kaffee an den Tisch.

„Papa hat sie nicht mehr alle!“, kam voller Inbrunst von Noah.

„Hätte ich mal so einen coolen Vater, ich wäre froh. Aber gut, wenn du sagst, du stehst nicht auf Männer, ist das doch okay, aber was willst du hier?“, runzelte Seth die Stirn.

„Ich hab hier ein Stellenangebot … ich konnte es Dad nicht sagen, er will ja, dass ich weiter Schule mache, aber … das reizt mich.“

Florian sah seinen kleinen Bruder erstaunt an. „Du hast ein Jobangebot, hier?“

„So was wie eine Ausbildung. Sie waren von meinem Blick fürs Detail sehr angetan, du weißt, wie sehr ich auf Grafik stehe. Die Druckerei Stone hat mir dann angeboten, ein Praktikum zu machen.“

„Stone …“, überlegte Seth noch, als sein Freund zu lachen anfing. „Das sind John und Luc, oder?“ Ein Nicken bestätigte seine Annahme. „Oh Mann, die Welt ist echt zu klein.“

„Sollen wir dich hinbringen?“, fragte Florian.

„Nein, warum ich bei dir bin, ist eigentlich … ich bräuchte eine Unterkunft.“

Florian riss die Augen auf. „Du willst hier bei mir wohnen? Noah, ich weiß nicht, ob das gut geht.“

„Wieso denn nicht? Du hast doch ein Gästezimmer und sagtest, ich bin immer willkommen.“

„Ja schon, zu Besuch, aber doch nicht, um bei mir zu leben. Noah, bitte denk nach, was du sagst. Ich bin mit Seth zusammen und werde mich sicherlich nicht vor dir, oder wegen dir in meiner Wohnung zurückhalten und wenn ich dich erinnern darf, hattest du damit schon immer ein Problem!“

„Ich hab nichts gegen deine Veranlagung, aber …“

Seth zog Florian auf seinen Schoß und sah Noah mit gerunzelter Stirn an. „Was hast du gegen gleichgeschlechtliche Liebe?“

„Gar nichts, aber ich will damit auch nicht konfrontiert werden, reicht echt, wenn Dad ewig hinter mir her ist. Da muss ich mir so was nicht noch angucken. Aber ich verspreche, still zu sein, kein Ton zu nichts, wenn ich hier wohnen darf, Flo, bitte?“

 

Seth sah seinem Freund an, wie dieser in seiner Entscheidung wankte und so wunderte ihn das Kopfnicken nicht weiter. Doch würde das wirklich gut gehen?

Mit Sicherheit nicht, da war er sich sicher und in seinem Kopf geisterte eine andere Idee umher. Doch war es für diese an sich viel zu früh und wie er sie Florian schmackhaft machen sollte, wusste er ebenso wenig. Somit hieß es erst mal, die Situation hinzunehmen wie sie war.

„Aber du rufst jetzt Dad an und machst reinen Tisch, bevor Tom vor der Tür steht und mir die Hölle heiß macht, weil unser kleiner Bruder nicht die Eier in der Hose besitzt, Klartext zu reden.“

Grummelnd erhob sich Noah und verschwand ins Wohnzimmer.

„Ich habe nicht Jahre gewartet, um mich wegen deinem Bruder zurückzuhalten!“, grummelte Seth und küsste Florians Nacken.

„Das habe ich auch nicht vor, keine Panik, entweder kommt er damit klar oder muss sich was Eigenes suchen. Auf dich zu verzichten, kommt nicht infrage!“ Florian drehte sich um und setzte sich wieder auf seinen Schoss. Es waren nur kleine Bewegungen und doch durchzuckten Seth Impulse, die Stromschlägen gleichkamen.

„Flo, keine gute Idee!“

„Oh doch, eine sehr gute sogar. Soll er sich gleich dran gewöhnen.“ Das Grinsen auf seinen Lippen ließ Seth wissen, wie ernst es seinem Freund war. Langsam fing Florian an, sich auf seinem Schoss zu bewegen.

 

„Das ist doch nicht euer Ernst, oder?“ Noah stand entsetzt im Türrahmen und sah die zwei Männer an, die sich gegenseitig mit Lippen und Händen ertasteten.

„Oh doch, Bruderherz. Was sagt Dad?“

„Was soll er schon sagen? Begeisterung ist was anderes. Willst du mich vergraulen? Was soll der Quatsch?“ Dabei fuchtelte der Einundzwanzigjährige mit den Händen umher.

„Du willst bei mir leben, dann gewöhn dich an den Anblick. Mir egal, ob du nun schwul bist oder nicht, Noah, ich bin es und werde den Teufel tun, das zu verstecken.“

„Das habe ich auch nie verlangt, aber wenn du mich schon zu dir einlädst, dann kannst du auch Rücksicht nehmen.“

Florian riss die Augen auf und Seth hatte damit zu kämpfen, ihn auf seinem Schoss zu halten. „Eingeladen? Ich dich? Das schlägt ja wohl dem Fass den Boden aus. Ich hab dich bestimmt nicht eingeladen und auch wenn, heißt das nicht, dass ich mein Glück verstecken muss! Nur weil du nicht weißt, was du willst, auf was du stehst, muss sich die Welt nicht vor dir verstecken. Komm mal mit dir klar.“ Seth gab nach und ließ Florian aufstehen, der langsam mit einem schon fast als widerwärtig anzusehenden Lächeln auf seinen kleinen Bruder zuging. „Vielleicht turnt es dich ja sogar an, was wir hier tun, doch du willst es nicht akzeptieren. Eventuell hat Dad ja recht und du bist schwul, von den Haarspitzen bis zum kleinen Zeh.“

„Das ist nicht wahr!“

„Ach nein? Gib es ruhig zu, Kleiner, es macht dich an, zwei Männer miteinander zu sehen, wie sie sich berühren und einander hingeben, sehnst dich wahrscheinlich sogar danach, doch das würde ja nicht in dein perfektes Lebensbild passen. Du Spießer.“

Noah schnappte nach Luft, wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch ihm blieb scheinbar jedes Wort in der Kehle hängen. Seth hatte Mitleid, stand nun ebenfalls auf und legte Florian eine Hand auf die Schulter. „Lass es gut sein.“

„Wieso sollte ich? Nur weil er nicht zu sich selbst stehen kann? Noah hatte noch nie eine Freundin. Bis heute nicht mal Interesse an einer Frau, was liegt da näher, als dass er auch auf Männer steht? Aber mein kleiner Bruder will ja nicht wie ich sein. Lieber wie Tom, der Spitzensportler, der jede Frau flachgelegt hat.“

„Richtig, ich möchte normal sein, was ist daran verkehrt? Du verstehst mich nicht, nicht jeder ist so stark wie du!“ Mit einem verdächtigen Glitzern in den Augen verschwand Noah aus der Küche und der zuschlagenden Haustür zufolge auch aus der Wohnung.

 

Florian seufzte und ließ sich auf einem Stuhl nieder. Er war eindeutig zu weit gegangen. Vor allem, da er sich nicht mal sicher gewesen war, ob seine Behauptungen wirklich der Wahrheit entsprachen. „Ich hab ins Schwarze getroffen, oder?“

„Bull‘s Eye, würde man beim Dart sagen.“

„Verdammt. Und wie mache ich das jetzt wieder gut? Ich bin ein Idiot!“

„Da kann ich dir leider nicht helfen. Gib Noah Zeit, er muss sich selbst finden und deine klaren Worte werden genug in ihm ausgelöst haben, dass er sich Gedanken macht.“

Mit einem schiefen Blick bedachte Florian seinen Freund, doch dann musste er lächeln. Es war über den Morgen fast untergegangen, auch wenn sie sich noch so nahe waren. Nach derart vielen Jahren hatte er Seth für sich, dieser teilte seine Gefühle und erwiderte gerade genauso verlangend Florians Blick.

Wortlos nahmen sie sich an den Händen und verschwanden im Schlafzimmer. Florian glaubte es kaum, konnte sich selbst nicht verstehen, doch schon bald lag er unter Seth und bot sich ihm an. Das Verlangen in ihm war zu groß, als dass sein Verstand noch aktiv werden konnte. Trotzdem verließen seine Lippen kaum hörbare Worte, die Seth dazu veranlassten, sich auf der Matratze abzustützen und in Florians Augen zu sehen. „Nie wieder wird dir jemand etwas tun, was du nicht willst, erst recht nicht ich.“

Langsam sank Seth nieder und hauchte Florian einen Kuss auf die Lippen. So ungestüm, wie sie begonnen hatten, so zärtlich nahmen sie sich die nächsten Stunden Zeit.

Mit dem Duft von Schokoladenkuchen mit einem flüssigen Kern und frisch gemachtem Kakao mit Sahne und Schokoraspeln, der sie umgab, vergaßen sie für eine gefühlte Ewigkeit die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.

Schneeflocke


Noah und Gabriel

Vor Zorn liefen Noah die Tränen über die Wangen. Das Leben schien ihm unfair und brutal, doch nicht so, wie es viele Menschen zu sagen pflegten.

Seine Familie hatte sich gegen ihn verschworen und noch nicht einmal Florian hielt mehr zu ihm. Dabei hatten gerade sie beide immer ein gutes Verhältnis gehabt. Das war vielleicht der Tatsache zuzuschreiben, dass sie nicht miteinander aufwuchsen, zumindest nicht mehr, seit sich ihre Eltern getrennt hatten. Doch nun?

Wieso dachten alle, er sei schwul, nur weil er noch keine Freundin hatte. Es gab so viele Männer, die eben Zeit brauchten, andere warteten auf die richtige Frau, einzigartig und für ein Leben gedacht.

Bei ihnen akzeptierte man das wenigstens, doch bei ihm? Natürlich nicht, er musste schwul sein, auf Männer stehen. Wenn es nach seinem Vater ginge, würde er wohl jedem Hintern hinterherlaufen und bespringen. Sauer trat Noah einen Stein vor sich her und fluchte ungeniert.

Schon am nächsten Tag fing sein Praktikum in der Druckerei Stone an und nun hatte er nicht mal mehr ein Dach über dem Kopf. Alles lief schief in seinem sonst so geordneten Leben. Er war der jüngste Sohn in der Kennedy-Familie, hatte das Privileg, seine Brüder und seinen Vater beanspruchen zu können und tat das auch immer wieder. Doch nun? Noah wollte auf eigenen Beinen stehen und versank in seinem Leid, zumindest fühlte es sich für ihn so an. „Du bist echt zu dramatisch!“, rügte er sich selbst und fand sich schon bald in einem angrenzenden Park wieder. Seine Flüche prallten gegen die Bäume, die ihr herbstliches Kleid schon lange verloren hatten. Ende November und Noah saß auf der Straße. Der recht kühle Wind ließ ihn erschaudern. Er hatte alles bei Florian gelassen, seine kompletten Klamotten und selbst die Jacke. Ergeben setzte er sich auf eine Parkbank und schloss die Augen, den Kopf in den Nacken gelegt, atmete er tief durch und versuchte seine Gedanken zu ordnen.

 

Plötzlich landete etwas auf seinem Augenlid, schmolz und verwandelte sich zu einer Träne, die er nicht weinen wollte. Irritiert öffnete Noah die Augen und blickte zum blauen Himmel, von dem kleine kristallisierte Flocken auf ihn nieder fielen. „Was zum Teufel …“

Irritiert erblickte er eine dunkle Gestalt, die über ihm erschien, dessen lange schwarze Haare seine Wange streiften und kristallblaue Augen, die in seine sahen. „Der Park ist gesperrt!“, funkelte der Fremde ihn an.

„Hab ich nicht gesehen, entschuldige, aber …“

„Schnee. Kristallisiertes Wasser, falls dir das was sagt und nun verschwinde!“ Mit diesen Worten verschwand der Mann und Noah konnte ihm nur sprachlos hinterherschauen. Was war das gewesen und wieso schneite es? Sicherlich, die globale Erwärmung vermochte schon einiges zustande bringen, aber Schnee, hier? Das würde Schlagzeilen machen und … Dann sah er den Unbekannten an einer Maschine stehen, aus der künstlich erzeugte Flocken auf die Erde niederrieselten.

„Das muss mehr werden, so bekomme ich hier keine Winterlandschaft hin! Wo sind die verdammten Models? Wie soll man so seine Arbeit machen?“ Genervt fuhr sich der Mann durch sein schulterlanges, schwarzes Haar und band es zu einem Zopf zusammen. Scheinbar hatte dieser Noah immer noch im Blick, denn er drehte sich abrupt um. „Habe ich mich eben missverständlich ausgedrückt? Du hast hier zu verschwinden! Der Park ist gesperrt, also verpiss dich!“

 

Schluckend stand Noah auf und wagte es nicht, einen Ton zu sagen, als hinter dem Fremden zwei Männer auftauchten. „Hey Gabriel, alles in Ordnung?“

„Nein, Christian! Kein Mensch kann mehr Schilder lesen, die Welt verdummt!“

Stirnrunzelnd wurde Noah von einem Mann gemustert, der ein kleines Kind auf dem Arm trug. „Noah Kennedy?“

„Ähm … woher kennen Sie meinen Namen?“

„Du siehst Flo wirklich verflixt ähnlich. John hat nicht übertrieben. Hallo, ich bin Stephan Black, Mitbegründer der Werbeagentur Black & White und das ist Christian White, mein Partner, wir sind Freunde von John und Luc Stone und …“

„Die Chefs meines Bruders. Guten Tag, es ist mir eine Freude!“

„Das will ich hoffen, denn ab morgen wirst du wohl mit uns zusammenarbeiten, damit unsere Farbvorstellungen umsetzbar sind. Luc sprach von einem virtuellen Auge; was haben wir darunter zu verstehen?“

War Noah gerade noch verschreckt, fühlte er sich jetzt wohl. Das Thema brachte ihm Selbstsicherheit und einen klaren Verstand. „Eigentlich ist es ein Defekt, wie es Ärzte nennen. Ich sehe Pixel und somit die kleinsten Farbfehler, ohne ein fotografiertes, digitalisiertes Bild. Wenn ich euch ansehe, sehe ich Pixel, kein klares Bild. Für mich ist das normal, für die Wissenschaft nicht.“

Gabriel runzelte die Stirn, ging einige Schritte auf Noah zu, der damit zu kämpfen hatte, stehen zu bleiben. Der Mann mit den langen, schwarzen Haaren und extrem blauen Augen ließ in seinem Körper einen uralten Fluchtinstinkt erwachen. „Du hast also den perfekten Blick?“

„Es ist alles andere als perfekt, aber ich kann Farbunterschiede wahrnehmen. Wenn Sie Ihre Tagescreme mit einer Spur Make-up besser verteilt hätten, wären auf Ihrem Gesicht zum Beispiel keine Flecken zu erkennen.“ Innerlich duckte sich Noah schon, denn er erwartete nichts anderes als einen verbalen Schlag, wenn nicht sogar einen nonverbalen. Schon zu oft hatte ihm sein großes Mundwerk blaue Flecken beschert.

„Das ist eine haltlose Unterstellung, ich benutze sicher kein Make-up“, erboste sich Gabriel, doch wurde durch ein Lachen unterbrochen.

Stephan schlug dem Fotografen auf die Schulter. „Der Kleine hat recht. Also ist es wahr, was Luc sagt, du könntest ein Glücksgriff für sie und uns sein.“

„Meinen Sie das ernst? Bisher war es eher umgekehrt. Meine Noten sind nicht sonderlich, bis zur letzten Klasse, weil ich die Ankreuzfragen nie wirklich beantworten konnte. Mir verschwimmt bei solchen Dingen gerne das Bild.“

„Dafür kannst du allerdings genau das sehen, was in unserer Branche wichtig ist. Ja, ich denke, du bist ein Glücksgriff. Bist du verplant, oder könnten wir deine Fähigkeiten schon beanspruchen?“

Noah rieb sich über seine immer kälter werdenden Arme und sah unsicher zu den Männern. Eigentlich stand ihm nach allem den Sinn, nur nicht danach, in diesem kalten Park zu bleiben, ohne Jacke oder etwas dergleichen Wärmendes. Das blieb wohl Stephan nicht verborgen, der sich abwandte und kurze Zeit später mit einer Fleece-Weste wieder kam. „Ich hoffe, das wärmt ein wenig. Ist etwas kalt, um ohne Jacke rumzulaufen.“ Interessiert erhob Noahs Gegenüber seine Augenbrauen.

„Ich weiß, meine Sachen liegen bei Florian, wir haben gestritten.“

„Man kann mit Florian streiten? Wie das?“, interessierte sich Christian und sie folgten nebeneinander herlaufend Gabriel, dessen verzogene Miene nicht gerade von Begeisterung zeugte.

Noah grinste das kleine Mädchen an, welches fasziniert zum Himmel sah, wo immer noch kristallisierte Flocken hinabfielen. „Das geht schnell, wenn man der kleine Bruder ist und nicht ganz versteht, wieso Männer als Paar zusammenleben müssen.“

Die Gesichter der zwei Männer neben ihm versteinerten, wechselten einen kurzen Blick, bevor Christian tief durchatmete. „Du hast was gegen gleichgeschlechtliche Paare?“

„Es geht mich nichts an, was wer in seinem Bett treibt, jedoch wünsche ich mir, davon verschont zu bleiben. Es betrifft mich nicht!“

„Dir ist bewusst, dass du gerade mit zwei dieser Männer sprichst und auch deine zukünftigen Chefs alles andere als Brüder sind? Ich denke, wir verzichten heute auf eine Zusammenarbeit!“

„So war das doch nicht …“ Noahs Worte wurden nicht weiter beachtet, stattdessen verabschiedete man ihn mit einem abwertenden Blick. Seufzend wandte er sich ab, fand sich schon bald vor der Haustür seines Bruders wieder. Doch statt zu klingeln, blieb er davor sitzen, zog die Fleece-Weste fester um seinen Körper und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Mit dem Kopf an der kalten Mauer sah er zum Himmel, der sich langsam zuzog und Regen ankündigte. Damit hatte sich das Shooting wahrscheinlich erledigt und es war nicht mal so tragisch, dass er … „Schönrederei!“, fluchte er leise. „Ich bin so ein Idiot! Ein homophober Idiot!“ Krampfhaft verdrängte er ein weiteres Mal die Tränen. Wie konnte er sich nur so vergessen und wieso hatte er nicht einfach seinen Mund gehalten? Schwer seufzend schloss Noah die Augen und rutschte näher an die Haustüre, denn der eben erahnte Regen kam auf der Erde an.

Die Augen geschlossen, spürte er das Wasser, welches sich in seine Schuhe schlich, die Kälte, die sich durch die Weste drängte und die Müdigkeit, welche seine Gedanken zum Erlahmen brachte. Eindeutig, dieser Tag war dazu gedacht, vergessen zu werden. Nicht existent zu sein, vor allem weil Noah nicht wusste, wo er hin sollte. Natürlich war ihm bewusst, das Florian ihn niemals vor der Tür stehen lassen würde und doch schämte er sich abgrundtief vor seinem Bruder. Eine Entschuldigung war fällig, jedoch im Augenblick undenkbar. In  Noahs Innerem sträubte sich alles dagegen, beharrte auf seinem Recht.

Immer gleichmäßiger wurden die Atemzüge, immer schwerer die schon geschlossenen Lider.

 

Das Rütteln an seiner Schulter ließ Noah erschrocken nach Luft schnappen, was ein brennendes Gefühl in seinen Lungen auslöste. Mit einem schmerzverzerrten Gesicht öffnete er die Augen und sah in die von Seth.

„Verdammt, wie lange sitzt du schon hier?“

Mühsam versuchte Noah auf die Beine zu kommen, was jedoch misslang. Das Krächzen, das aus seinem Mund drang, hörte sich fremd an und war selbst für seine Ohren nicht zu verstehen.

Eindeutig hatte er zu lange draußen gesessen. Sein Körper war steif vor Kälte und diese war bis in jedes Organ vorgedrungen, wie es sich für Noah anfühlte. Nur mit Hilfe von Seth schaffte er den Weg bis zu Florians Wohnung.

Sein Bruder ließ eine Schimpftirade los und verfrachtete ihn erst einmal mit Wärmflasche und heißem Tee ins Bett.

Es war Noah egal, alles schien ihm plötzlich gleichgültig, war er doch zu keinem Gedanken mehr fähig. Hauptsache, er konnte seine Augen schließen. Davon brachten ihn nicht mal die Schmerzen ab, die sich durch die Wärme in seinem Körper ausbreiteten.

 

„Homophob ... Der Blick … Bist du sicher, dass ihr Brüder seid?“

Bruchstücke eines lautstarken Gespräches drangen an Noahs Ohr. Er konnte die Stimmen nicht zuordnen, aber eine, so tippte er, war von seinem Bruder und zwar diese, die ihn vehement verteidigte.

„Ich bitte euch, so ist er wirklich nicht. Mag sein, dass er ein paar Probleme damit hat, aber sicher nicht, weil er homophob ist!“

„Ach nein? Sein Blick sagte alles. John und Luc werden nicht begeistert sein und wir sind es auch nicht. Ich soll eng mit ihm zusammenarbeiten und dann jedes Mal seine Abneigung spüren?“

„Stephan, du bist Geschäftsmann, ist doch nicht das erste Mal, dass jemand was gegen deine sexuelle Orientierung hat. Auch Luc und John werden damit klarkommen müssen, sie haben einen mündlichen Vertrag mit Noah. Und er … dich kenn ich nicht, aber erzähl du mir nicht, du wirst überall kommentar- und blicklos angenommen.“ Florian war hörbar in Rage. So kannte ihn Noah, das war sein großer Bruder, der alles für ihn tat und ihn verteidigte, wo es nur ging.

Die folgende Stimme ließ ihn aufschrecken, denn er kannte sie bereits.

„Ich bin Gabriel und ja, du hast recht, jedoch hat noch keiner gewagt, auf diese Art mit mir zu reden.“

„Ihr macht geradeso, als hätte er euch beschimpft. Gott, jeder von uns kennt Worte wie Schwuchtel, oder gar noch unterirdischere, also stellt euch jetzt mal nicht an wie die sprichwörtliche Jungfrau.“

Noah konnte sich vorstellen, wie sein Bruder sich durch die Haare fuhr, nachdem er eine theatralische Geste mit seinen Händen getätigt hatte. Doch das Lachen, welches seinen Mund verlassen wollte, blieb darin stecken, stattdessen hustete er los. Ehe einer im Schlafzimmer auftauchen konnte, wankte er umhüllt mit der Decke hinaus und verschwand direkt ins Bad. Nachdem er dort seinen Hustenanfall hinter sich gebracht hatte, fühlte er sich wieder kraftlos und müde.

Taumelnd trat er ins Wohnzimmer und nahm auf dem großen Sofa Platz. Neben wen er sich da gerade gesetzt hatte, bemerkte er nicht einmal. Stattdessen war Noah froh, etwas im Rücken zur Verfügung zu haben, gegen das er sich lehnen konnte und irgendwoher kam sogar eine Kopfstütze. Seine leicht schräge Sitzhaltung ermöglichte es ihm, seinen Bruder und Christian mit Stephan durch seine verschwommenen Augen zu sehen. „Es tut mir leid!“, brachte Noah mit krächzender Stimme heraus. Den Blicken, die ihn trafen, konnte und wollte er nicht standhalten, zu sehr trieb ihn das schlechte Gewissen seinem Bruder gegenüber. Sein von der Erkältung geschwächter Wille ließ dieses unwohle Gefühl in seinem Inneren ausbreiten, ohne dass er sich wehren konnte. Florian hatte so einen Bruder wie ihn nicht verdient. Wie gerne hätte Noah die aufkommenden Tränen einfach hinabschluckt, doch ein Hustenanfall hinderte ihn daran. Wie ein nicht enden wollender Fluss bahnte sich die salzige Flüssigkeit seinen Weg. Er wusste sich nicht anders zu helfen und versteckte sein Gesicht im Stoff der Rückenlehne.

Dass diese jedoch kein weiches Polster hatte, nach Aftershave roch und sich auch noch gleichmäßig bewegte, kam selbst in Noahs vernebeltem Gehirn an. Stirnrunzelnd versuchte er seinen Kopf anzuheben und sah hinter sich. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickten ihn kristallblaue Iriden an.

Scheiß drauf!, dachte Noah, lehnte sich wieder zurück und versuchte zu verdrängen, dass er gerade irgendwen als Lehne missbrauchte. „Eben waren Typen wie ich dir noch zuwider und nun meinst du, ich stütze dich?“

Die Stimme ging Noah durch Mark und Bein, sammelte sich im Bauch und ließ seinen Magen rebellieren. Er wollte sich aufrichten, versuchte es mit aller Gewalt, doch seine Glieder waren zu schwach. Statt sich aufzusetzen, rutschte er an Gabriel hinab und landete mit dem Kopf auf dessen Schoß.

„Er glüht!“, riss dieser die Augen auf, als er Noahs Gesicht in seine Hände nahm. Sicherlich hatte er nicht vorgehabt, dessen Temperatur zu fühlen, doch jetzt schien echte Besorgnis in der Stimme mitzuschwingen.

Noah grinste, oder versuchte etwas dergleichen zu sagen wie: „Mich derart verachten und sich dann Sorgen machen?“ Er wusste nicht, wem die Stimme gehörte, die die Worte ausgesprochen hatte, doch seine war es mit Sicherheit nicht. Krächzend, kaum zu verstehen und vor allem rau wie ein Reibeisen. Der nächste Hustenwall ließ seine Lungen brennen.

Ehe er sich versah, spürte er Arme, die sich unter ihn schoben und ihn anhoben. Gabriel trug ihn zurück ins Schlafzimmer.

Noah hätte gerne reagiert, auch wenn er nicht wusste, wie … Gabriel schlagen, oder die Nähe genießen? Körperliche Nähe zu einem Fremden war für ihn nicht normal. Vor allem nicht bei einem Mann.

Wie viele Frauen er schon im Arm gehalten hatte, konnte er beileibe nicht zählen, dagegen schon, wie oft er geküsst wurde.

Nicht ein einziges Mal. Niemals waren seine Lippen von einem berührt worden, der nicht mit ihm verwandt war, noch hatten sie sich dazu berufen gefühlt. Somit konnte man zu Recht behaupten, dass er mit seinen 21 Jahren ungeküsst war, eine Jungfrau und unberührt … wenn man ihn selbst nicht mitzählte. Doch diesen Gedanken verdrängte er lieber.

Somit konnte er die Theorie seines ältesten Bruders Tom getrost beiseite

schieben, dass er asexuell war. Denn Noahs Interesse an körperlicher Nähe war genauso ausgeprägt wie das von anderen. Jedoch hatte er sich nie getraut, das offen zu zeigen oder auszusprechen. Es gab niemanden, der bei ihm dieses Verlangen ausgelöst hatte und wie Tom zu sein, der sich mehr als eine Freundin gehalten hatte, oder Florian, der … Noah wollte nicht an seinen zweitältesten Bruder denken. Sie teilten sich so viel, beileibe nicht nur das Aussehen, was selbst die gefärbten schwarzen Haare mit einschloss.

Wie ähnlich sich die Brüder waren, erkannte man sicher an der Haarfarbe, denn sie hatten die gleiche Farbe gewählt, ohne es von dem anderen zu wissen. Passend zu den braunen Augen, die sie von ihrem Vater vererbt bekommen hatten.

 

Ein Ruck ging durch Noahs Körper, als Gabriel am Bett ankam und dagegen stieß. Automatisch verfingen sich seine Finger in dem Oberteil des Fotografen und wollten nicht loslassen, suchten Halt, insgeheim sogar Nähe. Der unfreundliche, fast rüde Mann vom Park hatte Eindruck bei Noah hinterlassen, ob dieser nun gut oder schlecht war, vermochte er nicht zu sagen.

Zumindest ließ der ihn auf dem Bett nieder, doch Noah dachte nicht daran loszulassen, stattdessen hielt er sich noch stärker am Pullover fest.

Sanft berührten Finger die seinen und versuchten sie zu lösen. „Glaub mir, Kleiner, so nah willst du mir gar nicht sein!“, flüsterte Gabriel rau und viel zu dicht an Noahs Ohr. Dessen Körper erschauderte. Langsam öffnete er seine Augen und sah den Mann über sich fragend an. „Nun guck nicht so. Du hast kein Interesse an Männern, ich schon, und die Nähe, die du hier suchst, kostet dich zu viel, als dass du sie halten möchtest.“ Noah öffnete den Mund, um ihn dann wieder zu schließen. Was antwortete man auch auf eine solche Äußerung und was würde es kosten? Es schien, als hätte Gabriel seine Gedanken gelesen, denn dessen Gesicht näherte sich, der Atem streifte Noahs Lippen. „Du kennst die Antwort auf deine Frage.“ Zwinkernd zog er sich zurück und löste endgültig die Finger aus seinem Pullover.

 

Ergeben schloss Noah abermals die Augen, ließ das Vibrieren sich in seinem Körper ausbreiten und genoss den Geruch von Gabriel in seiner Nase. Das war nicht gut und er wusste genau, dass er dagegen ankämpfen musste, doch schaffte es einfach nicht.

Schwarze lange Haare, die durch seine Finger glitten; sanfte Lippen, die sich auf seine legten; Hände, die seinen Körper erkundeten … Noah schreckte hoch, brach in einen Hustenanfall aus und blickte in das Gesicht eines ihm fremden Mannes. Eindeutig nicht Gabriel und doch steckten dessen Hände unter seinem T-Shirt.

„Mister Kennedy, atmen Sie tief ein und aus. Ich bin Phil Herold, der Arzt Ihres Bruders.“

Tief durchatmen? Der Mann war lustig, Noah war froh, überhaupt Luft in seine Lungen zu bekommen. Trotzdem hörte er auf den Arzt und legte sich zurück. Dieser horchte seine Brust ab, dann den Rücken. „Seit wann hat er diesen Husten?“, wandte sich der Mann an eine Person hinter sich. Erst da bemerkte Noah seinen Bruder.

„Seit heute Mittag, er war etwas zu lange in der Kälte!“

Noah schloss fest die Augen und verkniff sich zu sagen, dass er seit einer Woche immer wieder Fieberschübe hatte. Es war nur keine Zeit geblieben, um krank zu machen, und so hatte er sich dem widersetzt und weitergemacht. Das war nun die Rechnung für seine Missachtung dessen, wundervoll. Noah trat sich geistig in den Hintern.

Scheinbar brauchte er sich auch nicht erklären, denn der Arzt sah ihn kritisch an. „Das ist nichts Neues für Sie, wie mir scheint, dann werden Sie die Prozedur kennen.“ Dabei zog er ein Fläschchen und eine Spritze aus dem Koffer.

Heftig schüttelte Noah den Kopf und versuchte Abstand zwischen sich und den Arzt zu bekommen. „Nein!“, krächzte er verzweifelt. Spritzen waren für Noah die schlimmste Strafe, seit der Kindheit fürchtete er sich davor und selbst seine Familie konnte dem nicht entgegenwirken. Ein Arzt im Krankenhaus hatte ihn deshalb schon einmal anbinden lassen, was seine Angst nur noch geschürt hatte.

Noah vernahm seinen Bruder, der nach Gabriel und Stephan rief, die kurz darauf neben das Bett traten. Hektisch schüttelte Noah mit dem Kopf, suchte einen Weg wegzukommen, doch die Männer versperrten jegliche Möglichkeit. „Bitte nicht!“, ging sein Blick zu Gabriel, der ihn mit versteinerter Miene ansah. Langsam glitt dieser jedoch neben ihn aufs Bett und runzelte die Stirn. „Solche Angst?“ Ein eifriges Nicken war die Antwort. „Wovor?“

„Der Spritze, das tut weh und … ich will das nicht!“ Dass Noah überhaupt einen Ton rausbekam, empfand er als ein Wunder, doch noch mehr verwunderte ihn Gabriels Nähe und dessen Blick.

Es war, als würde die Zeit einfach aussetzen, vergessen weiterzulaufen und ließ Noah die Zeit, den Mann zu betrachten. Eisblaue Augen in einem kantigen Gesicht. Schwarze, lange Haare, geschickt zu einem Zopf gebunden. Kein Bart, nur einen leichten Schatten.

Plötzlich stach etwas und Noah fuhr herum, blickte in die grinsenden Gesichter seines Bruders und des Arztes, der gerade die Spritze herauszog. „Sehen Sie, Mister Kennedy, alles halb so schlimm. Jetzt lassen Sie sich noch etwas von Ihrem Freund trösten und dann schlafen Sie richtig aus, ich werde morgen wieder nach Ihnen sehen. Alles Weitere kläre ich mit Ihrem Bruder!“ Damit entfernte sich der Doktor samt grinsendem Florian und Stephan.

 

Noah sank zurück in sein Kissen und schloss verzweifelt die Augen, das durfte keiner gesehen haben, das war auch nicht wirklich geschehen. Er war im Fieberwahn, eindeutig, nicht anders war das zu erklären. Wie sehr wünschte er sich, dass sich ein Loch auftat, welches ihn verschluckte. Stattdessen strömte weiter Gabriels Duft und Wärme zu ihm.

„Ich dachte, du hast was gegen Schwule!“, durchbrach Gabriel nach Kurzem die Stille, erhielt nur ein Kopfschütteln zur Antwort. „So? Kleiner, du solltest dir bewusst werden, was du willst, sonst spielst du mit dem Feuer und glaub mir eins, ohne Verbrennungen kommst du nicht davon!“

„Hab ich irgendwas gesagt?“ Wie gerne hätte Noah auch so angriffslustig geklungen, wie er sich in seinem Kopf ausmalte, doch stattdessen hörte es sich nach einem Schuldeingeständnis an. Leise wispernd und mit rot glühenden Wangen.

„Du hast Schonfrist, aber glaub mir, so schnell vergesse ich das hier nicht.“ Mit diesen geflüsterten Worten, die Noahs Lippen getroffen hatten, verschwand Gabriel und ließ ihn alleine.

 

Verstört blickte Noah an die Decke und fragte sich, ob er das alles nur geträumt hatte. Mittlerweile war es draußen dunkel, die Blase drückte und seine Kehle schien in der Wüste unterwegs gewesen zu sein. Trotzdem bekam er sich nicht aufgerafft, dachte unentwegt an Gabriel und dessen Versprechen. Egal was Noah tat, er bekam den Gedanken nicht aus seinem Kopf, spürte den Atem des anderen auf seinen Lippen. Gabriel hatte sich fast seinen ersten Kuss gestohlen und irgendwas in ihm sagte, dass dieser es auch noch schaffen würde.

„Nein!“, entkam es ihm hustend. Das musste er verhindern, er würde nicht wie Florian werden, das war unmöglich, die Kraft besaß Noah nicht. Er war nicht so stark wie sein zweitältester Bruder.

Auf wackeligen Beinen richtete er sich auf und stützte sich an der Wand ab, um ins Bad zu kommen. Jeder Atemzug stach in seine Lungenflügel, dass er dachte, sie sich rausreißen zu müssen.

Wortlos stand plötzlich Seth neben ihm und half Noah. Er wartete auf ihn und geleitete den Bruder seines Freundes zurück ins Zimmer, wo bereits eine Tasse mit heißem Tee stand, welche sich Noah aneignete. Er lehnte sich gegen das Rückengestell des Bettes und ließ sich von Seth zudecken, der sich dann neben ihn setzte.

„Wie geht es dir?“ Noah wackelte mit dem Kopf, was seinem Gegenüber wohl genug Antwort war. „Wenn man dem Arzt glauben mag, wird es dir schnell besser gehen. Was war das eben mit Gabriel? Stephan und Florian haben sich kaum eingekriegt.“ Noah schloss ergeben die Augen und spürte die Hitze, die sich in seinem Gesicht ausbreitete. „Na, was denn nun? Hast du Interesse an Frauen oder Männern?“

„Ich weiß es nicht, aber ganz sicher nicht … es darf kein Mann sein!“

„Es darf nicht und wieso? Noah, was hast du für ein Problem damit?“

Er lehnte seinen Kopf zurück und seufzte, wie sollte er es auch erklären. „Nur wegen Flo ist Mum weg, weil er … und davor, es hat alle belastet, ich will keine Belastung sein!“

Seth seufzte und Noah konnte durch einen Spalt seiner Augen ein Lächeln erkennen. „Deine Mum ist nicht wegen Flo weg. Du warst damals noch sehr jung, hast es vielleicht falsch verstanden? Sie hatte sich neu verliebt, in einen Geschäftspartner. Ich weiß noch, wie Tom deshalb ausgeflippt ist. Euer Vater dagegen hat gelächelt und seinen Sohn beruhigt. Es stand wohl schon lange fest, dass ihre Ehe zu Ende war.“

„Woher?“ Noahs Hals fühlte sich wie eine offene Wunde an, in der jemand herumkratzte.

„Hey, ich bin bei euch ein- und ausgegangen. War der beste Freund von Tom, meinst du ehrlich, ich hätte das nicht mitbekommen? Wir waren älter, an sich schon erwachsen. Dein Vater hat mit uns ein Bier getrunken und uns erzählt, was los ist.“

„Aber Flo ist mit Mum!“

„Weil es für mich hier leichter war, ein neues Leben, ein Neuanfang. Ich will nicht bestreiten, dass meine Homosexualität auch für eine Belastung daheim gesorgt hat, aber wenn du dir bei einer Sache sicher sein kannst, dann, dass unsere Eltern uns lieben, wie wir sind. Sie haben mir nie Vorhaltungen gemacht oder Sprüche gerissen, von wegen Phase … sie sind tolle Eltern.“ Florian nahm neben seinem Bruder Platz und zog ihn an sich. „Mum hatte diesen Mann kennengelernt, daraus wurde nichts, aber ihre Beziehung zu Dad war dahin. Sie sind Freunde, das weißt du selbst, und das ist doch schöner, als wenn sie unglücklich wären.“ Noah nickte ergeben und lehnte sich bei seinem Bruder an. „Du warst damals um einiges jünger und Dad wollte dich damit nicht belasten. Sie sind den Weg gegangen, weil es der beste für sie beide war. Und genau das wollen sie auch für dich!“

„Ich bin nicht schwul!“, seufzte Noah und schloss die Augen.

Florian nahm ihm die Tasse aus der Hand. „Wegen mir, solange du glücklich bist mit dem, was du bist, ist alles in Ordnung. Keiner erwartet von dir, dass du dir den nächstbesten Kerl oder die nächste Frau schnappst, nur dass du glücklich bist und so siehst du momentan nicht aus.“

„Bin krank!“

„Das auch, aber vor allem bist du einsam. Noah. Hast du je jemanden geküsst, der nicht zu unserer Familie gehörte?“ Sanft strich Florians Hand über seine Wange, als Noah den Kopf kaum merklich schüttelte. „Und doch hast du es dir eben gewünscht, bei Gabriel!“

Wie gern hätte Noah sich nun erbost erhoben, seinen Bruder zur Seite gestoßen und widersprochen, doch das konnte er nicht. Sein Körper war zu schwach und Florian hatte recht. „Seine Haare sind faszinierend und die Augen vereinnahmend!“ Ob man ihn verstand oder auch nicht, darüber wollte er sich keine Gedanken machen, zählte stattdessen auf, was ihn an dem Mann mit den schwarzen, langen Haaren so faszinierte, während er in einen ruhigen Schlaf glitt.

 

Eine Woche später stand Noah in der Druckerei Stone und wartete darauf, dass er den Chefs gegenübertreten konnte. Wie er mittlerweile wusste, handelte es sich auch bei diesen um ein homosexuelles Paar, das sogar den Bund der Ehe geschlossen hatte. Ob es in dieser Stadt auch heterosexuelle Menschen gab? Noah war sich da nicht ganz so sicher wie Seth, der ihn für diese Frage ausgelacht hatte. Dieses Lachen dröhnte noch in seinen Ohren und hinterließ bei ihm ein Kopfschütteln und ein schweres Seufzen. Jeder, den er bis dahin kennengelernt hatte, war nun mal schwul, selbst die eine Frau in der Apotheke hatte kein Geheimnis daraus gemacht, auf die Kundin hinter ihm ein Auge geworfen zu haben. Was war das nur für eine verdrehte Stadt? Vielleicht lag es am Trinkwasser oder ein Experiment irgendwelcher Wissenschaftler war schief gelaufen und nun war die Luft geschwängert von homosexuellen Stoffen.

Gut, vielleicht übertrieb er in Gedanken, das musste er einsehen und doch war es merkwürdig.

Zudem beschäftigte ihn eine Frage, seitdem sein Bruder ihn immer wieder mit Gabriel konfrontiert hatte, ein Glück nur mit Worten. Wer war in einer schwulen Beziehung welcher Part? Bei Seth und Florian war er bis jetzt nicht dahinter gekommen, ebenso wenig bei Christian und Stephan, irgendwie war das bei den Paaren nie eindeutig. Einer musste doch unten liegen, oder etwa nicht? Ob sie abwechselten?

„Guten Tag, Sie müssen Noah Kennedy sein, mein Name ist Luc Stone!“, betrat ein blonder Mann das Büro und reichte ihm die Hand.

„Das ist richtig, Mister Stone. Es freut mich, Sie kennenzulernen und ich danke für die Chance, hier ein Praktikum machen zu können.“

„Wir freuen uns, dass Sie unser Angebot angenommen haben. Bitte setzen Sie sich, dann werden wir die Formalitäten klären.“

Schnell musste Noah feststellen, dass es kein normaler Praktikumsplatz war, den er angeboten bekam. Der Vertrag belief sich auf ein Jahr, Probezeit sechs Monate und ein Gehalt, von dem er nicht zu träumen gewagt hätte. Ein kleiner Absatz ließ sein Herz schneller schlagen, denn dieser besagte, dass es zu einer Übernahme kommen würde, mit Weiterbildungen und schulischen Kursen, wenn beide Seiten mit der Arbeit zufrieden wären. Das war eindeutig mehr, als er je erwartet hatte.

„Sind Sie mit den Konditionen zufrieden?“, sah Luc Stone ihn fragend an. Noah konnte nur nicken und unterschrieb den Vertag mit einem Lächeln im Gesicht. „Das freut mich zu hören. Wir halten es intern im Haus gerne beim Du, wäre Ihnen das recht?“

„Klar, gerne!“, ergriff er die Hand. „Noah!“

„Luc! Auf gute Zusammenarbeit. Wo mein Mann bleibt, frage ich mich allerdings schon, er wollte dich unbedingt kennenlernen, seitdem er hörte, dass du Florians kleiner Bruder bist.“

„Ihr wisst … was noch?“

„Alles, aber keine Bange, auch wenn sich die anderen darüber erbost haben, sind wir ziemlich offen und lassen jedem sein Leben“, lachte ein Mann, der sich sogleich als John Stone vorstellte. „Herzlich willkommen in unserem Unternehmen. Ich hoffe, auch du bist so offen wie wir es sind?“

„Ja, so war das ja auch nicht gemeint, wirklich nicht. Ich hab nur etwas die Nerven verloren und … ich bin nicht homophob!“ Gerade kam sich Noah wie ein Kleinkind vor, das von den Eltern gerügt wurde und sich verteidigen musste.

„Das ist natürlich noch besser, es wäre doch sehr hinderlich in unserer Firma. Ich würde sagen, ich bringe dich an deinen Arbeitsplatz.“ Mit einem Wink ging John voran und so hatte Noah auch die Möglichkeit, diesen zu begutachten. Ebenso ein Mann wie Luc, breite Schultern, dunkle Haare, einen Bartschatten, der ihn leicht verwegen aussehen ließ. Doch auch Luc stand dem nicht nach, es mussten wenige Zentimeter sein, die das Paar trennte und die blonden Haare, das recht junge Aussehen bewirkten bei diesem den Eindruck eines … Sunnyboys. Noah erinnerte sich vage an diesen Ausdruck für die Männer am Strand, welchen Frauen gerne nutzten. Auch wenn das Wort einen Jungen betitelte, machte Luc nicht gerade den Eindruck eines solchen. Ob Noah es wagen konnte zu fragen? Eilig verdrängte er diesen Gedanken und konzentrierte sich auf John, der sich zu ihm drehte und erklärte, welche Arbeitsschritte in der Druckerei vonstattengingen.

 

Müde, mit brennenden Füßen ließ sich Noah am Abend neben Florian auf die Couch fallen, während Seth in der Küche stand, aus der ein köstlicher Duft die Wohnung einhüllte. „Was kocht er?“

„Ich glaube, einen Auflauf. Er hat ein Rezept gefunden, frag mich bitte nicht. Wie war dein erster Tag?“

„Fantastisch, es ist so toll und sie sind angetan von meiner speziellen Sehschwäche.“

Florian grinste schief. „Sehschwäche, ich sagte dir schon immer, es ist eine Gabe, für die sich nur der richtige Job finden musste. Freut mich ehrlich für dich, dass es dir gefällt.“

Noah lehnte sich an seinen Bruder, wie er es als kleiner Junge immer getan hatte, bis Florian fortgegangen war. „Danke!“

„Wofür?“

„Dass ich hier sein darf, dass du für mich ein gutes Wort bei John und Luc eingelegt hast, dass du mein Bruder bist und mich so magst, wie ich bin!“

„Werde mir ja nicht rührselig. Ich lieb dich sogar, trotz deiner ignoranten, manchmal recht bescheuerten Art. Das habe ich immer, egal wie weit wir getrennt waren.“ Sanft legte Florian einen Arm um ihn und zog ihn dichter an sich heran. Noah genoss die Zweisamkeit zu seinem Bruder, der er sich viel zu lange verwehrt hatte. Seit Florian sich outete, verhielt er sich ihm gegenüber anders, das war dem damals Elfjährigen bewusst. Wieso konnte und wollte er sich nie eingestehen, denn das hätte bedeutet, die Augen zu öffnen und sich selbst zu erkennen. Du wolltest nie werden wie er! schoss es Noah durch den Kopf und sein Körper verspannte sich bei dem Gedanken. Geschockt sprang er auf und entfernte sich von Florian, der ihn entgeistert ansah. „Was ist los?“

Kein Ton verließ seine Lippen, stattdessen drehte er sich um, schlüpfte in die eben abgetretenen Schuhe und schnappte sich seine Jacke und den Schlüssel, als er auch schon aus der Wohnung verschwand.

Raus, weg, fort von seinen Gedanken, die seinen Kopf zu fluten versuchten, rannte Noah die Straße hinunter. Leider brachte das nicht den gewünschten Erfolg, denn sein Kopf gab keine Ruhe, wollte gehört werden. Er hatte seinen Gedanken die Möglichkeit gegeben, aus den dunklen Ecken zu kriechen und nun waren sie präsenter als je zuvor.

Das Nächste, was er wahrnahm, war der Park, in dem er am Tag seiner Ankunft gelandet war. Diesmal schien kein Shooting stattzufinden, stattdessen fanden sich Spaziergänger in ihm und Hundebesitzer. Noah verlangsamte seinen Gang und atmete tief durch. Es gab keinen Ausweg, er musste sich dem stellen, was er seit der Pubertät verdrängte und nie gewillt war herauszufinden. Lieber galt er als asexuell, als sich darüber Gedanken zu machen, ob er eventuell Männer den Vorzug gab. Das alles war eindeutig Gabriels Schuld, der in seine Intimzone eingedrungen war … sagte man das so? Noah war sich nicht sicher, denn eingedrungen war der definitiv nicht in ihn, obwohl die Bilder in seinem Kopf … Eiligst schloss Noah die Augen und versuchte die Szenen, welche eher als Wunsch betitelt werden konnte, zu verdrängen.

Plötzlich riss etwas ihn um und sorgte dafür, dass Noah hart auf dem Schotterboden des Parks aufschlug. „Was?“, entkam es ihm schockiert, als ein schwarzer Hund in seinem Blickfeld erschien und ihm ungeniert durchs Gesicht leckte.

„Devil, aus! Verdammt, du kleiner Teufel, jetzt hör damit auf!“, ertönte eine Stimme, die nicht nur dem Hund, sondern auch Noahs Abwehrversuchen Einhalt gebot.  Schon bald sah er in die eisblauen Augen von Gabriel, der in seinem Sichtfeld erschien. Dieser umfasste das Hundegeschirr und befreite Noah von der nassen Zunge.

„Du?“

„Die Welt ist ein Dorf, wie man immer wieder merkt!“, erwiderte Gabriel mit einem Grinsen. „Entschuldige, der Kleine ist noch etwas ungestüm.“

Noahs Blick wechselte von dem mit schwarzen Haaren eingerahmten Gesicht von Gabriel zu dem des Hundes. Ebenso Schwarz glänzte das Fell des kniehohen Tieres. Klein war der gewiss nicht und wenn Noah dessen Herrchen richtig verstand, war Devil noch jung, somit zeigte sich hier wohl nicht die endgültige Größe. Der Name schien allerdings wie die Faust aufs Auge zu passen. Fluchend rappelte sich Noah auf, wischte sich mit dem Jackenärmel über sein Gesicht. „Irgendwie hab ich mir meinen ersten Kuss anders vorgestellt!“ Dass seine Gedanken auch über seine Lippen kamen, hatte Noah nicht erwartet, bemerkte es erst, als er Gabriel ansah, der überrascht den Blick erwiderte.

„Dein Bruder hat nicht übertrieben, oder? Du bist echt noch unberührt.“

„Willst du in meiner Gegenwart einen dummen Spruch darüber ablassen, oder soll ich gehen, damit du dich ungeniert amüsieren kannst? Aber keine falschen Hoffnungen, ich kenne jede Reaktion darauf, also wenn ich nicht gelangweilt sein soll, lass dir was einfallen!“ So gelassen seine Stimme auch klang, umso mehr brannten bereits Tränen in seinen Augen. Er würde Florian erschlagen, dass er ihn verraten hatte, eindeutig, eiskalt und gnadenlos.

Gabriels Mundwinkel zucken zu einem zarten Lächeln, als er sich vorbeugte, seine Lippen sanft auf die von Noah treffen ließ. Geschockt riss dieser die Augen auf. „Was …“ Weiter kam er nicht, da zog Gabriel ihn näher an sich ran und raubte ihm das, was er schon geahnt hatte. Ohne zu fragen, ohne sein Einverständnis küsste ihn der Mann und stahl sich seinen ersten Kuss. Ein Zittern erfasste Noahs Körper, Halt suchend klammerte er sich an Gabriels Jacke fest und versuchte den Schauer zu ignorieren, der seinen Körper erfasste. Gabriels Hand an seinem Rücken verteilte eine Hitze in seinem Körper, die ihn machtlos zum Seufzen brachte. Das fühlte sich alles viel zu gut an und das durfte es definitiv nicht. In Noah schrillten alle Alarmglocken los, als Gabriel ihn näher zog. Mit aller Kraft stieß er ihn zurück und taumelte rückwärts. Er musste weg, fort von dem Mann, der seinen Verstand lahmlegte wie ein kaputtes Gleis den Zug.

„Noah, es tut mir leid, das …“ Gabriel schien selbst irritiert, sah ihn betroffen an, doch er wollte es nicht hören, hob die Hand, um sein Gegenüber zum Schweigen zu bringen und drehte sich weg.

 

Weglaufen brachte nichts und doch war es Noahs einzige Möglichkeit, nicht dem ins Auge zu sehen, was unweigerlich auf ihn zukam. Die Wahrheit über sich selbst zu akzeptieren war schwer, vor allem wenn man sich solange dagegen gesträubt hatte. Dreimal war er bisher gestürzt, sodass seine Hose zwei Löcher aufwies und sein Körper einige blaue Flecken davontrug, bis er endlich bei Florian in der Wohnung ankam. Ohne ein Wort an seinen sorgenvoll aussehenden Bruder verschwand Noah ins Bad, riss sich die Kleider vom Leib, schnappte sich seine Zahnbürste und trat unter die Dusche. Er musste den Geschmack wegbekommen, die Wärme auf seinem Rücken vertreiben, die sich immer noch anfühlte, als läge Gabriels Hand dort. Doch zuerst den Geschmack, der Verlangen in ihm schürte, Sehnsüchte auslöste, Körper und Geist in Einklang brachte. So berauschend sich das anfühlte, musste der Geschmack verschwinden, denn er war nicht gut, durfte das alles nicht auslösen. Noah wollte normal sein, auch wenn er sich nicht ganz sicher war, was das bedeutete. Zumindest war ihm eins bewusst, das hieß nicht, er selbst zu sein.

 

Das kalte Wasser hatte seinen Körper zu einem Eisklotz verwandelt, der sich mit Zittern versuchte, wieder zu erwärmen. Seth stand im Flur und sah Noah skeptisch an.

„Was ist passiert?“

„Nichts!“, erwiderte er rau und drückte sich am Freund seines Bruders vorbei.

„Noah, das ist nicht wahr. Hat dir jemand was getan?“

Automatisch zuckte der Angesprochene zusammen, sah man es ihm an? Konnte man sehen, dass er nicht mehr ungeküsst war? Noah fuhr sich nervös durch sein Haar. „Nicht wirklich, es ist nichts, was ich besprechen will. Um ehrlich zu sein, möchte ich einfach meine Ruhe.“

„Nono, verdrängen nützt nichts, wenn dich was belastet, solltest du darüber reden!“

Seit Jahren hatte Noah den Kosenamen nicht mehr gehört. Einzig Florian benutzte diesen damals und in sehr ernsten Situationen. So war es ihm unmöglich, abermals die Flucht zu ergreifen, stattdessen ging er ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen. „Er hat mich einfach geküsst, ohne Vorwarnung, ohne Erlaubnis!“ So leise wie Noah sprach, dachte er schon, keiner hätte ihn verstanden, doch dann sah er die überraschten Blicke.

„Wer hat dich einfach geküsst?“ Seth‘ Stirn wies eine steile Falte auf.

„Gabriel. Das war ein regelrechter hinterhältiger Überfall. Erst hetzt er mir seinen Hund auf den Leib, der mich umwirft und ableckt und dann kam er und raubt sich meinen ersten Kuss!“ Tränen stiegen ihm in die Augen, doch nicht des verlorenen Kusses wegen, sondern der Erinnerung an diesen. So sehr er Gabriel verfluchen wollte, sträubte sich alles in seinem Inneren dagegen. Der Kuss war atemberaubend, die Berührungen eindringlich und die Sehnsucht nach einer Wiederholung erdrückend.

Das Klingeln an der Tür ignorierend, zog Florian ihn mit in die Küche und kochte frischen Kakao. „War der Kuss so schlimm, dass du nun so aufgelöst sein musst?“ Noah wagte es nicht, zu seinem Bruder zu gucken, zu sehr befürchtete er sich zu verraten. „Nono, guck mich an.“ Florians Hand legte sich unter sein Kinn und drückte es sanft nach oben. „Kann es sein, dass du dir gerade verwehrst, es schön zu finden? Dass du es nicht wahrhaben willst?“

„Nein?“ Vergebliche Liebesmühe, das hatte Noah schon geahnt, als er den Mund für die Antwort geöffnet hatte. Sein Nein war ein Eingeständnis, das musste er selbst zugeben.

„Nono, mag ja sein, dass es für dich ungewöhnlich ist und wahrscheinlich sogar ungewollt, jedoch kannst du doch nicht im Ernst gegen etwas ankämpfen, was deine Augen derart zum Leuchten bringt.“

„Ich will doch nur normal sein, Flo, kannst du das nicht verstehen?“

„Schon und auch wieder nicht. Du machst dich unglücklich damit. Weglaufen nützt dir da auch nichts, irgendwann musst du dich dem stellen!“ Dabei tippte Florian auf Noahs Brust, genau auf die Stelle, wo das Herz schlug.

 

„Du hast sie doch nicht mehr alle, nach der Sache wagst du es noch, hier aufzutauchen?“

Erschrocken vom Gebrüll, das eindeutig von Seth stammte, eilten Florian und Noah in den Flur. Doch das Einzige, was sie sahen, war das Türblatt, welches Seth in der Hand hielt, und dessen wutverzerrtes Gesicht.

„Mach, dass du hier verschwindest, bevor ich mich vergesse!“, brüllte er abermals.

„Spinn nicht rum, Seth, lass es mich ihm erklären, das geht dich nichts an“, drang Gabriels Stimme zu Noah, der die Augen aufriss.

„Nichts? Du redest von dem Bruder meines Freundes und nur weil du ab und an was mit Flo unternommen hast, hast du hier keine Sonderkonditionen. Also sieh zu, dass du Land gewinnst!“

Florian riss sich aus seiner Starre, schnappte sich Seth‘ und seine Schuhe sowie ihre Jacken und drückte seinen Freund aus der Wohnung. „Geh rein, Gabriel. Wir werden mal einen kleinen Verdauungsspaziergang machen.“

„Wir haben vor zwei Stunden gegessen!“, raunte Seth, wurde jedoch gegen seinen Willen in den Flur des Mehrfamilienhauses gedrängt. „Dann gehst du eben dein heißes Temperament abkühlen, such es dir aus, aber zieh deine Schuhe an und dann raus!“ Florians Blick ließ keine Widerrede zu, als er Gabriel auch schon zuzwinkerte und eine einladende Handbewegung in die Wohnung machte. „Ihr schafft das sicher besser ohne uns.“

 

Noah stand wie versteinert da und wusste nicht so recht, ob er seinem Bruder nun danken oder doch besser schlagen sollte. Die zufallende Haustür hallte im Flur der noch offenen Wohnung, wo sich nun Gabriel und er gegenüber standen. Immer wieder öffnete Noah seinen Mund, um ihn kurz darauf zu schließen, er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. „Kakao?“ Innerlich trat er sich in den Hintern. Wer fragte einen erwachsenen Mann, ob dieser Kakao wollte? Natürlich er! Spürbar kroch die Hitze in seinen Kopf.

„Danke, aber nein. Noah, ich wollte mich entschuldigen. Das im Park war nicht in Ordnung und sicherlich nicht geplant. Ich hoffe, du kannst es mir irgendwie verzeihen.“

„Kaffee, Sprudel, Bier, Cola?“ Angestrengt überlegte Noah, was sie noch im Haus hatten. Leider keinen Orangensaft, den er so liebte. Wieso eigentlich nicht? Ach ja, Florian war dagegen allergisch. Vielleicht sollte er sich doch nach einer eigenen Wohnung umsehen? Jetzt, wo er so genau darüber nachdachte, war Seth Wohnung frei, der verbrachte seit einer Woche seine Zeit bei Florian.

„Noah, hörst du mir zu?“, holte Gabriel ihn aus seinen Gedanken und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Ehrlich gesagt, nein, was wolltest du trinken?“ „Ich glaube, ich nehme doch einen Kakao.“

Überrascht huschte ein Grinsen über Noahs Lippen und er wandte sich ab Richtung Küche. Gabriel fühlte sich wohl dazu berufen, ihm zu folgen und lehnte sich dann auch schon neben dem Herd an die Arbeitsplatte, um Noah zu beobachten, der mit zittrigen Fingern das Pulver in den Topf streute.

„Ignorierst du das, was ich sage, absichtlich, oder ist es nicht bei dir angekommen?“

Nervös biss sich Noah auf die Lippe und wusste nicht, ob er Gabriel antworten oder doch lieber ignorieren sollte.

„Ich glaube, du hast mich sehr wohl verstanden, aber möchtest nicht darüber reden, kann das sein?“ Ein Nicken bekam Gabriel zur Antwort, während Noah den Kakao fertig machte und in zwei Tassen füllte. „Gibt es einen Grund, wieso du es lieber totschweigen würdest? Zumindest könntest du meine Entschuldigung annehmen.“

„Klar, schon okay, war ja nichts!“, versuchte es Noah abzutun, doch es funktionierte nicht. Wieder einmal hörte er selbst in seiner Stimme, dass er log. Seufzend landeten die Tassen wieder auf der Arbeitsplatte, er wandte sich zu Gabriel um und sah in dessen eisblaue Augen. „Du hast mir meinen ersten Kuss genommen, ohne mich zu fragen. Das war nicht in Ordnung!“ Es mochte kindisch klingen, doch für Noah war es mehr als nur sein erster Kuss, den viele schon nach wenigen Jahren vergaßen. Wieso es so war, konnte er zwar nicht sagen, doch tief in ihm drin, verborgen unter einer Schicht Ziegelsteinen, war der Grund vergraben.

„Es tut mir wirklich leid. Umso mehr, wo ich sehe, dass er dir wichtig war“, betreten senkte Gabriel seinen Blick.

„Ich will ihn wieder!“

Ruckartig hob Noahs Gegenüber den Kopf und sah ihn irritiert an. „Wie, du willst ihn wieder?“

Mit einem Schritt stand Noah dicht vor Gabriel, stellte sich auf die Zehnspitzen und umfasste dessen Gesicht. „Ich will ihn wieder und zwar jetzt!“ Damit legten sich seine Lippen auf die von Gabriel. Sanft, nicht wirklich wissend, wie er vorgehen sollte, streifte er sie und wünschte sich, der Geküsste würde ihm helfen. Der befand sich aber scheinbar noch in einer Art Schockstarre und hatte lediglich die Augen weit aufgerissen.

Doch gerade als sich Noah zurückziehen wollte, spürte er Hände, die sich um seine Hüfte legten und ihn hielten. Erst da wurde ihm bewusst, wie unkontrolliert sein Körper zitterte.

Gabriels Lippen fingen an sich zu bewegen, schnappten nach denen von Noah und forderten ihn zu einem Spiel auf. Neugierde verdrängte alle seine Gedanken und Noah tat das, was sein Instinkt ihm riet, mitmachen! War das Lippenspiel zu Beginn noch recht stürmisch, wechselte es schnell zu einem sanften, innigen Umschmeicheln. Gabriel zog ihn näher an sich ran, dass Noah ein Aufkeuchen nicht unterdrücken konnte. Dieser Kuss war intensiver als der vom Mittag. Die Chance nahm Gabriel wahr und drang in Noahs Mund ein. Erschrocken wollte dieser zurückweichen, doch wurde festgehalten. Gabriel vereinnahmte seinen Mund und küsste Noah um den Verstand.

 

Das war mehr als sein Kuss, eindeutig viel mehr, als er zurückhaben wollte und verlangt hatte. Noah schluckte hart, sah aufs Türblatt, hinter dem Gabriel vor einer Minute verschwunden war. Dessen Handy hatte sie aus dem Kuss gerissen, irgendetwas war passiert, was Gabriel dazu veranlasst hatte, mit einem bedauernden Blick einen keuschen Kuss auf Noahs Lippen zu hauchen und sich zu verabschieden.

Noah war sich noch nicht sicher, ob er es bedauern sollte und wäre er nicht vorher schon kalt duschen gewesen, … so zog er sich in sein Zimmer zurück, schmiss sich aufs Bett und unterdrückte den Drang, seine Hose von den Beinen zu reißen.

Dieser Kuss war zum Vergessen des ersten gedacht und kam einer Dampfwalze gleich, die alles andere unter sich begrub. Niemals hatte sich Noah so gefühlt, mit klopfendem Herzen setzte er sich auf, zog die Beine an seinen Körper und schlang seine Arme darum. Mit geschlossenen Augen rief er sich den Moment zurück, der so nah in der Vergangenheit lag und doch so weit entfernt schien.

Als die Tür leise geöffnet wurde, Seth und Florian sich hörbar die Schuhe auszogen und die Räume absuchten, sah er keinen Grund, sich bemerkbar zu machen. Lieber noch etwas in seinen Träumen schwelgen, die keinen Platz für unangenehme Gedanken gaben.

Leise wurde die Zimmertür geöffnet und schon ertönte ein zischender Laut. „Wenn er ihm was angetan hat, bring ich ihn um!“

„Seth, ich bitte dich, bleib ruhig, oder sieht Noah so aus, als ob es ihm schlecht geht?“

Davon wollte Seth sich wohl selbst überzeugen, ging auf ihn zu und hob seinen Kopf an. Noah hatte es versucht mit eisernem Willen und doch stahl sich ein Grinsen auf seine Lippen, die wundgeküsst pochten.

„Nein, er sieht nicht aus, als würde es ihm nicht gut gehen. Na Kleiner, haben wir was verpasst?“

„Kann ich deine Wohnung haben? Du bist doch eh immer hier!“, schoss es aus Noah heraus und er sah Seth fragend an. „Vorausgesetzt ich kann sie mir leisten, selbstverständlich.“

„Bitte, du willst … wieso? Da wohne ich und wir beide in einer Wohngemeinschaft … also …“

„Ich dachte eher, du ziehst hier ein und ich übernehme deine Wohnung. So habt ihr zwei Ruhe vor mir und ich meine eigenen vier Wände.“

Überrumpelt sah Seth zu Florian, der sich ein Lachen verkniff und auf seinen Bruder sah. „Wozu brauchst du denn eine eigene Wohnung? Ich dachte, du wolltest bei mir wohnen“, schmunzelte er.

„Ähm … also … ich dachte, es sei eine ganz gute Idee. Dir hat es von Beginn an nicht gepasst, dass ich hier eingezogen bin und da mein Vertrag auf ein Jahr läuft, ich mehr Geld verdiene, als erwartet …“

„Dachtest du, um dir die schwere Wohnungssuche hier zu erleichtern, einfach Seth bei mir einzuquartieren und dir seine vier Wände anzueignen?“

„Genau das dachte ich, also?“

 

Unsicherheit machte sich zwischen dem Paar breit. Sie tauschten Blicke, doch schwiegen.

Kopfschüttelnd lachte Noah. „Ihr seid doch eh nicht mehr zu trennen und Seth fährt nur zu sich, um neue Wäsche zu holen, die du dann in deinen Schrank räumst, warum seid ihr euch dann jetzt so unsicher?“

Eine Antwort blieben sie ihm an diesem Abend schuldig, jedoch hatte Noah das erreicht, was er wollte, sie fragten nicht weiter nach. Wie hätte er es ihnen auch erklären sollen? Noah bemerkte die Unsicherheit, die sich durch seinen Körper schlich, seine Gedanken, die ihn einholten und analysierten, was zwischen Gabriel und ihm passiert war. Die Tränen liefen aus seinen Augen, der Schmerz setzte ein, genau wie er es bereits erahnt hatte und war dankbar, dass es niemand mitbekam.

Noah wollte nicht so sein, niemals. Hielt sich von jederart Menschen fern, denn sie verletzten, gaben sich in einem Moment noch das Gefühl, alles auf Erden zu sein, doch dann war man nichts mehr wert. Selbst der Dreck unter den Schuhen bekam dann mehr Aufmerksamkeit. Doch innerhalb von einer Woche hatte es Gabriel geschafft, wenn man es korrekt sah, innerhalb von zwei Tagen eine Mauer einzureißen. Noah hatte so lange gebraucht sie aufzubauen. Als Florian mit ihrer Mutter fort ging, als Tom auszog, als sich ihr Vater neu verliebte. Es hatte Spuren hinterlassen, ohne Abdrücke zu zeigen. Tief in seinem Inneren. Seine Bemühungen, diese zu verschütten, sie nie wieder spüren zu müssen, waren vergebens. Sein Herz schrie, sein Verstand sendete Erinnerungen und sein Körper war überfordert. Ließ die Tränen laufen, viel zu langsam, um die innerliche Spannung abzubauen, doch zu viel zum Zerreißen. So sehr er nie wieder die Wärme von Gabriel spüren wollte, so sehr sehnte er sich nach ihr. Die Arme, die ihn hielten und nicht loslassen wollten. Geborgenheit, eine Schulter zum Anlehnen, genommen zu werden, wie man ist … Es war eine Seltenheit und trotzdem sein Verstand alles versuchte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, ihn zu schützen, musste Noah einsehen, dass er es genossen hatte und vor allem brauchte. Jedoch hoffte er, dass es nicht Gabriel sein musste, vielleicht war er nur der Stein des Anstoßes? Sein Herz setzte aus, schlug dann langsam, aber kräftig weiter und ließ es ihn spüren. Diese Gefühle, über die Millionen von Liedern handelten und doch so ungreifbar schienen, dass er es nie verstanden hatte. Nun saß er auf dem Bett, hatte abermals seine Knie umschlossen und sah nur noch eisblaue Augen und schwarzes langes Haar.

 

Überrascht sah sich Noah in die Augen, hatte er erwartet grausam auszusehen, sah ihm nun ein lächelnder Typ entgegen, dessen schwarze Haare perfekt am Kopf anlagen. Manchmal war es schon merkwürdig. Wenn er sich sonst die halbe Nacht um die Ohren schlug, sah er aus wie der wandelnde Tod. Doch heute erinnerte nichts an die schmerzhafte Nacht mit Eingeständnissen und Verdrängungen.

Seine Entscheidung war gefallen, er würde in der Druckerei seinen Praktikumsplatz kündigen und dann zurück zu seinem Vater gehen. Weit fort von der Wahrheit, die er nie wissen wollte. Weg von Gefühlen, die er lieber nie kennengelernt hätte. Sein Herz ruckte in seiner Brust, protestierte und doch war sein Verstand stärker. Mit gestrafften Schultern packte er seine Sachen aus dem Bad in die Tasche und verstaute diese dann in seinem Koffer.

Lächelnd ging Noah in die Küche, wo Seth und Florian in Ruhe ihren Kaffee genossen und in der Zeitung blätterten. „Guten Morgen!“, entkam ihm gut gelaunt, auch wenn sein Herz immer noch schwer war.

„Guten Morgen, du hast ja gute Laune!“, grinste Florian und faltete die Zeitung zusammen.

„Ja … ich muss euch etwas mitteilen!“

Seth atmete hörbar aus. „Wurde ja auch Zeit, dass du es einsiehst!“

„Das dachte ich auch. Ich werde noch heute zu Dad zurückfahren.“

Florian ließ die Tasse in seiner Hand sinken, Seth glitt die Zeitung aus den Fingern. „Nono, was redest du da? Du hast gestern erst deinen Vertrag unterschrieben, wolltest Seth‘ Wohnung haben.“

„Ich weiß, ich war etwas durch den Wind, doch die Nacht hat mir Klarheit verschafft. Danke für alles, ihr zwei, und entschuldigt, dass ich euch so viel Unruhe reingebracht habe!“ Mit diesen Worten wandte sich Noah ab und trat in den Flur.

„Du läufst weg! Nono, du läufst schon wieder weg. Doch dieses Mal nicht vor Dad, sondern dir selbst, deinen Gefühlen und ich tippe stark, vor Gabriel!“

Noah blieb abrupt stehen, ein Schauer durchfuhr seinen Körper und er spürte regelrecht Augenringe entstehen, wie sich seine Haare in alle Richtungen stellten und seine Schultern nach vorne sackten. Es war lediglich ein Gefühl, denn der Spiegel im Flur zeigte ihn immer noch wie zuvor.

„Ich wusste es. Deine Lippen wurden gestern mehrfach geküsst. Dein Lächeln hat gezeigt, wie glücklich du für einen kurzen Augenblick warst. Wenn du nicht so stur wärst, deine Gefühle rauslassen würdest, könntest du es jetzt noch sein. Nono, ich bitte dich, das kannst du nicht ernst meinen. Du hast einen tollen Job und einen verdammt netten Kerl, der an dir interessiert ist, willst du das wirklich zurücklassen?“

„Ich bin nicht wie du, ich kann das nicht.“

„Natürlich bist du nicht wie ich. Du bist Noah, du bist ein eigenständiger Mensch. Was meinst du nicht zu können? Du selbst sein, zu dir zu stehen? Dazu, dass du Interesse an Gabriel hast?“

„Er hat mir nur gerade das gegeben, was ich brauchte, nicht mehr und nicht weniger. Das hätte jeder sein können!“

Seth und Florian tauschten einen Blick, nickten sich zu und ehe Noah sich versah, war Seth bei ihm, zog ihn nah an sich ran, um seine Arme um ihn zu schließen. Noah wehrte sich, versuchte sich zu lösen. Das wollte er nicht, fühlte sich nicht leicht, noch unbefangen oder geborgen. Hatte nicht das Bedürfnis zu küssen, er wollte weg, fort von Seth, den er zwar mochte, doch nicht solche Intimitäten teilen wollte. Endlich schaffte er es, Seth von sich zu drücken. „Geht‘s dir noch gut?“

„Ja, und dir? Es kann dich also jeder halten, aber doch willst du nicht jeden. Wir kennen uns schon so lange, Noah, ich habe dir mal die Windeln gewechselt und doch darf ich dich nicht mal umarmen. Allerdings ein Mann, den du gerade eine Woche kennst, darf deine Lippen wundküssen? Denk nach, was du da eben gesagt hast, dass es hätte jeder sein können, denn das war gelogen!“ Mit diesen Worten zog sich Seth seine Jacke über, schlüpfte in seine Schuhe und verabschiedete sich von Florian.

Irritiert sah Noah ihm nach und dann zu seinem Bruder, denn normalerweise fuhren sie zusammen zu ihrer Arbeitsstelle. „Ich fang erst in einer Stunde an, hab noch einen Termin beim Zahnarzt. Noah, Seth hat recht, du machst einen Fehler, wenn du gehst, denn dann tust du das, was du all die Jahre getan hast. Dich vor dir selbst zu verstecken, dir nicht zuzuhören. Du betrügst dich damit selbst. Ja, es ist nicht leicht, in dieser Gesellschaft mit einem Mann an seiner Seite anerkannt zu werden, doch schwerer ist es, sich zu verleugnen, sich anpassen zu wollen, denn dann ist man unglücklich!“ Damit zog sich auch Florian an, steckte seine Brieftasche ein und wandte sich noch einmal an Noah. „Ich hab dich lieb, Kleiner, vergiss das nie. Du bist nicht so allein, wie du denkst.“

 

Noah sah zu seiner Tasche, ließ sie stehen und ging durch die Haustür. Sein Kopf war wie leergefegt, sein Herz tat das, wozu es da war. Das Blut durch seinen Körper pumpen. Keinen Anhaltspunkt, was er nun tun sollte, ging er langsamen Schrittes zur Druckerei, hoffte auf ein Zeichen, was der richtige Weg war, ob sein Bruder recht hatte, oder nur das sagte, was sich gehörte, als der Ältere. Fragen über Fragen und doch war sein Kopf so leer wie noch nie in seinem Leben.

Kaum war er ins Gebäude getreten, wurde Noah auch schon von John abgefangen, der ihn eilig mit sich zog. „Wir haben ein Problem, schau dir die Probedrucke an, irgendwas stimmt nicht.“

Aus den nicht gedachten Gedanken gerissen, stolperte Noah ihm hinterher und versuchte nicht hinzufallen, bis sie vor einem hell erleuchteten Tisch hielten. Er musste sich nicht mal wirklich auf das Bild konzentrieren, sah direkt den Fehler und tippte schnaufend mit den Fingern auf eine Stelle, die für jeden anderen wie das rote Kleid an einer schönen Frau aussah. „Zu viel Orange, die anderen Farben verschluckt es, zudem ist immer wieder pixelweise Weiß drin. Da stimmt was mit dem Drucker nicht!“ Noah streckte sich, hielt sich am Tisch fest, um seine Beine wieder zu ordnen, die ihm das Gefühl gaben, noch an der Tür zu stehen.

„Verdammt. STOPPT DEN DRUCKER!“, schrie John und war verschwunden.

Kopfschüttelnd sah Noah ihm hinterher und ließ dann seinen Blick über das Bild gleiten. Eine Frau mit blonden Locken, in einem roten Abendkleid, im Park, bei untergehender Sonne. Leider war das Rot zu sehr der Farbe angeglichen, welche der Sonnenuntergang hatte und dadurch verschwammen die Konturen. Aber das Bild hatte etwas, was er nicht in Worte fassen konnte. Mit der Lupe suchte er jeden Zentimeter des Druckes ab, doch fand nicht das, was ihn faszinierte. Dann trat er zurück, betrachtete das Gesamtwerk und erkannte es. Schneeflocken fielen vom Himmel, der Park war der, in dem er Gabriel getroffen hatte.

„Hey.“

Noah brauchte nicht hinzusehen, um die Stimme zu erkennen. „Dein Bild?“

„Ja, allerdings sollte es nicht so aussehen, was ist passiert?“

„Falsche Farbmischung, John ist schon dran. Du hast einen Blick für den Moment.“

„Jeder hat so seine Talente, nicht wahr? Du, wegen gestern Abend …“

„Ich muss an die Arbeit!“, unterbrach Noah und wollte sich vom Tisch entfernen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Leicht schwankend hielt er sich abermals fest, doch nicht am Tisch, wie ihm viel zu spät bewusst wurde. Sein Blick endete in dem von Gabriel, dessen Augen besorgt auf ihm ruhten.

„Welchen Entschluss hast du getroffen?“

„Dass ich heimgehe, ich kann das hier alles nicht und was dich betrifft ...“

„Sag nichts, was du irgendwann bereuen würdest.“ Gabriel wandte sich ab, ließ Noah mit wackligen Beinen allein und ging.

 

Das Leben war ungerecht und vor allem ein hinterhältiges Miststück! Noah fluchte mit Tränen in den Augen, schimpfte sich selbst unmännlich und rügte sich für jedes Wort zu seinem Spiegelbild. Gabriel hatte ihn eiskalt erwischt, dass er den Tag nur noch hinter sich bringen wollte. Kein Wort einer Kündigung war über seine Lippen gekommen und als er bei Florian ankam, hatte dieser ihm die Schlüssel zu Seth‘ Wohnung in die Hand gedrückt. „Finde dich, aber geh nicht weg!“ Da saß Noah nun, in einer kahlen Wohnung auf dem Fußboden, mit vier Flaschen O-Saft und noch mehr Schokolade. Es war wie ein Besäufnis, nur ohne Alkohol, welchen er absolut verweigerte. Stattdessen stopfte er sich riegelweise das braune glückshormonausschüttende Zeug in den Mund und spülte es mit den gepressten Orangen hinunter. Seit einer Stunde wiederholte er diese Handlung und ließ sich nicht mal von der Übelkeit aufhalten. Irgendwie musste es zu schaffen sein, das dumpfe Gefühl in sich zu beseitigen, sein Leben wieder da zu beginnen, wo es vor einer Woche geendet hatte. Dramatisierte er? Sicherlich und doch fühlte es sich so an. Noah hatte jeden vor den Kopf gestoßen, ohne Rücksicht auf Verluste und fühlte sich, als hätte er alles verloren.

Wie sollte er sich finden, wenn er sich nicht verloren hatte? Oder hatte er es und sah es nicht? Die Welt war kompliziert und unberechenbar. Wie sollte da ein einundzwanzigjähriger Mann, ohne Lebenserfahrung, noch durchblicken, vor allem wenn Gefühle im Weg waren?

Ergeben, kurz vorm Erbrechen, ließ sich Noah auf den Rücken sinken und sah zur Decke. Für ihn stellte es sich sein Bruder zu leicht vor. Natürlich war er nicht allein und sicherlich konnte man es schwerer treffen, als sich zu ver… Nein, das Wort war er noch nicht bereit auszusprechen. Es konnte also schwerer sein, als sich zu einem Mann hingezogen zu fühlen und die dadurch resultierenden Probleme in der Arbeitswelt würden ihn nicht mal betreffen, schließlich hatte es Noah da sehr gut getroffen, oder war es ein Fluch? Wie man es sah. Doch wie sollte er je seinem Vater unter die Augen treten und erklären, dass dieser jahrelang recht hatte? Noah hatte sich nur selbst belogen und davon geträumt, heimlich und vor sich selbst nicht zugebend, in den Armen eines Mannes einzuschlafen und aufzuwachen? All das, was er bestritten hatte, war plötzlich so nah und doch fern, dass Noah es nicht zu greifen bekam. Das Leben war nun mal hinterhältig und ein Miststück, eindeutig, nichts anderes.

Die Frage war also, wie konnte man das Leben handhaben, ohne zu stolpern und sich zu verletzen? Die Antwort war klar, es ging nicht. Eine deprimierende Feststellung, die nur durch mehr Schokolade und Orangensaft erträglicher wurde.

 

Der Morgen kam viel zu schnell und mit höllischen Kopfschmerzen. Müde rappelte sich Noah vom Boden auf, was seinen Magen zum Rebellieren brachte. Eindeutig zu viele Gedanken, niemals hatte das an der Schokolade oder dem O-Saft gelegen. Das bestritt er vehement, während er vor der Toilette hing und das hinausließ, was er die Nacht mühsam in sich reingeschaufelt hatte. Dass sein Handy in der Hosentasche dann auch noch klingelte, war sicherlich die Strafe von wem auch immer an seinem Exzess. Gerade als sein Magen etwas Ruhe gab, fischte er es aus seiner Tasche und seufzte ungehalten. John Stone hatte ihm nun wirklich gefehlt! „Kennedy!“, bekam er gerade so heraus, da krampfte sein Magen schon wieder und er beugte sich über die Toilettenschüssel.

„Verdammt, Noah, alles in Ordnung bei dir?“

Wie gerne hätte dieser geantwortet, doch sah sich außerstande, sobald er den Mund öffnete, presste auch sein Magen zusammen und schwemmte den Unrat der Nacht nach außen. „Bleib, wo du bist, ich schick dir jemanden vorbei!“

Noah schoss ein „Sehr witzig!“ durch den Kopf, genau wie die Galle, die sein Magen nach oben schickte. Er wollte sich ja aufrichten, doch schaffte es einfach nicht, dabei war er so müde und wäre am liebsten in seinem Bett verschwunden.

 

„Oh Mann, hast du getrunken?“, raunte eine leise Stimme an Noahs Ohr. Er hätte gerne gesehen, was da um ihn herum passierte, doch erkannte lediglich Seth‘ Stimme. Die irgendwas in den Raum raunte und sich dann entfernte, als man ihm aufhalf, ans Waschbecken stellte und wusch. Okay, wer war das? Florian? Noah zwang sich, die Augen zu öffnen.

„Er lebt noch, Seth!“

„Verdammt!“, hauchte Noah beim Anblick von Gabriel.

„Dass du noch lebst? Könnte man drüber diskutieren. Was hast du getrunken?“

„O-Saft!“

Gerade als Gabriel was erwidern wollte, trat Seth ins Bad. „Mensch Noah, du verträgst das nicht. Dein Magen ist überreizt, wie kann man nur so unvernünftig sein?“ Dabei hielt der Freund seines Bruders drei leere Flaschen Saft hoch.

„Er hat echt nur Saft getrunken?“

„Ja, und das reicht durchaus. Das haben sie von ihrem Vater, sie vertragen die Säure nicht und liegen dann tagelang flach.“

„Ich nicht!“, protestierte Noah.

„Klar, du nicht, deshalb hängst du in den Seilen. Wie kann man nur so stur sein. Mit einer Flasche Schnaps wäre dir jetzt nicht so übel.“

„Bla bla bla!“, streckte Noah ihm die Zunge raus und lehnte sich an Gabriel. Nicht mal sein Kopf hatte mehr was dagegen, er brauchte Halt und bei dem Mann hinter ihm wusste er diesen zu bekommen.

„Ich geb dir gleich ‘bla bla bla‘, du sturer Hund. Guck, dass du ins Bett kommst und bete, dass ich dich nicht bei deinen Chefs verpfeife.“

„Dann bin ich weg und es ist deine Schuld!“

„Den Schuh würdest du mir gerne anziehen, aber das kannst du vergessen. Du bist schlimmer als deine Brüder. Der Name Kennedy, sagt doch alles!“ Die Haustür schlug ins Schloss und Noah zuckte zusammen.

Verlegen biss er sich auf die Unterlippe und sah zu Gabriel, der tief Luft holte. „Er regt sich wieder ab, aber in einem hat er recht, du solltest echt ins Bett. Hast du die Nacht durchgemacht?“

„Nein, auf dem Boden geschlafen. Gabriel, ich bin ein Arschloch!“

„Darüber reden wir ein anderes Mal, jetzt legst du dich hin und schläfst deinen Rausch, oder was das auch immer ist, aus.“

„Und du kommst mit?“

„Ich bleibe hier, ja. Florian fragte mich, da sonst keiner Zeit hat.“

„Dann kannst du auch mitkommen!“

„Damit du mir wieder klarmachst, dass es nichts zwischen uns geben kann. Mein lieber Noah, für solche Spiele bin ich mit meinen 28 Jahren eindeutig zu alt.“ Gabriel verließ das Bad und Noah konnte vorher einen Blick auf seinen verletzten Gesichtsausdruck erhaschen. Ein fader Geschmack bildete sich in seinem Mund, dass selbst Zähneputzen daran nichts änderte.

Mit gesenktem Kopf schlich sich Noah in die Küche, wo Gabriel an der Arbeitsplatte lehnte, eine Tasse Kaffee in der Hand und aus dem Fenster sah. Auf dem Tisch stand eine weitere Tasse, mit einer gelblichen Flüssigkeit, die verdächtig nach Kamillentee roch. „Danke.“

„Gerne, soll ja beruhigend wirken.“

So schwiegen sie und tranken ihre Tassen leer, ab und an spürte Noah Gabriels Blick auf sich. Defensiv sein, ob das half? Doch wie beginnen? Was tun? Gabriel würde sich nicht scheuen ihn zurückzuweisen, da war er sich sicher. Also nichts mit Defensive.

Ein Gähnen entkam ihm und langsam wurden Noahs Augen schwer.

„Geh ins Bett!“, raunte Gabriel, oder flüsterte dieser es? Noah war sich nicht sicher, dafür umso müder. „Du machst es einem nicht leicht, sich dich aus dem Kopf zu schlagen.“ Sanft hob Gabriel ihn auf seine Arme und brachte ihn ins Schlafzimmer. Noch nie in seinem Leben hatte sich Noah derart gut gefühlt. Und doch bekam er keinen Ton über seine Lippen, als Gabriel ihn ablegte und aus dem Zimmer verschwand.

„Scheiß auf Mädchen!“, fluchte Noah, vergrub sein Gesicht im Kissen und ließ das raus, was in ihm war. Träne um Träne versickerte im weichen Stoff.

 

Als er Stunden später aus seinem Bett kroch, schwängerte der Geruch von frisch gekochtem Essen die Wohnung. Lächelnd stand Noah wenig später im Bad, verzichtete allerdings auf einen genauen Blick in den Spiegel, stellte sich stattdessen unter die Dusche und legte sich Worte zurecht.

Diese blieben ihm im Halse stecken, als er statt Gabriel Florian in der Küche vorfand.

„Guten Abend, Nono, du siehst beschissen aus und ich glaube, du bist gerade enttäuscht, oder?“ Noah nickte nur und verkniff sich, seine Tränen laufen zu lassen. „Gabriel musste zu Devil, hat dir allerdings noch gekocht und hofft, es schmeckt dir!“ Dabei drückte Florian ihn auf einen Stuhl, befüllte zwei Teller und setzte sich ihm gegenüber. „Schon genial, wenn wenigstens unsere Auserwählten kochen können, was?“ Noah wollte schon protestieren, doch er schwieg. „Oh, nicht mal ein Widerspruch, ich bin beeindruckt.“

Mit einem zarten Lächeln um seine Lippen, tunkte Noah seinen Löffel in die Tomatensoße und kostete sie. „Wow, die ist lecker!“

„Allerdings, ich war auch erstaunt. Ich kenne Gabriel eher flüchtig, genau wie die anderen. Er ist ein introvertierter, zurückgezogen lebender Mann, der selten jemanden an sich ran lässt. Lebt für seine Arbeit und Devil. Zu viele Enttäuschungen und Verletzungen. Christian hat mir ein wenig was erzählt. Nono, Gabriel mag Spiele nicht, das hat sein Ex zur Genüge mit ihm getan.“

Verstehend nickte Noah. „Er hat mir einen Korb verpasst, sagt man das so? Flo, es fühlt sich so beschissen an, aber ich hab auch Angst. Was, wenn es nicht funktioniert? Was sag ich zu Dad und was tue ich, wenn …“

„Atme mal durch!“, Florian legte sein Besteck zur Seite. „Erst einmal musst du Dad und uns keine Rechenschaft ablegen, das geht keinen was an. Klar, dumme Sprüche kommen immer, aber hey, leb damit. Der Rest … Gabriel hat dir keinen Korb gegeben, den hätte ich dann heute Morgen zu spüren bekommen. Als ich ihm mitteilte, dass es dir beschissen geht, ich aber nicht wegkomme und Seth auch nicht lange Zeit hat … Nono, er hat alles stehen und liegen lassen, nur für dich! Es gibt nie eine Garantie, ob etwas funktioniert oder nicht. Daran muss man arbeiten und sich bewusst sein, was man wirklich will.“

Noah aß seine Nudeln mit Soße und dachte nach. Was wollte er? Seit einer Woche vergaß er den Mann nicht mehr, der ihm seinen ersten Kuss gestohlen hatte, der ihm drohte und versprach, was er nie wollte und nachdem er sich so sehnte. „Ich hab darauf keine Antwort, Flo … ich weiß es einfach nicht, aber ich fühle mich so unheimlich wohl bei ihm und wünschte mir …“ Noah lief rot an und biss sich auf die Unterlippe.

„Du gehst morgen mit uns aus. In einen tollen Club. Christian ist schon an Gabriel dran und ich erwarte, dass du um zehn am Abend fertig bist!“

„Es ist mitten in der Woche.“

„Macht nichts, wird nicht so lang, aber es ist wirklich lustig und ich werde ein Nein nicht akzeptieren. Geh mit mir und den anderen aus und vielleicht siehst du dann, dass es nicht so schlimm ist, wie du dir vorstellst.“

 

Noah hatte nachgegeben, den nächsten Arbeitstag sogar gut gelaunt hinter sich gebracht und war abends von John und Luc mit einem Grinsen und einem „Bis gleich!“ verabschiedet worden. Doch nun stand er da, in dieser immer noch kargen Wohnung, vor seinen paar Klamotten, die er von zu Hause mitgebracht hatte. Nicht wirklich etwas zum Ausgehen dabei. Daran hatte er nicht gedacht, wieso auch? Er war noch nie der Partygänger gewesen und wohin sie heute gingen, war ihm noch nicht ganz klar, auch wenn er es ahnte. Ein Club für Männer, einzig für sie, ob er sich dort wohlfühlen würde?

Seufzend blickte Noah auf das Bett, entschied sich für eine schwarze Jeans und ein ebensolches T-Shirt, um im nächsten Moment seinen Vater zu verfluchen. Eindeutig, als Noah das Oberteil gekauft hatte, war es nicht derart eng gewesen und vor allem kurz. Es ging gerade so bis zum Bund seiner Jeans und lag plan auf der Haut. Ein Blick in den Spiegel jedoch ließ ihn stocken. „Es geht, oder?“, sprach er zu sich selbst und streckte sich die Zunge raus. Die Hose jedoch musste weichen, stattdessen wurde es eine dunkelblaue Jeans, die wie eine zweite Haut wirkte. Schmunzelnd erinnerte er sich daran, wie er an sie kam.

Er war mit Tom, seinem ältesten Bruder, zusammen einkaufen gewesen und hatte sich nach einer neuen Jeans umgesehen. Dabei war er an dieses hautenge Exemplar geraten.

„Da passt du im Leben nicht rein, die ist viel zu eng!“

„Klar passt die!“, hatte Noah ihn angeblafft.

„Wenn das wahr ist, bezahl ich dir die Shoppingtour!“

Das war ein Wetteinsatz, den sich Noah nicht hatte entgehen lassen. Zusammen mit der Hose verschwand er in der Umkleidekabine. Nun gut, er musste das erste Mal in seinem Leben den Bauch einziehen, doch schlussendlich hatte sie gepasst und Toms Geldbeutel litt. Eigentlich wollte Noah die Jeans danach nicht mehr anziehen, doch mittlerweile fühlte er sich in ihr unheimlich wohl, weshalb sie auch sein erster Griff im Schrank war, als er für sein nächtliches Verschwinden gepackt hatte.

Die Haare bekamen noch einen „Out of Bed“-Look und Noah war mit sich zufrieden. Auch wenn er zugab, nicht normal gekleidet zu sein, fast schon etwas aufreizend, jedoch war es genau das, wonach ihm gerade der Sinn stand. Gabriel würde kommen, das hatte Florian ihm mitgeteilt, und dessen Blicke wollte er eindeutig auf sich ziehen. Ob dies jedoch klappen würde, stand in den Sternen, denn wenn sie wirklich in einen Club gingen, wo nur Männer waren, stach er sicher nicht aus der Menge heraus, würde in ihr sogar eher verschwinden. Doch deshalb würde er sich nicht komplett verkleiden, das wäre nicht mehr er selbst und kam es nicht auch darauf an? Er selbst zu sein?

 

„Wow, was hast du denn vor? Seit wann hast du solche Klamotten?“ Florian war sichtlich von der Kleiderwahl seines Bruders angetan. „Verdammt, das gehört verboten!“, ging er um Noah herum, dessen Gesicht an Farbe gewann.

„Was soll denn das heißen? Soll ich mich umziehen?“

„Nein, wenn dein Bruder nicht dein Bruder wäre, würde er es in klarere Worte fassen. Dein Arsch ist der Wahnsinn in der Hose und du siehst verdammt heiß aus, als ob du dir heute wen klarmachen wolltest!“, übersetzte Seth und grinste, während er sich gegen den Türrahmen lehnte und die Zunge über seine Lippen streichen ließ.

Noah riss die Augen auf und sah zu Florian. „Ehrlich?“

„Hey, du bist mein Bruder, aber ja, du siehst selbst für meine Augen gut aus!“

„Nicht zu übertrieben?“ Dabei sah er an Seth hinunter, der eine einfache schwarze Jeans trug und ein zu seinen Augen passendes Hemd.

„Nein, absolut nicht. Aber, und das sage ich dir als Freund, pass auf deinen Arsch auf!“ Seth stieß sich ab und ging die Treppen hinab.

„Der meint das nicht ernst, oder?“ Unsicherheit machte sich in Noah breit.

„Doch, aber mach dir darum keine Gedanken, das wird keiner von uns zulassen. Schuhe an, schnapp dir deine Sachen und dann lass uns fahren, die anderen warten.“

 

Es war anders, nicht verrucht, geschweige denn liefen hier halbnackte Männer herum oder man sah kopulierende Paare. Irgendwie kam sich Noah gerade schäbig vor bei dem Gedanken, die er an einen solchen Club hatte. An einem der hinteren Tische saßen bereits Stephan, Christian, John, Luc und Gabriel. Mit schwitzenden Fingern streifte sich Noah seine Jacke ab, die ihn vor der draußen herrschenden Kälte geschützt hatte. Luc war der Erste, der ihn überrascht musterte, sahen sie sich sonst lediglich im Anzug. „Ich wäre für einen neuen Dresscode auf der Arbeit, was denkst du, John?“

Dieser sah nun auf und ebenso zu seinem neuesten Angestellten. „Mit Sicherheit nicht … meine Güte. Obwohl …“ Das Paar warf sich einen vielsagenden Blick zu. „Ob jedoch die Damen im Haus noch arbeiten, wäre dann fraglich!“

„Wohl wahr, dann nicht.“

Irritiert von diesem Gespräch drehten sich auch Christian und Stephan um, die Noah grinsend musterten und Gabriel anstießen. Was sie zu diesem sagten, blieb Noah verborgen, da er in dem Moment von einem Kerl angerempelt wurde, dessen Hand „versehentlich“ auf seinem Hintern landete. Noah wurde stocksteif, sah mit vor Schreck geweiteten Augen zu dem fast zwei Meter großen Mann hinauf, der ihn lüstern betrachtete. Ohne ein Wort warf Florian dem Mann einen bösen Blick zu und schob seinen Bruder in Richtung des Tisches, an dem die anderen saßen. „Alles klar?“

„Der hat mir an den Hintern gefasst!“, kam Noah zu sich und sah sauer zu dem Typ.

„Ich hab dich gewarnt. Wer eine solche Hose trägt, muss damit klarkommen“, lachte Seth und orderte eine Runde Getränke für den Tisch.

 

Noah spürte noch immer die Hand, die auf seiner Kehrseite gelandet war und ein brennendes Gefühl hinterließ. Vielleicht war er zu empfindlich, doch sah er es nicht so locker wie Seth und Florian. Das gehörte sich nicht und erst recht nicht zwischen zwei Männern. Sein Blick wanderte zu Gabriel, der ihn mit gerunzelter Stirn betrachtete. Er konnte die Frage in den Augen erkennen. „Geht es dir wirklich gut?“ Unmerklich nickte Noah und lächelte aufrichtig. Der Gedanke, dass es Gabriel sein könnte, der ihn derart anfasste, jagte einen wohligen Schauer über seinen Körper. Nervös bearbeitete Noah seine Lippen mit den Zähnen. Dankbar über Ablenkung nahm er das Glas von Seth entgegen und ließ die Cola seine Kehle hinabrinnen. Umso öfter er in die eisblauen Augen sehen durfte, desto mehr kribbelte sein Körper. Das Verlangen, näher bei Gabriel sein zu wollen, kam in ihm hoch. Doch was dann passieren sollte, war ihm schleierhaft. Sicherlich würde der sich nicht mit Küssen und seichten Berührungen zufrieden geben. Sex, durchfuhr es Noah eiskalt.

Was ihn wieder zu der Sache brachte, mit dem ‘Wer war wer?‘ in einer reinen männlichen Beziehung? Nun gut, er hatte nun schon begriffen, dass alle hier am Tisch durchaus Männer waren und auch in der Beziehung blieben, jedoch sexuell gesehen musste doch einer … Wieso kam er sich gerade jetzt total bescheuert vor bei der Vorstellung? Sein Blick zu den einzelnen Männern ließ ihn in sich zusammensacken, er kam sich nicht nur bescheuert vor, er war es, wurde ihm in diesem Moment bewusst.

Denn er selbst hatte sich nie seiner Männlichkeit beraubt gefühlt, auch wenn er … eilig verdrängte er den Gedanken und verschwand auf die Toilette. Ignorierte einige Männer, die ihn wie ein billiges Stück Fleisch in der Kühltheke ansahen, was er durchaus wahrnahm. Irgendwo in seinem Inneren kam so etwas wie Stolz hervor, dass ihn Männer anziehend fanden, doch ein anderer Teil fand es einfach unangenehm. Seufzend stand er kurz darauf in einer Kabine und erleichterte sich. Fast wäre er vor Schreck gestolpert, als ein Mann ihm den Weg versperrte, während er sich die Hände waschen wollte. Vage kam ihm dieser bekannt vor, doch so ganz wusste er ihn nicht zuzuordnen.
„Du bist doch Noah, verdammt aus dir ist ja ein netter Twink geworden!“, grinste dieser anzüglich und streckte die Hand aus, wovor Noah zurückwich. „Erinnerst dich nicht mehr an mich, was? Ist lange her. Ich bin Lex, Florians Ex-Freund.“

Noah riss die Augen auf und versuchte noch mehr zurückzuweichen. Zwar hatte Tom sich vage ausgedrückt, als es um Florians Verfassung ging, aber dass es mit dem schmierigen Kerl zu tun hatte, den sie alle nie leiden konnten, war ihm bewusst gewesen. Noah wollte es so genau auch nicht wissen, das gab er gerne zu, jedoch auch, dass er sich unwohl fühlte und das mulmige Gefühl in seinem Magen nichts Gutes erahnen ließ.

Leider ging es nicht weiter zurück und Lex rückte immer näher an ihn ran. „Weißt du eigentlich, dass dein Bruder mir noch einiges schuldig ist?“

„Er … ist draußen. Flo bezahlt seine Schulden immer!“ Da war sich Noah sicher, sein Bruder war kein Typ dafür, irgendwem Geld schuldig zu bleiben.

„Es geht nicht um Geld, oder nicht direkt. Er hat mich einfach rausgeschmissen, dabei hatte ich noch so viel mit ihm vor. Aber ich gebe mich auch gerne mit dir zufrieden, kannst mir bestimmt auch weiterhelfen.“ Dabei strich Lex über das T-Shirt an Noahs Schlüsselbein entlang. Ein Schauer überfiel seinen Körper, es wäre ein angenehmes Gefühl, wenn nicht Lex der Auslöser gewesen wäre. „Ich sehe, du bist wie er. Wir zwei werden schon unseren Spaß zusammen haben, nicht wahr?“

„Nein, mit Sicherheit nicht, lass deine Finger von mir!“ Unsanft drückte Noah Lex zur Seite und drängte sich an diesem vorbei. Doch der nutzte die Chance, presste ihn mit dem Bauch an die Toilettenwand und rieb sich an seinem Hintern. „Hör auf, sofort!“ Es war ein flehender Ton, der Noah verließ und er betete, dass der Mann hinter ihm von ihm ablassen würde. Doch Lex schien das nicht so zu sehen, im Gegenteil. Er fing Noahs Hände ein, presste diese mit einer an die Wand, während seine andere sich auf den Weg zu Noahs Hosenknöpfen machte.

„Wie magst du es denn am liebsten? Du siehst mir nach dem romantischen Typ aus, richtig?“

„Lass mich los!“, versuchte sich Noah dem Mann zu entwinden, doch fand sich schon bald mit dem Gesicht auf der mit Kunststoff überzogenen Spanplatte wieder. Seine Wange brannte vom Aufschlag und er merkte noch die Schwingungen, die von der Toilettenabtrennung zu ihm drangen. Gerade als Lex den Knopf der Hose geöffnet hatte und sie herabschieben wollte, ließ der Druck auf Noahs Körper nach. Ruckartig drehte er sich um und sah wie Christian und Gabriel Lex in die Mangel nahmen.

„Ich habe dir bei Florian gesagt, du sollst die Finger von ihm lassen und das Gleiche gilt für Noah, du verdammtes Arschloch!“, presste der Werbetexter durch zusammengebissene Zähne heraus und verpasste Lex einen Schlag in den Magen.

„Du verdammter Mistkerl!“, spie Lex und spuckte Christian vor die Füße. „Du hast mir Florian genommen, aber Noah gehört mir!“ Gabriel hielt seinen Freund von einem weiteren Schlag ab, legte stattdessen eine Hand um Lex Hals und drückte ihn an die geflieste Mauer. „Fass ihn noch einmal an und ich breche dir jeden Finger. Finde ich dich noch einmal in einer solchen Lage mit jemanden, der dir sagt, er will das nicht, werde ich mir deinen Schwanz zwischen meinen Fingern zergehen lassen.“ Demonstrativ griff Gabriel dem Mann vor ihm zwischen die Beine und drückte zu. Ein Schmerzlaut verließ Lex Kehle, der Noah und Christian zusammenzucken ließ. „Haben wir uns verstanden?“ Der Blick des schwarzhaarigen Mannes war schon bald als widerlich nett zu bezeichnen.

Lex schnappte nach Luft, als ein zweites Mal der Griff um sein Geschlechtsteil verstärkt wurde, dann nickte er nur noch.

„Das freut mich und nun verschwinde!“ Damit ließ Gabriel vom Hals und der Hose seines Gegenübers ab und schubste ihn in Richtung Tür. Zwei Stürze auf die kalten Fliesen später war Lex zusammen mit Christian verschwunden, der ihm argwöhnisch nachging.

„Alles okay?“ Langsam kam Gabriel nun auf Noah zu, der mit einem Zittern kämpfte, das seinen Körper erfasst hatte.

„Ich brauch einen Schnaps!“, brachte dieser gerade so heraus.

„Ich denke, du trinkst keinen Alkohol.“

„Scheiß drauf … danke!“ Braune trafen kristallblaue Augen und fingen sich gegenseitig ein.

„Nicht dafür. Du warst einfach zu lange weg, als dass es normal war und plötzlich ist Christian aufgesprungen, da wusste ich, es stimmt was nicht.“ Gabriel ging einen Schritt näher an Noah heran, streichelte über dessen Wange und zog ihn an sich. „Bist du sicher, dass es geht?“

„Nein!“, schüttelte Noah den Kopf und presste sich näher an ihn. Wie gut es tat, den Geruch in sich aufzunehmen, die Wärme zu spüren und sich derart geborgen zu fühlen, dass er keinen Vergleich fand. Am liebsten wäre Noah in ihn gekrochen, hätte sich dort versteckt und sicher gefühlt.

„Ich bringe dich heim, in Ordnung?“

„Ja!“, willigte er sofort ein, ließ zu, dass Gabriel seine Hand nahm und folgte ihm hinaus.

 

Noah rechnete Gabriel hoch an, dass er das Sprechen übernommen hatte und sich nicht mal von Florian aus der Ruhe bringen ließ. Dieser hatte lauthals geflucht und wollte sich Lex schnappen, bis Seth ihn zu sich zog und küsste. Dieser Anblick hatte sogar Noah ein Lächeln gekostet, denn es war herrlich mit anzusehen, wie sein älterer Bruder vollkommen abgelenkt und verdattert seinen Freund ansah und sich einen weiteren Kuss stahl.

„Außer Gefecht“, kam schmunzelnd von Gabriel. Dann hatten sie sich von den Anwesenden verabschiedet.

„Ich muss was an der Wohnung machen, sie gefällt mir nicht!“, brach es aus Noah heraus, was ihm einen verwirrten Blick von dem Mann an seiner Hand einhandelte.

„Streichen, neue Möbel, so viel Arbeit ist das sicher nicht.“

„Ich glaub, ich mach es am Wochenende. Lust zum Ausgehen habe ich eh nicht.“

„Verständlich, aber vielleicht hättest du Interesse, mit auf den … also … am Samstagabend …“, stockte Gabriel und sah nervös umher.

„Gerne!“ Noah war es egal, was Gabriel ihn da versuchte zu fragen. Es konnte nichts sein, was ihm mit der Anwesenheit des Mannes, der sein Herz zum Stolpern brachte, unangenehm werden würde.

„Du weißt doch noch gar nicht, was ich dich fragen will.“

„Egal. Wo auch immer du mit mir hin möchtest, ich bin überzeugt, es wird mir gefallen und wenn nicht, werde ich es mir anstandshalber zwei Stunden antun und dann Kopfschmerzen anführen, weshalb ich früher gehen muss.“

Gabriel sah überrascht auf Noah hinab, grinste und ehe dieser sich versah, lagen ihre Lippen aufeinander.

 

„Ich verspreche dir nichts, Gabriel, das kann ich nicht, aber ich weiß, dass ich dich mehr als mag und du mir nicht mehr aus dem Kopf gehst. Ich genieße deine Anwesenheit und möchte, dass du bleibst; aber wohin es führt, ob es zu was führt, kann ich dir nicht sagen. Wenn du damit klarkommst, bitte ich dich, mit hochzukommen, wenn nicht, solltest du fahren!“ Noah war es schwer gefallen, diese Worte zu sagen und ohne auf eine Reaktion zu warten, stieg er aus dem Auto und ging Richtung Haustür. Er lauschte in die Dunkelheit, doch hörte weder Schritte hinter sich, noch eine Autotür. Abermals zitterte er, unterdrückte die Tränen, die versuchten nach außen zu dringen. Zugegebenermaßen hatte er sich mehr erhofft. Nach dem Kuss vor dem Club, war es im Auto zu noch zwei weiteren gekommen und nun hatten sie fast eine halbe Stunde vor dem Haus gestanden, wo Noah in Seth‘ Wohnung untergekommen war. Seine Lippen glühten noch von den zärtlichen Angriffen durch Gabriels Zähne und sein ganzer Körper war unter Spannung geraten, als dieser eine Hand auf seinen Oberschenkel legte.

Niemals im Leben hatte Noah so etwas erwartet, doch nun schien es das gewesen zu sein. Er schloss die Haustür auf und stürmte regelrecht die Treppen in den ersten Stock hinauf, wo er die Wohnungstür hastig aufschloss und hineinging. Er atmete tief durch und versuchte die Leere zu vertreiben, die sich in ihm ausbreiten wollte.

Was er nicht bemerkte, war Gabriel, der ihm leise gefolgt war, nun im Flur stand und auf ihn hinab sah. Ein Lächeln umspielte dessen Lippen, als seine Hände sanft auf Noahs Hüften Platz fanden und ihn zu sich drehten. „Bist du immer so schnell, wenn du eine Entscheidung getroffen hast, oder eine erwartest?“ Irritiert sah Noah zu ihm auf. „Ob du es glaubst oder nicht, ich brauche ab und an Zeit, damit bei mir durchsickert, was du von mir willst. Ob es dir ernst damit ist, was du sagst, und du mich nicht wieder vor den Kopf stößt. Wie gesagt, ich stehe nicht auf Spiele, in denen ich mein Herz verliere und es einfach fallen gelassen wird.“ In Noah herrschte Stille, er starrte einfach nur Gabriel an. „Ich kann nicht bleiben, aber nicht aus den Gründen, die du vielleicht annimmst. Devil ist allein zu Hause und ich erreiche jetzt keinen mehr, der sich morgen Früh um ihn kümmert. Jedoch möchte ich auch nicht einfach am Morgen abhauen und dich im Ungewissen zurücklassen. Noah, ich mag dich, sehr wahrscheinlich mehr, als es zum jetzigen Zeitpunkt gut für mich ist und würde nichts lieber tun, als bei dir zu bleiben, oder dich mitzunehmen. Aber ... bring Florian nicht um für diese Auskunft … ich weiß, wie viel Erfahrung du hast und glaub mir, ich will mehr von dir. Wir sind beide Männer und ich gebe gerne zu, dass ich da nicht gerade den normalen Weg vom Date bis zum Bett einhalte, dafür fehlt mir meist die Geduld.“

 

Noah schwieg und starrte Gabriel mit leicht geöffnetem Mund an. Was sollte er auch sagen? Gerade machte der Mann seiner Träume der letzten Nächte, ihm einerseits eine Art Liebeserklärung und nun eröffnete er ihm, dass er Sex wollte. Hart schluckte er, suchte nach Worten, während sein Kopf Bilder vor sein geistiges Auge projizierte.

Die traurige Wahrheit war nun mal, dass Noah sich wohl mit seinem Körper auskannte und wusste, was er mochte, doch nicht mit anderen. Eine Jungfrau, wenn auch lediglich im Umgang mit einer zweiten Person.

„Wieso meine ich in deinen Augen zu sehen, dass du alles bist, nur nicht so keusch, wie dein Bruder mir erzählt?“

Die Röte eroberte Noahs Gesicht und er dachte an die einsamen Momente in seinem Zimmer, die nur halb so einsam waren, wie man es unter der Bezeichnung verstand. Seine Phantasie war noch nie von schlechten Eltern gewesen, seine Finger durchaus dazu gedacht, den eigenen Körper zu verwöhnen, und gelenkig war Noah dank Sport auch.

„Noah, an was denkst du gerade?“

Das würde er für keinen Preis der Welt dem Mann verraten, der ihn überrascht musterte. Jedoch war sein Kopf auf Hochtouren, erinnerte ihn an das erste Mal im Online-Shop eines Spielzeugherstellers für Erwachsene. Er hatte sich drei Sachen bestellt und war hochrot angelaufen, als diese zwei Tage später auf seinem Bett lagen. Keiner hatte es mitbekommen und doch hatte Noah das Gefühl, als würde es jeder wissen. Der erste Test mit dem vibrierenden, eiförmigen Teil war in Sekunden beendet. Wie in der Packungsbeilage beschrieben, hatte er sich viel von dem Gel an seinen Anus gestrichen, allein diese Berührung hatte sein Glied unaufhörlich zucken lassen. Keine Ahnung von nichts, führte er sich den noch nicht vibrierenden Fremdkörper ein und hätte fast geschrien, weil es wehgetan hatte. Doch der Schmerz ließ schnell nach, der Muskelring konnte sich zusammenziehen und das „Ei“ lag in seinem Darm. Ungewollte Kontraktionen wollten es wieder hinaus befördern, doch dann war er an den Knopf der Fernbedienung gekommen, welcher die Funktion startete und ehe sich Noah versah, lag er schweißnass auf seinem Bett. Beklebt mit dem eigenen Sperma und versuchte atemlos, das Teil in sich zum Stillstand zu bringen.

„Noah?“

Wie aus einer Trance erwacht sah er in Gabriels Augen und grinste. „Ja?“

„Deine Gedanken sind offen zu lesen, das ist dir klar, oder?“

„So? Na dann frag nicht nach!“ Die Röte war gewichen, machte einem Grinsen Platz, das sich als verrucht bezeichnen ließ.

„Aber ich dachte, du bist …“

„An sich sagt man wohl so dazu, ich hatte weder eine Frau noch einen Mann je in meinem Bett!“

Gabriel atmete tief durch. „Sondern?“

„Komm mit, ich zeig es dir!“ Noah nahm sich Gabriels Hand und zog ihn mit ins Schlafzimmer, ein paar Minuten später hatte er den „geheimen“ Boden seiner Tasche enttarnt und gab den Blick auf seine Errungenschaften frei. Aus den drei ehemals bestellten Teilen waren inzwischen acht geworden, in jeglicher Form, Größe und Material. Niemals hätte Noah sie daheim gelassen, im Hause seines Vaters, der sie sicherlich irgendwann entdeckt hätte.

„Wow!“, entkam es Gabriel. „Und wieso behauptest du so vehement, nicht an Männern interessiert zu sein?“

„Weil ich es nie war und … ich habe mitbekommen, wie es Florian ging. Wie schwer er es hatte und dann haben sich Mum und Dad getrennt. Mir selbst einzugestehen … Gabriel, das ist nicht leicht, ich wollte doch nur normal sein!“

„Und du meinst, dass es was ändert, wenn du auf Männer stehst? Du bist deshalb nicht unnormal, sogar für einige interessanter. Inwiefern hast du die Teile schon genutzt?“ Noahs erneutes Grinsen schien Gabriel zu reichen, um schwer seufzend zu schlucken und sich durch die Haare zu fahren. „Das ist doch nicht dein Ernst? Ich sollte jetzt echt gehen, bevor ich dir beweise, wie bescheiden diese Teile zum realen Sex sind!“

„Und wieso willst du es mir nicht beweisen?“

Noah kam sich vor, als würde er neben sich stehen. Hatte er die letzten Tage nicht noch gesagt, er wollte keine Beziehung zu einem Mann? War fest davon überzeugt gewesen, dass es nie so weit kommen würde? Sollte ihn das Erlebte des Abends nicht noch in den Knochen stecken und zurückschrecken lassen? Stattdessen offenbarte er seine Geheimnisse vor einem Mann, den er knapp eineinhalb Wochen kannte, dessen blaue Augen ihn im Traum verfolgten und nach dem sich sein Körper sehnte. Die Welt stand Kopf. Sein Leben war wunderbar und ein absolut liebenswertes Geschöpf, dass es ihn mit Gabriel zusammengeführt hatte.

 

Langsam näherte sich Noah Gabriel, streichelte sanft über dessen Wange, fuhr die Konturen der Lippen mit den Fingern nach und sah ihm tief in die Augen.

„Mach mir das Angebot nicht, wo du nicht weißt, was es heißt!“ Es war eine heisere Bitte, der Noah nicht gewillt war nachzukommen. Sein erstes Mal sollte dem Mann gehören, der ihm auch den ersten Kuss gestohlen hatte. Der Tag war perfekt, ungeplant und doch zu perfekt, um ihn verstreichen zu lassen.

Seine Arme schlossen sich um Gabriels Nacken, zogen ihn mit sich, bis sich Noah an der Kante des Bettes wiederfand. Langsam setzte er sich nieder, doch nicht, ohne den Mann mit den kristallblauen Augen und schwarzen Haaren mitzuziehen.

Gabriel wollte etwas sagen, doch Noah verschloss ihm die Lippen, es war nicht die Zeit zum Sprechen. Scheinbar verstand Gabriel es auch, der die Initiative ergriff und Noah so küsste, dass diesem die Luft wegblieb.

Nur noch fühlen, sich darauf einlassen, was Gabriel mit ihm vorhatte. Genussvoll schloss Noah die Augen und spürte die warmen Finger, die sich unter sein T-Shirt schlichen. Mit sanften Bissen wanderte Gabriel Noahs Kinn hinab, während er das Shirt höher schob und den Oberkörper freilegte. Als sich die Zähne sanft um seine Brustwarzen legten, dachte Noah, keine Luft mehr zu bekommen. Sein ganzer Körper stand auf der Stelle unter Spannung, sein Atem stockte und sein Herz pumpte das Blut in Rekordtempo durch ihn hindurch.

„Gabriel“, verließ ein Seufzen seine Lippen und der Angesprochene sah kurz auf.

„Genieß es!“ Sanfte Küsse führten Gabriel über den Bauch hinab an Noahs Hose.

Eindeutig, es war zu viel, das hielt Noah nicht aus, sein Körper zitterte und war schon jetzt von einem Film aus Schweiß überzogen. Das hatte sein „Spielzeug“ nie geschafft. Sicherlich bemerkte es auch der Mann zwischen seinen Beinen, machte dennoch unbeirrt weiter und entkleidete Noah mit einer stoischen Ruhe. Wo nahm Gabriel nur diese Gelassenheit her? Noah wollte protestieren, doch kam nicht dazu. Ein kleiner hauchzarter Kuss ließ ihn verstummen, der direkt seine Eichel traf. Grinsend sah Gabriel hoch zu ihm, bevor er seinen Mund komplett über Noahs Länge schob.

Das war zu viel, eindeutig und wahrhaftig viel zu viel. Noahs Becken ruckte hoch, sein Schwanz rutschte aus Gabriels Mund und er ergoss sich mit einem Stöhnen.

 

Verlegen kniff Noah die Augen zusammen und wagte es nicht, Gabriel anzusehen. Das war wohl das Peinlichste, was ihm bis zu diesem Tag passiert war.

Sanft wurde ihm der Arm weggezogen und seine Lippen mit einem Kuss verwöhnt. „Glaub nicht, dass wir schon fertig sind!“, rieb sich Gabriel an ihm und küsste ihn verlangend.

Noah konnte es nicht fassen, als sich sein Glied schon wieder regte und die Lust einfach nicht abflauen wollte. Stattdessen begab er sich ein zweites Mal in Gabriels Hände, der jedoch forscher wurde. Zielsicher fuhren sie über seinen Bauch, zwischen seine Beine, streiften über seinen Damm direkt zum zuckenden Muskel, der ihn zitternd erwartete. Es war ein sanftes Spiel, was Gabriel veranstaltete, Noah damit aufheizte und nach mehr verlangen ließ. Immer wieder glitt ein Finger über das zarte Fleisch, drückte kurz in die Tiefe, um dann weiter zu wandern.

„Noah, hast du was hier?“, biss sich Gabriel auf die Lippen.

Dem Angesprochenen fuhr es eiskalt über den Rücken und er kniff die Augen zusammen. Daran hatte er nicht gedacht. Doch dann erinnerte er sich, bei wem sie in der Wohnung waren, und noch hatte Seth nicht alle Sachen mitgenommen. Das schien auch Gabriel durch den Kopf zu gehen, als er sich leicht Richtung Nachttisch beugte und die Schublade aufzog. Grinsend entnahm er ihr das, was sie benötigten. „Ich glaub, ich mag Seth doch langsam!“, zuckten seine Augenbrauen hoch. Noah bekam das Rausgenommene nicht zu Gesicht, stattdessen lenkte Gabriel ihn abermals ab, in dem er seinen Mund eroberte. Es war nicht kühl, wie sonst, wenn sich Noah selbst einrieb, auch nicht so unangenehm, was sicher an den Lippen auf seinen lag. Es fühlte sich so gut an, weshalb er inständig hoffte, dass es auch danach so sein würde und nicht wie sonst, wenn er sich mit sich allein beschäftigte, zu einem unwohlen Gefühl wurde.

Über seine Gedanken und die sanften Küsse hatte Noah fast nicht bemerkt, wie der Druck auf seinen Anus zunahm. Die Dehnung und das leichte Brennen hieß er willkommen, schoss in seine Lenden und ließ sein Glied anschwellen. Verlangend drückte er sich dem Finger entgegen, der immer tiefer in ihn eindrang, schnappte nach den Lippen von Gabriel, während er nach dessen Schwanz griff und ihn massierte.

Sie keuchten sich ihre Lust in die Münder, versanken in dem Blick des anderen und verbanden ihre Körper miteinander.

Der anfängliche Dehnungsschmerz ließ schnell nach, sodass sich Noah dem hingeben konnte, wonach es ihm sehnte. Verbunden zu sein mit Gabriel, dem Mann, der seine Träume beherrschte und seinen Verstand vernebelte.

 

Schweißgebadet lagen sie dicht aneinander und Noah wartete darauf, dass es einsetzte. Dieses Gefühl, was ihn immer nach der Selbstbefriedigung heimsuchte. Meist sprach sein schlechtes Gewissen auf ihn ein, schalt ihn einen erbärmlichen Mann, der nicht fähig war, seine Triebe im Zaum zu halten. Doch es kam nicht.

Stattdessen spürte er die Wärme unter seinen Händen, die auf Gabriels Brust lagen und hörte dessen Herzschlag. Langsam regulierte er sich und schlug im Einklang mit seinem. Noah hob den Kopf, legte stattdessen sein Kinn auf die Brust von Gabriel und sah ihn nachdenklich an.

„Du musst zu Devil“, erinnerte er ihn, wenn auch ungern.

„Ich weiß, aber erst will ich dich noch etwas genießen“, brummte Gabriel, während ihm ein Lächeln über die Lippen huschte und er kleine Kreise auf Noahs Rücken malte.

„Gabriel, was war das jetzt für dich?“, diese Frage entkam dem Einundzwanzigjährigen so leise, dass er bezweifelte, ob der Angesprochene es verstanden hatte.

„Der Anfang von etwas, was hoffentlich sehr lange anhält.“ Zärtlich umfasste er das Gesicht von Noah und zog ihn hoch. „So wenig ich mit Seth gemeinsam habe, in einer Sache sind wir ziemlich gleich.“

„So?“

„Oh ja, was wir einmal haben, wollen wir nie wieder hergeben.“

„Das hört sich gut an … also gibst du mich auch nie wieder her? Ich darf dich behalten?“

„Solange, bis du mich bittest, dich gehen zu lassen!“

Ein sanfter Kuss besiegelte das Versprechen und ließ Noah das erste Mal nach einem Orgasmus lächelnd einschlafen.


 

„Herrje, wer strahlt denn da wie das Glück auf zwei Beinen?“

Noah erschrak, als er Luc Stone zu ihm sprechen hörte und drehte sich suchend um. Er war fast eine Stunde zu früh auf der Arbeit, doch nichts hatte ihn mehr zu Hause gehalten und bevor er durchdrehte oder auf dumme Ideen kam, war er zur Arbeit gefahren. Endlich sah Noah Luc, der unter einem Schreibtisch hockte. „Was machst du da?“

„Nachdenken und meinen Kuli aufheben. Geschenk von meinem Mann.“

„Okay und wieso bist du so früh hier?“

„So früh ist es gar nicht mehr, aber ich musste raus. Hummeln im Hintern, mich zerreißen die Gedanken und ich muss es irgendwem erzählen.“

„Okay, ich mach Kaffee und leih dir mein Ohr!“ Es war so schnell und selbstverständlich über Noahs Lippen gekommen, dass er selbst erstaunt war. Nervös sah er zu Luc und wartete auf eine Reaktion, die er in Form eines Nickens wahrnahm.

 

Zwei Tassen Kaffee später fand Luc auch endlich die Worte, die er auszusprechen vermochte. „Wir sind jetzt eineinhalb Jahre verheiratet und ziemlich glücklich miteinander. Vor vier Monaten kam John auf die Idee, wir sollten auch ein Kind bekommen. Susanna hat einiges in unserem Leben verändert. Du kennst Susanna?“

„Ich glaube schon. Die Tochter von Stephan und Christian?“

„Sozusagen, genau. Nun ja, wir haben uns nach einer Leihmutter umgesehen und alles in die Wege geleitet und plötzlich ging alles so schnell und nun … ja … also …“

„Bekommt ihr ein Kind. Herzlichen Glückwunsch!“

„Ja und nein. Nicht eins, zwei. Es ist der Wahnsinn, man hat der Frau zwei Eizellen eingepflanzt, eins von jedem von uns befruchtet. Die Chance, dass es was wird, stand recht gut. Also dass EINE Eizelle sich einnistet, und so hätten wir nicht gewusst wer, doch dann …“

Noah riss die Augen auf, sein Herz stockte kurz, bis er endlich begriff, was sein Gegenüber ihm da anvertraute. „Ihr bekommt Zwillinge und jeder von euch wird Vater?“

„Korrekt.“

Es war ein Impuls, dem Noah nachgab, als er Luc in die Arme zog und ihm überschwänglich gratulierte. Scheinbar hatte der Ältere genau das gebraucht, umschloss ihn ebenso fest und dankte ihm mit einem sanften Kuss auf die Wange. „Ich habe nicht erwartet, dass gerade du dich so für uns freust.“

„Es tut mir leid, wirklich. Ich wollte doch nur …“

„Normal sein, nicht schief angeguckt werden. Aber soll ich dir was erzählen? Daran ändert sich nichts. Wer dich mag, nimmt dich, wie du bist und wer dich nicht leiden kann, der würde dich auch nicht als heterosexuellen Mann mögen.“

„Wahrscheinlich, es war ein doofes Denken von mir. Meinst du, Stephan und Christian verzeihen mir das irgendwann?“

„Das haben wir schon, mach dir keine Gedanken.“ Erschrocken fuhren Luc und Noah auseinander und sahen Stephan sprachlos an. „Dich hätte ich fast vergessen!“, schüttelte Luc ungläubig den Kopf und verschwand in seinem Büro.

 

Noah sah betreten zu Boden, scharrte über diesen und biss sich auf die Unterlippe. „Es war wirklich nicht so gemeint, ich hoffe, das wisst ihr?“

„Spätestens, seitdem wir die Blicke zwischen Gabriel und dir gesehen haben. Ich hoffe, er ist an der Veränderung schuld, die dir gerade widerfährt!“

„Und wenn nicht?“ Noah sah den dunkelhaarigen Mann vor sich interessiert an.

„Ich glaube, dann nehme ich das mit dem Verzeihen zurück. Gabriel ist ein feiner Kerl und ich mag es nicht, wenn man Freunden von mir das Herz bricht. Auch wenn ich ihn noch nicht lange kenne, schätze ich ihn durchaus.“

„Nur weil ich einen guten Freund von dir eventuell nicht derart mag, wie dir im Sinn steht, würdest du mir nicht verzeihen? Ist das nicht etwas … merkwürdig?“

„Verrat mir doch einfach, ob er dich so zum Strahlen bringt, oder ein anderer!“ Stephans Augen glänzten regelrecht vor Neugier und Noah hätte ihn sicherlich noch im Ungewissen gelassen, wenn nicht Gabriel in der Druckerei aufgetaucht wäre.

Das Lächeln auf seinen Lippen stellte sich automatisch ein, ohne sein Zutun, ohne Kontrolle zu haben, und auch sein Freund erwiderte den Blick.

„Okay, alles verziehen!“, grinste Stephan breit, schlug Gabriel auf die Schulter und ging Richtung Büro, worin Luc verschwunden war.

 

Gabriel zog Noah ohne Umschweife an sich, hauchte ihm zwei Küsse auf die Lippen und zwinkerte schelmisch zu Stephan, der sie ungeniert beobachtete.

„Der erste Weihnachtspunsch geht auf dich!“, grinste dieser sogleich.

„Wettschulden sind Ehrenschulden. Samstag 15 Uhr auf dem Weihnachtsmarkt?“ Stephan nickte lediglich und ging dann ins Büro rein.

Interessiert sah Noah Gabriel an. „Das wollte ich dich gestern eigentlich fragen. Ob du eventuell mit mir mitgehen würdest. Luc, John, Stephan, Christian, Susanna, Seth und Florian sind auch dabei.“

„Wieso nicht? Wird sicher angenehm.“

„Aber Noah, wenn wir jetzt zusammen dahingehen, möchte ich mich nicht verstecken.“

Noah runzelte die Stirn. „Hast du Ärger?“

„Wieso sollte ich Ärger haben?“, fragte Gabriel irritiert zurück.

„Na, wenn du meinst, dich verstecken zu müssen, oder nicht mehr, wie auch immer.“

„Ich meinte, mich mit dir verstecken.“

„Eben sagtest du noch, du willst dich nicht verstecken, also doch Ärger? Schlimm?“

Gabriel sah Noah unverständlich an, als neben ihnen Stephan und Luc lachten.

„Noah, er meinte, das zwischen euch will er nicht verstecken. Dass ihr ein Paar seid“, brachte Luc mühevoll heraus.

„Wieso auch? Hast du nun Ärger, oder nicht?“, wandte sich Noah wieder an Gabriel.

Der schüttelte tief durchatmend den Kopf. „Ich dachte, dass es dir eventuell unangenehm sein könnte, wenn ich kein Geheimnis aus meiner Zuneigung zu dir machen möchte.“

Noah betrachtete seinen Freund kritisch. „Wo ist jetzt das Problem? Solange du mich da nicht gerade flachlegen willst, sehe ich keinen Grund uns zu verstecken. Also hast du keinen Ärger am Hals?“

„Nein, gar keinen, alles super. Ich hole dich am Samstag um halb drei ab“, resignierte Gabriel.

„Okay, ich freue mich.“ Diese Freude wollte sich allerdings nicht auf Noahs Gesicht zeigen, was seinen Freund stutzen ließ.

„Was ist? Ich habe wirklich keinen Ärger, das war ein Missverständnis!“

„Nun ja … gibt es einen Grund, wieso du mich heute nicht mehr sehen möchtest? Wir haben immerhin erst Freitag.“

Abermals prusteten die zwei Männer im Büro los und Gabriel lachte mit, bevor er Noah küsste.

 

Das war der Anfang eines Lebens für vier unterschiedliche Paare, deren Weg sich sicherlich so schnell nicht mehr trennen würde. Davon war Noah überzeugt. Sein Herz wurde warm bei dem Gedanken, dass er es seinem Vater zu verdanken hatte, nun in die kristallblauen Augen von Gabriel zu sehen. Liebe durchströmte sein Herz und zum ersten Mal in seinem Leben war er einfach nur glücklich und sein Verstand schwieg, wiegte sich im Einklang mit seinem Herzen, wie Schneeflocken, die sanft den Weg zur Erde fanden.

Impressum

Texte: Rigor Mortis
Bildmaterialien: Urheberrecht: Doppeltes Herz : Horoscope/ Hintergrund:mtmmarek www.shutterstock.com Bildbearbeitung: Rigor Mortis
Lektorat: Brigitte Mel & Bernd Frielingsdorf (danke an Elke und Kati für das Beta-Lesen)
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Brigitte Danke, dass Du an mich glaubst und immer ein offenes Ohr für mich hast. Danke für Deine Mühen bei der Korrektur. Danke, dass es Dich gibt.

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