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Romhynos Geschichte - die Shandongsaga

Die meisten seiner Wünsche waren in Erfüllung gegangen. Er erlernte das Wissensgebiet, das ihm lag, er war Telepath und Heiler. Er war nicht ohne Reiz und ihm lag das gesamte Universum zu Füssen. Sein Wort war jetzt schon Gesetz. Obwohl er erst sehr kurz seinen Platz inne hatte. In einer Welt, in der Frauen das Sagen hatten, hatte er sich so weit als möglich hoch gearbeitet. Seit einiger Zeit war er der zweite Mann an der Spitze der Regierung. Er war Hohepriester und sein Wille war, die Gesetze einzuhalten. Doch hin und wieder so kleine Annehmlichkeiten...!


Sein Lieblingsschüler war sehr traurig, als er erfuhr, dass sein Mentor aufstieg. Denn er wurde einem anderen Lehrer zugeteilt. Von nun an wurde er ziemlich hart ran genommen. Manchmal erlitt er auch Schläge. Denn sein neuer Lehrer war der Meinung, der jetzige Hohepriester hätte die Zügel sehr schleifen lassen. Um diesen »Fehler« auszubügeln, wie ihm erklärt wurde, müsse der junge Priester geläutert werden.
Nun wurden die Tage, die früher voll Freude und Helligkeit waren, ziemlich dunkel. Und eines Tages schlug das Schicksal zu, der junge Priester erlitt die Prügel seines Lebens - und er verlor den Kampf.

Hatte sich der Hohepriester sonst immer um alles gekümmert, war meist am Laufenden, erfuhr er vom Tode seines ehemaligen Schülers erst durch andere. Und da vergaß er alles, was er je gehört oder gelernt hatte. Er trat vor den Anderen hin und fragte diesen:
»Stimmt es, dass du Ärger mit Dominik hattest?«
»Ihr habt alles schleifen lassen. Ich musste Euren Fehler unter Mühe ausbügeln. Eigentlich hätte ich Euer Amt erhalten sollen!«
»Du meinst also, Dominik hätte den Tod verdient?«
»Ach wisst Ihr, Mahun, dieser Jungpriester war ein Gräuel für die Priester! Faul, aufsässig und immer in Opposition zu mir. Ja, Mahun, er hat den Tod verdient!«
Der Hohepriester nickte langsam. Er merkte, wie Zorn in ihm aufstieg und sein rationales Denken überspülte.
»So, denkst du? Du weißt, was einem Mörder passiert? Das Leben ist heilig und du hast keinerlei Recht über das eines anderen zu bestimmen!«
»Das gleiche könnte ich Euch fragen und erklären, Mahun! Ihr werdet mir kein Haar krümmen. Ihr seid nicht der Mann dazu!«
»Findest du?«
Der Priester nickte und sein Blick, sein gesamtes Gebahren wurde überheblich. Abermals nickte der Hohepriester. Er sah den vor ihm stehenden und ihn spöttisch angrinsenden Priester an. Beinahe widerwillig hob er die Hand und fühlte tief in ihm die heilige Flamme erwachen.
Als sich der Andere von ihm abwandte, überließ sich der Hohepriester der Flamme und seiner Rache. Er vergaß, was er vor wenigen Augenblicken noch wusste und dachte nicht im geringsten mehr daran, dass er als Hohepriester eigentlich als einer der ersten die Gesetze einhalten mußte. Der Priester wandte sich noch einmal um, sein Gesicht verzerrte sich vor Schreck und seine Züge entgleisten. Zu einem Schrei kam er nicht mehr, denn da traf ihn bereits die Flamme aus des Hohepriesters Hand und verbrannte ihn zu Asche.
Erst da wurde dem Hohepriester klar, was geschehen war. Er hatte die Macht in seinen Händen mißbraucht, um kleinliche Rache zu üben. Er wusste, es würde nicht sein Tod sein, aber lange Verbannung und Bestrafung.
Hinter ihm sagte eine Stimme leise:
»Dies ist die dunkle Seite der Macht, Hohepriester! Ihr habt ein Leben vernichtet, nun werdet Ihr ein Leben geben. Aber Ihr seid stark und werdet Euren Weg gehen. Und nun folgt mir bitte!«
Der Hohepriester nickte und folgte den beiden Männern in der Uniform des Triumvirats.

 

Sie hatten ihn auf eine der weit verstreuten Inseln gebracht. Dort lebte nur ein alter Hirte mit seiner Tochter und einem Dutzend Raschgards, Ziegenähnlichen Tieren. Deren Milch wurde zur Käseherstellung benötigt. Schon am ersten Tag musste er beweisen, dass er sich sein Essen verdiente. Der Hirte befahl ihm, Holz zu hacken.
Es war lange her, dass er so schwere körperliche Arbeit gemacht hatte und nach Ablauf der ersten halben Stunde waren seine Hände mit Blasen übersät, die Rücken und Schultermuskulatur schmerzte und nach Ablauf einer weiteren halben Stunde brachen die Blasen auf und färbten den Stiel der Axt rot.
Der Haufen an gehacktem Holz wuchs langsam und, endlich, durfte er aufhören. Doch nahm er jetzt an, dass es endlich zu essen gab, sah er sich ziemlich rasch enttäuscht. Er musste nun die Hölzer stapeln.
»Ich sehe schon, du hast deine Händchen bereits etwas abgehärtet!« Der Alte lachte und deutete auf den nahe gelegenen Fluß. »Dort kannst du dich von der Mühsal deiner Arbeit reinigen und dann kommst du ins Haus. Dann bekommst du etwas zu essen!« Er wandte sich um und ließ den Mann, der noch vor wenigen Tagen ein Hohepriester war, stehen. Dieser sah auf seine blutenden Hände und zuckte resigniert seine schmerzenden Schultern.
Langsam ging er zum Fluß, sah kurz hinein und dann zog er sich seine Sachen vom Körper. Es war ihm in diesem Moment egal, ob ihn jemand sehen konnte, oder nicht. Doch niemand nahm Notiz von ihm. Außer einem kleinem Vogel, der auf einem der Äste auf dem Baum neben dem Wasser saß. Neugierig hüpfte er näher und beäugte den Mann unter sich, der sich mit einem erleichterten Seufzer in die kalten Fluten sinken ließ.
Nachdem der ehemalige Hohepriester, dessen Name Romhyno war, seinen gepeinigten Körper etwas ins Gleichgewicht gebracht hatte, stieg er aus dem Fluß und zog sich seine verschwitzten Sachen wieder an. Langsam ging er zum Haus, von dem schon ein schwerer Duft nach frisch gebackenem Brot in seine Nase stieg. Ja, dieses Essen hatte er sich hart erarbeitet.
Kaum war er beim Haus angelangt, trat auch schon der Hirt heraus, besah ihn von allen Seiten und schüttelte den Kopf.
»Mit diesen Sachen kommst du mir nicht ins Haus. Romy hat dir einen frischen Mullaf hergerichtet. Zieh ihn an, dann bekommst du zu Essen!« Er wandte sich ohne ein weiteres Wort um und an seiner Stelle trat Romy, die junge Tochter heraus und hielt Romhyno ein Sackähnliches Kleidungsstück hin. Dieser sah sich nach einer Möglichkeit um, um sich umziehen zu können. Schließlich zuckte er leicht die Schulter und entledigte sich vor den Augen des Mädchens seiner schmutzigen Sachen und zog den Mullaf an.
Das Mädchen kicherte, als er ihr die Sachen, die er ausgezogen hatte, entgegen streckte.
»Was ist?«
»Du hast den Mullaf verkehrt herum an. Du trägst den Rücken vorne!«

Romhyno sah an sich herunter und runzelte die Stirn.
»Nach meinem Empfinden habe ich ihn richtig an,« sagte er. Das Mädchen brach in Lachen aus und schüttelte den Kopf.
»Du hast trotzdem den Rücken vorne. Die Öffnung gehört auf den Rücken!«
Romhyno seufzte, zog sich das sackähnliche Kleidungsstück über den Kopf und drehte es herum. Dann glitt er erneut in die Ärmel und als er das Mädchen wieder ansah, nickte es.
»Jetzt stimmt es und nun komm. Sonst wird Vater wütend, wenn die Suppe erkaltet. Und nach dem Essen werde ich mich um deine armen Hände kümmern!«
Der ehemalige Hohepriester und jetzige Holzknecht nickte und folgte dem Mädchen ins Innere. Drinnen stieg ihm bereits der kräftige Duft einer Gemüsesuppe in die Nase und ließ seinen Magen vernehmlich knurren. Er trat zu einem der Stühle und der Alte nickte.
»Setz dich ‘Hohepriester'"
Romhyno runzelte die Stirn.
»Warum betonst du den ‘Hohepriester’ so?«
»Da kann jeder kommen und sich als Hohepriester ausgeben. Du kannst ja nicht einmal Holz spalten, ohne dass deine Fingerchen beginnen zu bluten! Und wärst du wirklich das, als was du dich ausgibst, wärst du nicht hier. Sondern würdest an deinem Platz sein und deine Arbeit machen. Und jetzt halte den Schnabel, setz dich und iss!«
Romhyno presste die Lippen zusammen. So hatte schon lange niemand mehr mit ihm sprechen dürfen. Aber es war auch als Strafe gedacht, sein Aufenthalt hier. Um etwas Bescheidenheit zu lernen und seine Macht als Hohepriester nicht zu missbrauchen. Dies hatte ihm sehr deutlich die Herrscherin klar gemacht. Und dabei hatte sie bewußt nicht erwähnt, dass sie nebenbei auch seine Gefährtin war. Und er hatte sich ihrem Urteil zu fügen.
Er setzte sich und hob den Blick vom Teller erst, als das Mädchen neben ihm auftauchte und seinen Teller ebenso mit dem Inhalt der großen Schüssel füllte, wie sie es schon bei ihrem Vater getan hatte.
Während des Essens schwiegen alle und man hörte nur hin und wieder etwas Schlürfen, oder wenn der Löffel den Teller berührte. Romhyno hatte Schwierigkeiten den Löffel fest zu halten. In kürzester Zeit war der Stiel desselben von seinem Blut verschmiert. Doch weder das Mädchen, noch der Alte nahmen davon Notiz.
Romhyno war froh, als er seinen Teil erledigt hatte. Der alte Hirt stand auf, während seine Tochter die benutzten Teller abräumte, und holte seinen Beutel mit den Kräutern. Er setzte sich neben Romhyno an den nun abgeräumten Tisch und suchte sich bestimmte Kräuter heraus. Romy hatte inzwischen einen kleinen Kessel geholt, darin wurden die Kräuter versenkt und mit einem Stössel zerkleinert. Danach goß sie etwas Wasser hinein und warf einen kleinen Klumpen Talg dazu. Wieder wurde alles vermischt und miteinander vermengt. Ein kurzes Lächeln glitt über das Gesicht des Mädchens, als sie auch noch einen dunklen Klumpen von etwas cremiger Konsistenz dazu gab. Sie vermengte alles und reichte es ihrem Vater. Dieser griff nach einem Holzspatel und sein auffordernder Blick veranlasste Romhyno, dem Alten seine Hände hin zu strecken.
Beinahe liebevoll und sehr vorsichtig strich der Hirt den Brei auf die wunden Innenflächen von Romhynos Hände. Mehrmals zuckte dieser schmerzhaft zusammen und atmete auf, als der Alte mit seiner Prozedur fertig war und nach den Stoffstreifen griff, die ihm seine Tochter nun hin hielt.
»Morgen sind deine Patschhändchen wieder wie neu. Die Kräuter werden dir helfen und einen Wundbrand verhindern. Und auch bei den Raschgards werden sie keine gröberen Schäden anrichten!«
»Wie meinst du das?«
»Morgen wirst du uns helfen, sie zu melken!«
Romhyno schwieg. Im Gedanken ließ er sein bisheriges Leben Revue passieren. Es war lange, sehr lange her, dass er gemolken hatte. Ob er es noch konnte?
»Wenn meine Handflächen das mitmachen!«
»Das werden sie, keine Sorge. Dafür sorgt schon die Extrazugabe meines Geheimmittels!«
»Und was wäre das?«
Der Alte war fertig, stand auf und während er die gebrauchten Utensilien zusammen nahm meinte er so nebenbei:
»Raschgardpisse und Kacke!«
Romhyno riss seine Hände an sich und starrte entsetzt darauf.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«
»Was hast du? Sei froh, dass du morgen deine Pfoten wieder zum Einsatz bringen kannst! Und jetzt solltest du dein Nachtgebet sprechen, oder was du sonst als Hohepriester zu tun hast, wenn du schlafen gehst und dann hinein ins Bett. Du musst morgen früh raus!« Damit ließ der Hirt Romhyno stehen, verließ das Zimmer und trat nach draußen.
»Mach dir nichts draus, manchmal ist Vater eben so. Und du hast ihn sehr verärgert, als du so auf den angeblichen Hohepriester beharrt hast,« sagte das Mädchen und nahm einen Eimer, der in einer Ecke stand.
»Ich habe keine Unwahrheit gesagt. Du weißt, dass ich das nicht könnte,« verteidigte sich Romhyno, doch Romy winkte ab.
»Du brauchst dich hier vor mir nicht verteidigen. Wir wissen beide,warum du hierher gebracht wurdest. Und jetzt geh mir aus dem Weg, ich muss noch rasch die Tiere melken.« Damit ließ sie ihn stehen und begab sich in den Stall nebenan. Dieser war mit dem Haus durch einen überdachten Korridor verbunden. Romhyno folgte ihr.

Die Tiere, die sich bereits im Stall gesammelt hatten, waren sehr unruhig. Die Euter waren gestrafft voll und taten weh. Romy griff nach dem einbeinigen Melkschemel und nahm sich das erste Tier vor. Das Raschgard sah sie seelenvoll an und war sichtlich froh, von seiner Last befreit zu werden. Romy ergriff ein feuchtes Tuch, das griffbereit an einer Boxeinfassung hing, wusch die empfindlichen Euter des Tieres und begann mit der Arbeit. Die ersten beiden Milchstrahls ließ Romy auf den Boden des Stalls fahren und stellte den Eimer danach zwischen ihre Beine. Mit routinierten Griffen melkte sie das Tier und Romhyno konnte spüren, dass es dem Tier Erleichterung brachte. In einem anderen Teil des geräumigen Stalles war der Alte ebenfalls beim Melken.
»Du solltest bereits im Bett liegen und schlafen! Verschwinde, du störst hier nur. Dies wird morgen eine deiner Aufgaben sein. Und jetzt geh!«
Ohne einen Widerspruch verließ Romhyno den Stall, betrat das Haus und ging zu seinem Lager. Ein leises Pochen in seinen wunden Handflächen ließ ihn mit Grauen an den morgigen Tag denken. Voll Bedauern dachte er an sein bis vor kurzem noch bequemes Leben zurück. Nur weil er einen bösen Mann gerichtet hatte, war er jetzt in dieser Lage! Doch Romhyno wäre nicht der, der er war, wenn dieser Zustand sehr lange angehalten hätte. Er war schon mit ganz anderen Situationen und Lebenslagen fertig geworden. Da würde ihm dies bisschen melken auch nicht schaden. Das Pochen hatte aufgehört und unmerklich glitt Romhyno in den Schlaf.
Er merkte nicht mehr, dass der Alte zu ihm trat, einen prüfenden Blick auf die verbundenen Hände warf und dann, sehr zögernd und flüchtig, eine Haarsträhne aus Romhynos Gesicht strich. Als wäre dies eine verbotene Handlung, brummte der Mann in seinen Bart, zog die Hand beinahe hastig zurück und begab sich selbst zur Ruhe. Es dauerte nicht lange, so senkte sich Stille über das Haus, den Stall, die Insel und nur die Sterne blinkten mit ihrem fernen und kalten Licht über den Schläfern.

 

Der Nachtwind hatte sich noch nicht gelegt und das erste Graulicht des neuen Tages zog auf, als Romhyno geweckt wurde. Er setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Erst als er die Streifen auf seiner Gesichtshaut spürte, dachte er an seine Verwundung. Er sah auf die Streifen über seinen Händen. Langsam wickelte er sie ab und besah sich seine wie unversehrt wirkenden Handflächen. Dass sie am nächsten Tag geheilt wären, hatte er bereits gewußt. Doch er hatte mit Absicht nichts gesagt. Sein Lebensband, das er seit seiner Geburt trug, hätte ihn auch ohne Hilfe des Alten und seiner grausigen Mixtur geheilt. Kurz dachte er an das Band, dann zog er sich die Decke vom Körper und schwang die Füße auf den Boden. Romhyno verzog das Gesicht. Kleinere Verletzungen konnte es heilen, doch seinen enormen Muskelkater, den er sich am Vortag geholt hatte, nicht. Ächzend stand er auf und griff sich an die Schulter.
»Stell dich nicht so an. Die Raschgards warten, dass sie gemolken werden und auf ihr Futter. Am Morgen werden sie im Stall gefüttert. Gras und Heu und die Kräuterbüschel findest du auch dort. Beeile dich. Wenn du noch etwas essen möchtest, solltest du zusehen, dass du in die Gänge kommst!«
»Und was machst du?«
»Willst du essen? Eben! Ich bin heute mit Frühstück dran. Also sieh zu ...!«
Romhyno spürte Zorn in sich aufsteigen, über die harsche Rede des Hirten. Doch eine leise Stimme tief in ihm mahnte ihn zur Ruhe. War dies nicht der Grund, dass er sich nun hier plagte? Weil Zorn ihn übermannt hatte? Romhyno atmete tief durch und nickte. Rasch erledigte er seine Morgenpflege, den Kamm ersparte er sich, indem er einfach mit allen zehn Fingern durch seine Haare fuhr. Dann zog er den Mullaf an - diesmal richtig herum - und begab sich in den Stall. Dort traf er auf die bereits in ihre Arbeit vertiefte Romy. Sie sah nur kurz auf und nickte ihm zu.
»Hol dir einen der Melkstühle und fang mit Basta an!«
Romhyno sah sich suchend um und entdeckte einen weiteren Schemel. Diesen holte er sich und fragte:
»Wo ist Basta?«
»Du stehst vor ihr! Beginn endlich, sonst wirst du ohne Frühstück zu den Weiden aufbrechen!«
Romhyno sah auf das Tier vor ihm nieder und setzte sich. Kurz zögerte er, dann begann er das daneben stehende Tier zu melken.
»Du sollst Basta erst drannehmen!«
»Nun, ich denke, dass Basta etwas dagegen hat, wenn ich ihn melke. Da nehme ich mir lieber dieses hier vor!«
Der Alte, der inzwischen auch in den Stall gegangen war lachte.
»Hätte nicht gedacht, dass du den Unterschied zwischen Basta und Triefla bemerkst. Und jetzt mach schneller. Heute kannst du noch trödeln, morgen gilt keine Ausrede mehr!«
Romhyno nickte und hoffte, dass er nicht vergessen hatte, wie man molk. Doch seine Finger erinnerten sich.Er kam relativ schnell wieder in den Rythmus und bald ließ der Alte mit Hilfe seiner Tochter die Tiere aus dem Stall. Romhyno hatte nach Beendigung seiner Melkarbeit bereits begonnen, die Tiere zu füttern und so dauerte es auch nicht lange, bis sich der Stall geleert hatte.
»Nun wollen wir selber essen. Romy hat auch schon Essen und Trinken eingepackt. Wir werden gleich aufbrechen!«
»Wird sie mitkommen?«
»Warum sollte sie das tun? Hast du etwa eine Unehrenhaftigkeit vor? Das solltest du dir gleich überlegen. Ich bin zwar alt, aber dich nieder zu schlagen, dazu reicht meine Kraft allemal noch!«

»So habe ich das nicht gemeint, alter Mann!« Zur Sicherheit trat Romhyno einen Schritt zurück. Bei dem alten Hirten konnte man nicht wissen...
»Mach jetzt keine Faxen, ‘Hohepriester’ und geh. Die Tiere wollen zu ihrer angestammten Weide und ich möchte sie auch erreichen. Also...!« Das letzte Wort begleitete der Hirt mit einer auffordernden Handbewegung. Schweigsam wandte sich Romhyno um und nahm seinen Packen, den ihm das Mädchen zurecht gestellt hatte, auf den Rücken.
Die Tiere, die merkten, dass es endlich losging, riefen ihre Lebensfreude in die stille und bereits wärmer werdende Morgenluft. Zwei ältere Hunde begleiteten die Gruppe und immer wenn ein Tier vom Weg abirrte, oder eines es nicht mehr erwarten konnte, endlich auf die Hochweide zu kommen, liefen sie hin und trieben es mit Bellen und Bissen in die Beine wieder zur Herde zurück.
Nach zwei Stunden angestrengtem Marsches war der Aufstieg zur Hochweide erreicht. Die Tiere würden dort nun die nächsten drei Wochen bleiben, ehe die jungen und schlachtreifen Tiere wieder abgetrieben würden, um sie am Markt auf der Hauptinsel zu verkaufen. Dort befand sich auch der Raumhafen und hungrige Besatzungen gab es immer wieder. Die Jungtiere aber wurden an andere Züchter verkauft und langsam hatte sich die Sitte eingebürgert, dass es immer mehr Wettbewerbe gab, bei denen Raschgards auftraten. Es gab Schönheitswettbewerbe, Melkmeisterschaften und noch vieles mehr.


Mit solchen Gedanken vertrieb sich Romhyno die Zeit, während er hinter, neben und auch schon mal mitten der Herde mitzog und den Steilweg zu erklimmen begann. Inzwischen war die Sonne aufgegangen und bewegte sich dem Zenith zu. In der dunstigen Ferne, die hin und wieder zwischen den Gebüschreihen und Bäumen, die den Weg säumten, hervorlugte, erkannte Romhyno, dass er sich auf einer der etwas kleineren Inseln befand. Rings von Wasser umgeben, beherbergte sie trotz allem einen Berg mit Hochplateau und mehrere versetzt angelegte Weideplätze. Sie hatte größere Waldbestände und etliche Wiesen. Drei Felder waren angelegt und dabei stand die von hier aus winzig wirkende Hütte des Hirten und dessen Tochter. Diese Winzigkeit von Unterkunft teilten sie jetzt auch noch mit Romhyno.
Der Weg war anstrengend und Romhyno kam richtig ins Schwitzen, als er ihm folgte. Sie kamen zu einer Verzweigung. Der Alte nahm den rechten Weg und weiter gings hinauf. Einmal drehte sich der Hirt nach Romhyno um und dieser bemerkte das Grinsen, mit dem der Alte Romhynos schweißige Gesicht und seinen keuchenden Atem kommentierte. Und dann hatten sie ihr Ziel erreicht. Romhyno atmete auf und ließ sich ins warme Gras fallen.
»Nichts da, Nichtsnutz. Jetzt wirst du beginnen, die Höhle wohnbar zu machen. Ich hole inzwischen das hoffentlich trocken gebliebene Feuerholz und dann wird erst einmal Tee gekocht! Mach dich auf die Beine, ein Unwetter braut sich zusammen!«
Ein Unwetter? Romhyno stand auf und sah sich um. Er bemerkte den Höhleneingang, von dem der Alte gesprochen hatte. Am Rand zu der Hochweide stand der obere Gipfel des Berges und gleich daneben befand sich ein windschiefes Steingemäuer. Darin hatte der Alte scheinbar Holz gelagert. Doch Romhyno konnte keinerlei Bäume sehen, die hier oben eventuell das Holz geliefert haben könnten.
»Was ist? Worauf wartest du? Willst du eine Extraeinladung? Oder denkst du, weil du dich als ‘Hohepriester’ bezeichnest, brauchst du nichts tun?« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, trat der Alte zu Romhyno und stieß ihm die Faust schmerzhaft in die Rippen.

»Ich würde an deiner Stelle achten, wohin ich meine Faust setze!« Romhynos Stimme war leise, aber wenn man den Unterton sichtbar machen könnte, wäre sie voll tödlicher Energie.
»Was willst du tun? Einen alten Mann schlagen? Nun, du kannst es ja versuchen. Aber vorher solltest du dich fragen, aus welchem Grund du eigentlich hier bist!«
Romhyno ließ seine bereits geballte Faust sinken und senkte den Kopf. Ja, das war ein grundlegender Punkt bei ihm. Er war jähzornig und er bestrafte immer gleich. Das war ihm auch jetzt zum Verhängnis geworden. Denn da er Dominiks Misshandler zur Rechenschaft gezogen hatte und ihn auch noch getötet, war er in dieser unangenehmen Situation. Seit er Hohepriester geworden war, die zweitstärkste Macht im Reich war, ging mit ihm das Temperament durch. Oder die Dummheit.
»Hast du begriffen?«
Romhyno nickte, atmete einmal tief durch und ging zum Höhleneingang. Er betrat die dahinter liegende Höhle und blieb überrascht stehen. Er hatte eigentlich ganz etwas anderes erwartet, als er jetzt zu sehen bekam. Er hatte gedacht, dass die Höhle ziemlich eng wäre und noch die Kotexkremente der Tiere in ihr lägen. Doch sie war geräumig und bestand aus zwei Abteilungen. Die vordere, wo er sich eben befand, zeigte eindeutig, dass öfters sich die Raschgards hier aufhielten. Doch ihre schon getrockneten »Hinterlassenschaften« befanden sich in einem Steinrund und waren dort wie zum Trocknen gelagert. Eine niedere Umzäunung war an der Seite angebracht. Dort befanden sich auch eine größere Raufe und ein kleines Rinnsal sickerte dort aus der Wand, sammelte sich in einem Steinbecken und verließ dieses wieder durch einen schmalen Kanal. Die Raufe war voll Heu und das Wasserbecken sehr sauber geputzt.
»Was ist? Hast du bereits die Lager gerichtet, oder willst du hier drin Wurzeln schlagen? Wenn das Gewitter kommt, kommen die Tiere hier herein. Wir lagern im rückwärtigen Teil der Höhle. Mach hin, es wird schon geladen!«
Romhyno riss sich von dem Anblick los und wollte etwas erwidern. Doch jetzt spürte auch er, dass sich in den letzten Minuten die Luft elektrisch aufgeladen hatte. Er nickte, betrat den anderen Höhlenteil und blieb abermals überrascht stehen. Es war, obwohl keinerlei Durchbrüche zu sehen waren, beinahe taghell erleuchtet. Gleich darauf erkannte er die Ursache. Rings an den Wänden befanden sich ganze Felder von Schwingquarzen. Bei seinem Eintritt erhellten sie sich um einige Lux.
Sein Blick fiel auf die beiden Holzgestelle im Hintergrund des etwas kleineren Raumes und er ging hin. Die Gestelle waren sehr massiv gemacht, es lagen einige Decken und Kissen darauf. Daneben befand sich ein kleiner Schrank. Als Romhyno nachsah, waren Decken, Überzüge und Tücher darin enthalten. Sie fühlten sich etwas klamm an, doch sie waren sauber und zusammen gelegt.
»Ich hoffe, du weißt, wie man Betten macht!«
Ohne dass Romhyno es gemerkt hatte, war der Alte mit einem Arm voll bereits gespaltenem und in feuergerechte Stücke zerkleinerten Holzscheiten herein gekommen. Er ließ es am rechten Höhlenrand fallen und Romhyno sah erst jetzt, dass sich dort eine Feuerungsstelle befand. Gleich daneben stand ein Dreibein, darauf ein Kessel, daneben ein Eimer. Ein schmaler Holztisch befand sich ebenfalls dort und zwei etwas wackelig aussehende Sessel.
»Was ist? Wartest du auf eine Extraeinladung? Du bekommst keine!«
Romhyno nickte abermals und machte sich ans Werk. Er holte aus dem Schrank einige Decken und zwei der Tücher, die er auf die mit Stroh gefüllten Matratzensäcke legte. Dann kamen die Kissen und die anderen Decken dazu. Er zuckte etwas zusammen, als ein schwacher Donner durch die Höhle rollte.
»Was ist mit den Tieren,« fragte er.
»Die sind nicht so dumm, wie du. Sie haben längst den vorderen Bereich eingenommen. Jetzt werden wir das Feuer in Gang setzen und dann können wir in Ruhe essen. Was hast du?«
Romhyno hob die Hand und der Alte schwieg. Der Hohepriester schloß seine Augen. Da war es wieder! Ein mentaler Hilferuf! Ein seltsamer Hilferuf! Und dann wusste Romhyno, woher er kam und wer es war, der Hilfe benötigte.

»Du willst doch jetzt nicht raus, oder? Draussen herrscht das Inferno!«
Doch Romhyno beachtete den Hirten garnicht, wandte sich zum Eingang und verließ mit raschem Schritt die Höhle. Im vorderen Teil waren bereits die Tiere dabei, sich an der Raufe und dem Wasserbecken gültlich zu tun. Aber Romhyno spürte, etwas beunruhigte sie. Und das hatte nichts mit dem Gewitter zu tun, das nun mit voller Kraft losschlug.
Abermals dieser mentale Hilferuf. Drängender, matter. Romhyno beschleunigte seine Schritte, begann beinahe zu laufen. Als er die Höhle verließ, traf ihn der mittlerweile zum Sturm angeschwollene Wind voller Kraft. Er riss ihm den Atem von den Lippen, zerrte an seinen Haaren, die sich aus der Spange gelöst hatten und klatschte ihm den Regen ins Gesicht. Der Tag war zur Nacht, zum Inferno geworden. Immer wieder zuckten Blitze über den Himmel, der Donner grollte, verstärkt durch die Felsen ringsum doppelt und dreifach so laut.

Innerhalb Sekunden lief Romhyno das Wasser bei den Füssen hinunter. Doch er hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Gegen den Sturm gestemmt, wandte er sich nach links und kämpfte sich zu der Stelle, wo der erneute Hilferuf ertönte. Diesmal bereits so schwach, dass Romhyno schon das schlimmste befürchtete. Er atmete auf, als gleich darauf der Sturm etwas nachließ und im Schein eines aufzuckenden Blitzes sah er es. Das Tier war mit einem seiner Läufe in eine Felsspalte geraten und steckte fest. Es lag bereits am Boden und hatte sichtbar mit seinem Schicksal abgeschlossen.
Romhyno hob rasch den Blick zum Himmel, schätzte die vorraussichtliche Länge der überraschend eingetretenen Atempause im Inferno und kniete sich neben das verängstigte Tier. Kurz führte er seine Hand über den zitternden Körper. Er spürte den Bruch des Laufes und die Schmerzen. Er zog die Hand weg und begann das Tier vorsichtig aus seiner Falle zu befreien.

Als der Sturm erneut kräftig wurde, hatte Romhyno das Tier befreit und nahm es auf seine Arme. Er trug es zur Höhle zurück. Es schien, als hätte der Sturm etwas dagegen, dass ihm ein Opfer entrissen wurde, denn er verstärkte sein Wüten noch mehr. Doch da hatte Romhyno sein Ziel erreicht und trug das wie tot in seinen Armen liegende Tier in den rückwärtigen Teil. Der Hirt sah erstaunt auf vom Kessel, der bereits einen heißen Duft nach Nahrhaftem verbreitete und unter dem bereits das Feuer prasselte.
»Was ist mit dem Raschgard?«
»Es hat in einer Spalte gesteckt. Der Lauf ist gebrochen und es hat mit dem Leben abgeschlossen!«
»Daran musst du dich gewöhnen. Immer wieder geht eines der Tiere verloren oder fällt in eine Spalte. Der Lauf ist gebrochen. Ich kann ihm nicht mehr helfen. Wir werden es töten müssen!«
»Es trägt Leben in sich!«
»Du kannst ihm nicht helfen!«
»Du siehst das vielleicht so. Doch es hat nach mir gerufen. Und ich lasse es nicht zu, dass du es tötest und das Leben in ihm gleich mit!«
»Und was willst du tun? Es heilen?« Nun troff die Stimme des Hirten voll Hohn. Doch Romhyno ließ sich davon nicht beirren, legte das Tier, das noch immer kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, auf eines der Bettgestelle und kniete sich davor. Er schaltete seine Umgebung, das Feuer, den Hirten und den starken Essensgeruch aus seinem Bewußtsein aus und vertiefte sich in den gebrochenen Lauf. Wie er es als junger Anwärter gelernt hatte. Obwohl er die Heilarbeit seit langem nicht mehr ausgeführt hatte, gelangte er ziemlich schnell wieder in die erforderliche Konzentration. Er »sah« die gerissenen Bänder und die zersplitterten Knochen. Und er spürte, dass es schnell gehen musste.
Mit Hilfe seiner Kräfte versenkte er sich in die Knochensplitter, bewegte das System des Tieres in kürzester Zeit diese abzubauen und neuen Knochen zu erzeugen. Danach nahm er sich die Bänder vor. Er beschleunigte das Wachstum der einzelnen Fasern aufs zehnfache. Unbewußt sah er das Zucken des Laufes und hörte die leisen Klagelaute. Es tat ihm leid, dass die Heilung nicht ganz ohne Schmerz abging, doch er ließ nicht nach. Die Fasern wuchsen, verbanden sich, stabilisierten den Knochen und dann fügte Romhyno das Fleisch und die Muskeln über die Stelle. Er bereinigte die in starke Mitleidenschaft gezogenen Blutgefäße und schloß seine Arbeit ab, indem er das Tier vorsichtig zu stimmulieren begann und es so ans Leben zurück holte. Kurz überzeugte er sich noch, dass dem Lamm nichts passiert war, das im Inneren wuchs, doch es war am Leben.Es dauerte auch nicht lange, da versuchte das Tier bereits sich zu erheben und schließlich lief es, sich die Nässe aus dem Fell schüttelnd zu den anderen im vorderen Höhlenteil.
Romhyno sank mit einem Seufzen auf seine Fersen, schloß die Augen und kippte um. Der Hirt hatte mit offenem Mund hinter dem Tier nachgesehen, jetzt erschrak er, als Romhyno umfiel. Sofort beugte er sich über ihn und erkannte erstaunt, dass Romhyno in einen tiefen Schlaf gesunken war. Dieser grenzte beinahe schon an Bewußtlosigkeit.

 

 

Es waren Tage vergangen, das Verhältnis zwischen dem Alten und dem Hohepriester hatte sich gewandelt. Romhynos Hände und Finger waren die Arbeit des Brennmaterials sammeln, Melken und noch anderer Arbeiten gewöhnt. Die alte Kraft war zurück gekehrt und er konnte sich beinahe nicht mehr vorstellen, dass er je etwas anderes gemacht hatte.
Es war am Morgen, als sich der Alte neben ihn setzte, den Rücken an den Felsen gelehnt und den friedlich grasenden Raschgards zusah. Hin und wieder kam eines der Tiere zu ihnen und ließ sich zwischen den gedrehten Hörnern kraulen oder schmuste mit Romhyno. Jedesmal wenn eines der Tiere dies machte, schüttelte der Alte den Kopf. Aber er sagte nichts dazu.
Jetzt wandte er den Kopf und sah den neben ihm sitzenden Mann nachdenklich an.
»Was ist?«
»Ich weiß noch immer nicht, wie ich dich einschätzen soll. Der erste Eindruck, den ich von dir hatte, war, dass du arrogant, überheblich und sehr jähzornig bist. Keinerlei Verständnis für andere und sicher kein friedlicher Mann. Dann hast du eines meiner Tiere gerettet, ich habe dich beobachtet. Du hast sehr viel Einfühlungsvermögen und bist trotz des ersten Anscheins kein so machtbesessener Dummkopf, als den man dich geschildert hatte. Im Gegenteil, du kannst sehr liebevoll sein und deinen eigenen Willen hintan stellen.«
»Was soll diese Unterhaltung? Willst du mir etwa schmeicheln? Das solltest du bleiben lassen, alter Mann. Auch wenn du deine Gedanken jetzt hinter einem Schirm verbirgst. Was willst du wirklich!«
»Ich möchte mich nur bedanken. Das ist alles.«
»Komische Art, seine Dankbarkeit auszudrücken.«
Beide schwiegen wieder. Die meisten Raschgards hatten sich nieder gelegt und begonnen, die saftigen Gräser und Kräuter widerzukäuen. Romhyno schloss die Augen und seine Gedanken gingen zurück. Zurück zu seiner Heimat und seiner Gefährtin, die er so lange schon nicht mehr gesehen hatte. Und zu seiner kleinen Tochter. Er ahnte, was der Grund für dieses seltsame Gespräch sein könnte. Der alte Mann neben ihm wurde auch nicht jünger und dann musste seine Tochter die Arbeit mit den Raschgards übernehmen. Sie war alleine mit der schweren Aufgabe. Gut, sie konnte sich einen Gefährten nehmen oder Arbeiter einstellen. Doch aus einem Grund, den Romhyno nicht kannte, versuchte der Alte neben ihm ihn und Romy zu verkuppeln. In den letzten zwei Tagen hatte der Alte so verschiedene Andeutungen gemacht und Romhyno war nicht auf den Kopf gefallen. Romy war zwar ein sehr hübsches Mädchen und sie wäre auch im richtigen Alter, einen Partner zu erwählen, doch gegen Romhynos wahres Alter war sie ein Kind. Und er war viel, aber ein Kinderschänder sicher nicht.
»Du wirst die Hochweide noch heute verlassen. Romy wird deinen Platz einnehmen. Das Haus muss versorgt werden und für die Winterstürme verstärkt werden. Ausserdem schätze ich es nicht, dass sich die Tiere in dich vergafft haben. Pack deine Sachen und schick mir meine Tochter. Bisher hast du deine Sache gut gemacht!« Damit stand der Alte auf und verschwand im Höhleninneren. Romhyno sah ihn erstaunt nach.
Was war das denn jetzt schon wieder?

»Starre keine Löcher in die Luft, sondern mach endlich, was ich dir gesagt habe!«
Romhyno schrak leicht zusammen, als er die Stimme hinter sich vernahm. Er nickte, packte den Beutel, den ihm der Alte hinhielt und machte sich ohne ein weiteres Wort an den Abstieg. Da hatte er nun gedacht, er würde länger auf der Hochweide weilen, nun wurde er wieder zurück geschickt. Nun, irgendwas wird sich der Alte sicher dabei gedacht haben.
Romhyno betrat den Hohlweg und da es nun stetig bergab ging, benötigte er nur einen Bruchteil der Zeit, ihn zu begehen, den er gebraucht hatte, um ihn hinauf zu keuchen. Romhynos Gesicht verzog sich zu einem belustigtem Grinsen. Wenn der Alte gewußt hätte, dass er auch den »schnellen Schritt« beherrschte, wäre er sicher nicht ganz so hart mit ihm umgesprungen.
Mitten im Schritt verharrte Romhyno. Gefahr! Aber wer und woher? Und, viel wichtiger, für wen? Er schloß die Augen und begann seine Umgebung zu sondieren. Der Alte und die Tiere waren nicht in Gefahr. Dort spürte er, dass die unnatürlichen Schwingungen beinahe gänzlich verschwanden. Er selbst? Auch da ein negatives Ergebnis. Also blieb nur noch ...! Innerhalb von Sekunden wusste er plötzlich, dass die Gefahr vor ihm lag. Genau gesagt …
Romhyno ächzte auf. Raumpiraten! Dieses Pack schon wieder! Innerhalb von Sekunden warf er sein Vorhaben über Bord, konzentrierte sich und ... machte einen raschen Schritt nach vor.

Dicht vor einem in dunkles Leder gehüllten und mit wilder Haarmähne versehenen Mann trat er aus einer leicht leuchtenden Spirale. Seine Hand langte mit hartem Griff zu und verhinderte, dass der Pirat auf Romy einstach. Er hielt ein gebogenes Messer in der Hand und hatte offensichtlich die Absicht, das Mädchen zu töten. Ein zweiter hielt das sich nach Kräften wehrende Mädchen an den Armen und sah Romhyno erstaunt an.
»Was ist das denn für einer? Und woher ist er so schnell gekommen?«
»Egal. Besser zwei, als einer. Und am Markt bringt dieser hier mehr ein, als die Kleine. Pack beide in den Transportkäfig, dann lass uns von hier verschwinden. Vielleicht geistern hier ja noch andere herum!«
Romhyno wusste genug. Sklavenhändler! Die übelste Sorte der Raumpiraten. Sie waren es, die ganze Volksstämme dezimiert hatten, nur um die Bewohner kleinerer Welten am Sklavenmarkt zu verkaufen. Immer noch gab es viele Welten, wo der Sklavenhandel florierte. Und wo ein Leben nichts oder nicht viel galt. Nicht alle Sternstaaten hatten die CARTA unterzeichnet. Romhyno riß die Hand des Piraten an sich, versetzte ihm einen Kinnhaken und wandte sich an den anderen, jenen der Romy hielt. Seine Augen suchten inzwischen die nähere Umgebung ab, doch es schien nur die beiden zu geben. Dass er sich geirrt hatte, merkte er, als ein weiterer Raumpirat aus dem Haus kam. Dieser steckte sich eben noch schnell ein großes Stück Raschgardkäse in den Mund, dann vergaß er zu kauen, als er Romhyno sah. Mit einem Blick überflog er die Situation, dann sprang er auf Romhyno zu. Doch dieser stand nicht mehr dort, wo er noch eben war. Mit einem raschen Schritt hatte er sich aus der unmittelbaren Gefahrenzone gebracht. Der Angreifer taumelte, getrieben von seiner eigenen Geschwindigkeit, noch zwei Schritte weiter und lief direkt in Romhynos Faust. Es gab einen dumpfen Ton, als das Kinn des Piraten mit Romhynos Faust kollidierte. Und ein scharfer Schmerz zuckte durch Romhynos Handgelenk. Dadurch kam auch nicht die gesamte Kraft zum tragen und der Pirat verlor sein Bewußtsein nicht ganz. Nur seine Augen wurden glasig, er stand zittrig da und seine Hand glitt langsam zu seinem angeschlagenem Kinn.
»Verdammt, er hat mir das Kiefer gebrochen!«
'Und ich mir die Hand’ vollendete Romhyno im Gedanken. Doch er hatte keine Zeit auf seinen Schmerz in der lädierten Hand zu achten. Jener, der noch immer Romy hielt, zog sie jetzt dich an sich heran und schlug ihr die Faust an die Schläfe. Wie vom Blitz getroffen brach das Mädchen zusammen.
»So, mein tapferer Held, jetzt kommst du dran!« Er machte einen Schritt auf Romhyno zu. Dieser spürte, wie sich tief in ihm wieder einmal Zorn regte. Dass er einen Priester getötet hatte, das war ein Fehler, dass er aber nun das gleiche mit einem Raumpiraten und Sklavenhändler vorhatte, dafür würde ihn niemand bestrafen. Romhynos Augen wurden schmal und sein sonst sehr ansprechendes Gesicht hart. Er streckte die Hand aus und vor seinem geistigen Auge erschien das zuckende Herz des Angreifers. Langsam bogen sich Romhynos Finger nach innen und der Angreifer blieb stehen. Er griff sich an die Brust und seine Augen weiteten sich.
»Ich werde dich töten. Ich nehme dir dein Leben, so wie du es vorhattest es mit uns zu tun. Und du wirst langsam sterben. Du wirst bis zum letzten Atemzug alles mit bekommen...!«
Ein Schlag traf Romhynos Hand. Unwillkürlich schlossen sich seine Finger, der Pirat ächzte auf und fiel zu Boden. Sein Gesicht färbte sich blau, die Augen traten hervor und nach einigen Zuckungen seiner Beine lag er still. Ein erneuter Schlag auf die gleiche Stelle öffnete Romhynos Finger und ihm wurde übel vor Schmerz. Die Finger waren taub und er erkannte durch den Tränenschleier in seinen Augen, dass sich der Pirat wieder einigermaßen erholt hatte, dem er vorhin das Bewußtsein genommen hatte. Ehe er ein weiteres Mal auf Romhyno einschlagen konnte, traf ihn ein Energiestrahl und er fiel zu Boden, wo er reglos liegen blieb.
»Na, da bin ich gerade richtig gekommen. Dieses verdammt Banditenpack. Gehts dir gut?«
Romhyno kannte diese Stimme. Er sah auf und blickte direkt in die blauen Augen seines terranischen Freundes John Köster. Also war sein kleines Schiff wieder einmal in der Nähe und er hatte ein weiteres Mal den Retter gemacht. Romhyno wollte antworten, doch der Schmerz in seinen Handgelenken ließ dies nicht zu. In seinen Ohren begann es zu sausen, ihm wurde übel und als er zusammenbrach, merkte er nicht mehr, dass ihn sein Freund auffing.

 

Langsam tauchte er aus dem tiefen, schwarzen Loch an die Oberfläche. Abrupt setzte der Schmerz in den Handgelenken ein. Er stöhnte auf.
»Tut mir leid, meine Praxis liegt schon viele Jahre zurück. Und dass du immer so übertreiben musst, hätte ich mir ja denken können!«
»Wie ... meinst du ... das?«
»Ein normales Wesen bricht sich nur ein Handgelenk. Du musst es bei beiden machen! Gierschlund! Leidest du so gerne? Oder dachtest du, weil du Hohepriester bist ...? Apropos Hohepriester. Warum bist du nicht an deiner Wirkungsstätte?«
»Bestrafung!« Romhynos Stimme zitterte. Er fühlte sich miserabel dabei, als sein Freund ihm einen festen Verband anlegte. Wieso hatte das Band nicht eingegriffen? Es heilte doch sonst alles.
»Tut mir leid, Alter. Meine Arzttasche ist am Schiff und zu dem komme ich derzeit nicht. Meine Leute umkreisen den Planeten hier und achten auf Piratentätigkeit. Sag mal, was hast du eigentlich in deinen Haaren?«
John Köster ließ die Hand, die er eben einbandagierte, sinken und griff in Romhynos Haare. Kurz ziepte etwas, dann hielt er ein dünnes, silbern glitzerndes Netz in der Hand.
»Sieh mal an, ein Paranetz. Jetzt wird mir klar, warum deine Gelenke nicht geheilt wurden. Deinem Gesicht sehe ich es auch an, dass dies dich sehr irritiert hatte. Na ja, jetzt benötigst du ja keinen Arzt mehr. Das übernimmt jetzt dein Lebensband.«
Romhyno nickte. Ja, er konnte den einsetzenden Heilungsprozess bereits spüren. Und es dauerte auch nicht mehr lange, so verschwand der Schmerz, seine Handgelenke schwollen ab und er konnte sie bereits wieder bewegen.
Köster half ihm hoch und zuckte leicht zusammen, als sich durch die Berührung seiner Hand mit der Romhynos ein leichter Seelenkontakt aufzubauen begann. Romhyno sah seinen Freund an, doch dieser zog seine Hand zurück.
»Tut mir leid, Romy, heute kann ich deine Schwingungen nicht brauchen. Ich mache mich jetzt vom Acker, wollte eigentlich nur kurz ‘Hallo’ sagen, als ich deine Schwingungen spürte. Aber da dein Aufenthalt eigentlich deiner Läuterung dient, war ich nie da! Bis zum nächsten Mal, Hohepriester!«
Köster grinste kurz, nickte Romhyno zu und verschwand in einer Leuchtspirale. Romhyno war der Griff zum Teleporterband nicht entgangen. Gleich darauf verschwanden auch die drei Körper der Raumpiraten.
Romhyno ging zum Haus, denn er konnte das Mädchen nirgends sehen. Drinnen war alles ruhig. War dem Mädchen etwas passiert, während er bewußtlos war? Doch er konnte keinerlei Gefahr spüren. Da fiel sein Blick auf ein Stück Kommunikationsfolie. Er ergriff sie und bemerkte die darauf gespeicherte Nachricht.
»Du bist bei deinem Freund in guten Händen. Mein Vater braucht mich jetzt nötiger, als du. Danke, dass du mich beschützt hast,« stand darauf.
Es war ihr also nichts passiert! Alles war glimpflich ausgegangen.

 

Es machte Romhyno schon lange nichts mehr aus, dass er sozusagen der alleinige Herrscher dieser kleinen Welt war. Er hatte sich daran gemacht, genügend Holz zu hacken, seine Hände waren hart und schwielig geworden. Er hatte das Dach repariert und die rückwärtige Mauer ausgebessert. Über seine täglichen Pflichten hatte er aber auch nicht vergessen, jeden Abend seine Gedanken den Berg hoch zu senden, um zu fühlen, ob bei den beiden dort oben und den Tieren alles in Ordnung war. Er bekam auf diese Art und Weise die Geburt der Lämmer mit und die Zahnschmerzen, die sich der Alte holte, als er auf einem Stück Holz herum kaute. Kurz vor dem Einschlafen dann liefen Romhynos Gedanken zurück, zu seinem ehemaligen Leben. Doch immer mehr hüllte sich dieses in den Nebel des Vergessens. Nur wenn er sich an seine Gefährtin erinnerte, überkam ihn leises Bedauern. Sie hatte einen dauerhaften Platz in seinem Herzen und in seiner Seele. Wäre er noch auf seiner Heimatwelt, sähe er sie aber auch nicht immer. Er müsste warten, bis sie nach ihm verlangen würde. Unbewußt entschlüpfte ihm ein Seufzen. Wenn er an ihr wunderhübsches Gesicht dachte, die großen grünen Augen und das rote Haar, das in der Sonne wie Feuer funkelte ...!
Oder an ihr Lächeln, bei dem man unwillkürlich mitlächeln musste. Ja Alexa war schon etwas besonderes. Und da war noch seine kleine Tochter Akiko. Der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch sie hatte rötliches Haar, doch die dunklen Augen des Vaters. So jung sie auch war, sie wusste bereits jetzt, was sie wollte. Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf das Gesicht des Hohepriesters. Ja, sein kleines Mädchen hatte ebenfalls einen festen Platz in seinem Herzen.
Als der Mann endlich eingeschlafen war, hatte die Nacht bereits ihren Höhepunkt überschritten.

 

Es war so um die Mittagszeit, als der Schrei kam. Telepathisch, stark und alarmierend. Romhyno ließ das Holzscheit, das er eben auf die Feuerstelle legen wollte, mit einem Ruck fallen. Was war geschehen? Der Ruf war vom Berg gekommen und er war eindeutig von Romy gekommen. Romhyno lief nach draußen, kam noch einmal ins Haus, löschte das erst leicht flackernde Feuer und begab sich erneut hinaus. Er schloß die Augen und konzentrierte sich. Sein Geist suchte die unverkennbare Psisagnatur des Mädchens. Er verschwand in einer leicht glitzernden Spirale, als er teleportierte.
Das Mädchen hockte weinend neben ihrem Vater, dessen Fuß in einer der zahlreichen Felsspalten steckte.
»Hilf ihm. Er wollte ein verstiegenes Lamm holen, rutschte ab und blieb in der Spalte stecken. Er kann den Fuß nicht bewegen und ich kann ihm auch nicht helfen!«
»Was will das Hohepriesterlein schon groß helfen? Mein Bein ist kaputt und ich fühle es beinahe nicht mehr. Macht um den dummen Fuß kein so großes Wetter. Hol mir lieber etwas Wasser!« Der Alte verzog das Gesicht. Romhyno konnte die starken Schmerzwellen spüren, die den wie ausgemergelt erscheinenden Körper des Hirten durchliefen. Dass der äußere Anschein trog, wusste Romhyno. Er wandte sich an das Mädchen.
»Ich benötige eine oder zwei der Decken drinnen. Und dann einen ruhigen Platz. Mach dir nicht zu viele Sorgen, dein Vater wird bald wieder wie ein junges Raschgard herum springen!«
»Hast du das als angeblicher Hohepriester auch gemacht? Blödsinn geredet? Dann wundert es mich nicht, dass sie dich abserviert haben. Du solltest ernsthafter sein!«
Während das Gesicht des Alten immer mehr erbleichte, sein Atem immer schwerer ging und die Stirn sich mit Schweiß bedeckte, war das Mädchen in die Höhle gelaufen und kam mit zwei Decken wieder. Romhyno nahm die eine, breitete sie neben dem Alten aus und meinte:
»Ich werde jetzt dein Bein aus der Falle befreien. Aber ich möchte dir nicht unnötig viel Schmerz zufügen. Deshalb werde ich dich in Tiefschlaf versetzen!«
»Und wie willst du das machen? Willst du mich in den Schlaf singen? Oder das Kinn mit deiner Faust malträtieren?«
»Nein, ich mache es nach Hohepriesterleins Art!« Romhyno legte seine Hände auf das Gesicht des Alten, so dass die Daumen sich auf dessen Stirn berührten und die Zeigefinger auf den beiden Schläfen zum Liegen kamen. Er konzentrierte sich kurz, schaltete seine Umwelt geistig weg und zog langsam, aber kontinuierlich die Daumen in die Richtung der Schläfen. Der Alte entspannte sich, seine Augen schlossen sich langsam und sein bis jetzt heftiger Atem beruhigte sich. Er sank zurück und als sich Romhynos Daumen und Zeigefinger berührten, lag der Alte im Tiefschlaf.
Romhyno ging nun daran, den Spalt zu erweitern, sodass er den Fuß des Alten heraus ziehen konnte.

Mit wohl dosierten Schlägen auf die bereits ziemlich locker liegenden Steine bekam er endlich so weit Spielraum, dass er den Fuß packen und ihn heraus ziehen konnte. Romy schlug die Hände vor den Mund, als sie den blutigen Fuß sah. Einige Knochensplitter standen heraus und er war seltsam verdreht. Romhyno stand auf, packte den Alten und legte ihn vorsichtig auf die Decke. Der Schmerz erreichte dessen Gehirn und trotz Tiefschlafs stöhnte er. Kaum lag er auf der Decke, mit der zweiten zugedeckt, trugen Romhyno und das Mädchen ihn mit vereinten Kräften in die Höhle. Dort legten sie ihn auf eines der Betten und das Mädchen deutete nach draußen. Sie würde auf die Tiere achten. Romhyno nickte und untersuchte noch einmal, diesmal gründlicher die Verletzung. Da war er nun wirklich gefragt. Er ahnte, dass dies hier nicht einfach zu heilen war. Kurz dachte er noch einmal an seine Familie, dann begann er mit den erforderlichen Konzentrationsübungen. Es dauerte nicht lange, so hatte er den erforderlichen Bewußtseinszustand erreicht.
Seine Gedanken griffen in die Hautschichten, schoben Fleisch und Muskelfasern zur Seite und langten schließlich bei der ursächlichen Verletzung an. Er »sah« den gebrochenen und zersplitterten Knochen, »sah« die zerrissenen Muskeln und begann mit der Arbeit. Er beschleunigte das Knochenwachstum und bereinigte mit Hilfe des Selbstheilungsmechanismus des Hirten die Verletzungsstelle. Es dauerte nicht lange, so hatte sich neuer Knochen gebildet, gestreckt und beide Enden waren zusammen gewachsen. Die Abfallstoffe wurden durch das Blut weggetragen und ausgeschieden. Romhyno arbeitete sehr konzentriert und merkte nicht, wie die Zeit verging. Das Mädchen brachte Essen, doch Romhyno merkte es nicht. Er hörte nicht, wie sie ihn ansprach. Er merkte nicht, dass sich der Tag zu Ende neigte, die Nacht aufzog und als die ersten Sonnenstarhlen einen neuen Tag ankündigten, hatte er es geschafft. Man sah dem Fuß des Alten nicht mehr an, dass er gebrochen und schwer verletzt gewesen war.
Romhyno beschloß den Alten aufzuwecken. Doch die Lippen des Hirten hatten sich bläulich gefärbt und als Romhyno nach der Ursache forschte, konnte er den stotternden Herzschlag beinahe selber spüren. Das Herz war alt und es sah nicht so aus, als würde der Alte den neuen Tag sehr lange erleben.
Und nun fällte Romhyno eine sehr schwere Entscheidung. Er sah das Tränen überströmte Gesicht des Mädchens und er wusste, wenn er das wirklich ausführte, was er vorhatte zu tun, könnte es seinen eigenen Tod zur Folge haben. Er wandte sich an das Mädchen:
»Sollte mir etwas passieren, sende eine Botschaft zu meiner Heimat. Ich sende meine Grüße und ...«, er dachte kurz nach » Mein Herz und meine Seele werden immer bei meiner Familie sein!«
»Was hast du vor?« Das Mädchen wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Ich werde deinem Vater das Leben retten, denn er hat auch meines einst gerettet!«
Romy sah Romhyno fragend an, doch dieser hatte bereits begonnen, sich erneut zu konzentrieren.

Romhynos Geist drang tief in die Fasern des Herzens des alten Mannes. Er verfolgte den Lauf der Adern und kontrollierte die Arterien. Und dann »sah« er den Grund. Ein Blutgerinsel hatte sich nahe am rechten Kammerbeutel gesammelt und diesen beinahe verstopft. Doch das war nicht das eigentliche Problem. Nein, das Gerinsel löste Romhyno sehr schnell auf. Das andere, größere Problem war, dass das Herz des Alten von etwas unbekanntem geschädigt worden war. Und Romhyno nun vor einem weiteren Problem stand. Er war im Begriff etwas verbotenes zu machen. Das Ritual des KORSCHANs war schon lange nicht mehr gestattet. Denn es hatte bereits früher manchmal das Leben beider Beteiligter gekostet. Doch als Hohepriester hatte er natürlich auch Zugang zu den alten Riten und darum auch zu KORSCHAN.
Romhyno zögerte kurz und ein geringer Teil seiner Gedanken verabschiedete sich von seiner Gefährtin und seiner Tochter, dann konzentrierte er sich auf sein Vorhaben. Er verband sich auf zellatomarer Ebene mit dem Alten, glich seinen eigenen Lebensrythmus mit dem des Mannes ab und begann dessen Herz langsam zu bearbeiten. Er beseitigte die vorhandenen Schäden, stabilisierte den Herzrythmus und unterstützte den Heilungsprozess. Langsam trennte er nun seine Lebensimpulse von denen des Alten und löste auch gleichzeitig seine Konzentration etwas.
Das Herz des Alten gab noch zwei Schläge, dann blieb es stehen. Doch der Hohepriester wusste, wenn er jetzt in seiner Konzentration noch mehr nachließ, würde der Alte sterben. Wiederum verband er sich etwas näher, beschleunigte den Rythmus abermals und sandte einen genetischen Impuls aus. Erneut zog er sich etwas zurück und war erleichtert, als das Herz langsam wieder begann zu schlagen. Und diesmal aus eigener Kraft. Der Hohepriester zog sich abermals zurück und überwachte noch immer aus der Distanz, doch der Alte hatte es überstanden. Romhyno trennte sich nun endgültig von dem Hirten und spürte diese abgrundtiefe Müdigkeit, die ihn zu erfassen begann. Tja, der KORSCHAN ging an die Lebensessenz. Ein winzig kleiner Teil von Romhynos Lebensenergie blieb im Alten zurück und würde ihn am Leben halten. Die Müdigkeit nahm zu und Romhyno bangte davor, dass er sich womöglich nicht mehr ganz trennen könnte. Dunkle Wolken wabberten um ihn und sein eigenes Herz schlug ihm bis zum Hals. Er fühlte sich unendlich schwach und ahnte, dass er im letzten Moment seine Arbeit verrichtet hatte. Er zog nun auch die letzten »Fühler« zurück und merkte, dass er vor Anstrengung zitterte. Seine Hände griffen bebend auf die Stirn des Alten und die Daumen des Hohepriesters fuhren nun in umgekehrter Reihenfolge zurück. Als sie sich in der Stirnmitte trafen, schlug der Alte die Augen auf.
Romhyno atmete erleichtert auf - und fiel bewußtlos zu Boden.

 

Nur langsam überwand er den tiefen Tunnel und den starken Sog, der ihn dort unten halten wollte. Tief unten im Reich der Finsternis. Eis durchströmte seine Adern und dort wo sonst sein Kopf saß, pendelte nur noch ein übertrieben aufgeschwollener Ballon. Soviel er auch dagegen ankämpfte, der Sog zog ihn langsam aber sicher weiter in die Tiefe des Tunnels. Plötzlich war da eine zarte, silbern schimmerte Leiter. Sie führte nach oben, zu dem beinahe unsichtbaren Pünktchen Licht. Er bemühte sich, zu der Leiter zu kommen, sie zu erfassen und ...
Romhyno schlug die Augen auf und sofort schrien seine Nerven. Er konnte im letzten Moment noch einen lauten Schmerzschrei verhindern. Er hatte das Gefühl, als würden wahnsinnige Musikanten eine schrille Musik auf seinen Nerven spielen, sie schienen in flüssiges Feuer getaucht zu sein. Langsam fiel ihm wieder ein, was passiert war. Aus dem bunten Nebel, der sich über seine Augen gelegt hatte, schälte sich das besorgte Gesicht Romys. Erleichterung trat in ihre Augen als sie merkte, Romhyno nahm sie nun bewußt wahr.
»Ich dachte bereits, wir hätten dich verloren!«
Romhyno versuchte ein misslungenes Lächeln.
»So leicht bin ich nicht umzubringen!«
»Du bist stark, sehr stark. Aber warum hast du nicht gesagt, dass du dein Leben riskiert hast, um meinen Vater zu retten. Du hättest das nicht zu tun brauchen!«
»Ich weiß. Aber dein Vater ist mir ans Herz gewachsen und er wird hier noch gebraucht!«
Romhyno versuchte sich aufzusetzen, was ihm mit Mühe und der Hilfe des Mädchens auch schließlich gelang. Sein Kopfschmerz hatte nachgelassen und nur ganz leicht hämmerte das verrückte Musikorchester auf seinen Nerven herum. Auch das Feuer darauf war erloschen.
Romhynos Blick ging zu Eingang, als der Alte mit einem Armvoll Holz herein kam. Er legte das Holz zu der Feuerstelle und trat zu Romhynos Lager. Seine schwielige Hand legte sich auf die Stirn des Hohepriesters und er nickte.
»Das Fieber ist weg, gut. Ich hätte sehr ungern zugegeben, dass der mir anvertraute Hohepriester, dem ich Manieren beibringen soll, gestorben ist. Während er das - zurecht - verbotene Ritual des KORSCHANs an mir vollbracht hat. Bist du von allen guten Geistern verlassen, Dummkopf? Du kannst von Glück sagen, dass deine Freveltat nur so geringe Auswirkungen hatte. Denkst du, ich hätte Lust, der Mahuna zu erklären, wieso ihr Gefährte nie wiederkehrt?«
Romhyno zog unwillkürlich den Kopf ein, als er dermassen von dem alten Hirten angeschrien wurde. Er wusste selbst, dass er einen Fehler gemacht hatte, und auch wiederum keinen Fehler. Trotzdem meinte er leise:
»Ich weiß. Ich hätte dich sterben lassen sollen und deine Tochter zur Waise machen. Aber du wirst hier noch gebraucht, alter Mann!«
»Na, wie ich sehe und vor allem höre, dir geht es bereits besser. Kaum dem Tod entronnen, schon riskiert das Hohepriesterlein eine dicke Lippe. Hast Glück, dass ich so gut gelaunt bin. Und du hast Glück, dass sich meine Romy darauf versteht, eine Seelenverbindung einzugehen. Sie hat dich davor bewahrt, ins ewige Vergessen abzugleiten!«
»Du warst also die Leiter!« Romhyno wandte sich an das Mädchen. Sie errötete und senkte die Augen. Diese riss sie aber sofort wieder auf, als Romhyno ihre Hand in seine Hände nahm, sie an seine Lippen führte und einen zarten Kuss auf die Unterseite des Handgelenks drückte. Die Röte des Mädchens vertiefte sich. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, doch da hatte der Hohepriester ihre Hand bereits los gelassen. Sie zog die Hand an sich und legte wie beschützend die andere darüber. Dort, wo die Lippen Romhynos ihre Haut berührt hatten, prickelte es.
»Ach ja, was ich noch sagen wollte, draußen ist jemand, der dich gerne besuchen würde. Da dein Aufenthalt hier von begrenzter Dauer ist, würde er dich auch gleich mitnehmen!«
»Mitnehmen? Wohin?«
»Das soll er dir selbst erklären!« Der Alte nickte Romhyno zu, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff einmal scharf. Gleich darauf trat eine vertraute Gestalt durch den Eingang und Romhynos Blick wurde groß.
»Du?«
»Man kann dich aber auch nicht eine Sekunde aus den Augen lassen, schon begehst du die nächste Dummheit!« John Köster grinste. Unwillkürlich erwiderte Romhyno das Grinsen.
»Du kennst mich doch, alter Freund!«
»Hm! Da könntest du recht haben. Gehts dir gut genug, dass du gleich mit mir kommen kannst? Oder bist du noch zu schwach dafür?«
»Ich fühle mich gut. Wohin bringst du mich?«
»Nach Hause, Romy! Nach Hause!«
Nach Hause? Ja, das wäre gut. Romhyno nickte und schlug die Decke von sich, setzte sich auf und nickte. Dann schüttelte er den Kopf.
»Tut mir leid, Jonny, aber ich kann jetzt noch nicht weg. Ich habe hier noch einiges zu arbeiten.«

»Tut mir leid, Romy. Das war nicht als Vorschlag gedacht, sondern als Befehl. Und er kam direkt von deiner Chefin. Sie dachte wohl, dass ich die besseren Argumente hätte. Da ich dein Freund und Seelenbruder bin. Nochmals, fühlst du dich stark genug, mit mir zu kommen? Du weißt, deine Mahuna lässt man nicht warten. Ihr Wort ist Gesetz. Und so wie's aussieht, auch für dich. Ich frage dich deshalb, weil ich dich sonst tragen müsste. Und du weißt ja, mein Rücken ...!«
Über Kösters Gesicht zuckte ein belustigtes Lächeln. Doch er wurde sofort wieder ernst. Romhyno nickte.
»Sie hat davon gehört?«
»Da kannst du dir sicher sein!«
»Und wie hat sie davon erfahren?«
»Langsam solltest du deine Gefährtin kennen. Sie hat viele Möglichkeiten, davon zu erfahren. Eine davon wäre, dass sie, wo immer du bist, mit dir seelisch verbunden ist. Wenn es ihr nicht gut geht, spürst du es ja auch, oder?«
»Das ist etwas anderes. Aber ich bin hier, weil ich ...!«
»Weil du einen Fehler begangen hast, ich weiß,« fiel ihm Köster ins Wort. Die Brauen des alten Hirten zuckten hoch. Doch Köster durfte sich das erlauben. Er hatte einen Sonderstatus unter den engeren Freunden des Hohepriesters. Romhyno dachte nach. Dann nickte er und stand, noch immer etwas zittrig, auf und wandte sich an den Hirten und dessen Tochter.
»Ich verlasse euch jetzt nicht gerne. Jetzt, wo die meiste Arbeit beginnt. Aber das Wort meiner Herrin ist Befehl!«
»Mach dir keinen Kopf, Hohepriester, wir kamen vorher ohne dich auch zurecht. Nochmals Danke für deinen Tat, und ich wünsche dir, dass die Strafpredigt, die dir die Mahuna hält, nicht zu arg ausfällt. Wenn es nötig ist, werde ich ein gutes Wort für dich einlegen. Und nun mach dich weg. Die Herrscherin lässt man nicht warten.« Damit nickte er Romhyno und Köster noch einmal zu, drehte sich um und verließ die Höhle. Romy wischte sich die Tränen verstohlen vom Gesicht, die immer wieder darüber liefen. Sie sah Romhyno an, dann verneigte sie sich kurz vor ihm und Köster und ging ebenfalls hinaus.
Köster half Romhyno beim Aufstehen und als beide Männer die vordere Höhle verließen, war nichts zusehen von Vater und Tochter. Nur die Tiere grasten friedlich auf der Weide. Romhyno schluckte. Er hätte nicht gedacht, dass ihm der Abschied so schwer fallen würde. Köster griff nach seinem Transmitterband, trat dicht an Romhyno heran und legte ihm die Hand um die Hüfte. Dann aktivierte er den Transport.


Kaum in seinem kleinen Schiff angekommen, begab sich Köster zum Pilotensessel, setzte sich hinein und aktivierte den Startvorgang. Inzwischen ließ sich Romhyno auf den zweiten Sessel fallen, wartete bis sich die Automatik angepasst hatte und das pneumatische Kissen sich seinen Körperumrissen angepasst hatte. Dann nahm er die beiden Gurten und stieß sie in die Kontakte. Mit einem jähen Aufheulen der Andruckstabilisatoren startete Köster das Kleinstschiff, das ihm persönlich gehörte und Romhyno schloß die Augen, als sekundenlang etwa neun Gravo durchkamen. Dann hatte sich das Feld stabilisiert und Romhyno atmete auf.
»Fliegst du immer so?«
»Ja, warum? Du solltest mich doch kennen! Ausserdem hat Alexa den Zusatz »schnell« gesagt. Und das meinte sie auch so. Keine Angst, Bruder, den Kopf wird sie dir schon nicht abreissen. Dafür mag sie dich zu sehr. Du kommst sicher mit einem blauen Auge davon!«
Köster lachte. Er wusste, wovon er sprach.
»Du hast einen etwas seltsamen Humor!« brummte Romhyno und schloß die Augen. Seine Gedanken liefen zurück, zu dem Tag, als er erstmals die Katakomben besuchte...

 

 

Dies war seine letzte, abschließende Prüfung. Wenn er sie geschafft hatte, würde er seine Weihe als Hohepriester erhalten. Dann würde er auch seine zukünftige Gefährtin kennen lernen. Er hatte nur von ihr gehört. Sie soll ein Mitglied einer sehr vornehmen Familie sein. Eine starke Telepathin und eine exzellente Begabung für Lenkung haben. Einmal hatte er sie flüchtig gesehen. Ein dünnes, verschüchtertes Ding mit zwei roten Zöpfen. Sie war damals noch ein Kind und er konnte nur hoffen, dass ihre Lehrer sie soweit ausgebildet hatten, dass er ihr nicht erklären musste, wozu die Nacht der Vereinigung da war.
Noch immer hörte er die leise Stimme in seinem Kopf, die ihn zu seiner letzten Prüfung rief. Er betrat den Flur, der ihn an seinem Ende zu dem Lift brachte, der ihn zu den Katakomben führen würde. Seit langem hatte die Katakomben niemand mehr betreten. Unter der Bevölkerung fanden sich nur ganz wenige, die sie je betreten hatten und die meisten Priester hatten sowieso Horrorvisionen, wenn sie daran dachten, sie irgendwann betreten zu müssen. Doch ohne diese letzte Prüfung, kein Hohepriester. Und darauf hatte Romhyno lange zugearbeitet. Er dachte nicht daran, im letzten Moment zu scheitern.
Er betrat den Lift, kaum hatte sich vor ihm die Türe mit einem leisen Zischen geöffnet. Hinter ihm schloss sie sich sofort wieder und kurz spürte Romhyno, wie sich der Lift in Bewegung setzte. Er hatte sich schon öfters auf den Weg in die Katakomben gemacht. Aber immer war sein Weg von einem starken Schutzschirm beendet worden, der die inneren Bereiche schützte.
Mit einem leichten Ruck kam der Lift zum Stehen und die Türe öffnete sich. Romhyno stieg aus und sah sich um. Hier unten hatte es lange keine Wartungsarbeiten gegeben. Die Lichtpaneele an der Decke flackerten, waren trüb und manche waren komplett ausgefallen. Der Verputz an der Wand bröckelte und hin und wieder lag er sogar am Boden. Die tieferen Schichten des Baumaterials sahen darunter hervor. Romhyno ging nach rechts, die andere Seite war durch eine Wand versperrt. Die Luft war stickig und es war heiß hier unten. Irgendwo wimmerte zwar ein Ventilator, aber die Geräusche, die er von sich gab, ließen Romhyno vermuten, dass er in nächster Zeit den Geist aufgeben würde. Langsam ging er weiter. Dicht vor ihm erlosch ein Leuchtpaneel mit einem Krachen und Romhyno musste sehr an sich halten, um nicht einen erschrockenen Sprung zu machen. Es wurde noch dunkler, als es ohnehin schon war. In Romhynos Kopf war die Stimme und der leichte Zug verstummt. Erneut setzte sich Romhyno in Bewegung. Er wusste, jetzt kam gleich da vorne eine Biegung und dann würde er wieder vor dem Schutzschirm stehen. Abermals erlosch ein Paneel und auch das leise Ächzen des Ventilators verstummte.
Dunkelheit umhüllte Romhyno. Insgeheim ärgerte er sich, dass er keinerlei Lichtquelle mitgenommen hatte. Wie sollte er nun seine Prüfung bestehen?

WAS WIRST DU JETZT TUN,PRIESTER? JETZT, WO DEINE AUGEN VERSAGEN UND DU MERKST, WIE DIE DICH UMGEBENDE LUFT WENIGER UND TÖDLICHER WIRD?

Romhyno zuckte zusammen, als die geisterhafte Stimme durch verborgene Lautsprecher erschallte. Er wusste zwar dass die Stimme zu der Prüfung dazu gehörte, aber wurde es nicht wärmer? Und wieso bekam er jetzt weniger Luft?

DU WIRST HIER UNTEN JÄMMERLICH ERSTICKEN! NIEMAND WIRD DIR ZU HILFE EILEN, NIEMAND WIRD DICH SUCHEN! DU WIRST VERHUNGERN UND VERDURSTEN!

Romhyno schluckte und wischte sich mit zitternder Hand den Schweiß von der Stirn. Er fühlte wie Panik ihn zu überschwemmen begann. Er drehte sich um und wollte zurück. Doch gleich darauf spürte er das energetische Prasseln eines starken Schutzschirms. Der Rückweg war ihm also verbaut.

WAS NUN, PRIESTER? VOR DIR LAUERT DER TOD UND HINTER DIR LAUERT DER TOD! ENTSCHEIDE DICH SCHNELL. DEINE EXISTENZ IST BEREITS VERGESSEN!

Romhyno starrte in die Dunkelheit. Dicht vor ihm konnte er das leichte Flimmern des Schutzschirms erahnen. Er durchlebte innerhalb von Minuten eine ganze Palette von Emotionen. Sie gingen von Zorn, über Angst und Hilflosigkeit bis zu Heldenmut. Schließlich senkte er ergeben den Kopf und meinte in die stille Dunkelheit:
»Wenn das dein Wille ist, dann sterbe ich eben hier unten!« Und es war ihm sehr ernst mit diesen Worten. Gleich darauf flammten die Paneele auf, selbst die, welche vorhin noch kaputt zu sein schienen und der Schutzschirm vor Romhyno senkte sich. Der hinter ihm blieb bestehen. Romhyno biss sich auf die Lippen, dann ging er langsam weiter.

 

Wie weit dehnte sich der Korridor? Wieviele Kilometer verliefen die Katakomben unter der Oberfläche? Sie waren eine Hinterlassenschaft der allerersten Siedler auf Shandong. Sie waren das Herzstück und in ihnen befand sich auch der bestens abgesicherte Bereich der GROSSEN MUTTER, dem Planetenumspannenden Computersystem. Kleinere Tochtersysteme befanden sich auf den restlichen sechs Welten. Doch die waren erst nach und nach entstanden, als sich die Siedler auszubreiten begannen. Und es die Seuche nicht mehr gab. Jene Krankheit, die viele der Ursiedler dahin gerafft hatte. Das Ranganfieber. Diese Krankheit war auch der Anlass dafür, dass sich die damals besten Genetiker und Humanwissenschaftler zusammen setzten, um das Fieber zu bekämpfen und die hohen Verluste auszugleichen. Sie hatten noch das alte und später verbotene Wissen der Gentechnologie und veränderten die wenigen Überlebenden dahin gehend, dass ab nun auch Männer Kinder nicht nur zeugen, sondern auch gebären konnten. Dabei wären beinahe auch die restlichen Überlebenden umgekommen. Doch einige hatten es geschafft und dieses veränderte Gen in die bis heute geltenden biologischen Merkmale weiter vererbt. Die Krankheit an sich wurde erst eingedämmt und schließlich besiegt, als ein namentlich unbekannter Wissenschaftler das Heilmittel Denaldrin 3A erfand. Ab da hatte das Ranganfieber seinen Schrecken verloren.
Romhyno ging weiter. Einmal wandte er sich um und runzelte die Stirn, als er merkte, dass ihm der Schutzschirm scheinbar folgte. Und dann konnte er auch vorne nicht mehr weiter. Ein erneuter Schutzschirm versperrte den Weiterweg.

ENTLEDIGE DICH DEINER KLEIDUNG, PRIESTER! UND DURCHSCHREITE DEN VORHANG DER WAHRHEIT!

Romhyno biss sich auf die Lippe. Er war nicht sehr schamhaft und hier unten war er allein. Aber in dem Gürtel, das sein Priesterkleid besaß, war sein Körperschutzschirm eingearbeitet. Kurz zögerte er noch, dann entledigte er sich erst des Gürtels, dann des Kleides und schließlich noch der Sandalen. Er kam sich ziemlich nackt und hilflos vor. Er zuckte zusammen, als der Kleidungshaufen durch einen dünnen Strahl verdampfte. Der Strahl brach direkt aus der Wand. Nun war er nur noch ein nackter Mann, der keinerlei mechanische Hilfsmittel hatte, um sich gegen eventuelle Angreifer zu verteidigen. Er sah auf den in einem leichten Blauton schillernden Schutzschirm vor sich und seufzte. Schließlich überwand er seine Angst, schloß die Augen und ...trat durch.
Kurz spürte er ein starkes, energetisches Prasseln auf seiner Haut, doch da war er bereits durch.

TRITT IN DEN RAUM DER VERÄNDERUNG, PRIESTER!

Romhyno öffnete die Augen und sah direkt vor sich eine rote Tür. Sie öffnete sich und gab den Blick auf einen kleinen Raum frei. Darin befand sich nur eine Liege, an deren Kopfteil eine seltsam geformte Haube hing. Es sah ein bisschen aus wie ein Helm. Zwei Antennen ragten an den Seiten hervor und Romhyno schluckte.

BEGIB DICH ZUR LIEGE UND ERWARTE DEIN SCHICKSAL!

Romhyno betrat den Raum und tat, was ihm die Stimme gesagt hatte. Er legte sich auf die Liege und gleich darauf fuhren stählerne Fesselbänder daraus hervor und ketteten ihn an den Händen und Füssen an die Liege. Sie hob sich etwas und der seltsame Helm stülpte sich über Romhynos Kopf. Er schluckte. Zu einer weiteren Reaktion kam er nicht mehr, denn spitze Nadeln berührten seine Schläfen und drangen gleich darauf in seinen Kopf. Mit einem bunten Blitz erlosch Romhynos bewusstes Denken.

 

Langsam nur tauchte sein Bewußtsein aus dunkler Tiefe. Sein Kopf war vollgestopft mit Wissen. Noch während er nach seiner Identität suchte, ordnete sich das Chaos hinter seiner Stirn und der Blick klärte sich. Ihm wurde wieder bewusst, wer und wo er war.
Noch immer lag er angeschnallt an die Liege. Nur der Helm hatte sich von seinem Kopf gelöst und zurück gezogen. Er hing wieder etwas oberhalb seines Kopfes an der Wand.
»Schön, und wie geht es nun weiter?« Romhynos Stimme hatte noch nichts von ihrer ehemals volltönenden Weichheit zurück erhalten. Er erwartete keine Antwort auf seine Frage - und bekam sie auch nicht. Er zuckte leicht zusammen, als ein kühler Luftstrom einsetzte. Es kühlte ab und bald begann Romhyno zu zittern. Es wurde schließlich so kalt, dass sich leichte Eiskristalle auf Romhynos Brauen und Wimpern bildeten. Sein Blutkreislauf verlangsamte sich und seine Finger prickelten. Ergeben schloß er die Augen. Irgendwer wollte ihn also erfrieren lassen.

Kurz bevor er das Bewußtsein verlieren konnte, erwärmte sich die Luft wieder und bald lief ihm der Schweiß in Strömen über den Körper. Erst jetzt merkte Romhyno die feinen Sensoren, die dicht auf seiner Haut entlang fuhren und sie maßen. Was sollte dieses Martyrium?
Die Riemen zogen sich wieder fester an und eine lange, dünne Nadel schob sich dicht an Romhynos Hals aus dem Bett. Sie durchstieß seine Haut und er konnte fühlen, dass sie bis zu seinem Herzen vordrang. Langsam spürte er auch, dass Panik in ihm hochkam. Kurze Energiestösse trafen seine Haut und überzogen sie mit einem unangenehmen energetischen Prickeln. Eine weitere Nadel schob sich aus der Unterlage, auf der er lag und fuhr ihm zwischen die Beine. Sie suchte sich ihren Weg in die tiefer in ihm gelegenen Bereiche und Romhynos Mund öffnete sich zu einem Schrei. Doch die Nadel in seinem Hals hatte scheinbar seine Stimmbänder gelähmt, kein Ton kam aus seinem weit aufgerissenen Mund. Plötzlich verspürte er heftigen Hunger. Gleich darauf ebensolchen Durst. Die Speichelbildung wurde drastisch gesenkt und Romhyno hatte das Gefühl, sein Mund würde von Watte ausgefüllt. Magenkrämpfe durchzuckten ihn. Und in seiner Vorstellung tauchte ein sehr reichhaltiges Mahl auf. Doch er erreichte es nicht. Als Romhyno dachte, er würde verhungern und verdursten, verschwand das Gefühl und das andere Extrem trat ein. Sein Bauch spannte sich zum Zerreissen und Romhyno wäre sehr gerne gestorben. Doch auch das ging vorrüber. Seine Blase füllte sich und seine Gedärme gaben nun verdächtig glucksende Geräusche von sich. Doch irgend etwas verhinderte, dass Romhyno dem Drang nachgeben konnte. Zu allem Überfluss wurde nun auch noch sein Sexualbereich derart stimmuliert, dass vor Romhynos geistigem Auge das Bild eines Raschgardbockes erschien, der alle Geißen seines Rudels begattete, egal ob sie bereit waren, oder nicht. Scham überkam Romhyno. Er kam sich erniedrigt vor. So würde er nie handeln.
Dann ließen der Drang in Blase und Gedärm nach und Romhyno atmete auf. Die Nadel in seinem Hals zog sich zurück und er hoffte auf das gleiche Ergebnis von der Nadel zwischen den Beinen. Doch es war ihm noch nicht vergönnt.
Erst schüttelte ihn heftiges Fieber, dann fror er erneut unter dem Ansturm von heftigen Schmerzen im Nierenbereich. Immer öfters krallten sich Romhynos Finger in die Unterlage. Und dann verlor er zum zweitenmal die Besinnung.

 

Als sein Bewußtsein wieder einsetzte, war er sich nicht sicher, ob alles, was er bisher hier unten erlebt hatte, auch Wirklichkeit war. Romhyno schlug die Augen auf, die Nadel aus seinem Körper hatte sich zurück gezogen. Der Schmerz war erloschen. Nur ein wie weit entferntes dumpfes Gefühl lag in seinen Lenden. Die Hände und Füße waren von den Riemen befreit und es herrschte angenehme Raumtemperatur.
Vorsichtig setzte sich Romhyno auf und sah sich um. Neben der Liege befand sich nun ein kleiner Tisch, darauf lag das Übergangskleid eines Priesternovizen und die dazu gehörigen Sandalen. Ebenso der silberne Gürtel der Einweihung. Er hatte es also geschafft? Er stand auf, zog sich die Kleidung an und gürtete den Gürtel um seine Hüfte. Dann strich er sich durch seine Haare und hob den Kopf.
»Ich bin also frei? Kann ich gehen?«
Wie als Antwort öffnete sich die Tür. Er atmete auf, ging erst langsam, dann immer schneller darauf zu. Kurz davor sah er etwas glitzern, doch ehe er stehen bleiben konnte, erfasste ihn ein leichter Sog und gleich darauf befand er sich an der Oberfläche. Ein Transmitterfeld hatte ihn hier abgesetzt.

Romhyno schlug die Augen auf. Neben sich erkannte er seinen Freund Köster, der - bequem im Sessel zurück gelehnt - schlief. Ein weiterer Blick durch das seitliche Panoramafenster zeigte Romhyno, das das Kleinstraumschiff seines Freundes nicht mehr im Hyperraum war. Mit halber Kraft flog es dahin. Hatte es nicht geheißen, dass er sich schnellstens zurück begeben sollte? Doch er war für diesen kleinen Aufschub sehr dankbar. Die Augen seines Freundes öffneten sich und ein Lächeln huschte über das junge Gesicht.
»He! Gehts dir gut?«
»Du hast die Fahrt unterbrochen?«
»Hm! Dachte mir, ich lege mal ein Päuschen ein. Du hattest einen wüsten Traum. Das hat mir Angst gemacht. Aber ich denke, jetzt können wir wieder etwas Gas geben, oder?«
»Naja, wenn's nach mir ginge, könnten wir ewig so fliegen!«
»Tja, Hohepriester, geht aber nicht nach dir. Auch nicht nach mir. Und bitte sei jetzt nicht böse, ich will es mir mit deiner Alexa nicht verscherzen. Sie kann ziemlich böse werden, wenn man ihre Befehle nicht ausführt!«
Ja, das wusste Romhyno. Es war nie gut, sich die Herrscherin zum Feind zu machen. Da zählten auch keine noch so enge Familienbande.
Während Köster die nächste Flugettappe errechnete und diese in den Flugpiloten eingab, schloß Romhyno wieder die Augen und seine Gedanken gingen zurück. Zurück zu jenem Tag, an dem er sein Wunschziel erreicht hatte und an dem sich sein Leben änderte.

Er ging durch das Spalier, das die Priester und Priesterinnen, die Schüler, die Novizen und die Priesteranwärter erster und zweiter Klasse gebildet hatten. So manches bekannte Gesicht erkannte er in der Menge. Schüler von ihm oder Gefährtinnen mancher Nacht. Doch er ließ nun all dies hinter sich. Sein Vorgänger, ein uralter, ziemlich gebeugter Mann, trat vor ihn und hob die Hand. Sie waren am Altarplatz angekommen, ohne dass es Romhyno aufgefallen wäre.
»Bist du bereit?«
Und wie er bereit war! Er war soetwas von bereit! Doch er wusste, nur die traditionellen Worte waren erlaubt.
»Ja, Mahun ich bin bereit!«
»Du kennst deine Aufgabe?«
»Ja, Mahun ich kenne sie!«
»Du bist willens dein Leben in den Dienst des Volkes zu stellen?«
»Ich stelle mein Leben in den Dienst des Volkes!«
»Du bist bereit, dein altes Leben hinter dich zu lassen, ein neues Leben zu beginnen und dich unter zu ordnen?«
Sekundenlang zögerte Romhyno mit seiner Antwort. Er wusste, dass er ab nun viel alleine sein würde, immer auf die Befehle seiner zukünftigen Gefährtin zu gehorchen und zwar der zweitmächtigste Mann in diesem Reich, aber auch der einsamste zu sein. Er neigte den Kopf.
„Ich bin bereit!«
»So empfange aus der Hand der Göttin die Flamme der Wahrheit und des Lebens. Auf dass sie dich verzehre, wenn du dich ihrer nicht würdig erweist!«
Das Spalier öffnete sich und Romhynos Blick fiel auf das Mädchen, das neben dem Altar stand. Sie hatte ein schlichtes, weißes Kleid an, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Ihr rotes, gelocktes Haar lag offen über ihre Schultern und sie hatte die Augen geschlossen. Romhyno wusste, dass dies seine zukünftige Gefährtin war. Undeutlich entsann er sich des Kindes, mit den Zöpfen. Das Mädchen, das da vorne stand, schien auch nicht älter. Er trat vor sie hin und streckte die Hand aus. Das Mädchen war einen Kopf kleiner als er und öffnete nun die Augen. Sie waren tiefgrün wie zwei Bergseen und hatten eine für Shandongs Bewohner seltene Farbe. Kurz hatte Romhyno das Gefühl, in ihnen zu versinken. Dann senkte er die Augen und verneigte sich leicht.
»Bist du bereit, die heilige Flamme aus meinen Händen zu empfangen?«
Romhyno schluckte. Ihre Stimme war, obwohl leise, so doch volltönend und hatte einen leichten Timbre. Man hörte die ausgebildete, leicht hypnotische Singstimme.
»Ich bin bereit!«
»Dann enthülle dich mir!«
Romhyno atmete tief durch, dann senkte er seinen Gedankenschirm.

Er fühlte die Überraschung des Mädchens, ihm gegenüber. Was hatte sie erwartet? Dass er sich weigern würde? Er zwang sich ruhig zu bleiben, als er die tastenden »Finger« spürte, die seinen Geist berührten. Sie zogen sich jedoch beinahe sofort wieder zurück. Und nun wurde ihm eine Überraschung bereitet. Er merkte, dass nun auch ihrerseits die Kindfrau ihren Gedankenschirm senkte und ihm ungehindert Eingang gewährte.

Kurz ergriff Romhyno die Einladung, doch auch er zog sich beinahe sofort wieder zurück, nicht ohne eine gedachte Entschuldigung zu hinterlassen. Vorsichtig hob er den Blick und erkannte das Lächeln in den faszinierenden Grünaugen. Doch noch etwas anderes glaubte er darin zu erkennen. Und das überraschte ihn nun doch sehr. War dieser Blick, mit dem sie ihn ansah nicht nur verlegen und leicht ängstlich, sondern auch lüstern?
»So nimm aus meiner Hand die heilige Flamme!«
Romhyno überhörte beinahe die Worte, so verwirrt war er. Er spürte den geistigen Anstoß des Mädchens und errötete. Dann streckte er etwas weiter die Hand aus und wurde kurz abgelenkt von einer der fliegenden Kameras, die das Geschehen bis in die entferntesten Bereiche des Sternenreichs Shandong übertrugen. Er versuchte sich wieder auf die Flamme zu konzentrieren, die plötzlich auf der offenen Handfläche des Mädchens zuckte. Kurz berührten sich die Fingerspitzen, als das Mädchen ihre Hand näher an die Romhynos brachte. Die Flamme zuckte etwas höher, dann verließ sie die Hand der zukünftigen Herrscherin und glitt auf Romhynos Handfläche. Er sah darauf nieder. Kurz spürte er die Hitze, dann öffnete er sich erneut und schloß die Finger. Er spürte, wie die Flamme in ihn drang, ihn ausfüllte und - sich mit ihm verband. Er öffnete die Finger, die Handfläche war leer und frenetischer Applaus hüllte den sonst stillen Altarplatz in lautes Tosen.
Der alte Hohepriester trat erneut an Romhyno heran und wieder hallte seine Stimme über den Platz, nachdem sich wieder Stille über den Platz gelegt hatte.
»Die heilige Flamme wird dich dein gesamtes Leben begleiten. Du bist ihr Gefäß und sie wird dich beschützen. Du wirst nun in den Stand des Hohepriesters erhoben und alle, hier und an den Übertragungsgeräten werden ihre Seele mit dir verbinden. Du läßt heute dein altes Leben zurück und beginnst ein neues. An deiner Seite wird ab heute deine zukünftige Herrin sein. Sie wird dir eine gute Gefährtin sein und du wirst ihr ein guter Gefährte sein!«
»Ja, das werden wir!«
»Reiche ihr deine Hand!«
Romhyno ergriff die Hand der Kindfrau und spürte, dass die kleine Hand zitterte und eiskalt war. Ihr Gesicht war blass geworden und er konnte die Angst fühlen, die sie wie eine Wand umgab. Sie tat ihm leid. Und so konnte es kommen, dass er erneut seinen Gedankenschirm senkte und ihr beruhigende Impulse sandte. Ihr Blick, vorher zu Boden gerichtet, hob sich und Erstaunen trat hinein, verdrängte die Angst. Und wieder war da dieses lüsterne Funkeln. Ein kleines zaghaftes Lächeln zuckte durch ihre Augen und in diesem Moment hatte sie Romhyno komplett erobert. Er verlor sich kurz in den Grünaugen und wusste, dieses Mädchen konnte ab nun alles von ihm verlangen, er würde sich überschlagen, ihre Wünsche zu erfüllen. Ihre Finger schlossen sich stärker um Romhynos Finger und beide hörten nur noch mit halbem Ohr den letzten traditionellen Worten zu.
»Ihr werdet von zwei Körpern, zwei Herzen, zwei Seelen zu einem Körper, einem Herzen und einer Seele. Gemeinsam werdet ihr nun durch euer Schicksal schreiten. Als Herrscherin und als Hohepriester. Vereint euch nun, mit Körper, Herz und Seele!«
Romhyno trat dicht an das Mädchen, ohne ihre Hände los zu lassen.
»Ich werde vorsichtig sein!« flüsterte er. Der lüsterne Blick wurde deutlicher.
»Unterstehe dich!« flüsterte sie zurück. Und ehe Romhyno reagieren konnte, hatte sie ihm ihre Arme um den Nacken geklegt, ihn zu sich hinunter gezogen und ihre weichen, warmen Lippen auf seinen Mund gelegt. Als wäre dies ein Signal gewesen, begannen auch schon einige der Zuschauer sich einen Partner zum Liebesspiel zu nehmen. Es dauerte nicht lange, da war der sonst so ernst und ehrbar wirkende Altarplatz zu einem Schauplatz einer Massenorgie geworden.
Romhyno jedoch, der bisher dachte, er wüsste alles über die körperliche Liebe musste sich eines anderen belehren lassen. Unbewußt hörte er das Herz Shandongs schlagen. Die Schläge wurden rascher und im selben Maße beschleunigte sich auch sein Herzschlag. Und am Höhepunkt vereinte sich seine Seele mit der des Mädchens. Die beiden Seelen flogen gegen Himmel, breiteten sich bis zur Unendlichkeit aus und verschmolzen miteinander. Sie strebten auseinander und vereinten sich erneut.
Der neue Tag brach hinter den Todesbergen an, als auch der letzte in einen tiefen Erschöpfungsschlaf fiel, dort wo er gerade stand oder lag. Stille senkte sich über den Platz. Nach und nach verschwanden auch die fliegenden Kameras, nicht ohne den neugebackenen Hohepriester und seine Gefährtin zu filmen, die eng umschlungen auf dem Platz mitten in einer Gruppe von Körpern schliefen.

 

Romhyno öffnete die Augen, als er den sanften Druck an seinem Arm spürte.
»Wir sind da! Soll ich mit dir kommen?«
»Nein, diesen Gang muss ich alleine machen. Danke, für deine Freundschaft!«
»Du weißt, wo du mich findest!«
Romhyno nickte, erhob sich und verließ das Schiff. Köster hatte ihn am Rand des Priesterbezirkes abgesetzt. Er war einige Schritte von dem Raumschiff entfernt, da hob es sich mittels Antigravprojektoren in die Luft. Erst als es in den obersten Schichten war, zündete Köster die Aggregate.
Romhyno atmete tief durch, dann ging er auf das größere Gebäude zu. Er betrat es und ging den langen Korridor entlang. Einige Priesterinnen begegneten ihm, er grüßte sie ehrerbietig, doch sie beachteten ihm nicht. Er verspürte ein ungesundes Gefühl in seiner Magengegend. Langsam ging er weiter. Etwas weiter vorne bog er in den Rosenbogen ein, der ihn zum Herrscherbezirk brachte.
Vor einer schlichten weißen Tür blieb er stehen. Irgendwo hörte er Singen und Lachen. Danach war ihm jetzt überhaupt nicht zumute. Er hob die Hand, klopfte an und trat zwei Schritte zurück.
»Komm rein!«
Romhyno schluckte, als er die Stimme vernahm. Er atmete tief durch und öffnete die Tür. Dahinter war ein schlichtes, kleines Zimmer mit einem Stuhl und einem runden Tisch, auf dem eine Vase mit Blumen stand. Am Boden lag ein bunter, handgewebter Teppich. Am anderen Ende des Raums befand sich erneut eine Tür. Ehe Romhyno klopfen konnte, öffnete sich diese und eine junge Frau stand vor ihm. Er kannte sie gut. Sie hatte ihm früher so manche Nacht versüßt. Sie trat beiseite und ließ den Hohepriester an sich vorbei. Mit keinem Wimpernschlag gab sie ihm zu erkennen, dass auch sie sich an solche Nächte erinnerte.
Romhyno schluckte und betrat den dahinter liegenden Raum. Es war ein großes, von Licht durchflutetes Wohnzimmer. Bequeme Sitzmöbel boten höchsten Komfort. Auf einem saß eine Frau, die sich beim Eintritt des Hohepriesters erhob. Romhyno neigte den Kopf, grüßte mit vor dem Gesicht gefalteten Händen und hielt den Blick gesenkt.
»Ich hörte schöne Sachen über dich! Bist du dir im Klaren, was du getan hast?«
»Ja, Mahuna!«
»Und wie willst du deine Verfehlung erklären?«
»Ich ... habe keine Erklärung!« Romhyno spürte, wie ihm der Angstschweiß auf die Stirn trat. Noch immer hielt er den Blick zu Boden gerichtet. Sie trat etwas näher und er konnte ihren Duft riechen. Was hatte sie vor? War das die Bestrafung für seine Verfehlung? Dann war dies allerdings eine harte Strafe. Sie hatten sich lange nicht gesehen und Romhyno musste warten, bis sie ihn rief.
»So, du hast also keine Erklärung? Du brichst das Gestz, wie's dir passt und hast keine Erklärung! Du gefährdest nicht nur dein Leben, sondern auch die innere Stabilität deines und meines Volkes und hast keine Erklärung?«
Sie trat einen Schritt näher.
»Sieh mich an, Hohepriester!«
Romhyno hob den Blick und sah mitten in ihre faszinierenden Augen. Er schluckte.
„Warum hast du das gemacht?«
»Verzeiht Mahuna. Es war meine Entscheidung!«
»Deine Entscheidung? Ja, wirklich deine Entscheidung? War das auch deine Entscheidung dein Leben aufs Spiel zu setzen? War es auch deine Entscheidung dein eigenes Leben in die Waagschale zu werfen? Dein Volk braucht seinen Hohepriester!«
Abermals trat sie näher und hob ihre Hand, strich Romhyno eine vorwitzige Locke aus der Stirn.
»Ich brauche dich!«
Romhyno wollte etwas sagen, doch seine Stimme versagte. Er musste mit sich kämpfen, nicht seinen Arm um sie zu legen, denn ihn hatte Erregung gepackt.
»Ich werde diesmal von einer Bestrafung absehen. Doch solltest du dir noch einmal einen auch nur ganz kleinen Gesetzesverstoß leisten, werde ich mit der ganzen Härte des Gesetzes durchgreifen! Hast du mich verstanden?«
Romhyno nickte. Sagen konnte er nichts, denn mit dem letzten Wort war sie so nahe an ihn getreten, dass er spüren konnte, dass sie neues Leben trug. Ihre Körper berührten sich jetzt und ihre Hand strich noch immer zart über seine Stirn.
»Hast du mich verstanden, Hohepriester?«
»Ja ... Mahuna!«
»Gut. Dann heiße ich dich willkommen, Zuhause!« Sie legte ihre Arme um Romhynos Nacken, zog seinen Kopf zu ihr hinunter und ihre weichen Lippen legten sich auf Romhynos Mund. Mit aufflammender Leidenschaft erwiderte dieser den Kuss.

»Ich nehme doch an, ich darf dich noch kurz verwöhnen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, klatschte die Herrscherin in die Hände und sofort kamen mehrere Mädchen, stellten einen kleinen, niederen Tisch vor den Hohepriester hin. Darauf stellten sie die Kanne mit frischem Kräutertee und das frisch gebackene Brot. Sowie die acht verschiedenen Käsesorten. Eine runde Schüssel mit verschiedenem Obst, darunter auch die Früchte der letzten in Nachzucht gediehenen Samenfruchtbäume, und mit einer fließenden Bewegung ließ sich Alexa neben Romhyno nieder. Sie griffen zur selben Zeit, zum gleichen Stück Brot und grinsten sich an. Romhyno zog seine Hand zurück, verneigte sich leicht und ließ seiner Gefährtin den Vortritt.
»Ich habe für dich noch eine Überraschung. Jemand hat mich gebeten, dich besuchen zu dürfen.«
Wer konnte das sein? Romhyno griff zu einem Brotstück, belegte es mit einem Käsescheibchen und biss hinein. Sein Blick war fragend auf seine Gefährtin gerichtet. Diese lächelte kurz, dann klatschte sie erneut in die Hände und die Türe öffnete sich. Eine Frau in mittlerem Alter trat ins Zimmer, hinter sich führte sie ein kleines Mädchen an der Hand. Romhyno ließ das Käsebrot sinken, legte es zurück auf den Teller und schluckte den Bissen hinunter. Dann stand er auf und verneigte sich.
Das Kind lugte hinter einer Falte des Kleides ihrer Kinderfrau hervor und ein leises Lächeln stahl sich über das ernste Kindergesicht, als sie Romhyno erblickte.
»Bist du mein Vater?« Ihr helles Stimmchen hatte jetzt schon die Ahnung ihres späteren volltönigen Klanges.
Romhyno nickte und sein Blick blieb am Boden haften.
»Ja Mahuna!«
»Du bist hübsch! Auch wenn dein Haar bereits alt ist!«
Romhyno errötete.
»Ich danke Euch, Mahuna!«
»Ich heiße nicht Mahuna, ich bin Akiko! Weißt du das nicht?«
»Doch Mahuna, das weiß ich. Aber Ihr seid nun einmal die Mahuna!«
Das Kind kam nun ganz hinter ihrer Begleiterin hervor, stellte sich vor Romhyno hin und sagte laut:
»Musst du alles tun, was ich möchte?«
»Wenn es mit dem Gesetz konform geht, ja!«
»Dann beug dich nieder, ich möchte mir dein Haar genauer ansehen!«
Romhyno sah kurz erstaunt auf das Kind, dann ging sein Blick zu seiner Gefährtin und als diese nickte, kniete er sich vor dem Mädchen hin. Sofort trat sie dicht an Romhyno heran und fuhr ihm mit der Hand durch seine Locken.
»Du bist wirklich hübsch!«
Ehe Romhyno etwas erwidern konnte, umarmte das Mädchen ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Unwillkürlich legte Romhyno die Arme um die schmale Taille seiner Tochter und drückte das Kind an sich. Gleich darauf ließ er sie wieder los, tief errötend vor Verlegenheit. Wieder einmal hatte er die Gesetze verletzt. Es war ihm nicht erlaubt, seine Tochter zu berühren.
»Verzeiht Mahuna!« Romhynos Stimme drohte zu versagen.
»Da gibt es nichts zu verzeihen! Du bist mein Vater und ich hab dich lieb. Dass du mich lieb hast, hast du eben gezeigt. Nicht wahr, Mami, mein Vater kommt ohne Strafe davon, oder?« Das Kind wandte sich nun an ihre Mutter. Diese legte die Hand auf Romhynos Schulter und meinte leise:
»Ja, wir lassen ihn diesmal ohne Strafe davon kommen. Steh auf Romy. Dein Besuch bei uns ist vorbei. Deine Aufgaben warten auf dich!«
Romhyno stand auf, verneigte sich vor seiner Tochter und entbot auch seiner Gefährtin den Ehrengruß, wandte sich um und ging. Ehe sich die Tür hinter ihm schloß, hörte er noch seine Tochter sagen:
»Bleib so wie du bist, Paps!«
»Ich werde es versuchen, Mahuna!« antwortete Romhyno, doch er war sich nicht sicher, ob seine Tochter seine Erwiderung noch gehört hatte. Er starrte Sekundenlang auf die verschlossene Tür, dann verließ er den für ihn nun wieder verbotenen Bereich und begab sich zu seinen eigenen Privaträumen. Seine Gefährtin würde ihn erst wieder rufen, wenn die Niederkunft des neuen Nachkommen unmittelbar bevor stand. Doch dann war er ausschließlich als Hohepriester gefragt. Den Hauptteil würden die beiden Hebammen erledigen.

Je näher er dem inneren Priesterbezirk kam, desto öfters begegneten ihm nun die anderen Bewohner. Manch schiefe Blicke trafen ihn, seine Verfehlung hatte sich sichtlich durchgesprochen, doch keiner machte eine Bemerkung. Er wurde gegrüßt und grüßte zurück.
Als sich die Tür zu seinen Privaträumen hinter ihm schloß, atmete er auf. Der Spießrutenlauf war vorbei.

 

 

Seit Tagen hatte Romhyno schon so seltsame Zustände und Träume. Seine Lebensgefährtin hatte nach ihm schicken lassen. Derzeit wartete er im Vorraum zu ihren Räumen. Vor wenigen Minuten hatte man auch nach den zwei Hebammen gesandt. Die eine war an ihm vorbei gerauscht, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Die andere sah Romhyno ernst an, dann ließ sie ihn alleine. Romhyno versteckte die Hände hinter dem Rücken und begann nervös im Raum herum zu wandern.
Er wusste nicht, wieviel Runden er bereits gewandert war, als sich die Tür öffnete, eine der Hebammen heraussah und meinte:
»Ihr solltet jetzt kommen. Und macht Euch nicht zuviele Hoffnungen. Eure Gefährtin ist sehr schwach!«
Romhyno spürte, wie er bleich wurde. Er trat in den Wohnraum und wurde von der Hebamme in den Schlafraum geführt, wo seine Gefährtin wie eine kleine wächserne Puppe in dem viel zu groß wirkenden Bett lag. Die zweite Hebamme war damit beschäftigt, ein blutgetränktes Tuch unter der Decke hervor zu holen. Sie sah auf und winkte Romhyno. Langsam kam er näher und seine Gedankenfühler griffen beinahe selbsttätig zu dem Kind im Körper seiner Gefährtin. Doch sie griffen ins Leere.
»Komm näher!« Die Lippen Alexas bewegten sich beinahe nicht, als sie die Worte hauchte. Romhyno trat näher. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, verstärkte sich rapide.
»Mahuna?«
»Setz dich zu mir!«
»Mahuna«, fragte Romhyno erneut, während er der Bitte Alexas nachkam. Die beiden Frauen verneigten sich und ließen die Beiden allein.
Kaum hatte sich die Türe geschlossen, brach Alexa in Tränen aus. Sie setzte sich auf und lehnte sich an Romhynos Brust.
»Es starb, während ich es geboren hatte!«
Romhyno schluckte, dann warf er alle Konventionen über Bord und nahm seine verzweifelte Gefährtin fest in den Arm. Ihm traten die Tränen in die Augen und er wischte sie nicht weg, als sie ihm übers Gesicht liefen.
»Es tut so weh, Romy! Erst war da noch das zarte Stimmchen, dann war es für immer fort. Halte mich fest!«
»Du darfst dich nicht so aufregen, Lexa! Das schadet dir in deinem jetzigen Zustand!«
»Ach Romy, du hast keine Ahnung, wie ich mich jetzt fühle!«
»Da irrst du dich, Geliebte! Ich spüre sowohl deinen Schmerz, als auch den, der mein Herz derzeit zerreisst. Es war auch mein Kind!«

 

Die Zeit war wie erstarrt. Das Volk trauerte mit den beiden Eltern des verlorenen Lebens. Und dabei war nur zweitrangig, dass es sich bei den Eltern um die Herrscherin und den Hohepriester handelte. Als die kleine Leiche dem Feuer übergeben wurde, hatte jeder die Gelegenheit daran teil zu haben. Fliegende Kameras schickten das Ereignis überall hin. Großaufnahmen sandten das bleiche, tränenfeuchte Gesicht der jungen Mutter in den entferntesten Winkel des Reichs genauso detailgetreu wie das harte Gesicht des Vaters, als er sich konzentrierte und tief in sich das Erwachen der Flamme spürte. Der winzig erscheinende Leichnam lag, eingehüllt in das vorbereitete Taufkleidchen, auf dem Altar. Der Hohepriester, nun bekleidet mit dem blauen Umhang und dem Stein der Läuterung auf seiner Stirn, hob seine Arme und sah kurz zum Himmel. Dann ertönten die Worte aus seinem Mund, die für viele hart und herzlos wirkten.
»Nimm diesen Körper von uns. Hülle ihn ins Vergessen und lösche seine Spur!«
Doch dieser Augenblick machte Romhyno nicht zum trauernden Vater, sondern zum Hohepriester. Und es war seine Aufgabe die Flamme zu rufen, um das Feuerbegräbnis zu ermöglichen. Ein leises Raunen ging durch die Anwesenden, als auf Romhynos Handfläche tatsächlich eine Flamme aufzuckte und er sie beinahe spielerisch auf das rote Kleidchen warf. In Sekundenschnelle wuchs sie empor und verzehrte sowohl das Kleidchen, als auch die darin eingekleidete Kinderleiche.
Als ein leichter Wind die übriggebliebenen Ascheflocken ergriff und sie zerblies, gestattete sich Romhyno kurz einen tiefen Seufzer. Und eine Träne lief aus seinem rechten Auge über die Wange. Diese Sekunde machte aus dem Hohepriester wieder einen trauernden Vater.
Die Flamme auf seiner Handfläche erlosch, als er sie mit den Fingern einschloß. Beinahe widerwillig glitt sie wieder in tiefere Bereiche.
Romhyno verneigte sich in Richtung der Herrscherin, die von ihren Frauen umringt und getröstet wurde. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, erwiderte den Gruß nur ganz leicht und wandte sich ab. Romhyno schluckte. Dann wandte er sich an die Kameras und an jene, die sich noch am Platz befanden.
»Ich danke allen, die mit uns getrauert haben, ob dieses verlorenen Lebens!«
Er merkte, dass seine Gefährtin überrascht stehen blieb und ihm einen undefinierbaren Blick zuwarf. Seit wann bedankte sich der Hohepriester beim Volk, dass es mit ihm litt? Romhyno grüßte noch einmal zu Alexa, dann drehte er sich weg und verließ den Platz. Nun war ihm nicht mehr gestattet, öffentlich zu trauern. Nun hatte er wieder der unnahbare Hohepriester zu sein.
Als Romhyno seinen Raum betrat, wartete dort schon sein terranischer Freund.
»Tut mir leid, Romy, ging nicht schneller. Und es tut mir auch leid, dass du dieses Leid erfahren musstest!«
»Was willst du?«
»Ich bin's, dein Freund. Vor mir brauchst du nicht den starken Mann markieren. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie's ist, ein Kind zu verlieren. Und du bist hier in deinen eigenen Räumen, wo keiner die Nase rümpft, wenn du deinen Gefühlen freien Lauf lässt. Und wozu hat man Freunde? Dass sie einen in größter Not mit dem Schmerz alleine lassen?«
Romhynos Gesicht zuckte, als er sich auf das bequeme Sofa setzte. Köster ging zu ihm, setzte sich neben ihm und legte den Arm um die Schultern des zweithöchsten Mannes des Shandongreichs. Er spürte das leichte Beben des nach außen hin stark und hochnäsig erscheinenden Mannes. Doch dieser Mann war in seinem Innersten weich und empfindsam. Und er hatte sich auf dieses Kind gefreut. Langsam wurde das Zittern mehr und schließlich legte Romhyno den Kopf auf Kösters Schulter und ließ seinen Schmerz frei. Köster hielt die ganze Zeit still und fest den Freund umschlungen. Die Herrscherin hatte ihre Frauen, die sie im Schmerz unterstützten. Der Hohepriester durfte seine Gefühle nach aussen nicht zeigen. Doch er hatte nun einen Freund, der ihm half, sich wieder zu fangen.
Es dauerte lange, bis sich Romhyno wieder beruhigt hatte. Köster ahnte, dass dies nicht nur mit dem Tod des Kindes zu tun hatte. Da wirkten noch andere Faktoren mit, von denen er keine Ahnung hatte. Und die er auch garnicht wissen wollte. Er griff in seinen Rock und holte ein reines Taschentuch hervor. Wortlos streckte er es dem Hohepriester hin. Dieser sah kurz darauf nieder, lächelte flüchtig, nahm es und wischte sich das Gesicht. dann putzte er sich die Nase und reichte es Köster zurück. Dieser nahm es wieder an sich und steckte es weg.
»Danke!«
»Wozu?«
»Für alles!«
»Es scheint, du hattest noch nicht viele echte Freunde, oder?«
»Außer dir nur noch einen!«
Köster wusste, dass mit diesem anderen Freund jemand gemeint war, den er nie kennen gelernt hatte. Er wusste nur, dieser andere Freund hatte Romhyno die ersten Jahre seines Lebens aufgezogen und hieß Patrick. Und dass dieser Patrick ein künstlich erzeugtes Lebewesen gewesen war. Mehr konnte sich Köster unter der Bezeichnung »Englikanisches Schlaftier« nicht vorstellen.
»Geht's wieder?«
»Ja, danke nochmals!«
»Wofür, Romy? Darum hat man Freunde, dass sie sich mit einem freuen und man in dunkler Stunde von ihnen gehalten wird. Das selbe hast du doch bei mir gemacht! Du hast dich als echter Freund erwiesen, obwohl du dieses nicht machen musstest!«
»Die damalige Situation war doch ganz anders!«
»Tatsächlich?«
Romhynos Gedanken gingen zurück. Zu jenem Tag, an dem sich die Schicksalslinien von Köster und ihm trafen und überschnitten und für immer verbanden.

 

 

Seit seiner Ernennung zum Hohepriester waren Monate ins Land gegangen. Monate, in denen er Frust, Einsamkeit aber auch schöne Augenblicke kennen lernte. Er hatte eine sehr schöne und wohl klingende Baritonstimme und darum bekam er die etwas zweifelhafte Ehre, mit den Anwärtern und Zöglingen des Priesterbezirkes zu singen. Obwohl nur Lieder erlaubt waren, die voll Ehrgefühl und Lob auf die Heimat waren, hallten bald die Singhallen vor Gelächter wider. Mehr und mehr kamen nun auch die anderen Priester und Priesterinnen, studierten neue Lieder ein und Romhynos Art mit manchen Singbanausen umzugehen, sprach sich bald herum. So manchen unlustigen Sänger verwandelte er, dank seines Einfühlungsvermögens und seiner Direktheit in einen begeisterten Liedkünstler.


Eines Tages erhielt er die Ankündigung von der Ankunft eines Terraschiffes. Die diplomatischen Handelsbeziehungen waren soweit gediehen, dass den Terranern, oder Solaris - wie sie bei den Shandongs genannt wurden - gestattet wurde, Tausch zu betreiben. Shandongs Bewohner kannten schon lange keinen Zahlungsverkehr mehr. Sie tauschten. Manchmal von Waren in exaktem Gegenwert, manchmal mit Arbeitskraft.
Während nun einige Gruppen Kräuter und wichtige Gerätschaften erstanden, besuchte eine kleine Gruppe von Biologen und Wissenschaftlern die zuständigen Priester. Darunter befand sich auch ein junger Arzt. Er war das erstemal auf großer Fahrt und hatte ganz andere Vorstellungen von den ‘Alien', von denen er gehört hatte. Grüne Gesichtshaut hatten sie sicher nicht, aber Hörner am Kopf und die meisten würden immer in den Gedanken anderer herum stochern. Mit einem Blick konnten sie töten und aus ihrem Mund würde Feuer kommen.
Seit Tagen schon fühlte er sich nicht besonders und an diesem Tag wars besonders schlimm. Fieber, das nicht durch Bordmitteln gesenkt werden konnte, durchglühte ihn. Und Eiseskälte ließ seine Zähne aufeinander schlagen, wie Kastagnetten in einem spanischen Tanz. Er hatte Kopfschmerz und keine noch so gute Medizin der anderen Kollegen konnte sie vertreiben. Er hatte sich von seiner Gruppe getrennt und strebte dem Garten, von dem er gehört hatte, zu. Schon sah er das Tor, das in den Garten führte, da stieß er mit jemandem zusammen.
»Pardon!«
»Du solltest deine Augen öffnen, ehe du andere über den Haufen läufst!«
Die Stimme war dunkel und hatte ein durch und durch gehendes Timbre.
»Es tut mir leid, ich ...!« Was dann geschah, würde er erst später erfahren.
Der junge Solaris verstummte mitten im Satz und brach lautlos in die Arme Romhynos. Dieser hatte gerade noch Zeit den schlaffen Körper aufzufangen und ihn an dem Sturz zu hindern. Der Solarismann strömte das Feuer eines tiefen Fiebers aus und eine störende Schwingung traf Romhynos Sinne. Er nahm den Bewußtlosen auf die Arme und trug ihn zu seinen Räumen. Dort legte er ihn auf sein Bett und seine Hand glitt wenige Zentimeter über den Körper des Mannes. Schon nach wenigen Augenblicken stand die Diagnose fest. Der Solaris war mit dem Ranganfieber infiziert. Es galt als ausgerottet, doch hin und wieder brach es aus. Bisher hatte es keinerlei Spezies ergriffen, die Bewohner von Raumfahrervölkern waren. Der Solaris war der erste. Er war jung und vielleicht war dies von Vorteil.
Die Lider des Solaris zuckten und er öffnete die Augen. Sie waren so tiefblau, wie der Bergsee in den Todesbergen. Sein dunkelblondes Haar hing verschwitzt in seiner Stirn und er wollte sich aufsetzen. Romhyno drückte ihn nieder und schüttelte den Kopf.
»Weiß dein Arzt, dass du Träger des Ranganfiebers bist?«
»Was?«
»Das Ranganfieber beeinträchtigt die Gesundheit, dass es auch das Gehör angreift, ist mir neu!«
Der Blick des jungen Arztes, John Köster, hing wie gebannt an den hypnotischen dunklen Augen des ‘Aliens'. Die Stirn des anderen runzelte sich und er sprach wieder mit dieser Stimme, die Schauer über Kösters Haut jagte.
»Ich mag viel sein, aber ein Alien bin ich nicht!«
»Lesen Sie meine Gedanken?«
»Das ist nicht schwer. Du schreist sie geradezu heraus. Wie fühlst du dich?«
»Beschissen!« Erschrocken schwieg Köster. Wie konnte er nur dieses Wort in Gegenwart einer fremden Intelligenz sagen? Wusste er überhaupt, was es bedeutete?
Kösters Frage wurde beantwortet, als sich das beinahe unwirklich, männlich schöne Gesicht des Fremden zu einem Grinsen verzog und er schließlich den Kopf hoch warf und in schallendes Lachen ausbrach. Unwillkürlich grinste auch Köster.

Kaum hatte sich Romhyno beruhigt, wurde er übergangslos ernst.
»Ich kann dir vielleicht helfen. Aber nur, wenn du die nächsten acht bis zwölf Zeit ... Tage? Tage hier bei mir verbringst. Aber ich denke, dein Alienfeindbild kann ich dir richtig stellen!«
»Ich möchte Sie nicht von wichtigen Geschäften abhalten!«
»Das hättest du dir früher überlegen müssen. Wie heißt du eigentlich? Ich möchte dich nicht immer Solarismann nennen!«
»John Köster!«
»Interessanter Name. Mich kannst du Romhyno nennen. Und hör endlich mit diesem nervigen ‘Sie’ auf. Wir duzen uns hier alle. Gesiezt werden nur Höhergestellte!« Ein mitreissendes Grinsen huschte über das Gesicht Romhynos. Unwillkürlich erwiderte es Köster. Gleich darauf griff er sich mit verzerrtem Gesicht an die Stirn. Sofort streckte Romhyno die Hand aus und berührte die Stelle, die Köster schmerzte. Als würde Romhyno genau fühlen, wo's weh tat.
Der Schmerz erlosch, so schnell er gekommen war und Köster atmete auf.
»Was passiert nun mit mir?«
»Ich werde versuchen, dich gesund zu pflegen. Einer der Novizen kann mit deinem Oberen sprechen und ihm die Situation erklären. Währenddessen mische ich die nötigen Zutaten, um dich von diesem Fluch zu befreien!«
»Sind Sie ... bist du Arzt?«
»Arzt? Naja, so was ähnliches. Wenn das Mittel nicht wirken sollte, gibt es noch immer den Lebensdolch. Aber das wäre dann die letzte Option. Und jetzt bleib mal schön entspannt liegen, während ich Feidda Bescheid gebe!«
Romhyno stand auf, ging zu einem kleinen roten Knopf an der Wand und drückte ihn kurz. Gleich darauf öffnete sich die Tür und ein kleines Mädchen betrat den Raum. Ihr Blick ging neben Romhyno zu dem Mann in dessen Bett und dann erst zu dem vor ihr stehenden Mann. Sie verbeugte sich und Köster hörte die wenigen unverständlichen Worte, die Romhyno zu dem Kind sagte:
»Feidda, eko mante narbe tunto, keh?«
Das Mädchen nickte, warf noch einen Blick auf Köster, verneigte sich und verschwand.
Köster dachte über die wenigen Worte nach. Eine verrückte Sprache! Er zuckte zusammen, als Romhynos rechte Braue nach oben ging, nachdem er sich wieder zu Köster gesetzt hatte.
»Ich spreche derzeit etwa vierzig verschiedene Sprachen und einige Unterarten. Davon ist Shandong noch die leichteste. Und jetzt entkleide dich bitte.«
»Was?« Selbst in Kösters Ohren hörte sich dieser Entsetzensschrei empört an.
»Du bist durchdrungen von bösartigen Geschichten und von einer Abwehr, die es mir sehr schwer machen wird, dir das Gegenmittel zu geben.«
»Warum muss ich mich dabei entkleiden?«
»Weil du gleich ein Bad nehmen wirst. Schmutzige Solaris behandle ich nicht!«
Romhyno stand auf und verschwand durch eine andere Tür. Köster fragte sich, ob das mit dem Bad ernst gemeint war. Langsam setzte er sich auf und begann sich auszuziehen. Nur noch mit seiner Unterhose bekleidet, saß er am Bettrand und wartete auf Romhyno. Als dieser kam und den etwas zitternden Köster am Bettrand sitzen sah, huschte ein kleines Lächeln über sein Gesicht.
»Brav, John Köster. Jedoch dein nettes Nichts von Beinkleid musst du auch ausziehen. Und keine Angst, hier schaut dir niemand etwas Wichtiges weg!«
Köster presste die Lippen zusammen, zog sich rasch auch noch das letzte Kleidungsstück aus und legte verschämt seine Hände über seinen Unterleib. Romhyno merkte genau diese Handbewegung, doch er ging darüber hinweg. Er trat dicht an Köster heran, hob ihn hoch und trug ihn, trotz dessen Protests nach nebenan.

Hatte Köster nun erwartet, im Nebenraum eine Badewanne zu sehen, oder eine der weit verbreiteten Schallduschen vorzufinden, sah er sich enttäuscht. Am Boden des Raumes war ein großes Viereck eingelassen, in dem das eingefüllte Wasser bereits dampfte. Ein zarter grüner Schimmer lag darüber und es roch nach Tannennadeln. Das Wasser sprudelte und Romhyno stieg mitsamt seiner Kleidung über unsichtbare Stufen ins Becken. Er setzte Köster an den Rand auf eine der unter Wasser angebrachten Sitzgelegenheiten und griff nach einer bereits vorbereiteten Schale. Weißer, duftender Schaum befand sich darin. Romhyno nahm eine gute Handvoll. Er seifte Köster ein und danach griff er zu einem knorrigen Holzstück, welches ebenfalls in Griffnähe lag. Er schrubbte Kösters Körper und dieser begann sich zu entspannen. Doch das Bad dauerte nicht lange, Romhyno nahm erneut Köster auf seine Arme, verließ das Becken, stellte ihn an den Beckenrand und begann ihn mit einem angewärmten Tuch abzutrocknen. Danach überreicht Romhyno Köster ein langes Hemd und deutete nach nebenan. Köster spürte, wie das Fieber erneut stieg. Er war froh, als er wieder im Bett lag. Insgeheim fragte er sich, wo wohl dieser Romhyno schlafen würde. Doch er konnte nicht mehr danach fragen, denn nach einem kurzen Anklopfen betrat ein alter Mann den Raum, kaum hatte Romhyno ein lautes »Ja, bitte« gerufen. In seinen Händen hielt er eine lange, dünne Nadel, die gab er Romhyno und ging wieder. Romhyno trat nun ans Bett und setzte sich.
»Ich werde nun diese Nadel in deinen Arm hier einführen. Das darin befindliche Mittel wird das Fieber senken und das Ranganfieber an seiner Wurzel bekämpfen. Noch Fragen?«
»Werde ich es spüren? Warum nimmst du keine Injektionspistole oder eines der modernen ...Au!«
Romhyno hatte mit einem gezielten Stoß die Nadel unter Kösters Haut geschoben. Nun drückte er den dünnen Kolben nach vorne und Kösters Atem beschleunigte sich. Sofort hörte Romhyno auf und erst als Köster wieder normal atmete, fuhr er mit der Prozedur fort.
»Ich werde dich etwas in Tiefschlaf versetzen. Die Arbeitsweise des Gegenmittels kann Unwohlsein hervor rufen!« Ehe Köster antworten konnte, zog Romhyno die Nadel aus dem Arm, legte sie neben sich und presste seine Hände auf Kösters Stirn. Die Daumen mittig, die Zeigefinger an den Schläfen. Langsam glitten die Daumen in Richtung der Schläfen, im selben Maße sank Köster auf das Kissen, schloß die Augen und schlief bald tief und fest. Romhyno sah noch einmal auf Köster, nahm die Nadel und stand auf. Er verließ den Raum und schloß beinahe geräuschlos die Tür.

 

 

Die folgenden acht Tage wurden für Köster zu einem wahren Albtraum. Immer wieder wechselten Fieber und Schüttelfrostattacken, mal vermehrter Kopfschmerz, dann wieder absolute Schmerzfreiheit. Doch danach gings aufwärts. Noch zweimal bekam Köster die lange Nadel in den Arm aber meist geschah es ohne viel Aufwand.
Am neunten Tag wurde Köster von seinem Pfleger angehalten aufzustehen. Das war auch der erste Tag, an dem er einen gewaltigen Hunger spürte. Dem wurde abgeholfen, als Romhyno ihm ein Tablett mit allerhand Brot und Käsesorten brachte. Eine kleine Schale mit Früchten stand ebenso dabei, wie ein Krug mit kaltem Tee. Obwohl Köster befürchtete, er würde trotz des Hungergefühls nicht viel hinunter bekommen, machte er sich mit Appetit darüber her. Währenddessen Romhyno neben ihm beim Tisch saß und ihm lächelnd zusah. Danach war ein Verdauungsspaziergang angesagt.
Köster wunderte sich sehr, als sie langsam im Garten, der ihm riesengroß erschien und eine Menge an Blumen und Gerüchen enthielt, in dem es Rastplätze und Springbrunnen gab, spazierten, dass Romhyno von den meisten, die ihnen begegneten immer sehr ehrfürchtig begrüßt wurde.
»Du scheinst jemand sehr Wichtiger zu sein!«
»Ach, in diesem Gebiet kennt man mich eben!«
»Ach ja? Scheint mir die Untertreibung des Tages zu sein!«
»Wie fühlst du dich jetzt?«
»Besser als zu Beginn, als ich hierher kam. Deine Medizin wirkt Wunder. Und der Käpten hatte mich wirklich für die Dauer des dummen Fiebers beurlaubt? Was hast du ihm angeboten, dass er das machte?«
»Nichts. Vielleicht konnte er nur meinem Charme nicht widerstehen!«
Köster warf einen schnellen Seitenblick zu Romhyno. Dieser hatte den Kopf gewandt und in seinen dunkelgrauen Augen blitzte der Schalk.
»Da brauche ich jetzt eine Bank. Du bist ja ein Scherzkeks!«
Romhyno runzelte kurz die Stirn, dann vertiefte sich das Grinsen und er begann zu lachen. Romhyno strebte auf eine in der Nähe stehenden Bank zu und sie setzten sich. Köster spürte erst jetzt, dass seine Beine zitterten und war froh, dass er saß. Dann betrachtete er Romhyno, der neben ihm saß.
»Was ist?«
»Ich werde aus dir nicht schlau. Du scheinst jemand zu sein, den alle hier kennen und die meisten auch schätzen. Du scheinst großen Einfluss zu haben und doch tritt niemand an dich mit irgendeiner Bitte heran. Dich umgibt eine seltsame Aura, du pflegst einen für dich Fremden und doch ist mir so, als würde ich dich schon Jahre kennen. Du hast Humor und doch kannst du auch ernst sein!«
»Fertig mit meiner Analyse?«
»Entschuldige, ich wollte keine Kritik üben!«
»Ich weiß. Aber nun solltest du dein Mundwerk halten und dich ausruhen. Wir werden dann wieder hinein gehen. Für das erste Aufstehen, hast du dich gut gehalten.«
Köster nickte, schloß die Augen und genoß nun wortlos die Stille, die verschiedenen Gerüche und die warme Sonne. Übergangslos schlief er ein.

 

Der letzte Tag seines trotz Bewilligung unfreiwilligen Aufenthalts war angebrochen. In wenigen Stunden würde ihn ein Shuttle zu seinem Schiff bringen und es würde lange Zeit vergehen, ehe er erneut diesen paradisischen Planeten und jenen Mann wiedersah, der ihn gesund gepflegt hatte. Inzwischen wusste er, wer sein Wohltäter wirklich war und er musste noch immer mit seinem schlechten Gewissen kämpfen, dass sich ihm nicht früher die Augen geöffnet hatten. Er hatte sich mit dem Hohepriester zu einem letzten Gang durch den Garten, den er inzwischen innig liebte, verabredet. Zum richtigen Zeitpunkt fand sich Romhyno ein und die beiden Männer gingen schweigend nebeneinander her. Sie gingen die weniger begangenen verschlungenen Pfade. Hin und wieder wurden diese Wege so eng, dass sich ihre Hände berührten.
Bei einer der versteckt angebrachten Rastbänke hielten sie an und Köster setzte sich, nachdem er die auffordernde Handbewegung Romhynos sah.
»Was wirst du jetzt machen?«
»Ich werde, so wie bisher, meinen Dienst erfüllen. Nur du und das hier alles wird mir sehr fehlen!«
»Deine Gegenwart wird mir auch fehlen, Solaris!«
Dann schwiegen sie wieder. Köster spürte verwundert, wie ihn tiefe Traurigkeit erfasste.
»Hohepriester?«
»Hm!«
»Ich würde dir gerne etwas schenken, was dich immer an mich erinnert und womit ich dir meine Dankbarkeit zeigen kann. Doch ich habe nichts!«
»Du brauchst mir nichts schenken. Nur eine Bitte hätte ich an dich. Sollte ich eines Tages einen Sohn haben, würdest du sein Pate sein?«
»Es wäre mir eine große Ehre!« Und sie schwiegen wieder.
»Bevor du zu deinen Leuten aufbrichst, möchte ich dir noch eine Kleinigkeit von mir mitgeben. Es kann sehr lange dauern, bis ich Vater eines Sohnes werde und du könntest bis dahin bereits gestorben und verfault sein. Deshalb habe ich mir überlegt, dass du etwas Unterstützung bräuchtest!«
Köster warf einen schnellen Blick zu Romhyno. Inzwischen kannte er diesen so gut, um zu ahnen, dass das dicke Ende noch kommen würde.
»Was willst du tun? Mir das ewige Leben schenken?« Köster stellte diese Frage spontan und mit einem Anflug von Spott. Doch Romhyno blieb ernst. Er nickte.
»So etwas ähnliches!«
Köster schluckte. Was meinte dieser geheimnisvolle Mann neben ihm? Seine Frage war eigentlich als Scherz gedacht.Er zuckte zusammen, als Romhyno seine Hand ergriff und sie leicht drückte.
»Bist du bereit?«
»Was? Nein!«
»Zu spät, John Köster von Solaris. Dies wird deine erste Seelenverbindung sein, nicht jedoch deine letzte!«
Köster wollte etwas sagen, doch er kam nicht mehr dazu. Etwas Starkes, Mächtiges ergriff ihn, zog ihn mit sich und er merkte, wie sein Körper zu schwingen begann. Jede Zelle seines Körpers begann zu singen, seine Haare stellten sich leicht auf und er schloß die Augen. Wärme umhüllte und riß ihn empor. Er fühlte, wie etwas in ihn drang, ihn liebkoste und umarmte. Ihn beruhigte und liebte. Köster gab sich ganz diesem Gefühl hin. Er fühlte sich geborgen, wie noch nie in seinem Leben und dann erschien das Licht. Es durchdrang ihn und er wurde selbst zu Licht. All seine Zellen wurden zu dem Licht und schließlich ergab er sich diesem Licht und dem Drängen. Er löste sich in einer Lichtwolke und einem Regenbogen auf. Obwohl er es nicht wollte, begann sein Lichtkörper wieder zu sinken, sich zu verdunkeln und wurde wieder zu dem, das er schon immer war. Stofflich. Seine Augen begannen wieder zu sehen, seine Ohren zu hören. Erschrocken merkte er, dass er sich nass gemacht und scheinbar auch einen heftigen Orgasmus erlebt hatte.
»Wow!«
Romhyno ließ Kösters Hand los und ein rasches Lächeln glitt über sein irgendwie von innen heraus leuchtendes Gesicht. Dann stand er auf und nickte.
»Dies ist mein Abschiedsgeschenk an dich. Und die Bestätigung, dass ich in dir einen Freund sehe, Jonny!« Mit diesen Worten wandte er sich um und ließ Köster alleine zurück.

 

 

Seit dem Tod des Kindes war eine lange Zeit vergangen. Die Herrscherin hatte sich nicht mehr bei Romhyno gemeldet. Nun ja, sie hatte eben viel zu tun. Einige Siedlungswelten hatten Ärger mit deren Nachbarn, und auch zwei dieser Welten wollten ihre Autonomie erhalten. Tja, die Kinder wurden erwachsen.
Romhyno war eben dabei den Rechenschaftsbericht über die diesjährige Ernte durchzusehen, als es an seiner Tür klopfte. Romhyno sah mit einem leichten Stirnrunzeln auf. Im Unterbewusstsein war er ganz froh, diese nüchternen Zahlen und trockenen Daten unterbrechen zu können.
»Ja bitte?«
Einer der älteren Priester öffnete die Tür, verneigte sich leicht und sagte:
»Mahun! Ich habe die Nachricht erhalten, die Mahuna möchte Euch sehen!«
»Ach ja? Und wie kamst du zu jener Nachricht?«
»Maja, die persönliche Adjutantin der Mahuna hat es mir übertragen!«
Romhyno spürte einen Stich in der Magengegend. Er nickte, bedankte sich und der Priester verschwand. Sekundenlang starrte Romhyno noch auf die geschlossene Tür, dann schloss er den Bericht, stand auf und fuhr sich durch sein Haar. Diese Bitte, überbracht sogar von Maja war keine Bitte, sondern ein Befehl. Unwillkürlich überlegte er, womit er den Unwillen Alexas erregt haben könnte. Er kam sich vor wie ein gescholtenes Kind, das etwas angestellt hatte, jedoch keine Ahnung hatte, was das gewesen sein könnte.
Er verließ seine Räume betrat den Seitenkorridor, der ihn auf kurzem Weg zu Alexas Räumen brachte und wappnete sich innerlich für eine, aus welchen Gründen auch immer, anstehende Standpauke.
Er hob die Hand, als er vor der Tür stand, um anzuklopfen, doch diese öffnete sich und Maja stand dazwischen. Sie schaute hoch zu den sie überragenden Mann, rümpfte die Nase und trat beiseite. Romhyno wusste, Maja hatte keine Sympathie für ihn. Was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Doch wenn er sich diese Antipathie anmerken ließe, wäre er die längste Zeit Hohepriester gewesen. In einer Welt, in der die Frauen das Sagen haben, darf man sich nicht gehen lassen.
Er verneigte sich und trat einen Schritt auf Maja zu. Die Frau trat zwei Schritte beiseite und schob die Türe weiter auf. Romhyno ging an ihr vorbei und begab sich durch den kleinen Vorraum direkt in Alexas Wohnraum. Er sah sich um, doch er konnte sie nirgends sehen.
»Mahuna!« sagte er in die Stille des Raums. Kichern war die Antwort. Romhyno sah sich um und entdeckte ein helles Stoffeck hinter dem Sitzsofa hervor leuchten.
»Ich sehe Euer Kleid!«
Seit wann versteckte sich Alexa? Wieder das Kichern.
»Darf ich Euch sehen?«
»Warum willst du das?« Diese Stimme! Romhyno schluckte. Nun wusste er, wem der Stoff gehörte. Er lächelte leicht und seine Stimme sank zu einem Beihnahflüstern.
»Weil mir Euer Anblick schon lange verwehrt worden war!«
»Und was weiter?«
»Das macht mich ganz traurig!«
»Wirklich?« Der Stoff bewegte sich und hinter dem Sofa kam ein Mädchen hervor. Sie war die letze Zeit enorm gewachsen. Sie hatte viel von ihrem Kindaussehen verloren und auch ihr Körper hatte sich verändert. Romhyno senkte den Blick, verneigte sich mit vor dem Gesicht gefalteten Händen und sagte:
»Mahuna!«
Sie trat näher an Romhyno, ergriff seine noch immer gefalteten Hände und zog sie runter.
»Stimmt das? Dass du traurig bist?«
»Ja Mahuna!« Romhyno merkte, dass seine Stimme leicht zitterte. Seine Tochter war im Begriff, eine wunderschöne junge Frau zu werden. Aber sie musste noch einiges lernen. Zum Beispiel, dass man nicht einfach die Hände des Hohepriesters beim Gruß berührte. Auch wenn dies der eigene Vater war.
»Wirklich traurig? Ganz ehrlich? Und nur weil du mich schon lange nicht gesehen hast?«
»So wahr ich hier stehe!«
»Ich möchte nicht, dass mein Paps traurig ist. Lach wieder. Ich liebe dein Lachen. Es ist so ... warm und wie ein Mantel für mich!«
Romhyno schluckte. Ja, Akiko war auf dem besten Weg, so wie ihre Mutter zu werden. Dass sie sich allerdings den Hohepriester dafür ausgesucht hatte, um ihre erwachende Begabung des Flirtens zu üben, gefiel Romhyno weniger. Er hob den Blick, als er im Augenwinkel eine Bewegung sah. An einen Schrank gelehnt stand die Herrscherin, hatte die Arme verschränkt und lächelte. Unwillkürlich erwiderte Romhyno dieses Lächeln. Ja, Akiko musste noch etwas üben, um das Format ihrer Mutter zu erreichen. Doch viel würde nicht mehr fehlen.

»Wie ich sehe, hat meine Tochter dich gefunden! Setz dich, Hohepriester und iss mit uns!«
Romhyno verneigte sich und meinte leise:
»Wenn Ihr es befielt, gerne!«
»Befehlen? Du irrst, Hohepriester!« Und nun deutlich leiser, wärmer, intimer:
»Setz dich zu mir, Romy. Iss mit uns und erfreue uns beide mit einem deiner Lieder. Und dann ... wer weiß ...?«
Romhyno setzte sich und gleich darauf saß auch Akiko neben ihm. Ganz dicht.
»Mama hat mir erlaubt, bei dir in den Unterricht zu gehen! Ich werde Priesterin!«
Romhyno sah überrascht zu der Herrscherin, die soeben eine blumengeschmückte Kanne in die Hand nahm, die auf dem Tisch gestanden hatte und drei Tassen mit heißem Tee vollgoß.
»Ich denke doch, dass dies kein Problem für den Hohepriester darstellt, oder?«
»Nein, ich war nur überrascht, Mahuna!«
»Das dachte ich mir. Ich liebe es, dich zu überraschen. Nun kommt die nächste Überraschung, liebster Romy. Heute nacht bleibst du hier. Niemand benötigt heute nacht einen Hohepriester!« Alexas Lächeln vertiefte sich. »Ausser der Herrscherin. Die möchte heute nicht alleine im Bett liegen!«
Romhynos Hand, die nach der Teetasse gegriffen hatte, begann zu zittern. Das Beben wurde schließlich so stark, dass er hastig die Tasse auf den Tisch stellte.
»So schlimm?«
»Verzeiht Mahuna!«
»Geschenkt. Ich kann mir denken, dass du gerne heute bei mir bleibst, oder?«
Und ob! Romhyno griff erneut nach der Tasse, doch noch immer zitterte seine Hand. Wie um sie ruhig zu stellen, legte Alexa ihre Hand auf die Romhynos. Doch da begann er noch mehr zu zittern. Alexa hob eine Braue und nickte.
»Noch viel schlimmer, als ich dachte! Akiko, Kind, sei so lieb und lass uns alleine, bitte. Dein Vater fühlt sich nicht wohl!«
»Geht es ihm bald besser?«
»Das denke ich doch. Ich glaube, morgen wird er sich wieder erholt haben. Und nun geh!«
Akiko nickte, erhob sich und als auch Romhyno aufstehen wollte, drückte sie ihn sanft wieder nieder. Sie warf ihren Eltern noch eine Kusshand zu und verließ den Raum. Romhyno hielt den Blick gesenkt. Er zuckte zusammen, als Alexa eine Hand auf sein rechtes Knie legte.
»Das mit dem Singen lassen wir heute ausfallen, ja? Außer du singst ein kleines Lied für mich. Und dann solltest du dich etwas hinlegen. Das Beben deiner Hand ist sehr bedenklich!«
Romhyno schluckte. Wenn Alexa so weiter machte, würde er sich kaum in Zaum halten können. Er beschloß das Lied gleich hinter sich zu bringen, vielleicht konnte er dann wieder in sein gewohntes Leben zurück. Er schloss die Augen, hob den Kopf und begann eines der kurzen, launigen Liedchen, die seine Anwärter so gerne sangen. Romhyno sang die erste Strophe, er sang die zweite Strophe, als er die dritte beginnen wollte, legte ihm Alexa die Arme um den Nacken, rückte so dicht an ihn heran, dass er ihre volle Weiblichkeit spüren konnte und stoppte das Lied, indem sie ihre Lippen auf seinen Mund drückte. Während ihre Lippen an seinen Lippen knabberten, ging ihre Hand auf Entdeckungsreise.
»Ja, ich denke, wir sollten dich jetzt ganz schnell niederlegen. Dir wachsen Auswüchse wo sie sonst nicht wachsen!«
Romhyno gab sich geschlagen. Er wusste, wann er verloren hatte. Er folgte Alexa in deren Ruheraum und übernahm ab jetzt die Führung. Und Alexa, seine geliebte Alexa, überließ sich willig seiner Fantasie.

 

Als Romhyno die Augen aufschlug, runzelte er die Stirn. Erst langsam sickerte ihm ins Bewußtsein, dass er sich nicht in seinen eigenen Räumen, sondern in denen seiner Gefährtin aufhielt. Er wandte den Kopf, setzte sich etwas auf, drehte sich auf die Seite, stemmte den Arm unter den Kopf und betrachtete Alexa. Sie war in dem beginnenden Morgenlicht noch schöner und begehrenswerter, als sie es sonst war. Das rote Haar lag wie eine Aureole um ihren Kopf gebreitet. Ihr sonst ernst wirkendes Gesicht war im Schlaf weich und der Mund mit den naturroten Lippen war leicht geöffnet und lud Romhyno zum Küssen ein. Eine Locke hing ihr übers rechte Auge, Romhyno hob die Hand und schob sie vorsichtig weg. Die langen, dunklen Wimpern beschatteten Alexas Wangen und die Perlen der Wahrheit schimmerten dazwischen hervor. Heute Nacht war Romhyno an die Grenze seiner Fähigkeiten gebracht worden. Immer wieder überraschte ihn dieses Wesen neben ihm mit ihrer Fantasie und ihrer Anmut. Heute Nacht hat er eine neue Spielvariante der Interpretation »Zuneigung und Liebe« erfahren. Alexa hatte eine eigenwillige und sehr ins Detail gehende Auslegung davon.
Romhyno legte sich zurück und sofort kuschelte sich Alexa an ihn. Er atmete den Duft ihres Haares ein und schluckte. Es war lange her, dass sie beide so dicht zusammen waren. Romhyno musste plötzlich an den Freund seiner Kindheit denken. Alexa hätte Patrick gefallen. Ob er noch lebte? Schlaftiere hatten beinahe unbegrenzte Lebenszeit. Es könnte also gut sein. Was er jetzt wohl machte? Romhyno sah ihn so deutlich vor sich, als hätte man ihn erst gestern von Patrick getrennt. Und er glaubte noch immer dessen dunkle, leise Stimme zu hören, wenn er ihm etwas erklärte. Dann hatten Patricks braune Augen gefunkelt und wenn er lachte, war dieses Lachen dunkel und kam meist von Herzen. Viele Gefährten, die Patricks Leben begleiteten, lernten ihn auch näher kennen. Er war offen für jederman. Und er war jener, der Romhyno Vater und Mutter ersetzte, ehe man ihn holte, um ihn auf Shandong zum Hohepriester zu machen. Romhynos Gedanken eilten zurück, bis zu dem Tag, an dem Patrick am Psychodelion spielte und danach Romhyno in die Geheimnisse dieses Instruments einführte. Romhyno würde nie das sonderbare Gefühl vergessen, das ihn beim Berühren der weißen und schwarzen Tasten befiel. Als würde etwas vertrautes die Gedanken berühren. Nach seinem ersten Stück, das er mühsam gelernt hatte, auf dem Psychodelion zu spielen, war er sehr müde und schwach geworden. Patrick hatte ihm damals erklärt, dass dies vor allem auch einer der Gründe gewesen war, warum die Psychodelien verboten worden waren. Woher Patrick das eine Instrument hatte, hatte er nie erwähnt. Er sprach auch nicht oder nur sehr ungerne von seinem getöteten Lebenspartner Robin. Wenn dessen Name irgendwann fiel, verdunkelte sich meist Patrricks Blick und ihn befiel eine namenlose Trauer. Romhyno wusste, dass die Erzeugung der englikanischen Schlaftiere in einer Zeit stattfand, in der Sklaverei noch weit verbreitet war. Nicht auf Shandong, aber auf den anderen Welten. Und so ein Schlaftier war für vieles zu gebrauchen. Es war als Haus -, Hof - und Bestrafungssklave zu verwenden. Und auf jenen Welten, wo es zu wenige natürliche Liebespartner gab, auch als Sexgespielen. Patrick sollte ebenso ein Schicksal erfahren, doch er hatte Glück. Er wurde ausgebildet, dem ersten Herrscher von Shandong als Berater zur Seite zu stehen. Und das war Robin. Romhyno hatte Robin nie kennen gelernt, aber er hatte oft bemerkt, dass dieser Robin einen tiefen Eindruck bei Patrick hinterlassen hatte. Einmal hatte Patrick eine Schwäche Robins ausgenützt, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Romhyno hätte an Robins Stelle nicht so gehandelt, wie dieser es tat. Robin verzieh Patrick seinen Fehltritt und dafür liebte ihn dieser sein ganzes Leben. Denn obwohl künstlich erzeugt, war Patrick immer ein lebendes, denkendes und fühlendes Lebewesen. Und das einzige Schlaftier, das sich reproduzieren konnte. Denn all die anderen waren in der Hinsicht taube Nüsse. Ja, Patrick war schon etwas besonderes. Romhynos Augen fielen zu und gleich darauf war er eingeschlafen.

 

 

Das Erntefest stand bevor und alles was Hände und Phantasie hatte, griff zu. Da wurde Brot gebacken, Käse und Kräuterkuchen erzeugt, vergorene Raschgadmilch in große Fässer gefüllt. Tische wurden erneuert oder frisch gezimmert, Festkleider gewebt und Gäste eingeladen.
Der Priesterbezirk summte in diesen Tagen vor dem Fest wie ein Bienenstock und auch viele der Frauen aus dem Herrscherzirkel studierten Lieder und Tänze ein.
Allein Romhyno saß einsam in seinem Zimmer und blies Trübsal. Zu dem Fest waren auch viele Deligierte von Shandongs Siedlungswelten geladen. Auch ein terranisches Schiff und dessen Besatzung hatte eine Einladung erhalten. Die Solaris waren immerhin Verwandte. Der Grund, dass der Hohepriester keinen Gefallen am bunten Wirrwarr der Vorbereitungen hatte, war, dass er erfahren hatte, dass sein Freund Köster auf ein anderes Schiff versetzt worden war und dieses seit einiger Zeit als vermisst galt.
Als es nur noch wenige Stunden waren, avancierte die Nacht zum Tag. Die beinahe abgeschlossenen Vorbereitungen wurden noch einmal mit Hochdruck voran getrieben, und dann war es soweit.
Die Gäste waren eingetroffen und waren alle bequem untergebracht, die Musiker begannen ihre Instrumente zu stimmen und die aufgestellten Tische bogen sich beinahe wegen der Köstlichkeiten, die sich auf ihnen türmten. Die fliegenden Kameras waren startklar und alle erhoben sich, als der Hohepriester mit den Priestern erster und zweiter Klasse den feierlichen Einzug hielt. So manches Raunen ging durch die dicht gedrängten Gästemassen und manches Frauenherz begann schneller zu schlagen, wenn Romhyno ins Blickfeld kam. Sein Blick ging zum Platz der Herrscherin, doch der blieb noch leer. Man hatte ihm gesagt, die Herrin fühle sich nicht sehr wohl. Sie würde später eintreffen, wenn es ihr möglich wäre. Romhyno machte sich Sorgen, doch er ließ sie sich nicht anmerken.
Die Musikanten begannen zu spielen und aus der erst sehr unsicher klingeneden Melodie wurde ein flotter Rundtanz. Eine leise Frauenstimme erklang hinter Romhyno und er wandte sich um. Vor ihm stand ein zierliches Mädchen, knickste höflich und sah ihn mit einem schelmischen Augenaufschlag an.
»Würdet Ihr mir die Ehre geben, diesen Tanz mit mir zu absolvieren?«
Romhyno nickte und deutete auf die aufgebaute Tanzfläche. Er legte den Arm um die Taille der jungen Frau, drückte sie eng an sich und begann den Tanz. Hatte er vorerst noch gedacht, sie würde schon bald ausser Atem sein, sah er sich bald enttäuscht. Beinahe wäre er selbst durch ihre temperamentvollen Drehungen etwas ausser Atem geraten.

»Ich habe wahre Wunder über die Ausdauer von Shandongs Männer gehört. Ihr kommt etwas schnell außer Puste! Dabei wäre Eure Lebensweise ja gesund, oder?« Sie legte schelmisch den Kopf zur Seite und als sie Romhynos verdutztes Gesicht sah, lachte sie.
»Entschuldigt, ich weiß, ich bin etwas frech. Aber ich habe bereits vor zwei Wochen mir vorgenommen, ich würde meine Eroberungen machen!«
Romhyno hörte die leicht schleppende Stimme und wusste Bescheid.
»Ich denke, du hast für heute genug Eroberung gemacht. Du solltest der Raschgadmilch nicht soviel zusprechen. Dabei kann man leicht die Kontrolle verlieren!«
»Ich habe noch nie in meinem Leben die Kontrolle verloren!« Doch um wie ihre Antwort Lügen zu strafen, verdrehte sie die Augen und sackte zusammen. Romhyno konnte sie gerade noch davor bewahren, sich den Kopf am harten Boden anzuschlagen. Er winkte, als die Musiker unterbrachen und sie fuhren fort, als wäre nichts geschehen. Romhyno nahm die junge Frau hoch und trug sie nach innen, in einen der kleinen Ruheräume. Er war froh, dass es nicht weit war. Denn er erregte mit seiner Last Aufsehen. Doch kaum war er aus der Festmenge verschwunden, widmeten sie sich wieder ihrer Freude. Inzwischen legte Romhyno die noch immer bewußtlose Frau auf eines der Betten und fuhr mit seiner Hand dicht über ihren Körper entlang. Er revidierte seine Meinung, dass sie zu viel von der vergorenen Milch getrunken hatte. Ihre Ohnmacht hatte eine ganz andere Ursache. Er wartete, an ihrer Seite auf dem Bett sitzend, bis sie aufwachte.
Nach mehreren Minuten zuckten ihre Augenlider, ihr Gesicht wurde sehr bleich und sie setzte sich mit Schwung auf. Sie öffnete den Mund und erbrach sich über ihr Festkleid. Romhyno hatte es kommen gesehen, war schnell zur Seite hin aufgesprungen und konnte noch im letzten Moment eine Schale unter ihren Mund halten. Es würgte sie noch mehrere Male und als sie sich mit Schweiß auf der Stirn zurück sinken ließ, räumte Romhyno die Schale mit dem Erbrochenem weg. Er holte ein feuchtes Tuch vom Bad, das neben dem Ruheraum lag und wischte ihr erst das Gesicht, danach die Spuren von ihrem Kleid. Tränen liefen über ihr Gesicht und sie zitterte. Romhyno setzte sich wieder neben sie und sah sie ernst an.
»Hast du es jemand gesagt?«
»Was gesagt?«
»Dass du Leben in dir trägst? Und dass dieses Leben gefährdet ist?«
»Wie meinen Sie das?«
Romhyno sah sie ernst an.
»Wie oft hast du bereits gedacht, jetzt würdest du dein Kind verlieren?«
»Ich denke nicht, dass Sie das was angeht!« Ihre Stimme, jetzt wieder fester, bekam einen trotzigen Unterton.
»Liegt dir so wenig an deiner Tochter?«
»Tochter? Wer Sind Sie, dass Sie mir so intime Fragen stellen?«
»Sagen wir, ich bin jemand, der sich Gedanken um dich macht. Weiß dein Gefährte, dass du sein Leben trägst?«
»Hören Sie, ich entschuldige mich, dass ich so frech war, Sie zum Tanz aufzufordern, aber Ihre Fragen gehen mir zu weit. Ich habe keinen Gefährten und werde auch nie einen haben. Mein Malheur war ein Unfall und ich habe nicht die Absicht dies an die große Glocke zu hängen!«
Kurz runzelte Romhyno die Stirn, als würde er nachdenken, was er mit dieser Antwort anfangen sollte, doch in Wirklichkeit hatte sein Paragehirn das Bild einer Gewaltszene empfangen. Das Kind unter dem Herzen der jungen Terranerin war unter ungewollten Umständen entstanden. Und Romhyno hatte etwas gegen Vergewaltigung. Diese Form der Nötigung war in seiner Zeit beinahe überall verboten und ausgerottet. Nur eben nicht überall. Er nickte. Dann stand er auf.
»Werden Sie mich jetzt anschwärzen?«
»Du verkennst die Situation, Mädchen. Ich schwärze niemanden an. Ich hole dir nur ein Glas Wasser!« Und damit ließ er sie allein. Sie wollte aufstehen, doch als ein heftiges Schwindelgefühl nach ihr griff, legte sie sich wieder hin.

Es dauerte nicht lange, da kam Romhyno wieder, in seiner Hand einen kunstvoll geschliffenen Glaspokal. Darin befand sich eine farblose Flüssigkeit und reichte ihn ihr. Sie sah skeptisch hinein, ergriff das Glas dann aber und trank vorsichtig. Mit durstigen Zügen trank sie es leer. Von draußen, durch das offene Fenster wehten Musikfetzen herein.
»Ich halte Sie von der Feier ab!«
»Da hast du recht. Ich werde dich kurz alleine lassen. Du ruhst dich noch weiter aus, ich komme so schnell als möglich wieder!« Romhyno stand auf und ging.
Er betrat wieder den Festplatz und so manches Augenpaar folgte ihm. Er sah sich um und entdeckte nun auch seine inzwischen gekommene Gefährtin. Sie neigte den Kopf, als sich ihre Blicke kreuzten und sie winkte ihn mit einer kurzen Handbewegung zu sich. Romhyno drängte sich durch die umstehenden Festgäste und man machte ihm meist ehrfürchtig Platz. Als er bei Alexa angekommen war, beugte sie sich dicht an sein Ohr und fragte:
»Was hat dich vom Platz geführt? Muss ich mir Sorgen machen?«
»Machst du dir etwa Sorgen? Um mich?«
»Muss ich mir, Hohepriester?«
Romhyno wurde übergangslos ernst, trat einen Schritt zurück und neigte leicht den Kopf.
»Nein, Mahuna. Es besteht kein Grund zur Sorge. Eine junge Solaris ist in meinen Armen beim Tanz zusammen gebrochen. Sie ist schwanger und es geht ihr nicht so gut. Ich fürchte, dass sie noch heute Nacht die Tochter verlieren wird.«
»Kannst du etwas daran ändern?«
»Ich könnte ... eventuell!« Romhynos nachdenklicher Blick wurde hart, als ihm der Sinn der Frage aufging. Sein Gesicht, das eben noch weich und besorgt wirkte, verhärtete sich.
»Ihr wisst, was dies bedeuten würde? Verlangt Ihr etwa von mir, das Gesetz erneut zu brechen?«
»Nicht zu brechen, nur zu beugen! Was regst du dich auf, Hohepriester? Es wäre nicht das erstemal!«
Die Herrscherin schwieg erschrocken, als sie sah wie sich Romhynos Gesicht in Sekundenschnelle mit Blässe überzog. Er verneigte sich steif und wandte sich abrupt ab.
»Das habe ich nicht so gemeint, Hohepriester!« rief sie ihm nach, doch Romhyno blieb nicht stehen. Er trat an den Gabentisch, hob die Arme und die Musik verstummte. Ebenso zogen sich die Tanzpaare von der Bühne zurück und die Kameras kamen näher geflogen. Romhyno atmete tief durch, schob die beleidigende Äußerung seiner Gefährtin weit weg von sich, konzentrierte sich und fühlte die Flamme in sich erwachen. Sie züngelte gleich darauf auf seiner Handfläche, er warf sie spielerisch in die Luft und sie fiel auf die angerichteten Ernteergebnisse. Sofort fingen diese Feuer und verbrannten unter größerer Rauchentwicklung und unter dem Jubel der Anwesenden zu Asche. Manchmal konnte man unterdrücktes Husten vernehmen, wenn der einsetzende Wind den Rauch zu einem der Zuseher trieb. Bald ergriff der Wind jedoch die Asche, wirbelte sie vom Tisch, der keinerlei Beschädigung durch das Feuer aufwies und die Musik begann erneut zu spielen. Romhyno ließ die Arme sinken, warf seiner Gefährtin einen schnellen Blick zu, wandte sich brüsk um und ging.

 

Dass die anderen so von ihm dachten, das wusste Romhyno, doch dass sich Alexa, seine Alexa, zu so einer Bemerkung hinreissen ließ, hätte er nie für möglich gehalten.
Romhyno verließ das Fest, das auch ohne seine Anwesenheit weiter ging und begab sich zu der jungen Frau. Sie lag mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Bett und ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. Mit raschen Schritten trat er neben sie und diesmal legte er seine Hände direkt auf den Bauch. Doch da konnte er nichts mehr machen. Das Leben in ihr hatte aufgehört zu existieren und der Körper war dabei, den toten Klumpen abzustoßen. Kurz glitten Romhynos Gedanken zu seinem eigenen Verlust damals, doch er riss sich gewaltsam los und versuchte den Schaden so eng zu begrenzen, wie möglich. Er nahm ihr den Schmerz, indem er diesen durch sich selbst fließen ließ. Und er holte einen der Priesteranwärter, um das bald ausgestoßene, blutige Etwas zu entfernen.
Die junge Solaris, von der er noch immer keinen Namen wusste, legte sich danach zur Seite, presste die Fäuste an ihre Augen und begann haltlos zu weinen. Romhyno setzte sich neben sie, legte ihr eine Hand auf die Schulter und schwieg. Er wusste, Worte konnten hier nicht helfen, nur zerstören. Mit seiner Hand auf der zuckenden Schulter wollte er nur vermitteln, dass sie jetzt in ihrem Schmerz nicht alleine war.
Es dauerte sehr lange, bis sie sich etwas beruhigte und das Schluchzen leiser wurde. Romhyno merkte, wie sich ihre Gedanken verwirrten und sie endlich in einen leichten Schlaf sank. Dabei steckte sie einen Daumen in den Mund, wie ein kleines Kind, das sich in den Schlaf geweint hatte. Immer wieder erschütterten kleine Schluchzer ihren Körper. Romhyno zog seine Hand zurück, stand auf und holte eine leichte Decke. damit deckte er sie zu. Mit einer sachten Handbewegung beseitigte er die starke Rötung an ihren Augen und die aufgesprungenen Lippen. Er versetzte sie in Tiefschlaf, untersuchte sie noch einmal und bereinigte jenes in ihrem Inneren, das sich nicht ganz entfernen hatte lassen. Nur ihren ursprünglichen, jungfräulichen Zustand konnte er nicht mehr herstellen. Dann zog er sich einen Stuhl heran, setzte sich und bewachte ihren Schlaf. Nach einer Stunde rief er ihr Schiff und gab Bescheid, wo sie sei. Ihr wurden zwei Tage Landurlaub gewährt. Kurz gingen Romhynos Gedanken zu Alexa, doch er schob sie rasch wieder beiseite. Die Erinnerung an ihre kalten Worte tat ihm mehr weh, als wenn sie ihn beschimpft hätte.
Die Festlichkeiten gingen dem Ende zu, die Musik hörte auf, zu spielen und Ruhe zog in den Priesterbezirk. Romhyno stand auf, holte sich eine der kleineren Laternenlampen, entzündete die Kerze darin, diesmal mit einem Feuerzeug, setzte sich wieder und wachte weiterhin. Irgendwann erschien eines der Kinder, brachte ihm zu essen und verschwand wieder. Es war lange her, dass er Nachtwache gehalten hatte. Aber irgendwie fühlte er sich für dieses Mädchen verantwortlich.
Es begann zu dämmern, als Romhyno in einen leichten Dämmerschlaf sank. Sollte etwas sein mit seiner Patientin, würden es ihm seine inneren Sensoren melden.

 

 

Romhyno sah von seiner Arbeit auf, als ein Schatten auf ihn fiel. Vor ihm stand die junge Solaris, um sich zu verabschieden. Sie hatte sich die letzten Tage gut erholt und jetzt würde sie wieder mit ihren Kameraden abfliegen. Romhyno legte den Bericht zur Seite und stand auf.
»Ich möchte mich von Ihnen verabschieden und mich gleichzeitig bedanken, dass Sie mir das Leben gerettet haben. Ausserdem mich in einem Atemzug entschuldigen, dass ich so viel Umstände bei dem Fest gemacht habe!«
»Ich bin froh, dass es dir besser geht. Und deine Umstände beim Fest waren vergleichsweise klein, es hätten auch Piraten sein können!« Romhyno grinste kurz. Die Frau erwiderte das Grinsen, dann legte sie ihm die Arme um den Nacken, drückte sich kurz an ihn und gab ihm einen Kuss.
»Dies ist meine eigene Art, danke zu sagen! Übrigens mein Name ist Jennifer Ahrends!« Sie ließ Romhyno los, trat einen Schritt zurück, neigte einmal kurz den Kopf und ging. Romhyno sah ihr etwas erstaunt nach, dann grinste er. Diese Art von Dankeschön könnte es öfters geben.
Romhyno setzte sich wieder, nahm den Bericht erneut zur Hand und bemühte sich, den verlorenen Faden wieder zu erlangen. Doch noch immer war es ihm nicht vergönnt. Erneut fiel ein Schatten über ihn. Als er aufsah, blickte er direkt ins Gesicht seiner Gefährtin. Er stand auf und schluckte. Wenn sie selbst sich her bemühte, musste etwas gravierendes passiert sein!
»Mahuna! Was kann ich für Euch tun?«
»Die Frage ist nicht, was du für mich tun kannst, sondern was ich für dich tun muss! Ich möchte mich entschuldigen bei dir!«
Romhynos Blick wurde groß. Sie entschuldigen? Bei ihm? War seine Gefährtin krank? Wie konnte es sonst sein, dass sie sich höchst persönlich bei ihm entschuldigte?
»Wie soll ich das verstehen, Mahuna?«
»Wie ich es sage, Romy. Es tut mir leid, wirklich bis in meine Seele leid, dass ich so gemein zu dir war. Ich habe erst im nachhinein realisiert, was ich zu dir gesagt habe. Und vor allem, wie es bei dir angekommen sein musste. Tut mir wirklich leid. Und wenn du jetzt böse mit mir wärst, könnte ich es auch verstehen.«
In den schönen Augen Alexas schimmerten Tränen. Bei deren Anblick wurde Romhyno weich. Sie sollte nicht wegen ihm weinen. Ohne ein Wort zu sagen, legte er seine Arme um Alexa, drückte sie an sich und spürte, dass sie zitterte.
»Ich habe nichts zu verzeihen, Mahuna. Ihr seid nicht verpflichtet, dass Ihr Euch bei mir entschuldigen müsst!«
»Doch Romy, denn ich habe unbedachterweise dir sehr weh getan. Und das wollte ich nicht. Ich liebe dich doch!« Alexas Stimme brach. Romhyno nahm sie fester an sich und sagte dicht an ihrem Ohr:
»Das weiß ich doch, ich fühle das gleiche für dich, Lexa!«
»Ich möchte dich nicht, wodurch auch immer, verlieren. Oder durch Dummheit verletzen!«
»Ach Mahuna! Du wirst mich nie verlieren! Und was das Verletzen betrifft, nun ja ...! Weißt du, ein Hohepriester ist Kummer gewöhnt. Vor allem dieser!« Ein leises Lachen unter Tränen antwortete Romhyno.
»Du bist echt süß, Hohepriester!«

»Das kann ich nur bestätigen!« Die leise Stimme, in der ein verstecktes Lachen perlte, ließ beide zusammen und auseinander fahren. Romhyno runzelte die Stirne, denn in den Garten kamen normalerweise keine Fremden.
»Bin ich das für dich?«
Romhyno sah genauer hin, dann wurden seine Augen weit.
»Raffi!«
»Eben dieser! Bist du krank, dass du so lange benötigst, mich zu erkennen? Oder tat dir die enge Umarmung meiner Schwester nicht gut?«
»Du warst nicht angemeldet, Bruder!«
»So, muss ich das jetzt etwa?«
»Wenn du in den Genuss einer herzlichen Begrüßung kommen möchtest, solltest du das nächste Mal darüber nachdenken!«
»Na, schön. Weil du es bist. Und jetzt lass dich einmal drücken!« Bevor Romhyno noch etwas sagen konnte nahm ihn der groß gewachsene, schlanke Mann mit den langen Haaren und dem asketisch wirkendem Gesicht in die Arme und drückte ihn fest.
»Lass ... mir zum ... Luftholen Platz!« ächzte Romhyno und der Andere ließ ihn lachend los.
»Tja, wenn du so etwas profanes, wie Luft benötigst!«
»Oh Raffi, Raffi! Du wirst dich auch nicht ändern!«
»Na bitte schön, wenn möglich, nicht! Ich habe dir übrigens einen netten Besucher mit gebracht!«
»Ist er nett in deinen Augen, oder auch in meinen?«
»Entscheide selbst!« Raffael trat etwas zur Seite und gab den Blick auf einen ebenfalls schlanken, großen Mann frei, bei dessen Anblick Romhynos Gesicht rot entflammte. Das Gesicht des anderen verzog sich zu einem warmen Lächeln und er streckte die Arme aus. Ohne nachzudenken schritt Romhyno hin und kuschelte sich an den Begleiter Raffaels. Dieser schloss seine Arme um den Hohepriester und seine Augen glitzerten vor versteckten Tränen.
»Patrick!«
»So lange nicht gesehen, und trotzdem gleich wieder erkannt! Ich grüße meinen Ziehsohn, Romy!«
»Was macht ihr beide hier?« Romhyno ließ seinen Ziehvater los, trat einen Schritt zurück und seine Hand berührte die Alexas. Unwillkürlich verbanden sich ihre Finger miteinander. Die beiden Besucher merkten es wohl, sahen sich kurz lächelnd an und nickten sich zu. Ja, der Zeitwächter Raffael und das englikanische Schlaftier Patrick waren zufrieden.
»Wir sind eigentlich auf der Durchreise und dachten uns, wir besuchen mal den Shandong'schen Hohepriester und seine liebreizende Herrscherin!«
»Aber sicher!« Über Romhynos Gesicht glitt ein belustigtes Grinsen. Sein Blick suchte den Alexas und auch sie lächelte.

»Dies ist gewiss ein hübsches Plätzchen, sich von der Mühsal des Tages auszuruh'n, doch würde ich es vorziehen, wenn der Hohepriester uns endlich in seine Gemächer bitten würde!« Raffaels Augen glitzerten vor Vergnügen, als er so sprach. Romhynos Blick wurde kurz starr, dann meinte er - ziemlich unhohepriesterlich -:
»Hä? Seit wann redest du so geschwollen?« Dann fiel ihm ein, wer da eigentlich vor ihm stand und er wurde verlegen.
»Entschuldige, war nicht böse gemeint!«
Doch nur belustigtes Lachen der beiden Besucher schallte ihm entgegen.
»Was glaubst du, wie lange Raffi an diesem Satz gebastelt hatte? Es hat ihn immer wieder geschüttelt vor unterdrücktem Lachen. Aber es ist sicher keine schlechte Idee, wenn wir rein gehen, es wird in den nächsten Minuten Regen geben!«
»Und woher willst du das wissen?«
Als Antwort deutete Patrick nach oben. Dunkle Wolken hatten sich über den Köpfen der vier Personen gebildet und ein kleiner Tropfen traf Romhyno auf die Stirn. Seine Finger lösten sich von denen Alexas, er verneigte sich kurz und warf ihr noch einen tiefen, warmen Blick zu. Sie lächelte kurz, verneigte sich leicht und verließ Romhyno und seine Besucher. Abermals klatschte Romhyno ein Tropfen auf die rechte Wange und so machten sich die drei Männer auf, den Garten zu verlassen. Romhyno führte seine Besucher zu seinen eigenen Räumen, ließ sie Platz nehmen und orderte etwas zu essen und zu trinken an.
»Mach dir nicht zu viel Umstände, wir werden nicht lange bleiben. Die Raumpiraten haben wieder ihre gewohnte Tätigkeit aufgenommen und eine der kleineren, weiter draußen liegenden Siedlungswelten überfallen und beinahe leergeräumt. Um eine der anderen, in dem System dort befindlichen Welten hatte sich ein starker Psionenring gelegt und bedroht die dort ansässige Bewohnerschaft. Einige der Kinder, die besondere Gaben eingepflanzt bekamen, werden von mir gelehrt werden, wie sie den Ring sprengen können. Sie haben es bereits in drei der von mir besuchten Zeitebenen geschafft. Nur in einer haben sie versagt. Doch in dieser hier werden sie nicht versagen!«
Es klopfte und einige der Anwärterpriester kamen auf das auffordernde Brummen des Hohepriesters in den Raum. Sie waren beladen mit großen, runden Tabletts voll Brot, Käse, Obst und gedünstetem Gemüse, das heiß und einen starken Duft verströmend auf einem der Tabletts lag. Einer hielt in seinen Händen einen großen Glaskrug, gefüllt mit einer grünen Flüssigkeit und in der anderen drei Becher. Sie stellten alles auf den Tisch, verneigten sich und gingen. Kaum hatte sich die Türe hinter dem letzten geschlossen, griff Romhyno zu dem Krug, befüllte jeden der Becher mit der grünen Flüssigkeit und bot zwei seinen Gästen an.
»Danke schön, Rommy!« Patrick nahm seinen mit einem leichten Nicken entgegen und seine braunen Augen weiteten sich kurz, als sein Finger dabei den Romhynos berührte. Um den sich rasch aufbauenden Seelenkontakt abzublocken, zog er schnell seine Hand zurück. Doch Romhyno schien nichts gemerkt zu haben. Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht des Hohepriesters und sein Blick ging zu Patrick. Er zog eine Braue hoch und ein spöttisches Grinsen wurde aus dem Lächeln. Patrick senkte den Blick, denn ihn hatte plötzlich eine heftige Unsicherheit überfallen. Das war schon immer so, selbst als Romhyno noch ein kleines Kind war, ehe man ihn holte, um auf Shandong zu einem Priester ausgebildet zu werden, konnte er Patrick meist in Verlegenheit bringen. Egal, ob mit einem Wort, seinen seltsam dunkelgrauen Augen mit dem hypnotischen Flair oder einfach mit einer Geste. Patrick hatte sich oft gefragt, ob Romhyno wirklich das Ergebnis dieser Liebesnacht zwischen dem Sohn Robins und diesem Terraner war. Oder ob er nicht vielmehr der Sohn Hellas und des letzten Angehörigen der »Sucher« war. Es würde wenigstens seine Gaben erklären. Und warum er sowohl bei Frauen, als auch bei Männern einen tiefen Eindruck hinterließ. Als Patrick seinen Blick hob sah er mitten in die hypnotischen Augen seines Ziehsohns. Doch das spöttische Grinsen war verschwunden. Jetzt war sein Blick nachdenklich. Patrick runzelte die Brauen.
»Lauscht du etwa?«
»Ich mache mir eben Sorgen!«
»Worüber?«
»Über ... dich!« Doch Patrick hatte den starken Eindruck, als hätte Romhyno etwas anderes sagen wollen.
Romhyno sah seinen Ziehvater nachdenklich an. Er hatte schon als Kind dessen Gedanken vernehmen können. Obwohl sich Patrick angewöhnt hatte, in seiner - Romhynos - Gegenwart nichts zu denken, was den Jungen nichts anging, konnte er schon damals nicht verhindern, dass Romhyno »mithörte«.

»Lasst uns essen und nicht in der Vergangenheit wühlen. Ich denke, du hast einen wirksamen Schutz gegen die Raumpiraten, sollten sie hier eines Tages auftauchen, oder?« Raffael hatte sehr deutlich die kurze Rückblende Patricks gemerkt und auch dass Romhyno dessen Gedankengang folgte. Er wusste, dass dies nicht aus Unhöflichkeit einem Nichttelepathen gegenüber geschah, sondern dass Romhyno nicht anders konnte. Patrick und er waren ebenso wie Raffael und der Hohepriester durch Seelenverbindung vereint. Und Romhyno liebte seinen Ziehvater, deshalb war er auf permanenter Überwachung in dessen Nähe. Und das englikanische Schlaftier dachte auch wirklich ziemlich laut! Kurz glitt ein Lächeln über Raffaels Gesicht, dann wurde er wieder ernst.Es kam nicht oft vor, dass er sich so gehen lassen konnte. Als einer der wenigen übriggebliebenen Energiewächter kannte er meist nur ernste Situationen. Aber Raffael war ja nicht nur Romhynos Freund, sondern auch durch Familienbande mit ihm verbunden.
»Ja, ich denke schon. Aber, ehrlich, was ist in der heutigen Zeit schon sicher?« Romhyno biss ein Stück vom Käse ab und seine Gedanken glitten kurz zu Alexa zurück. Man sah ihr deutlich an, dass sich wieder Leben unter ihrem Herzen befand. Diesmal würden es zwei sein. Romhyno runzelte die Stirn. Er kannte Shandongs Gesetze so gut, dass er sich Sorgen machte. Sollten wirklich beide Kinder geboren werden, müssten beide Mädchen sein. Es wurde im Herrscherhaus kein Knabe geduldet. Daher würde man sie töten. Oder weit weg schicken. Kurz dachte Romhyno an das verlorene Kind und starke Trauer durchzuckte ihn. Doch er schob diesen unerfreulichen Gedanken beiseite und wusste schon jetzt, sollte eines wirklich ein Knabe sein, würde er es retten und als Priester erziehen. Schlimm nur, wenn sie beide Knaben wären. Doch das lag noch in der Ferne.
Romhyno biss erneut in den Käse, verschluckte sich und musste husten. Sofort schlugen ihm seine beiden Gäste freundschaftlich und ausgiebig auf den Rücken. Mit einer Handbewegung forderte er sie auf, aufzuhören und meinte mit hochrotem, schmerzverzerrtem Gesicht:
»Wenn man hier nicht erstickt, wird man von seiner eigenen Familie erschlagen!«
Schallendes Gelächter antwortete ihm. Kurz stutzte Romhyno, dann lachte er mit.

 

Das lautstarke Heulen einer Sirene schnitt das Lachen der Freunde mitten drinnen ab. Romhyno hob den Kopf und schloß die Augen. Raffael stand wortlos auf, nickte seinem Freund zu und meinte:
»Die Piraten sind da! Wir sehen uns später vielleicht noch!« Er ergriff die Hand Patricks und verschwand im Bruchteil einer Sekunde. Romhyno nickte und öffnete die Augen. Er zuckte zusammen, als er irgendwo in seiner Nähe eine heftige Explosion hörte und auch spürte. Er verließ seinen Raum und begab sich auf den Korridor. Dieser war voll ängstlicher Anwärter und auch viele der Kinder waren darunter. Er hob die Hand und das erregte Stimmengewirr verstummte.
»Ihr geht alle auf eure Plätze zurück. Einige Raumpiraten greifen uns an und ich möchte nicht, dass einem von euch etwas passiert. Henning, du führst die Kinder in die Bunker und du Frezel begibst dich mit deinen Leuten in die abgeschirmten Bereiche!«
»Und was ist mit Euch, Mahun?«
»Kümmere dich nicht um mich, Frezel, mir passiert nichts. Ich muss den Schirm über Shandong verstärken und dabei kannst du mir nicht helfen!«
»Wenn dem Hohepriester etwas passiert, dann ...!«
»Halte dich nicht auf, du hast zu tun!« Die Stimme Romhynos wurde schärfer. Der ältere Priester senkte den Kopf und die Augen. Doch die gerunzelte Stirn zeugte davon, dass er nicht sehr viel davon hielt, dass sich ihr Führer in Gefahr begab. Aber er musste den Befehl ausführen. Er nickte, verneigte sich und zuckte unter einer neuerlichen Explosion zusammen. Diese war sehr viel näher gewesen. Er winkte hektisch mit der Hand und seine Leute folgten ihm, als er den Korridor räumte.
Es dauerte nicht lange, so stand Romhyno alleine vor seinem Raum und atmete auf. Er konzentrierte sich kurz und trat einen schnellen Schritt nach vor ...
... mitten in einen nur mit einer kleinen Notbeleuchtung erhellten kleinen Raum. Es befand sich darin nur eine Konsole mit einem darüber festgemachten Bildschirm. Romhyno trat an die Konsole, griff in die darin befindliche Vertiefung, zog den darin deponierten GEVER hervor und setzte ihn sich auf die Stirn. Sofort schlossen sich die Kontakte und Romhyno »sah« den angreifenden Feind. Ein Schiff in Tropfenform feuerte aus allen Rohren gewaltige Salven auf Shandongs Oberfläche. Ein leicht blauflimmernder Schutzschirm lag um das Schiff. Romhyno versenkte sich tiefer und ließ seinem Geist freien Lauf. Er »fädelte« sich in das Energiefeld und landete in den Schildemittern. Dort führte die fremdartige Energie zu einer Überladung und der Emitter verging in einer grellen Explosion. Ein kleines Loch entstand im Schutzschirm und gewährte nun dem Abwehrstrahl von einem der zahlreich unter der Oberfläche Shandongs angebrachten Abwehrforts den Eintritt. Romhynos Geist zog sich zurück und ließ die GROßE MUTTER ihre Arbeit machen. Sie war besser in der Lage, die Piraten zu stoppen und zu vertreiben. Er nahm den GEVER wieder vom Kopf und taumelte kurz. Die Arbeit mit diesem Gerät erforderte viel mentale Kraft und Disziplin. Romhyno verspürte so starken Hunger, dass er sich beinahe wand, als der Schmerz seine Eingeweide berührte. Doch noch war er nicht fertig. Er berührte abermals die Konsole, der Bildschirm erhellte sich und zeigte nun den mit dunklen Wolken verdeckten Himmel. Romhyno tastete den Benutzungscode in die schmale Tastatur, die sich am unteren Rand der Konsole befand und kurz darauf zuckten vier grüne Lämpchen auf. Das unterschwellig vorhandene Summen mächtiger Aggregate unter Romhynos Füßen, tief unter Shandongs Oberfläche erhöhte sich kurz zum hörbaren Rauschen und brachte die Luft in dem kleinen Raum zum Schwingen. Kaum hatte sich der Schutzschirm etappliert, sank es erneut beinahe in den unhörbaren Bereich ab. Romhyno atmete auf, seine Arbeit war getan. Er griff sich unbewußt an den Bauch, als sein Magen vernehmlich knurrte. Kurz konzentrierte er sich, er brauchte die Konsole nicht mehr berühren, alles weitere würde der Planetenweite Computerkomplex, die GROßE MUTTER erledigen und war gleich darauf vor seinem Raum angekommen. Rasch ging er hinein und griff nach dem erst bestem, das er auf den noch immer dort stehendem Tablett erreichte. Hungrig machte er sich über den Rest her. Die Angriffe waren gestoppt und Shandong hatte eine Atempause erhalten. Er sah erstaunt auf, als eine neuerliche Explosion den Boden erschütterte. Gleich darauf wurden draußen laute Rufe laut. Romhyno ließ das Stück Brot sinken und wollte zur Tür, als diese auch schon aufgerissen wurde.

»Mahun, schnell! Die Mahuna hat sich so stark erschrocken, dass die Wehen eingesetzt haben. Viel zu früh!«
Romhyno nickte. Er verließ seine Räume und lief mit dem Priester mit. Vor der Tür, wo dahinter die Räume seiner Gefährtin lagen, trennten sich die Wege. Der Priester zog sich zurück und Romhyno klopfte kurz an. Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen und eine der Frauen Alexas zog ihn in den Raum dahinter. Ihr Gesicht war von heftigen Weinen ziemlich rot und verschwollen. Romhyno folgte ihr bis in den innersten Zirkelraum, in dem Alexa ziemlich blass im Gesicht in einem optisch viel zu großem Bett lag. Die beiden Hebammen, die schon bei Akiko dabei waren, zogen sich einen Schritt zurück, als Romhyno näher trat, sich neben das Bett kniete und Alexas Hand ergriff.
»Lass es nicht zu, dass ich diese Kinder wieder verliere, bitte!« Alexas Stimme war leise und schwach. Sie zitterte. Romhyno konnte die starke Verzweiflung seiner Gefährtin spüren und auch verstehen. Er nickte, dann stand er auf, setzte sich dicht neben Alexa aufs Bett und begann sich zu konzentrieren. Ganz schwach spürte er die geistige Kraft der beiden Kleinen. Unbewusst registrierte er, dass beide Ungeborenen Knaben waren. Er ahnte, dass er wieder einmal das Gesetz, wenn schon nicht brechen, dann aber doch biegen musste. Er legte seine Hände fest um den etwas aufgetriebenen Leib seiner Gefährtin, konzentrierte sich stärker und leitete die Wehen durch sich selber. Langsam beschleunigte er den Geburtsvorgang und es dauerte dann auch nicht mehr lange, da glitt einer der Knaben aus dem Geburtskanal. Eine der Hebammen hatte sich bereits mit den traditionellen Reinigungstüchern und der Geburtsdecke neben Romhyno gestellt, nahm den Jungen ihm ab und begann mit der Reinigungsprozedur. Nach relativ kurzer Zeit wurde auch der zweite der Knaben geboren. Die zweite Hebamme nahm sich nun dieses Kindes an und Romhyno versetzte seine Gefährtin in Tiefschlaf, damit sie sich von dieser raschen und wirklich zu frühen Geburt erholen konnte.
»Was passiert mit den beiden Kindern?«
»Ich benötige immer neue Anwärter. Ich werde den schwächeren Knaben erwählen. Was mit dem zweiten Kind passiert, ist durch das Gesetz geregelt.«
Romhyno senkte kurz die Augen und biß sich unbewußt auf die Lippen, als der Schmerz einsetzte, der seine unbedachte Lüge begleitete. Er hatte nicht vor, dieses Kind zu töten. Doch dem Gesetz musste trotzallem Genüge getan werden. Er war froh, dass zur selben Zeit eine seiner Priesterinnen eine Totgeburt hatte. Romhyno hatte vor, die beiden Kinder auszutauschen. Doch das brauchte die Hebamme nicht wissen, und auch sonst keiner.

Es war alles für das Ritual vorbereitet. Zwei Priester standen an der Tür zum Altarraum. Sie würden als Zeugen fungieren, dass der Hohepriester sich auch wirklich an die Gesetze hielt. Denn das war bei diesem Mann nicht immer so. Er bog sich schon öfters die herrschenden Gesetze nach seinem Willen. Die Tötung des Neugeborenen würde auch in die übrigen Winkel des Systems übertragen werden, sodass die Bewohner derselben auch merkten, dass der Hohepriester über jeden Verdacht erhaben war.
Romhyno wünschte sich nur, dass er schnell genug war, um den Tausch und die Tötung des Kindes vor den unbestechlichen Kameras verbergen konnte. Seine einzige Vertraute war Tochter Akiko. Sie war auch zwei Tage vorher an ihn heran getreten und hatte ihn gebeten, er möge ihren Bruder nicht töten. Auch wenn dies nicht Gesetzeskonform wäre. Romhyno wollte sie erst vertrösten, dann entschied er sich jedoch dazu, ihr sein Vorhaben zu erklären. Er hatte schon immer einen besonderen Draht zu Akiko gehabt und seit er sie in sein Vertrauen gezogen hatte, liebte sie ihn noch mehr. Es tat nur beiden leid, dass sie nicht auch die Herrscherin mit einbeziehen konnten. Alexa würde diesen, in ihren Augen, Verrat nicht dulden.
»Mahun! Es ist soweit!«
Romhyno nickte. Er hatte das traditionelle Zeremonienkleid an. In seiner rechten Hand hielt er den Lebensdolch, in der anderen das Todestuch. Darin würde er den Körper des Knaben einwickeln.
»Man möge das Kind bringen!« Romhyno schluckte und hoffte nur, die Kamera würde das verräterische Zittern der Hand mit dem Dolch nicht aufzeichnen. Die Türe öffnete sich und leises Babyweinen wurde hörbar. Akiko hielt in ihren Armen den kleinen Bruder. Sein Zwilling war bereits zu den Ammen im Priesterbezirk gebracht worden. Romhyno sah seiner Tochter in die Augen und sie sah ihn offen an.
»Legt es auf den Altar!«
Akiko trat näher, legte das Kind auf den Steinaltar und trat wieder einen Schritt zurück. Sie senkte die Augen und erhöhte ihren Gedankenschirm.
Romhyno sah auf seinen Sohn nieder und unwillkürlich traten ihm Tränen in die Augen. Eine lief ihm über die Wange, als er die leisen Tastversuche spürte, mit denen dieses Kind Kontakt zu ihm aufnahm. Er räusperte sich und atmete tief ein und aus. Die Kamera kam näher und die beiden Wachen an der Tür wurden noch aufmerksamer, als sie es ohnehin waren.
Romhyno hob den Dolch und dieser begann zu glühen. Ein leises Singen erklang und Romhyno wusste, der Lebensdolch war bereit, dieses neue winzige Leben für immer auszulöschen. Sein Blick suchte erneut die Tochter und er hätte beinahe erleichtert aufgestöhnt, als sie leicht nickte. Der Dolch hob sich noch etwas höher, dann stieß er auf den Körper des Sohnes nieder, der noch keinen Namen trug. Dicht über dem Herzen des Kindes verharrte der Dolch und der Knabe begann just in diesem Moment zu schreien. Doch Romhyno hatte vorgesorgt. Mit der anderen Hand führte er das Kind in Tiefschlaf und der Schrei hörte wie abgeschnitten auf. Sofort legte er den Dolch weg, deckte das nun schlafende Kind mit dem Todestuch zu und nickte Akiko zu.
»Man möge den toten Körper für die Bestattung nach draußen bringen!«
Akiko nickte, trat zum Hohepriester hin und nahm den Säugling unter dem Totentuch, um ihn in Sicherheit zu bringen. Romhyno folgte ihr und in seinem Schatten gingen die beiden Priester und die Kamera folgte.
Draußen, auf dem Bezirkvorhof war bereits ein kleiner Holzhaufen aufgerichtet und darauf lag der Körper mit dem Totentuch bedeckt. Romhyno nickte der Priesterin zu, die neben dem Haufen stand und diese zog das Tuch von der Kinderleiche. Die Kamera flog so dicht heran, dass sie jede noch so kleine Falte in dem bleichen Kindergesichtchen einfing. Auch die nur wenig blutende Wunde in der Herzgegend. Einer der Heiler untersuchte den Kinderkörper, dann schüttelte er den Kopf. Das Kindchen war definitiv tot! Romhyno rief die Heilige Flamme und diese verzehrte den Körper des Säuglings. Es dauerte nicht lange, dann stand der Holzhaufen auch in Flammen, doch ihn unter Kontrolle zu halten, war nicht mehr Aufgabe Romhynos. Der Hohepriester verließ den Hof und begab sich zu seinen Räumen. Dort wartete bereits Akiko mit dem noch immer schlafenden Kind. Romhyno nahm beide kurz in seine Arme und strich Akiko sanft über ihr dunkles Haar.
»Ich danke dir!«
Akiko lächelte ihn kurz an, übergab ihm das Kind und verließ ihn. Romhyno sah auf seinen schlafenden Sohn und er meinte leise:
»Dominik sei dein Name. Angelo der deines Bruders. Um keinen von euch beiden zu gefährden, werde ich mir wieder etwas ausdenken müssen. Aber darin habe ich bereits eine gewisse Meisterschaft entwickelt. Und nun werde ich dir dein Lebensband einsetzen und die Perlen der Weisheit auffädeln!«

Romhyno trug seinen Sohn wieder zurück in den Altarraum. Dieser war nun leer. Romhyno strebte zu der kleinen, seitlich hinter einer der Säulen versteckt angebrachten Tür, öffnete sie und betrat den dahinter liegenden Raum. Er schloß die Tür und versperrte sie vorsichtig. In dem Raum befand sich nur ein schmales Bett, daneben stand ein Kästchen und in diesem wurden die Lebensbänder und die Perlen der Weisheit aufbewahrt. Romhyno legte seinen noch immer schlafenden Sohn auf das Bett, zog ihm das Geburtskleidchen an, das bereits von Akiko gerichtet worden war und erst jetzt schlug der Kleine die Augen auf. Große goldene Augen starrten Romhyno erstaunt an. Dieser sah auf seinen Sohn nieder und wusste, dass jetzt noch einmal eine gefährliche Etappe kam. Beim Einsetzen des Lebensbandes konnte alles noch schief gehen. Der Kleine konnte sterben, er konnte zu weinen beginnen, sodass Romhyno trotz allem noch entdeckt wurde. Doch Romhyno war fest entschlossen, dieses Kind zu seinem Stellvertreter zu machen. Ihn im Geist und der Tradition der Gesetze von Shandong und seines Hohepriesters zu erziehen.
Romhyno griff nach dem Lebensband, drückte es kurz an seine Stirn und aktivierte so das Band. Dann legte er das leicht zu leuchten beginnende Band auf die Stirn des Kindes. Es sah nach nichts aus, dieses Lebensband. Es schien nur ein schmaler Stoffstreifen mit verwirrend erscheinenden, verschlungenen Mustern zu sein. Langsam sank das Band unter die Haut des Kindes und Romhyno wusste, jetzt kam der empfindliche Zeitpunkt. Denn nun würde der Schmerz einsetzen. Der Kleine sog erschrocken die Luft ein, sein Gesichtchen verzog sich und seine Augen füllten sich mit Tränen. Romhyno legte ihm seine Hände auf die kleinen Schultern und er versuchte den größten Schmerz über sich zu leiten.
»Ich bitte dich, mein Sohn, nicht weinen. Der Schmerz geht gleich vorbei und wenn du weinst, erleidest nicht nur du den Tod, sondern auch ich und dann war alles umsonst!« Romhynos Flüsterstimme war zittrig. Als hätte das Kind ihn verstanden, entspannte sich das Gesichtchen wieder und Romhyno atmete auf. Gleich darauf begann sich das Kind zu winden und wimmerte so leise, dass man es draußen wirklich nicht hören würde. Im gleichen Maße wie das Band unter die Haut glitt und schließlich verschwunden war, im selben Maße verschlimmerte sich der Schmerz, der durch Romhyno floß. Erst als sich das Band etappliert hatte und sich mit den Psiregionen des Jungen verband, ebbte der Schmerz ab und Romhyno atmete erleichtert auf. Er ließ die Schultern des Kleinen los und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die erste Hürde war geschafft und die zweite würde jetzt leichter sein. Er griff zu dem Behälter der Perlen und holte die dünne Nadel heraus. Dann fädelte er jede der Perlen auf je drei Wimpern des Kindes. Dazu versetzte er den Jungen jedoch wieder in Schlaf. Zuletzt kamen noch die Striche seiner Herkunft auf die Lider. Einer golden, einer silbern, als Zeichen seiner herrschaftlichen Geburt. Und einer blau, um zu signalisieren, dass sein Geburtsstatus auf Shandong lag. Und dass er priesterlich erzogen wurde.
Nachdem Romhyno diese Arbeit verrichtet hatte, griff er nach der kleinen Klingel, schritt zur Tür und entsperrte sie. Akiko schien nur darauf gewartet zu haben, denn sie stand schon davor und kam gleich darauf herein. Romhyno nickte ihr zu und sie schenkte ihm eines ihrer Lächeln. Romhyno gab es innerlich einen scharfen Stich. Sie sah seiner Alexa so stark ähnlich! Der Hohepriester trat zurück, die junge Priesterin ging zum Bett, warf einen schnellen Blick auf das schlafende Kind und nahm es vorsichtig auf. Sie wandte sich um, verneigte sich vor ihrem Vater und Romhyno spürte, wie sie sich ihm gegenüber wieder verschloss. Nun war sie ganz Priesterin, die ihrem Hohepriester gehorchte. In der Priesterhirarchie war das Matriarchat aufgehoben und es herrschte entweder Gleichberechtigung oder kurz ein Patriarchat, wenn der oberste Meister der Priester das sagen hatte. Akiko senkte die Augen und ging mit geneigtem Kopf und raschen Schritten zur Tür. Sie würde das Kind jetzt dorthin bringen, wo ihm nichts mehr passieren konnte. Romhyno schloß hinter ihr die Tür und wollte den Raum verlassen.

HAST DU MIR ETWAS ZU SAGEN; HOHEPRIESTER ?

Romhyno zuckte zusammen.
»Nein, GROßE MUTTER!«

WIRKLICH NICHT ?«

Romhyno schwieg und verließ den Altarraum so schnell er konnte. Erst als er bereits seine Wohnräume betreten hatte, atmete er erleichtert auf. Er war erneut wieder einmal davon gekommen.

 

 

Die Sonne ging wie jeden Morgen hinter den Todesbergen auf und es versprach ein schöner Tag zu werden. Der zweite Mond Shandongs stand am Horizontrand und Romhyno sah nachdenklich zu ihm hin. Heute würden einige der Kinder ihren Ehrentag haben. Heute wurden sie von Kindern zu Erwachsenen. Darunter war auch Dominik. Er war einer der begabtesten Schüler des Hohepriesters und dieser hatte auch den Patenonkel Dominiks zu dessen Ehrentag eingeladen. Die Ankunft des Passagierschiffs »Airlady« wurde schon von vielen erwartet. Romhyno strich sich übers Haar und dachte kurz daran, dass er seine Gefährtin lange nicht gesehen hatte und der beginnende Tag ihn ihr wieder unter die Augen brachte. Obwohl zahlreiche Gespielen und Gespielinnen zur Verfügung standen, wollte Romhyno nur Alexa. Ihm als Hohepriester würden offiziell jedoch vier Frauen erlaubt. Doch er hatte sein Herz und seine Seele nur an eine verloren.
Romhyno begab sich in seinen Raum zurück und betrat danach den Baderaum. Es war schon das Wasser eingelassen und über einen Stuhl hingen bereits die Feierkleider. Davor standen die Sandalen, auf Hochglanz poliert. Rossel, sein persönlicher Badeknabe wartete bereits auf ihn. Romhyno erwiderte den ehrfürchtigen Gruß des Knaben mit einem leichten Nicken und einem schnellen Lächeln. Er öffnete seinen Mantel, entledigte sich der restlichen Kleidung und glitt mit einem erleichterten Seufzer ins heiße Wasser. Sofort folgte ihm Rossel, nahm die Schaumschale und begann seine Arbeit. Danach brachte er das Walkholz in Tätigkeit und schlußendlich wusch Rossel auch noch Romhynos Haare. Zu Beginn der Lehrzeit Rossels hatte Romhyno ihm gesagt, dass Rossel nicht verpflichtet war, den Hohepriester gesamt zu bedienen. Doch Rossel hatte dies als Abfuhr verstanden und war daraufhin in Tränen ausgebrochen. Seither schwieg Romhyno und genoß die kundigen Handgriffe.
Rossel stieg aus dem Becken, griff nach dem vorgewärmten Handtuch und hielt es vor Romhyno, als dieser ebenfalls das Becken verließ. Romhyno schlang sich das Tuch um die Hüften und griff nach dem zweiten, das ihm Rossel hin hielt. Damit trocknete er sich den Oberkörper und die Haare ab. Er übergab Rossel das feuchte Tuch und dieser folgte ihm in den Ruheraum, nachdem er das Tuch in den Schacht zur Waschküche gesteckt hatte. Romhyno nahm sich, kaum im Ruheraum angekommen, das Hüfttuch ab und legte sich bäuchlings aufs Bett. Rossel entsorgte inzwischen auch dieses Tuch, griff nach der Massageölflasche, gab sich wenige Tropfen auf seine Hände und begann seinen zweiten Teil der Arbeit. Seine schlanken aber kräftigen Finger massierten, kneteten und walkten die Körperpartien des Hohepriesters. Es war, als ahnte der Junge, wo die Verspannungen wären. Romhynos Stellvertreter hatte sich Rossel einmal ausleihen wollen, doch Rossel hatte so lange gefleht, bis Romhyno ihn nicht gehen ließ. Später hatte Romhyno erfahren, dass sein Stellvertreter einen starken Badeknabenverschleiß hatte. Denn sie mussten ihn nicht nur bedienen, sondern auch anderweitig zur Verfügung stehen. Und da sein Stellvertreter ein im Grunde brutaler Mann war, fürchteten sich die Kinder vor ihm. Wieso sie sich allerdings überschlugen, um den Hohepriester zu bedienen, konnte sich Romhyno nicht erklären. Es konnte nicht daran liegen, dass Romhyno eher Frauen bevorzugte, für besondere Verdienste. Denn er hatte auch schon öfters die Bedürfnisse anderer Männer befriedigt. Vielleicht war es so, weil dem Hohepriester in diesen Dingen ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung standen, als den restlichen Priestern oder manchen Gästen. Er wusste von den meisten Erregungspunkten vieler Spezien, mit denen er in seinem langen Leben bereits Kontakt hatte und so konnte er diese auch ohne Körperkontakt zufrieden stellen. Bei manchen allerdings war es ohne Intimkontakt nicht möglich. Es machte ihm nicht viel aus, lieber war es Romhyno jedoch, wenn er diese Kontakte mit Frauen ausführte. Vor allem, wenn seine geliebte Alexa ihn wieder einmal lange nicht holen ließ. Kurz huschte ein Grinsen über Romhynos Gesicht, als er an einen Ausspruch seines Freundes Köster dachte, der ihm damals sagte:
»Auch Hohepriester sind immerhin nur Männer!«
»Ich bin fertig, Mahun! Darf ich Euch jetzt ankleiden oder habt Ihr noch einen Wunsch?«
Romhynos Blick glitt etwas irritiert über Rossels Gestalt und er zog eine Braue hoch. Hatte er noch einen Wunsch? Tja, also da wäre noch vielleicht ...! Romhyno unterbrach seinen Gedanken, als er das Glitzern in den Augen Rossels bemerkte. Die Schlagzeile »Hohepriester von Badeknaben vergewaltigt!« würde sicher nicht förderlich sein für sein Image.

Er schüttelte den Kopf und meinte:
»Danke Rossel, das wäre für den Moment alles.«
Der erwartungsvolle Glanz in den Augen des Jungen erlosch und kurz machte sich Bedauern darin breit, dann neigte Rossel den Kopf, griff nach dem Zeremonienkleid und half Romhyno, es anzulegen. Eigentlich könnte es der Hohepriester selbst anlegen, doch er fand, eine Abfuhr pro Tag war genug. Und ganz wollte er Rossel auch nicht beschämen. Kaum war er angezogen, wurde er von Rossel zu dem Stuhl vor dem Spiegel geführt und dort setzte er sich. Die Zeremonienfrisur konnte er sich nicht selbst machen. Rossel griff nach dem Kamm und begann mit sanften Strichen die Haare des Hohepriesters zu glätten. Danach flocht er sie und Romhyno runzelte die Stirn, als er dem Blick Rossels im Spiegel begegnete.
»Ihr seid wunderschön, Mahun!« hauchte der Junge und errötete.
»Vielen Dank. Was ist los, Rossel?«
Rossel senkte den Blick und eine Träne lief über seine Wange. Romhyno seufzte. Er würde sich also wirklich noch zehn Minuten abzwicken müssen. Er stand auf, drehte sich zu dem Jungen und legte diesem die Hände auf die Schultern.
»Sieh mich an, Rossel! Was ist los?«
»Ich ... ich sehe Euch an, Mahun!« Rossel schluckte und Romhyno konnte das leichte Beben der Knabenschulter unter seinen Fingern spüren. Abermals seufzte Romhyno. Aus den veranschlagten zehn Minuten würden fünfzehn werden. Es wurde Zeit, dass Rossel eine Partnerin bekam!
Romhyno konzentrierte sich kurz und sah Rossel dabei tief in die Augen. Die Augen des Jungen weiteten sich, als der Geist des Hohepriesters den seinen berührte und sich durch den dünnen Gedankenschirm ohne weiteres zu Rossels Emotionalzentrum begab. Rossel warf den Kopf zurück, öffnete den Mund und seine Augen wurden dunkel. Rossels ICH wurde rasch und gekonnt stimmuliert, in die Höhe gerissen und schließlich so schnell zu einer Erfüllung geführt, wie es ohne Gefährdung der zerebralen Stabilität des Jungen ging. Romhyno hatte darin schon seine Erfahrung. Es erstaunte ihn nur immer wieder, wie ausgehungert diese Jungs waren. Rossel im Besonderen. Romhyno begann das Spiel von vorne und ganz am Rande bekam er mit, dass jemand seinen Raum betreten hatte. Doch er durfte Rossel nicht zu rasch in die Realität zurück führen, sonst würde dies Rossel nicht überleben. Schließlich merkte Romhyno, dass Rossel an seine Grenzen gekommen war und entließ diesen langsam und vorsichtig aus seiner Verbindung. Er nahm seine Hände von der Schulter des Knaben und trennte damit auch die letzte körperliche Verbindung. Rossel stand schweißgebadet vor ihm und zitterte noch nach in Erinnerung des letzten emotionalen Höhepunktes.
»Gehts wieder?«
Rossel nickte, nahm eine Hand Romhynos, küsste sie schnell aber sanft, verneigte sich und ließ die Hand wieder los. Dann verließ er beinahe fluchtartig die Räume Romhynos. Dieser bemerkte das süffisante Lächeln seines Gastes, der neben der Tür lehnte und sich jetzt davon abstieß.
»Hast du wieder einen der Kleinen befriedigt? War das nicht Rossel? Er ist gewachsen!«
»Ja, sein Hunger auch!«
»Aber du hast ihn ja gut gefüttert! Bist du soweit?«
»Tja, als Hohepriester hat man so seine Pflichten! Gehen wir!«
Romhyno ging zu seinem Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter. Sofort nahm er sie herunter, als sich ein Seelenkontakt aufzubauen begann.
»Mann, deine Schwingungen gehen einem durch und durch!« Die Stimme Kösters war rau geworden und seine Augen hatten sich geweitet. Romhyno biss sich auf die Lippe. Wenn er nun auch noch seinen Freund befriedigen müsste, würden da wohl die letzten Minuten vor der Einsetzung nicht reichen.
»Gehen wir!«
»Nach dir!« Köster trat einen Schritt beiseite und spürte noch immer das leichte Zittern des begonnenen Kontaktes. Er runzelte die Stirn, als er das belustigte Grinsen im Gesicht des Hohepriesters merkte. Dieser verdammte ...!

 

 

Der Platz vor dem Tempelbezirk war voll Zuschauer. Sie saßen auf den dort aufgebauten Tribünen und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Die fliegenden Kameras würden diesmal nur auf ganz Shandong ihre Bilder übertragen. Denn dies war eigentlich nur eine planetenweite Sache.
Romhyno trat auf den freigelassenen, runden Platz und hob die Hände, als plötzlich tosender Applaus aufbrandete. Er wartete, bis auch der letzte der Zuschauer mit dem Händeklatschen innehielt. Dann sah er kurz auf die etwas erhöhte Tribünenseite vor ihm und begegnete dem Augenpaar seiner Gefährtin und deren Begleiterinnen. Auch sein Freund Köster saß dort.
»Wir haben heute einen Tag des Feierns und der Freude aufgerufen. Fünf Anwärter auf das Priesteramt werden hier und heute ihr Können und auch ihre Befehigung unter Beweis stellen, ob sie geeignet sind, das ehrenvolle Amt eines Priesters auszufüllen. Es wird in den Bereichen Rechnen, Singen, Lehren, Talente und Körperbeherrschung geprüft. Erreicht einer unserer Kandidaten seine Punktzahl, darf er ab morgen seine Anwärterschaft niederlegen und steigt zum Priester fünfter Stufe auf. Darf ich den ersten Kandidaten bitten, die zuständigen Fragebögen zu nehmen und sie an seine Mitkandidaten auszuteilen?«
Ein Mädchen trat zum Hohepriester, verneigte sich mit vor dem Gesicht gefalteten Händen und nahm die Bögen von seinem neben ihm getretenen Stellvertreter entgegen. Dann trat sie wieder zu ihren Mitprüflingen zurück und teilte die Bögen aus. Jeder sah darauf nieder und über ein Gesicht huschte kurz ein schnelles Lächeln. Romhyno, der die Anwärter genau beobachtet hatte, dachte sich bereits, dass Dominik diese Fragen als leicht betrachten würde. Zwei Priester hatten bereits fünf Tische auf den freien Platz vor den Tribünen gestellt, die Anwärter nahmen Platz und begannen die Bögen zu füllen. Dominik war als erster fertig. Nach und nach trudelten auch die restlichen Bögen ein. Die Tische wurden wieder weggeschafft und die Fünf stellten sich zum Singen auf. Leise begann Musik zu spielen und das einstudierte Lied schallte über die Köpfe der Zuschauer.
Einer der Priester trat neben Romhyno und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Romhyno sah den Priester überrascht an, dann ging ein Grinsen über sein Gesicht und er nickte dem Mann zu. Kaum war der Applaus verebbt, der nach dem Lied eingesetzt hatte, hob der Hohepriester wieder seine Arme, wartete bis das aufgeregte Tuscheln verstummte und wandte sich an die Zuschauer.
»Ich habe soeben die Meldung erhalten, dass wir noch ein Lied von unseren Prüflingen bekommen werden, doch dazu werde ich selbst musizieren!«
Wieder wurde getuschelt und geflüstert. Was war los? Das hatte es ja noch nie gegeben. Die meisten der Anwesenden verrenkten sich die Köpfe, als zwei der älteren Priester ein schmales Musikinstrument auf den Platz schleppten und nieder stellten. Ein anderer brachte einen runden Hocker und Romhyno trat zu dem Instrument. Er fühlte beinahe die Neugier und den Schrecken, den die Menge bekam, als Romhyno den Deckel öffnete und sie sah, worum es sich bei diesem Instrument handelte. Romhyno setzte sich besser hin und legte seine Finger auf die Tasten. Es war lange her, dass er auf einem Psychodelion gespielt hatte. Nach diesem Tag hier würde man es der endgültigen Vernichtung zuführen, doch heute würde er es noch benutzen. Sein Blick glitt zu Alexa und seinem Freund. Im Gesicht seiner Gefährtin sah er den Schrecken und die Angst, die sie seinetwegen ausstand. Das Gesicht seines Freundes drückte Überraschung aus. Für Köster war das Psychodelion nur ein Klavier. Insgeheim freute sich Romhyno darauf, wenn Köster dann aufging, was dieses »Klavier« wirklich war.
Romhyno begann die ersten Tasten nieder zu drücken und schon spürte er den sich aufbauenden Kontakt. Er überließ sich diesem und seine Gedanken überspielten die Bilder in die Luft wie eine Projektion. Ein Raunen ging durch die Reihen. Und dann setzten die Stimmen der fünf Prüflinge ein. Romhyno spielte eine der uralten Weisen und die Stimmen folgten. Er überließ sich bereitwillig dem Drang des Psychodelion und er wusste, dass jetzt die Luft mit bunten Bildern und hellen, warmen Tönen erfüllt war. Nicht umsonst wurde die Sammlung dieser Melodien als »Lieder des Lichts« bezeichnet. Romhyno spürte den bereits einsetzenden Verlust seiner Psikraft. Psychodelien waren deshalb auch seit langem verboten. Doch manchmal war es ganz gut, eines zu spielen.
Das Lied klang aus, die Bilder verschwanden, als Romhyno den letzten Ton anschlug. Nur mit äußerster Willenskraft schaffte es Romhyno seine Finger von den Tasten des Psychodelion zu nehmen. Unvermittelt setzte der Entzug ein. Romhyno stieß einen leisen Seufzer aus und sein Kopf sank auf seine Brust. Auch ein noch so starker Hohepriester musste manchmal vor einem harmlos aussehenden Psychodelion kapitulieren. Romhyno wusste, dass der Entzug wahrscheinlich drei oder vier Tage anhalten würde, ehe er sich wieder fangen konnte. Aber er fand, das war dieses Spiel auf dem letzten Psychodelion wert. Mühsam stemmte er sich hoch und wäre beinahe wieder auf den Stuhl gesunken, wenn ihn nicht starke Arme gestützt hätten. Als er sich umsah, wer ihm da half, blickte er in die samtdunklen Augen Dominiks.

»Ihr solltet vorsichtiger sein, Mahun!« sagte Dominik nahe an Romhynos Ohr. Romhyno nickte, dann entzog er sich den helfenden Händen und er meinte nur, ebenso leise:
»Danke!«
Dominik verbeugte sich und trat zu seinen Mitprüflingen zurück. Langsam erholte sich Romhyno so weit, dass er den nächsten Prüfungspunkt ankündigen konnte.

Die Prüfung dauerte noch bis zum Nachmittag und dann erst konnte den inzwischen aufgetragenen Speisen und Getränken zugesprochen werden. Köster trat neben den Hohepriester, in einer Hand einen Teller mit allerlei Leckereien, in der anderen ein großes Glas mit Saft.
»Was war das denn für ein Klavier, mit dem du gespielt hast?«
»Kein Klavier, lieber Freund. Das war ein Psychodelion!«
»Ach was? Das war also das berühmt-berüchtigte Psychodelion! Und da hattest du natürlich deine Freude daran, oder?«
»Natürlich! Du solltest mich doch kennen!« Romhyno grinste. Sein Freund nickte und meinte, ehe er einen Schluck aus dem Glas nahm, ziemlich sarkastisch:
»Allerdings!«
Ehe Romhyno darauf reagieren konnte, erklang der ohrenbetäubende Lärm einer Alarmsirene und gleich darauf fuhr eine Feuerzunge vom Himmel nieder. Ein lauter Aufschrei ging durch die anwesenden Gäste und Romhyno duckte sich, als ein größeres Trümmerstück vom Mosaikboden absplitterte und wie ein Geschoß auf ihn zuraste.
»Großer Gott, was ist das denn?« Köster hatte vor Schreck sein Glas fallen gelassen. Ehe Romhyno etwas sagen konnte, wurden sie erneut angegriffen. Er stieß Köster zur Seite und rettete ihm so das Leben. Er selbst kam nicht ohne Blessur davon. Romhyno krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht, als ihn einer der Steinbrocken genau in den Unterleib traf. Kurz glaubte er, sein letztes Stündchen habe geschlagen. Wenn er nicht der Hohepriester wäre, würde er sicher seinen Schmerz heraus geschrien haben. So aber ...!
Romhyno versuchte in dem Rauch und dem Durcheinander etwas zu erkennen, doch er bemerkte nur, dass Köster auf ihn zurobbte um ihn gleich darauf zu fragen, ob ihm etwas passiert sei. Romhyno hatte sich inzwischen soweit gefangen, um seinem besorgten Freund zu beruhigen.
»Nichts schwerwiegenderes, als dass ein Belagsteil mitten ins richtige Ziel traf!«
»Was?« Kurz stockte Köster, dann ging ihm auf, was der Hohepriester meinte und brach trotz des feindlichen Beschusses, der noch immer weiterging, in lautes Lachen aus.
»Na vielen Dank, dass du dein Mitleid so zeigst!«
»Entschuldige bitte, aber deine Ausdrucksweise ist zu köstlich. Geht's besser?«
»Der Schmerz lässt nach und wenn du mich fragen willst, ob ich noch etwas fühle, muss ich dir sagen ...!« Romhyno unterbrach sich, als ein Feuerstoß mitten in den Eingangstempel fuhr und diesen total zerstörte.
»Ich denke, du solltest jetzt dein Versprechen einlösen!«
»Ich kann dich jetzt nicht alleine lassen!«
»Nimm Dominik und lauf!«
»Was ist mit dir?«
»Ich komme schon zurecht, geh endlich!«
Köster warf noch einen abschätzenden Blick auf den Hohepriester, doch dieser hatte sich bereits von ihm abgewandt und humpelte so schnell er konnte, weg. Seine gekrümmte Gestalt verschwand hinter einem Rauchvorhang. Der Boden wurde erschüttert und Köster nahm an, dass jetzt erst die Abwehrforts eingesetzt wurden. Er machte sich auf die Suche nach seinem Patenkind.

Romhynos Zustand hatte sich wieder gebessert und er machte sich auf die Suche nach seiner restlichen Familie. Überall lagen Verwundete und Tote herum. Aber viele der anwesenden Priester der höheren Ränge waren Heiler und bereits um die meisten bemüht. Romhyno begab sich zu der Stelle, wo vorhin Alexa und ihr Hausstand gesessen hatte. er zuckte zusammen, als er unter einem der größeren Gesteinsbrocken einen Zipfel des Kleides hervorlugen sah, das Alexa angehabt hatte. Mit aller Kraft schob er den Brocken vom darunter liegenden Körper und stöhnte auf. Alexas Augen waren weit offen und hatten selbst im Tod ihren ungläubigen Ausdruck nicht verloren. Romhyno kniete sich neben sie, nahm ihre tote Hülle in den Arm und drückte sie an sich. Tief in ihm drinnen begann es zu brodeln und dann hob er den Kopf und entließ seinen Schmerz in einem einzigen lauten Schrei:
»Nein!«
Er grub danach seinen Kopf in ihre Halsgrube und seine Tränen vermischten sich mit Alexas Blut. Er hatte sein Leben, seine Seele, seine Gefährtin verloren. Die Welt würde nie mehr so sein, wie sie es vor dem Angriff war. Den Tod eines seiner Kinder hätte er noch verschmerzen können, aber Alexa ...?
Romhyno wiegte seine tote Gefährtin auch noch leise schluchzend, als der Abend herein gebrochen war und immer wieder Priester zu ihm kamen, um ihm seine Last zu erleichtern. Doch er blockte alle Versuche ab und wünschte sich, selbst gestorben zu sein, und dass Alexa, seine heiß geliebte Alexa noch leben würde. Shandong hatte die Herrscherin verloren. Das war schlimm, gewiss. Doch es gab eine Gesetzesregelung für diesen Fall. Wäre der Hohepriester gestorben, gab es auch eine Regelung. Aber kein Gesetz konnte diesen Schmerz in Romhynos Brust regeln.
Längst hatte er keine Tränen mehr. Aber er schaukelte weiter seine Alexa und spürte nur unbewußt, dass sie nur noch eine Hülle war. Das, was sie einst ausgemacht hatte, war bereits lange fort. Langsam erkaltete Alexa in Romhynos Armen.

 

 

An die nachfolgenden Tage und Wochen konnte Romhyno sich nur sehr verschwommen erinnern. Blitzartige Eindrücke von Priestern, die ihm Alexas toten Körper endlich entwinden konnten, die Totenfeuer, die zwei Tage lang brannten, um all die Getöteten endgültig auslöschten und die Aufräumtrupps, die er befehligen musste. Romhyno hatte keine große Gelegenheit seinem Schmerz nachzugehen, denn er musste seine Pflicht erfüllen. Köster war mit Dominik geflohen, das war gut. Dominiks Zwillingsbruder war zu diesem Zeitpunkt mit seinem Lehrer auf Khor. Auch dort gab es Verwüstungen durch die Raumpiraten, doch nicht so schwerwiegende wie auf der Hauptwelt. Irgend jemand meldete Romhyno, dass auch die Priesterin Akiko verschwunden war. Sie war weder bei den Toten noch unter den Verletzten. Doch das alles berührte Romhyno nur am Rande.
Und eines Morgens schlug Romhyno die Augen auf und er wusste, die Zeit des Trauerns war vorbei. Er hatte dieses Kapitel geschlossen. Ab diesem Zeitpunkt stand der Hohepriester Shandongs wieder voll und ganz im Leben.

Es klopfte an der Tür und einer seiner Unterpriester trat sofort ein. Romhyno sah von seinem Bericht auf und runzelte die Stirn. Irgendwann würde er Kerro einbleuen müssen, dass dieser auf eine Aufforderung warten müsste, ehe er wie ein wildes Raschgard in das Zimmer des Hohepriesters brach.
»Mahun! Der junge Angelo wurde verletzt!«
»Es gibt genug Heiler, die du hättest rufen können!«
»Ja, Mahun. Doch diese Situation erfordert den Hohepriester!«
Romhyno schloß den Bericht, stand auf und forderte mit einer Handbewegung Kerro auf, ihm voran zu gehen. Mit solchen Kleinigkeiten sollten der Hohepriester eigentlich nicht belästigt werden. Romhyno runzelte die Stirn, als er sah, wohin es ging.
»Dies ist der Weg zum rückwärtigen Garten!«
»Ja Mahun!«
»Und wie konnte dann ein Schüler verletzt werden?«
»Seht selbst!«
Sie hatten den Eingangsbereich zu den Wandelgängen erreicht. Etwa in der Mitte standen zwei Priester, in ihrer Mitte hielten sie einen der Jungpriester an den Oberarmen fest, während ein weiterer Priester neben zwei eng umschlungenen Körpern am Boden kniete und sich nun erhob. Erleichterung erschien in seinem runzligen Gesicht. Romhynos Brauen schnellten in die Höhe, als er erkannte, was sich seinen Augen bot. Eine der Priesterinnen hatte scheinbar einen der Anwärter verführt oder auch umgekehrt. Ein Pfeil steckte in ihrem Rücken und hatte sie mit ihrem Schüler zusammen genagelt.
»Wer ist sie?«
»Sharimar, Mahun.«
»Und er?«
»Angelo, Mahun!«
Romhyno seufzte innerlich. Natürlich, wer sonst. Es war bereits Grundlage für Lästergespräche, dass sich eine Priesterin in ihren Schüler verliebt hatte. Und umgekehrt. Zweimal war Angelo bereits bei Romhyno vorstellig geworden, um eine Verbindung mit Sharimar einzugehen. Doch Romhyno sah keine Veranlassung die Einwilligung zu geben.
»Bringt die beiden in den Priesterraum. Und versucht nicht, sie zu trennen!« Romhyno warf noch einen Blick auf die beiden durch einen Pfeil zusammen gehaltenen nackten Körpern und schüttelte den Kopf. dann wandte er sich an den noch immer Festgehaltenen.
»Warum wirst du hier so fest gehalten?«
»Ich habe ihn oft gewarnt. Er sollte die Finger von Sharimar lassen. Sie haben immer geturtelt und sie hat nur ihm die Biologie des Körpers auf diese Weise erklärt!«
Romhynos Brauen schnellten erneut in die Höhe.
»Die Biologie des Körpers? Darf ich um Aufklärung bitten?«
»Nun sie war unsere Biologielehrerin!«
»Das weiß ich. Aber das ermächtigt euch noch lange nicht, diesen Unterricht auf so abartige Weise zu führen!«
»Verzeiht Mahun. Aber Ihr versteht nicht!«
»Ja, das denke ich auch. So wie ich das hier,« Romhynos Hand beschrieb einen Kreis, in dem alle Akteure eingeschlossen wurden, » interpretiere, hat Sharimar ihrem Schüler Angelo das Wort ‘Körper’ intimer erklärt, als vorgesehen. Daraufhin hat dich die Eifersucht ergriffen, - lass dir gesagt sein eine sehr unschöne Emotion -, und du hast deinen Unterrichtsbogen verwendet, um den lästigen Mitkonkurrenten auszuschalten. Hättest du besser haben können, wenn du gleich zu mir gekommen wärst. Was wirst du tun, wenn die beiden tot sind?«
Der Übeltäter hob mit einem leichten Ruck den Kopf, den er bis dahin etwas geneigt hielt und sah dem Hohepriester mit einem trotzigen Blick in die Augen. Romhyno nickte und wandte sich an die beiden Priester.
»Bringt ihn weg, mit ihm werde ich mich später befassen! Jetzt versuche ich zu retten, was zu retten ist!« Er sah, dass man die beiden zusammen gehefteten Körper bereits weg gebracht hatte. Mit einem Blick auf die drei Priester, die sich bereits entfernten, machte sich Romhyno nicht viel Hoffnung, dass einer der beiden lebt.

Nachdem Romhyno den Weg zum bezeichneten Raum zurück gelegt hatte, betrat er diesen und sah auf dem dort befindlichem Bett die beiden Körper liegen. Jemand hatte Mitleid mit ihnen gehabt und eine dünne Decke über sie gebreitet.
Romhyno nahm die Decke weg und untersuchte erst einmal die oben liegende Sharimar. Doch er konnte beim besten Willen keinerlei Leben mehr feststellen. Sein Blick fiel auf den jungen Priester, der still in einer Ecke stand und ihn beobachtete.
»Würdest du mir helfen, Kanto?«
»Ja, Mahun!«
»Wenn ich es dir sage, dann ziehst du den Pfeil aus dem Rücken Sharimars. Keine Angst, sie spürt nichts mehr.«
Romhyno wartete keine Antwort ab, drückte beide Hände dicht neben dem Pfeilschaft auf den Rücken der Toten und nickte dem jungen Mann zu. Dieser hatte inzwischen eine grünliche Gesichtsfärbung angenommen. Er schluckte, dann trat er näher, schloß die Augen, packte den Pfeil und dieser löste sich mit einem widerlich-schmatzendem Geräusch aus dem Fleisch. Die zurück gelassene Wunde, deren Blutstillung bereits eingesetzt hatte, begann wieder zu bluten. Romhyno entließ den Priester mit einer schnellen Handbewegung. Ehe dieser ging, rief ihm Romhyno nach:
»Lass den Pfeil hier!«
Kanto nickte und ließ den Pfeil so schnell auf den Boden fallen, als wäre dieser heiß. Dann lief er mehr als er ging aus dem Raum und warf die Tür hinter sich zu. Romhyno seufzte. Dann zog er den bereits erkaltenden Körper Sharimars von dem darunter liegenden Angelo und ließ sie auf den Boden gleiten.
Nun machte er sich auf die Untersuchung Angelos.

Romhynos rechte Hand glitt dicht über den bewegungslosen Körper Angelos und er ‘sah’ die Zerstörung, die der Pfeil angerichtet hatte. Er würde sein gesamtes Wissen und Können einsetzen müssen, um diesen Schaden zu reparieren. In diesem Moment war der vor ihm liegende Angelo nicht sein eigener Sohn, sondern nur ein Schwerverletzter, der seine, Romhynos, Hilfe benötigte. Mit der Ursache für diese Verletzungen konnte er sich später noch befassen. Schließlich hatte Romhyno seine Untersuchung abgeschlossen und das ganze Ausmaß erkannt. Der Pfeil war tief eingedrungen, hatte die Herzkammer beschädigt und die Lunge gestreift. Das einströmende Blut drückte das Herz zusammen und die Lunge war kollabiert. Romhyno sah kurz nachdenklich auf das etwas wächsern gewordene Antlitz Angelos. Dann atmete er einmal tief ein und aus, setzte sich neben Angelo auf das Bett und versetzte den Bewußtlosen in Tiefschlaf, indem er seine beiden Hände auf Angelos Stirn legte, Daumen an Daumen und mit diesen langsam zu den an der Schläfe liegenden Zeigefingern zu gleiten. Für die Arbeit, die nun vor ihm lag, konnte er keineswegs brauchen, dass sich Angelo etwa rühren konnte oder gar aufwachen. Er konzentrierte sich und versenkte sich in den Körper. Er glitt durch die einzelnen Schichten und als erstes unterstützte er den bereits schwächer werdenden Herzschlag. Danach beschleunigte Romhyno vorsichtig die Wachstumsrate der Zellen und bereinigte durch den gezielten Einsatz des Immunsystems den Abtransport der bereits verklumpenden Bluteinlagerungen. Er aktivierte mit einem von ihm nicht bewußt wahrgenommenen Impuls die Selbstheilkraft und baute den beschädigten Herzbeutel erneut auf. Die zerfetzten Ränder schlossen sich, die zerrissenen Blutgefäße verschlossen sich und mit Hilfe des Hohepriesters, der die Entstehung der Blutmenge drastisch erhöhte, wurde Angelos innerstes System stabilisiert. Danach wandte sich Romhyno der Lunge zu. Baute die Bläschen auf und bereinigte kleinere Gerinsel.
Langsam glitt der Tag in den Abend und ging in die Nacht über. Romhyno merkte von dem allen nichts. Er spürte, wie sich unter seinem Einfluß die Beschädigungen zurück bildeten, wie das Leben in Angelo zurückkehrte.
Jemand betrat den Raum, brachte eine Platte mit Essen und eine große Karaffe mit Wasser, doch Romhyno merkte es nicht. Er merkte nur, wie seine Konzentrtion langsam nachließ und Müdigkeit ihn erfasste. Noch einmal holte er die letzten Reserven hervor, ehe er seine Konzentration verlieren würde. Er löste sich von Angelo und setzte mit einem letzten leichten Impuls den Heilungsprozess in Tätigkeit. Dann holte er Angelo aus dem Tiefschlaf und spürte, wie der Raum um ihn kreiste. Sein Blick fiel auf das Mädchen, das schüchtern vor ihm stand.
Als sie merkte, dass der Hohepriester seine Aufmerksamkeit auf sie richtete, errötete sie und verneigte sich leicht.
»Euer Bad wäre gerichtet, Mahun!«
»Das ist schön, Naomi!«
Das Mädchen, Tochter von terranischen Ansiedlern auf Wathun und in ihrem ersten Priesterjahr, errötete. Sie hatte schon gehört, dass der Hohepriester alle Namen seiner Leute kannte, doch dass er sie auch kannte, das brachte ihr Herz zum stolpern. Sie zuckte zusammen, als Romhyno sich leicht stöhnend an die Stirn griff, die Augen schloß und in ihre rasch vorgestreckten Arme fiel.

 

Die Dunkelheit der totalen Erschöpfung war so schnell über Romhyno gekommen, dass er nicht mehr merkte, wie er in die Arme des Mädchen fiel. Sie wurde durch das Gewicht des Hophepriesters von den Füßen geholt und setzte sich ziemlich heftig auf den Boden. Er rollte sich auf ihren Füßen zusammen, und versank in dem tiefen Schlaf der Erholung. Naomi wagte nicht, sich besser hin zu setzen, denn sie fürchtete, dies könnte den Hohepriester auf ihrem Schoß wecken. Sie war diesem geheimnisvollen Mann noch nie so nah gewesen. Während sich ihre Rückenmuskeln leicht zu verspannen begannen, betrachtete sie das ansprechende Gesicht des Hohepriesters. Ihr Blick erkannte die grauen Strähnen, die Stirn, auf der sich erste Fältchen abzeichneten, die dunklen Wimpern, die diese seltsam dunkelgrauen, beinahe schwarzen Augen verbargen. Jene, die eine so starke, hypnotische Ausstrahlung hatten. Ihr Blick glitt weiter zu den im Tiefschlaf leicht geöffneten Lippen. Sie musste sehr an sich halten, um nicht einen ihrer Finger darauf zu legen, um zu prüfen, ob sie sich auch so weich anfühlten, wie sie aussahen. Kurz stellte sie sich vor, wie es wohl wäre, von diesem Mann geküsst zu werden. Sie fühlte tief in ihrem Körper ein leises Ziehen und merkte, wie ihr die Röte der Scham ins Gesicht stieg. Sie hielt den Atem an, als er sich etwas seitlich drehte und seine Hand sich auf ihren Rücken legte. Kurz dachte sie, er würde einen Annäherungsversuch machen, dann erkannte sie, dass er sie nur an sich drückte, wie man ein Kissen an sich drückt. Sie schloß die Augen und ihr Atem wurde rascher, als die Wärme seiner Hand durch ihr dünnes Kleid drang. Sie stellte sich vor, wie es sein könnte, wenn er sie bewußt so berühren würde. Das Ziehen in ihr wurde stärker. Sie zuckte zusammen, als er die Augen öffnete, sie ansah, kurz anlächelte und schließlich von ihren Füßen rutschte, um sich neben ihr am Boden erneut zusammen zu rollen und weiter zu schlafen. Naomis Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei, als das Blut in ihren Beinen wieder schneller zu zirkulieren begann, nachdem das Gewicht des Hohepriesters nicht mehr darauf lag. Sie steckte ihre rechte Faust zwischen die Zähne und biss fest darauf, um den bereits im Ansatz vorhandenen Schrei dahinter zu ersticken. Dieser Mann neben ihr am Boden hatte Schwerstarbeit geleistet, da durfte sie ihn nicht durch solche Unwichtigkeiten wecken.
Als das Stechen und Zwicken endlich nachgelassen hatte, stand sie auf, holte die Decke, die neben dem Bett am Boden lag und breitete sie über den Schlafenden. Dann dachte sie kurz nach, setzte sich neben Romhyno und konnte dem Drang, ihm zart über die Stirn zu streichen, nicht widerstehen. Sie riss die Hand beiseite, als er sich bewegte, abermals sie an sich zog und ihr damit den Grund lieferte, ihn jetzt nicht verlassen zu können. Sie war nur traurig bei dem Gedanken, dass der Hohepriester am anderen Morgen nichts mehr davon wissen würde, dass sie bei ihm gewacht hatte. Aber heute Nacht durfte sie in ihrer Fantasie all das erleben, das im realen Leben weder schicklich, noch richtig war.

 

 

Als Romhyno erwachte, wusste er im ersten Moment nicht, warum ihm der Rücken so weh tat und weshalb er auf etwas Hartem lag. Dann erinnerte er sich wieder, dass er vergangenen Tags Angelo das Leben gerettet hatte, das ihm und seiner Lehrerin, der Priesterin Sharimar, ein anderer Priesterschüler nehmen wollte. Romhyno runzelte die Stirn, als ihm aufging, dass er nicht auf einem besonders hartem Bett lag, sondern am Fußboden. Und er nahm nun auch bewußt die leisen Atemzüge neben sich wahr. Er wandte den Kopf und sah direkt neben sich die schlafende Naomi. Schwach erinnerte er sich, dass ihm das Mädchen zum Bad führen wollte, dann brach seine Erinnerung ab. Hatte sie etwa die ganze Nacht bei ihm gewacht? Er hatte schon gemerkt, dass sie für ihn schwärmerische Gedanken hatte, aber dass sie sich auch noch die Nacht um die Ohren schlug, um bei ihm auszuharren, das hätte er nicht gedacht. Ihre dunklen Wimpern zuckten und dann schlug sie ihre Augen auf. Zuerst waren sie noch etwas Schlafgefangen, doch gleich darauf wurde ihr Blick scharf.
»Guten Morgen!« Romhynos Gesicht verzog sich zu einem belustigtem Grinsen, als er den Schrecken in ihren hellblauen Augen sah.
»Sehe ich so schrecklich aus?«
»Gu ... guten Morgen!« Sie stotterte und wurde rot. Dann wollte sie sich rasch erheben, doch Romhyno griff nach ihrer Hand und hielt sie fest.
»Warte etwas, bis sich dein Kreislauf stabilisiert hat. Warst du die ganze Nacht hier?«
Sie nickte. Sprechen konnte sie nicht.
»Warum?«
Sie zuckte die Schultern. Dann aber fiel ihr ein, wer ihr diese Frage gestellt hatte und sie errötete erneut.
»Ihr wart so müde und sonst war niemand da, also habe ich Euren Schlaf bewacht!« Sie senkte die Augen. Wenn er sie doch endlich nur loslassen würde! Wenn er sie noch lange festhalten würde, konnte sie für nichts garantieren. Romhyno spürte sehr wohl die starken Gefühle, die das Mädchen aussandte, doch er hatte nicht vor, in ihren Gedanken nachzusehen, was der Grund für ihr Wächteramt war.
»Das war sehr aufmerksam von dir, Naomi! Das mindeste, mit dem ich diese Schuld abtragen kann, ist wenn du mit mir das Frühstück einnimmst!«
Naomis Augen hoben sich und sie zuckte kaum wahrnehmbar zusammen, als sie mitten in die dunklen Augen des Hohepriesters sah. Meinte er das ernst? Es schien ganz der Fall zu sein. Sie sah noch immer stumm und ziemlich erschüttert zu, wie Romhyno aufstand und dann ihr seine Hand hinhielt. Ohne Nachzudenken ergriff sie diese und schluckte, als er sie hochzog und sie dicht vor ihm zum Stehen kam. Sie musste ihren Kopf etwas heben, sein hypnotischer Blick hatte sie kein einziges Mal losgelassen. Sie fühlte eine Schwäche ihre Knie hochwandern und schluckte. Endlich ließ Romhyno ihre Hand los und amüsierte sich innerlich darüber, dass er dieses Mädchen nur durch eine normale Berührung so durcheinander gebracht hatte. Dann klatschte er zweimal in die Hände und sandte seinen stillen Ruf aus. Es dauerte nur wenige Minuten, bis einige Priester kamen, einen erstaunten Blick auf die äußerst verlegene Naomi warfen, um dann den noch immer in Tiefschlaf befindlichen Angelo weg zu bringen. Romhyno legte seinen Arm um die Schultern Naomis und brachte sie nun vollends aus der Fassung. Einer der Priester wandte sich zu Romhyno und nickte. Dann ging er, nicht ohne einen erneuten verwunderten Blick zu Naomi.
»Wir werden das Frühstück in meinen Räumen einnehmen. Vorher aber werden wir noch ein schönes Bad nehmen, denn ich denke, dass du dich ebenfalls etwas schmutzig fühlst, oder?«
Naomi nickte, dann räusperte sie sich und meinte heiser:
»Ja, Mahun!«
»Schön. Ich heiße übrigens Romhyno!«
»Ich ... weiß!« Naomis Stimme versagte. Sie senkte erneut den Blick und so entging ihr das belustigte Grinsen, das sich auf Romhynos Gesicht ausbreitete. Es lag ihm weniger daran, dieses Kind durcheinander zu bringen, als vielmehr wirklich daran, sich für die durchwachte Nacht bei ihr zu bedanken. Wenn es sein musste,dass er ihr ihren geheimsten Wunsch erfüllte, dann sollte es so sein. Sie war sehr hübsch, diese Naomi und es war lange her, dass er so angenehme Gesellschaft hatte. Sowohl beim Bad, als auch beim Essen. Da durfte es auch nicht darauf ankommen, dass er sich dem Mädchen erkenntlich zeigte. Vielleicht bewachte sie ihn auch eine weitere Nacht. Diesmal aber in seinen Räumen und seinem Bett. So weit er sie kannte, würde sie keinesfalls das Privileg, eine Nacht mit dem Hohepriester verbracht zu haben, missbrauchen. Ohja, er hatte sich schon bei ihrer Aufnahme über sie und ihre Herkunft schlau gemacht. Und wer weiß, vielleicht würde ja eine durchwachte Nacht nicht reichen ...!

In seinem Aufenthaltsraum angekommen, bemerkte Romhyno, dass bereits der Tisch gedeckt war und zwar wirklich für zwei Personen. Er ließ Naomi Platz nehmen und setzte sich neben sie auf einen Stuhl, den er sich dichter an Naomi heran zog.
»Wir sind hier allein unter uns und nun sagst du mir, bitte, warum du wirklich die ganze Nacht bei mir gewacht hast!«
»Ihr seid so schnell eingeschlafen und da wollte ich Euch nicht wecken. Ich ... es hat mir nichts ausgemacht!«
»Was hat dir nichts ausgemacht? Dass du die Nacht am Fussboden zugebracht hast?«
»Das machte mir nichts. Ihr ward doch ...!« Naomi errötete, als ihr aufging, was sie beinahe verraten hätte. Romhyno grinste in sich hinein. Er wusste schon länger, dass sie für ihn was empfand, doch sie kam für ihn nicht in Frage. Nicht weil sie das Kind von Solariseltern war, sondern weil sie zu seinen Leuten gehörte. Zu seinen Priestern. Obwohl sie die letzten Prüfungen noch nicht abgelegt hatte. Er deutete auf das Tablett mit den verschiedenen Käsesorten und meinte, sie solle nun essen. Romhyno ließ Naomi erleichtert aufatmen, indem er seinen Stuhl wieder etwas wegrückte. Naomi nickte und griff mit zitternden Fingern nach dem Stück. Es fiel ihr aus der Hand und sie wurde blass.
»Verzeiht«, hauchte sie und wäre am liebsten im Boden versunken. Romhyno hob es vom Tisch, betrachtete es angelegentlich, blies kurz darauf und steckte es der überraschten Naomi in den Mund. Ihre Lippen schlossen sich um seinen Finger und Romhyno konnte sich nun das Grinsen nicht mehr verkneifen.
»Du hast aber nicht die Absicht meinen Finger mit zu essen, oder?«
Naomi verschluckte sich und hustete. Romhyno stand auf und trat hinter sie. Kurz klopfte er ihr auf den Rücken und machte schließlich einen Schritt zurück, als ihn ihre durcheinander wirbelnden Gefühlsströmungen attakierten. Er setzte sich wieder und wollte sie beruhigen, da merkte er die Tränen auf ihrer Wange.
»Habe ich dich zu fest ...!« Romhyno unterbrach sich, als das Mädchen die Hände vors Gesicht schlug und nun lauter zu weinen begann.
»Ihr müsst mich für einen totalen Idioten halten!«
»Nicht doch. Warum weinst du denn jetzt? Ich habe dir doch nicht weh getan, als ich dir auf den Rücken klopfte, oder?«
»Nein, Mahun!« Naomi fuhr sich über die Augen und wischte sich über die Nase. Romhyno zog kurz die Augenbrauen zusammen, dann sah er sich suchend um. Er stand auf, holte ein weiches Tuch, das immer zu seiner Verfügung auf einer schmalen Komode lag und ging wieder zu der völlig aufgelösten Naomi. Mit leichtem Nachdruck zog er die Hände von dem geröteten Gesicht des Mädchens, wischte ihr die Tränen von den Wangen und putzte ihr die Nase. dann legte er das Tuch neben Naomi und deutete erneut auf das Tablett.
»Du solltest essen, ehe das so gut duftende Gemüse kalt wird. Und danach werden wir uns reinigen. Ich mich von der anstrengenden Arbeit und du von deinen dummen Selbstbeschimpfungen. Später werde ich mich um Angelo kümmern und dich möchte ich bitten, dass du mir heute abend die Freude machst und das Abendessen mit mir hier einnimmst. Und melde dich für diese Nacht bei deiner Ausbildnerin ab. Sonst haben wir beide ein Problem!«
»Aber das geht doch nicht!« Naomi sah den Hohepriester mit aufgerissenen Augen an.
»Was geht nicht?«
»Dass ich heute hierher komme!«
»Hast du schon etwas anderes vor?«
Naomi schluckte, senkte den Kopf und schüttelte ihn.
»Es wird nichts passieren, das du nicht auch selbst möchtest. Und jetzt iss!«
Naomi nahm gehorsam ein neues Stück Käse und begann darauf zu kauen, als wäre es aus Gummi. Sie zuckte zusammen, als ihr Romhyno einen kleinen Teller mit ausgewählten Gemüsestücken hinstellte. Romhyno setzte sich wieder und begann nun selbst zu essen. Er merkte wohl die kleinen Blicke, die ihm Naomi unter ihren Wimpern versteckt zuwarf. Aber diesmal ließ er sich nicht stören.

Der Rest des Frühstücks verlief schweigend, wobei Romhyno danach alleine sein Bad benutzte, da Naomi wie von Furien gejagt seine Räumlichkeiten verließ.
Er hatte keinerlei Kontakt mit Naomis Ausbildnerin aufgenommen, denn ihm war zugetragen worden, dass Naomi so verstört gewesen war, dass sie leichtes Fieber bekommen hatte. Soviel nun dazu, dass ein Hohepriester alles bekommt, was er sich wünscht.
Als der Abend herein brach machte sich Romhyno auf den Weg zu Angelo. Dieser befand sich bereits wieder in seinen Räumen und er stand verlegen von seinem Stuhl auf, als der Hohepriester nach einem kurzen Anklopfen gleich sein Zimmer betrat.
»Ich denke, du bist mir eine Erklärung schuldig!«
»Ich ... ich habe keine, Mahun!«
»Tatsächlich? Keine einzige?« Romhyno runzelte die Stirn und zog sich einen zweiten Stuhl heran, auf den er sich setzte. Mit einer knappen Handbewegung befahl er Angelo sich ebenfalls wieder zu setzen.
»Es tut mir leid, Mahun ...!«
»Was tut dir leid? Dass eine meiner besten Lehrer tot ist? Oder dass du mit deinem Fehlverhalten einen deiner Mitbrüder so in Bedrängnis gebracht hast, dass er zur Waffe griff? Oder etwa, dass du dein Leben mir verdankst?«
»Alles Mahun!« Angelo hatte die Augen gesenkt. Er würde die nun sicher folgende Strafpredigt still über sich ergehen lassen. Doch als nach mehreren Minuten noch immer nichts kam, hob er die Augen.
Der Hohepriester saß vor ihm und sah ihn ernst an. Angelo wäre es lieber gewesen, wenn dieser Mann, den er heimlich sehr verehrte, getobt hätte oder auf ihn eingeschlagen. So aber saß er nur stumm ihm gegenüber und fast schien es, als würden Tränen in diesen dunklen, hypnotisch wirkenden Augen glitzern.
Angelos Augen weiteten sich, als Romhyno ohne ein weiteres Wort aufstand und ging.
Romhyno verließ Angelo und ging auf direktem Weg zurück. Kurz dachte er an Naomi, doch diese hatte alle erdenkliche Hilfe beim Kurieren ihres Fiebers.
Als er seinen Raum betrat, wartete bereits ein reichhaltiges Abendessen auf ihn. Er badete schnell, dann machte er sich über sein Essen her und zog sich schließlich zurück in sein Bett. Dort legte er sich auf den Rücken, schob die Arme unter seinen Kopf, schloß die Augen und überdachte den vergangenen Tag. Seine Gedanken streiften auch kurz den verloren gegangenen Zwillingsbruder Angelos und seinen Seelenbruder Köster. Wo die beiden wohl sind? Aber besser war es, wenn sie noch nicht zurück kommen würden. Überall im System brodelte es, gab es immer wieder kleinere Aufstände. Einige der Monde wollten Unabhängigkeit von Shandong. Sie wollten selbst über ihr Schicksal bestimmen. Doch sie waren so integriert, dass es Dummheit wäre, ihren Forderungen nachzugeben.
Romhynos Gedanken verwirrten sich und er war knapp am Einschlafen, als er wieder heraus gerissen wurde und er neben sich eine leichte Berührung spürte. Er merkte die kleine Hand, die sich auf seine Brust legte und hörte die in sein Ohr gehauchten Worte:
»Nicht bewegen, Mahun. Ich komme, um mein Versprechen einzulösen!«
»Aber du hast Fieber!«
»Ja! Und das werdet Ihr auch haben, wenn ich mit Euch fertig bin!«
Wie um ihre Worte zu unterstreichen, begab sich die Hand von seiner Brust zu anderen, tiefer gelegenen Gebieten und ließ die Temperatur unter der leichten Decke rasant ansteigen.

 

 

Immer wieder wurde das System und vor allem Shandong von kleineren Raum-Zeitanomalien berührt oder wenn man so will, heimgesucht. Manchesmal blieben sie unentdeckt, manchesmal aber veränderten sie auch ihre unmittelbare Umgebung. Eine solcher Anomalien wurde dem Hohepriester gemeldet, denn aus ihr war eine junge Frau erschienen. Sie war aus ihrer Eigenzeit sozusagen entführt worden und auf Shandong angekommen. Als Romhyno auf den Weg zu ihrer ihr zur Verfügung gestellten Unterkunft war, dachte er über die Möglichkeit nach, diese Anomalien etwas zu kontrollieren zu können.
Er blieb vor der Tür stehen und hob den Arm, um anzuklopfen. Doch im selben Moment wurde die Tür von innen aufgerissen und eine junge Frau wollte herausstürzen, blieb aber mitten im Schritt erschrocken stehen, als sie so unvermittelt dem Hohepriester gegenüber stand.
Dieser ließ die Hand sinken und spürte deutlich die Reste der Zeitüberschreitung, die sie wie einen Mantel umgaben. Sie trat erschrocken einen Schritt wieder in den Raum zurück und gab dadurch die Tür frei.
»Danke schön!« Romhyno trat ohne weitere Umstände ein und wandte sich um. Die Frau war ihm gefolgt und schloß nun die Tür.
»Willkommen auf Shandong, auch wenn die Umstände deiner Ankunft etwas ungewöhnlich waren.«
Sie sah ihn noch immer stumm und irgendwie erschrocken an. Dann jedoch gab sie sich einen sichtbaren Ruck, neigte leicht den Kopf und meinte mit einer rauchigen Stimme, bei deren Klang Romhyno heiß und kalt wurde:
»Ich möchte sofort und auf der Stelle wieder nach Hause!«
»Das kann ich verstehen, aber ...!«
»Tatsächlich? Das können Sie verstehen? Warum halten Sie mich hier dann gefangen? Ich habe dort, wo ich bis vor kurzem noch war, Mann und Kinder. Ich will wieder dorthin zurück!«
»Es tut mir leid, dass du deine Familie verloren hast, aber auf die Zeitlöcher habe ich keinerlei Einfluss. Ich kann dich nur, sollte abermals eine Anomalie hier erscheinen, durch diese weitersenden. Ansonsten irrst du dich, du bist hier keine Gefangene. Hier befindest du dich in einer Gästewohnung im Priesterbezirk auf Shandong. Mein Name ist Romhyno und ich bin der ...!«
»Es ist mir egal, wer Sie sind und wo ich hier bin. Ich will zurück zu meiner Familie«, unterbrach sie Romhyno. Er machte einen weiteren Schritt zurück, als ihn ihr Zorn und ihre Panik traf.
»Es tut mir leid, aber ich kann dir in dieser Sache nicht helfen. Ansonsten werden wir dich als unseren Gast mit allem Nötigen versorgen!« Romhynos Stimme war kalt geworden und er legte seine Hand auf den Türknauf, um den Raum zu verlassen, als die Frau, deren Name er noch immer nicht wusste, auf das bequeme Sofa zutaumelte, sich darauf fallen ließ und mit vor das Gesicht geschlagenen Händen bitterlich zu weinen begann.
Nun war es so, dass Romhyno zwar in seiner Eigenschaft als Hohepriester einen gewissen Abstand zu allen anderen ihn umgebenden Personen und auch Gästen - egal ob freiwilligen oder unfreiwilligen - halten musste, doch bei dieser Verzweiflung wurde er schwach. er ging zu der Weinenden hin, setzte sich neben sie, legte den Arm um sie und zog sie an sich. Ohne ein Wort zu sagen strich er ihr über das kupferfarbene Haar, das ihn schmerzhaft an Alexa erinnerte und ließ sie weinen.
Es dauerte lange, bis sie sich soweit beruhigt hatte, dass er sie loslassen konnte. Sie wischte sich mit der Hand über ihr tränennasses Gesicht und schniefte durch die Nase. Sie beruhigte sich zusehends, griff hinter sich und holte unter einem der Pölster ein Tuch hervor. Romhynos Brauen gingen erstaunt in die Höhe, doch er sagte nichts. Sie wischte sich das Gesicht, putzte sich die Nase und meinte leise:
»Entschuldigung! Und dankeschön, dass Sie mich zu trösten versucht haben! Mein Name ist Kassandra!«
»Es gibt nichts zu entschuldigen und dein Name ist sehr hübsch. Gehts wieder?«

Sie nickte.
»Ja, nochmals danke!«
»Keine Ursache. Dich zu trösten war noch meine leichteste Übung. Dich wieder zurück zu schicken, fällt schon in die Kategorie schwer bis unmöglich!«
Sie hob den Blick und schaute ihn erstaunt an. Dann meinte sie, sich ein kleines Lächeln abringend:
»Sie sind wohl hier der Pausenclown, was?«
Romhyno erwiderte ihren Blick etwas irritiert. Er war schon mit verschiedenen Bezeichnungen belegt worden, aber einen Pausenclown - was immer man sich darunter vorzustellen hatte - hatte ihn noch niemand geheißen.
»Entschuldigung! Sie trifft ja keine Schuld an dem Dilemma, das mich getroffen hat. Sie waren so freundlich zu mir und ich keife Sie an. Doch da wo ich herkomme, muss man sich - leider - auf die Füße stellen, wenn man als Frau etwas erreichen möchte!«
»Entschuldigung angenommen und hier brauchst du dich nicht ‘auf die Füße stellen', hier kannst du frei weg sagen, wenn dir etwas nicht passt.«
»Danke!«
»Gut, da dies nun geklärt zu sein scheint, erzählst du mir, woher du kommst?«
»Naja, begonnen hat alles in meiner Heimatstadt. Ich habe im Wald gejoggt und plötzlich war ich ganz woanders. Erst war ich im Wald, dann befand ich mich auf einer Strasse, die in ein unbekanntes Dorf führte. Dort sprachen sie so seltsam, ich konnte niemanden verstehen. Sie nahmen mich zwar freundlich auf, aber ich war eine Fremde. Sie feierten dann irgendein Fest, luden auch mich dazu ein und dort lernte ich meinen Mann kennen. Mikael hat sich meines Problems angenommen und wollte mir helfen, wieder nach Hause zu kommen. Er hat einen etwas ausgefallenen Beruf, hat etwas mit Energie und der Zeit zu tun. Genaueres weiß ich nicht, über diesen Punkt seiner Arbeit hat er sich meist ausgeschwiegen!«
Romhyno hatte bei der Erwähnung des Namens den Kopf gehoben. Er kannte auch einen Mikael. Doch dieser würde sich niemals mit einer Frau verbinden, egal aus welchem Jahrhundert sie kam.
»Dieser Mikael, beschreibst du ihn mir?«
»Warum?«
»Wenn es jener Mikael ist, den ich auch kenne, würde er niemals eine Frau an seiner Seite dulden. Ausser ...! Du hast die Gabe des Sehens, nicht wahr!«
Sie senkte den Kopf und wartete darauf, dass der Mann neben ihr auf dem Sofa, der eine auf sie so starke Anziehungskraft hatte, dass sie sich zwingen musste, ihre Gedanken nicht in verbotene Gebiete abschweifen zu lassen, eine dumme Bemerkung machen würde, wie all die anderen. Als er schwieg, hob sie den Kopf. Er starrte nachdenklich auf seine Hände. Sie hatte Muße, ihn zu beobachten. So, als hätte er ihren Blick gespürt, hob er den Blick und sah ihr mitten in die Augen.
»Erzähle mir von ihm!«
»Was soll ich da erzählen?«
»Beschreibe ihn mir!«
»Naja, er ist nicht sehr groß, aber lieb und gütig und der Vater meiner Zwillinge. Seine dunklen Locken schmiegen sich sanft an sein edles Gesicht und seine dunklen Augen können schon mal die Farbe wechseln zu gold. Manchmal ist er ziemlich unnahbar, auch sehr wenig bei mir, aber ich liebe und vermisse ihn!«
»Und er hat ein Fühlerpaar, das man allerdings nur bei Erregung bemerkt, da es sich dann erst aus seinem Haar hebt!«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich ihn kenne. Wenn du keine Sehergabe hättest, wäre er als Energiewächter nie dein Gefährte geworden. Du kannst einen der Wächter nicht einfach zu einem Familienvater degradieren!«
»Degradieren?«
»Ja, wenn du ihn verführst, um ihn an dich zu binden, ist das in meinen Augen ein Degradieren!«
»Ich habe ihn nicht verführt!« Ihre Stimme hatte einen metallischen Unterton bekommen.

»Wie würdest du es sonst nennen? Du hast vorhin behauptet, Mikael wäre der Vater deiner Zwillinge. Ein Energiewächter würde sich nie mit einer Frau verbinden und mit ihr auch noch Kinder zeugen. Ausser sie hätte ihn so gekonnt verführt, dass er ihr erlegen wäre. Doch dann wäre auch seine - nennen wir es Berufung - verloren. Er würde seine gesamte Energie für diese Frau und die Nachkommen verschwenden!«
»Hören Sie, ich kenne Sie nicht und Sie kennen mich nicht. Was diese unselige Gabe angeht, haben Sie recht. Ich kann, so wie meine Namenspatronin, in die Zukunft sehen. In eine mögliche Zukunft. Aber ich brauche mich nicht von Ihnen als Lügnerin und Hure bezichtigen lassen. Ich möchte Sie nun bitten, zu gehen!«
Romhyno war zusammen gezuckt, als sie so schnell aufgesprungen war und ihn nun mit flammenden Blicken ansah. Er nickte, blieb aber entspannt sitzen.
»Ich kann schon verstehen, wieso Mikael von dir so fasziniert war, dass er sich mit dir verbunden hat. Aber da muss noch etwas anderes sein, umsonst verbindet sich kein Energiewächter mit einer ...!« Romhyno unterbrach sich, als sie mit der Hand ausholte und ihm kräftig auf die Wange schlug. Sie streckte die Hand aus und deutete auf die Tür.
»Raus!«
Romhyno griff sich unwillkürlich an die brennende Wange und stand auf. Seine Augen verengten sich, er musste sich mit Gewalt zwingen, dieser Frau, die vor ihm wie eine Rachegöttin, nicht zu vergelten, was sie ihm eben angetan hat. Der Moment dauerte nur kurz, dann nickte er und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Er hielt es ihrem Schmerz und auch ihrem Temperament zugute, dass sie ihn georfeigt hatte. Doch er hatte mit keinem Wort oder auch nur mit einem Gedanken sie als Hure bezeichnet. Er traute Mikael soviel Urteilsvermögen zu, dass sich dieser nur mit der richtigen Gefährtin verband.
Romhyno wollte sich eben zu seinen Räumen begeben, als ihn einer der Priester aufhielt.
»Mahun, es gibt Probleme!«
»Wann nicht?«
»Mahun?«
Romhyno winkte ab, als er den erstaunten Blick des anderen sah.
»Was ist das Problem?«
»Der Wächter, der den Kelch des Lebens bewachen sollte, wurde verletzt. Schwer verletzt!«
»Wodurch?« Doch Romhyno konnte die Dringlichkeit hinter dem Schweigen des Priesters spüren. Er schüttelte den Kopf und meinte dann nur:
»Bring mich hin!«
Der Priester nickte, wandte sich um und führte Romhyno zum kleinen Initiationsraum. Kurz runzelte Romhyno die Stirn und fragte sich, was ein Schwerverletzter in diesem Raum zu suchen hatte, dann öffnete er die Tür. Das erste, das ihm ins Auge fiel, war das mitten im Raum aufgestellte Bett. Darauf lag eine mit einer Decke bedeckte Gestalt.
Romhyno trat näher und erkannte das blasse Gesicht Belvedderes. Er hob den Kopf und wandte sich an den an der Tür stehen gebliebenen Priester.
»Seht selbst!« meinte dieser.
Romhyno schaute wieder auf den Wächter und hob die Decke. Sein Blick fiel auf die wie verbrannt aussehenden Hände. Der Wächter stöhnte leise, wachte aber aus seiner Bewußtlosigkeit nicht auf.
»Weißt du, was genau passiert ist?«
»Ja Mahun. Ein Räuber war zur Höhle gekommen und wollte den Kelch unrechtmäßig an sich bringen. Der Wächter hat ihn ebenso mit bloßen Händen berührt, wie der Räuber. Nur dass dieser sein Leben dafür gelassen hat!«
»Das heißt also, dass der Kelch des Lebens gestohlen werden sollte und Belveddere hat ihn mit seinem Leben verteidigt? Dies ist normalerweise seine Aufgabe!«
»Ich weiß, Mahun! Aber dass der Wächter den Kelch mit bloßen Händen berühren sollte, war nicht seine Aufgabe.«
»Warst du dabei, als es geschah?«
»Nein Mahun, aber ...!«
»Dann enthalte dich in Zukunft einer Situationsbewertung bitte. Ist der Kelch noch dort, wo er sein sollte?«
»Nein Mahun, Der Wächter hatte ihn noch in den Händen, als man ihn brachte!« Der getadelte Mann hatte seinen Blick gesenkt. Romhyno nickte, dann setzte er sich neben den Bewußtlosen und sagte:
»Man soll ihn herbringen. Jetzt wird er gebraucht!«
Der Priester nickte kurz und ging. Romhyno griff nach den Händen des Wächters und besah sich die verbrannten Handflächen. An einigen Stellen sah das rohe Fleisch hervor. Dies waren schwere Wunden, abgesehen von dem sicherlich vorhandenem ebnfalls schweren Psischock. Es dauerte nicht lange, da betrat der Priester den Raum, in seinen Händen den Kelch, eingehüllt in ein Netz aus blau leuchtenden Psikristallen.

»Stelle ihn her und lass mich allein!«
Der Priester nickte, verneigte sich leicht und stellte das Netz mitsamt dem Kelch so schnell auf den kleinen Beistelltisch, als wäre der Kelch plötzlich schwer geworden. Sofort ließ er das Netz los, als hätte er sich daran verbrannt, wandte sich um und verließ ziemlich schnell den Raum. Romhyno sah ihm nach und schüttelte den Kopf. Dann nahm er vorsichtig den Kelch aus dem Netz und fühlte beinahe sofort die Verbindung, die der Kelch mit ihm einging. Da der Kelch des Lebens noch sein gesamtes Psipotential hatte, wunderte es Romhyno sehr, dass nur Belvedderes Handflächen verbrannt waren. Zwar sehr schlimm, aber der Wächter war am Leben.
Romhyno stand auf, ging zu dem schmalen Durchgang, der den Initialisierungsraum mit dem hinteren Ruheraum verband und füllte von dem dort stehenden Wasser hinein. Die bunten Edelsteinkristalle, die den Kelch zu etwas besonderem machten, begannen leicht zu schimmern und warfen ihre Lichter in das Wasser. Romhyno kehrte zurück, setzte sich erneut aufs Bett und schloß die Augen. Seine Hände waren um den Kelch gelegt und er sammelte all seine Kraft und Energie, um sie langsam in den Kelch und das Wasser darin fließen zu lassen.
Der Wächter stöhnte leise und bewegte sich unruhig. Dann schlug er die Augen auf und sein Blick wurde groß, als er auf den Hohepriester fiel. Er wollte sich aufsetzen, doch ein stummer Blick von seitens Romhyno ließ ihn die Bewegung nicht zuende führen.
»Es tut mir leid, was passiert ist, Mahun! Aber der Dieb hat seine gerechte Strafe erhalten. Allerdings auch ich, denn ich habe den Kelch des Lebens mit bloßen Händen berührt!«
»Es braucht dir nicht leid zu tun, Bel. Du hast deine Arbeit gut verrichtet. Vertraust du mir?«
»Bedingungslos, Mahun!«
»Ich werde versuchen dich zu heilen. Dazu werde ich den Kelch benützen müssen. Wenn du mit einem Wort oder auch nur mit einem Gedanken gelogen hast und ihn beschmutzt hast, wird er dich nicht heilen, sondern töten!«
»Ich weiß!« Belvedderes Stimme zitterte. Aber er hatte ein gutes Gewissen. Was den Hergang des Kelchdiebstahls betraf. Von dem anderen, kleineren Grund sagte er nichts. Und Romhyno fragte nicht nach.
»Gut. Ich frage dich noch einmal, vertraust du mir?«
»Bis in den Tod, Mahun!« Jetzt hatte die Stimme des Wächters ihre alte ehrliche Stärke zurück erhalten. Romhyno nickte und hielt dem Verletzten den Kelch hin.
»Trink daraus und ergreife den Kelch mit beiden Händen!«
»Ich werde ihn beschmutzen!«
»Hast du Angst?«
»Nein, Mahun!« Belveddere hob seine Hände, zuckte zusammen, als die Verbrennungen zu spannen begannen und ihn schmerzten. Doch er ergriff mit beiden Händen den Kelch, setzte ihn an die Lippen und trank das Wasser daraus mit wenigen Schlucken. Der Kelch begann, kaum war er ausgetrunken, zu leuchten und selbst wenn Belveddere ihn jetzt loslassen würde, er hätte es nicht gekonnt. Romhyno legte seine Hände auf die Hände des Verletzten, konzentrierte sich und aktivierte die Heilkraft des Kelches. Er wusste tief in sich, dass die Arbeit mit dem Kelch ihn wieder für einige Tage auslaugen würde, doch das war ein kleineres Risiko, als wäre der Wächter gestorben. Denn es gab keinen anderen ausgebildeten Wächter, der Belveddere ersetzen konnte.
Der Kelch begann leise zu summen und pulsierte leicht. Die offenen Stellen schlossen sich, neue Haut bildete sich und Romhyno unterstützte den Kelch mit seiner Psikraft. Er wusste nicht, wie der Kelch arbeitete, noch woher er eigentlich stammte, doch das war ihm egal. Wichtig war, dass der Wächter wieder seiner Aufgabe nachkommen konnte.
Es dauerte geraume Zeit, dann ließen sowohl Leuchten als auch Pulsieren nach und verebbten schließlich ganz. Romhyno spürte das Versiegen seiner Kraft und er nahm den Kelch an sich. Belveddere war eingeschlafen oder hatte erneut das Bewußtsein verloren, doch Romhyno hatte nicht mehr die Kraft, dies zu eruieren. Er stellte mit letzter Energie den Kelch des Lebens wieder in das Psinetz und stand auf. Kurz taumelte er, da ihm schwarz vor Augen geworden war, dann ließ er den Wächter alleine, schleppte sich mit letzter Kraft zu seinen Räumen und ließ sich dort aufs Bett fallen. Sein Kopf hatte noch nicht das Kissen berührt, war er bereits eingeschlafen.

 

 

Es war still geworden um Romhyno, den einstigen Hohepriester von Shandong. Sein Sohn Angelo hatte das schwere und verantwortungsvolle Amt eines Hohepriesters übernommen. Er kümmerte sich um die Belange der Bevölkerung und um Roxanter, den Sohn seines ermordeten Zwillingsbruder. Der alte Freund Romhynos - Köster - war vor wenigen Tagen einem Herzleiden erlegen, da konnte auch sein Lebensband nichts mehr machen. So ein Band kann vieles, doch nicht alles heilen. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, dass der Solarisabkömmling eigentlich auch nicht mehr gewollt hatte, weiter zu leben. Seine Gefährtin Akiko, Romhynos Tochter, erzählte ihrem Vater, dass sie Köster nicht mehr aufheitern konnte. Seit dem gewaltsamen Tod Dominiks, Kösters Patensohn, hätte dieser sich mehr und mehr in sich gezogen. Er würde seine Akiko zwar noch immer über alles lieben, doch Dominiks Tod hatte eine tiefe und nicht mehr verheilende Wunde gerissen.

Dumpfe, langsame Schläge hallten durch die stillen Winkel und Gänge. Die Bewohner Shandongs und der restlichen Planeten und Kollonien wussten, was dies bedeutete. Die GROSSE MUTTER begleitete den Hohepriester auf seinem letzten Weg. Im selben Maße, wie der Herzschlag Romhynos sich verlangsamte, im gleichen Maße verlangsamte sich auch der Herzschlag Shandongs. Der kleine Raum, in dem der einstige Hohepriester seine letzten Lebensminuten verbrachte war hell, voll Sonnenlicht durchflutet. Die Fenster waren weit offen und die weißen Gardinen bewegten sich im leichten Wind. Der Hohepriester Angelo und seine Schwester Akiko waren die einzigen, die neben der bewegungslosen Gestalt in dem Bett verharrten. Über Akikos Wangen flossen die Tränen und auch Angelos Augen schwammen. Romhyno hatte seine Augen geöffnet, doch von dem einstigen Dunkelgrau darin war nichts mehr zu sehen. Der weißliche Schleier der Blindheit hatte es abgelöst. Ein leichtes Lächeln huschte über das runzelige Gesicht des Sterbenden, als er leise sagte:
»Ihr solltet aufhören mit dem Weinen! Shandong ist in keiner Gefahr. Und dass ich eines Tages sterben werde, wusste jeder von euch!« Dann verwehte das letzte Wort wie ein Hauch.
Der Herzschlag Shandong machte einen Stolperschritt - setzte aus - kam wieder und setzte erneut aus. Noch ein letzter Schlag - dann ... Stille!
Romhyno, Hohepriester von Shandong und dessen Schwesterwelten war tot! Nie wieder würde es so sein, wie es war. Doch Shandong würde weiter bestehen.

 

Da Illumi da Sola eh ka daranta
ega Samanta is dawok,
Romhyno as da Noma
Shandong krillat he scho.
Ha ta da Amiga ke multipla Schorka.
he Samanta is leg a kor.
Non, Valleta isko i ka he Nenna verolla!

 

( Das Licht der Sonne hat sich verdunkelt,
eine Seele ist verloren,
Romhyno war der Name.
Shandong beweint ihn sehr. Er war der Freund von vielen Herzen,
seine Seele war weit und gut.
Lasset uns trauern um diesen großen Mann.
Nein, niemand mehr wird je seinen Namen vergessen! )

 

 

 

Anhang: Machtvolle Worte, einfach erklärt

 

Es wird so manchen im Augenblick des Lesens die Frage durchzucken:
Was bedeutet dieses? Was heißt denn das?
So habe ich mich daran gemacht, die in meiner Geschichte »Die dunkle Seite der Macht« vorkommenden, vielleicht unverständlichen Begriffe erklärbar zu machen.

A

Alexa: Herrscherin von Shandong, Gefährtin des Hohepriesters Romhyno

Angelo: Sohn Romhynos, Zwillingsbruder Dominiks

Akiko: Tochter Romhynos, Priesterin

D

Dellan: Siedlungswelt im System Shandong

Denaldrin 3A: Heilmittel gegen Ranganfieber. Bevor man das Heilmittel hatte, konnten die Ranganfieber- Befallenen Personen nur durch eine Direktübertragung von Immunblut gerettet werden

Dominik: Sohn Romhynos, Zwillingsbruder Angelos

E

Englikanisches Schlaftier: künstlich erzeugtes Lebewesen, wurde früher als Sklave gehalten. Berühmtester Vertreter: Patrick

Energiewächter: Wesen, die darüber wachen, dass mit verschiedentlich auftauchenden Raumanomalien keine Experimente geschehen

Empath: Jemand, der die Gefühle und Emotionen anderer Lebewesen erfühlt

 

G

GROSSE MUTTER: Systemumspannender Computerkomplex, der sowohl überwacht, als auch mit dem Lebensband verbunden ist

Gever: (GEdankenVERstärker) Kopfhörer ähnliches Gerät, welches die Gedanken seines Trägers verstärkt und auch Visionen und Gedanken anderer Lebewesen empfangen kann. Die Psikontakte schließen an den Schläfen des Trägers ab

I

Illuminaten: ehemalige Bewohner des Planeten Illuma. Sie besaßen die Gabe des Körperwechselns. Bei einem Angriff durch Raumpiraten wurde sowohl Illuma als auch die Sonne Illu vernichtet

Immunblut: Blut von Humanoiden, in deren Blutkreislauf Antikörper nach Erkrankung mit Ranganfieber gebildet wurden

K

Khor: besiedelter Planet im System Shandong

L

Lebensband: psionisch aufgeladenes, mit der DNS des Trägers verbundenes kristallines Band, dessen Eigenschwingungen die Zellen in permanenter Bewegung halten und so das biologische Altern verzögern. Verletzungen und Krankheiten heilt und vom Tode erweckt

M

Matriarchat: Gesellschaftsform Shandongs. Die Frau steht an erster Stelle, sie bestimmt

Mulaff: Togaähnliches Kleidungsstück

P

Patrick: englikanisches Schlaftier, Lebensgefährte von Robin

Pischky: Eigenname der Samenfruchtbäume

 

Psispur: wird meist von Teleportern hinterlassen

Psychodelion: Klavierähnliches Musikinstrument, das bei Benützung von geistig instabilen Wesen zum Folterinstrument werden kann. Es ruft hypnotisch-euphorische Zustände hervor, während ein stark Psiorientiertes Wesen sichtbare Bilder erzeugen kann. Wurde auf die Liste der verbotenen Mechaniken gesetzt!

 

R

Ranganfieber: die sogenannte 3-Stufen-Krankheit hat - ehe man das Heilmittel Denaldrin 3A fand - hunderte Raumfahrer und die von ihnen kontaktierten Völker befallen. Nur in den wenigsten Fällen endete das Fieber nicht mit dem Tod

Raschgard: Ziegenähnliches Tier mit gedrehten Hörnern

Raumpiraten: kriegerisches Raumfahrervolk, das auf der Suche nach kostbaren Bodenschätzen auch nicht vor der Vernichtung von Planeten halt macht

Romhyno: Hohepriester von Shandong Gefährte der Herrscherin Alexa. Er ist das Ergebnis einer Liebesnacht zwischen dem Sohn Robins – Hellas - und dem Letzten aus dem Volk der »Sucher"

S

Shandong: 7-Planeten- System im Sternbild Drache (Schlange). Die ersten Kollonisten waren Siedler der Planeten Terra und Illuma

Shira: besiedelter Planet im System Shandong

Samenfruchtbäume: auf Luftwurzeln laufende Baumähnliche Wesen, deren Früchte essbar sind. Ihre Ableger können sie nur bilden, wenn während deren Reifung eine starke emotionale Energie entsteht

Schneller Schritt: Teleportation

Schwingquarz: energiereiche Kristalle, werden für Transmitter und Lebensband verwendet

Seelenverbindung: geistige Verschmelzung zweier Lebewesen, eine besondere Form der Zuneigung. Angenehmer Nebeneffekt: Beschleunigung der Zellschwingung

Solaris: Ausdrucksweise für Terra (Erde)

Sol: Sonne

T

Telekinet: Jemand, der mit Hilfe seines Geistes und Willens Dinge bewegen kann, ohne sie zu berühren

Telepath: Jemand, der die Gedanken anderer »hört« und selbst dadurch »sprechen« kann

Teleporter: Jemand, der sich mit Hilfe seines Geistes unmessbar schnell von einem Ort zum anderen begeben kann

Terra: Erde. Auswanderer vor den ersten großen Ressourcenkriegen erreichten Shandong und besiedelten es

W

Wathun: Wasserplanet im System Shandong

X

Xanadu: ursprünglicher Name Shandongs vor dessen Zweitbesiedelung

Z

Zeitwächter: aussterbende Rasse von Wesen mit übersinnlichen Fähigkeiten, welche über die Zeitlinie wachen und eventuell auftretende Zeittunnel und Raumanomalien mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln schließen.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.04.2020

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