Markus und Diana Weithmann stürmten zur Wohnungstür herein, rannten ihre Mutter beinahe um und heulten laut wie eine Horde Indianer.
"Huhuhu, endlich Ferien! Lange schlafen, viel lesen und keine Schularbeiten, keine Rechenarbeit, kein gar nichts!"
Markus schloss die Tür mit dem rechten Absatz und schleuderte den Schuh vom Fuß. Der Schuh landete im Zimmeraquarium. Erschrocken stoben die Fische auseinander.
Diana ließ sich in einen Sessel fallen und seufzte abgrundtief.
"Die Schule ist aus, keine blöden Lehrer, keine blöden Aufgaben, nur noch frei, frei, frei!"
"Wascht euch die Hände und kommt zu Tisch. Und nimm bitte den Schuh aus dem Aquarium. Was soll sich Hugo denken?" Hugo war der Oktopus.
Markus stand widerwillig auf, fischte den bereits aufgeweichten Schuh aus dem Behälter und verschwand im Bad. Diana folgte ihm, wieder seufzend.
Es klingelte an der Wohnungstür und ein Brief schob sich durch den Briefschlitz. Mutter Weithmann hob ihn auf und runzelte die Stirn, als sie den Absender las.
"Rechtsanwalt Dr. Theophil Klammer, Notar" stand da.
"Notar? Was will denn ein Notar von uns?"
Vater Weithmann, früher Redakteur bei einer Zeitung, aber seit einem schweren Unfall in Frührente, rekelte sich auf dem Sofa und meinte belustigt:
"Nun, meine liebe Nicolina, wenn du den Brief öffnest, wirst du es sicher erfahren!"
"Ha! Sehr klug, Herbertino. Wirklich, darauf wäre ich nie gekommen!"
Tja, was sich liebt, das neckt sich.
Inzwischen waren die Zwillinge fertig und hatten artig bei Tisch Platz genommen. Sie harrten der Dinge, die da kommen sollten. Mutter Nicole öffnete den Umschlag und zog ein Schreiben hervor. Sie entfaltete es und las vor:
"Sehr geehrter Herr Weithmann! Sie werden gebeten, am 24. dieses Monats um dreizehn Uhr in unserer Kanzlei zwecks Testamentseröffnung vorzusprechen. Bringen Sie bitte Ihre Familie mit, denn bei dem Erblasser handelt es sich um Herrn Oskar Glaubermann, einen Onkel Ihrer Gattin. Hochachtungsvoll ..."
Mutter Nicole musste sich setzen. Sie war blass geworden. Das war ja ihr Lieblingsonkel! Und der war jetzt tot?
"Wie lange hast du schon von Onkel Oskar nichts gehört, Nicoletta?"
"Ach, das müssen jetzt schon zehn oder noch mehr Jahre her sein. Noch vor meiner Heirat brach der Kontakt ab. Und jetzt ist er tot!" Fassungslos starrte sie vor sich hin.
Markus, praktisch veranlagt, griff zum Suppentopf mit den Streublumen darauf, hob den Deckel und füllte den darin befindlichen Schöpfer voll mit Gemüsesuppe, seine absolute Lieblingssuppe. Er goss sie vorsichtig auf seinen Teller, nahm einen zweiten Schöpfer voll und kleckerte auf das Tischtuch. Doch da dieses eine Wachsschicht hatte, konnte man es problemlos abwischen. Dann beugte er sich über den Teller, nachdem er den Deckel wieder auf die Terrine gelegt hatte. Er nahm seinen Löffel, fasste ihn ziemlich voll und blies darauf. Ehe er ihn in den Mund steckte, meinte er noch trocken:
"Mahlzeit!"
Da es sowieso nicht zu ändern war und kalte Suppe nicht schmeckte, griffen nun auch die anderen zu und mehrere Minuten hörte man nur leises Löffel klappern.
"Wann ist eigentlich der 24. des Monats?"
"Warte mal, das ... das ist ja schon morgen", rief der Vater aus. Dann nahm er den leer gegessenen Teller und packte sich eine der Hühnerkeulen darauf, füllte den Reis dazu und holte sich eine der kleinen Glasschüsseln zu seinem Platz, in denen der Salat angerichtet war.
"Hm. Bletschengemüse!"
"Du könntest dich auch einer besseren Sprache befleißigen", mahnte Nicole ihren Mann. Doch dieser grinste nur und meinte zwischen zwei Bissen:
"Seit wann kannst du diese Geschwulstsprache auch so gut, wie ich?"
"Du warst mir ein guter Lehrer!"
Vater Herbert grinste, packte seine Hühnerkeule und biss kräftig hinein.
"Müffen wir da hin", fragte Markus mit vollem Mund. Herbert sah vorwurfsvoll zu seinem Sohn.
"Mit vollem Mund spricht man nicht!"
"Ich pfeche nicht, ich - pampf - fage foß!"
Doch dann wurde über diese Frage nicht mehr diskutiert. Das restliche Essen wurde schweigend beendet.
Diana war beinahe eingeschlafen, als ihr Bruder zu ihr ins Zimmer huschte und sich an ihr Bett setzte. Sie zog sich die Decke bis an den Hals und meinte:
"Verschwinde!"
"Ich gehe ja gleich. Was, meinst du hat dieser Onkel uns hinterlassen? Vielleicht ein Schloss? Oder einen Koffer voll Geld? Hast du schon von diesem Onkel gehört?"
"Nein, so wenig wie du. Wenn selbst Papa ihn nicht mehr im Kopf hatte. Und jetzt geh endlich, ich will schlafen!"
"Weißt du, wenn der Onkel uns einen Koffer voll Geld hinterlassen hat, könnten wir endlich mal weiter Urlaub machen, als nur bis zu Oma", spann Markus den Faden weiter, ohne auf seine Schwester zu achten. Diese verdrehte die Augen, seufzte und meinte, nachdem sie gegähnt hatte:
"Vielleicht hat er uns auch nur alte Unterhosen und stinkende Männerhemden hinterlassen. Und so schlecht ist es bei Oma gar nicht!"
Irritiert sah Markus auf seine Schwester.
"Warum sollte er uns alte Unterhosen und stinkende Männerhemden hinterlassen?"
"Na, könnte doch sein, oder? Und jetzt verschwinde. Ich möchte morgen wenigstens einmal länger schlafen!"
"Sag, warum sollte er das tun?"
"Frag mich nicht, lass mich in Ruh'. Morgen wirst du alles erfahren. Ausserdem ist oder war er Mamas Onkel und Papa hat ihn ja auch nicht oft gesehen. Wieso Papa den Brief vom Notar bekam, weiß ich auch nicht. Und jetzt verschwinde endlich, sonst mach ich dir Beine!"
"Du bist ein Döskopp!" Markus ärgerte sich über das offensichtliche Desinteresse seiner Schwester an dieser ominösen Erbschaft. Ihn würde es heute Nacht keine Ruhe lassen. Er erhob sich, nicht ohne seiner Schwester kurz die Faust auf den Oberarm zu schlagen. So leise wie er gekommen war, verließ er wieder das Zimmer und ging auf Zehenspitzen an der Schlafzimmertür seiner Eltern vorbei.
"Lass deine Schwester in Ruhe und du solltest auch schon längst in Morpheus' Armen liegen!" Die Stimme seines Vaters ließ Markus erschrocken zusammen zucken und er schaute, dass er so schnell als möglich sein eigenes Zimmer erreichte. Dort warf er sich aufs Bett, verschränkte die Arme unterm Kopf und malte sich aus, was diese Erbschaft sein könnte und was er damit machen würde. Doch bald schlossen sich seine Augen und er schlief ein. Als wenig später seine Mutter noch einmal ins Zimmer kam, war er tief und fest eingeschlafen. Nicole deckte ihren Sohn mit der leichten Decke zu, strich ihm kurz durch seine dichten Haare und ging wieder. Sie betrat auch das Zimmer ihrer Tochter, auch dort schlief die Inhaberin tief und fest. Kurz drückte ihr die Mutter einen Kuss auf die Stirn und war froh, dass ihre Tochter schlief, wäre sie wach gewesen, hätte sie sicher lautstark dagegen protestiert. Nicole verließ das Zimmer, begab sich ins Elternschlafzimmer, rutschte unter die Decke und Stille senkte sich nieder. Nur der aufkommende Nachtwind spielte mit den weißen Gardinen, die sich vor dem offenen Fenster bauschten.
Am nächsten Tag, zur angegebenen Zeit fand sich Familie Weithmann in der Anwaltskanzlei Dr. Klammer ein. Durch eine Glastür betrat man einen kleineren Vorraum. Hinter zwei gegeneinander stehenden, halbrunden Tischen saßen zwei Frauen im mittleren Alter. Eine von beiden hatte blond gefärbte Haare und einen etwa drei Zentimeter großen Nachwuchs. Dies bemerkte Mutter Nicole gleich beim Eintritt. Sie fand, die Sekretärin hätte auch den Friseur aufsuchen können. Die zweite Sekretärin war rothaarig. Sie sah auf und lächelte freundlich.
"In welcher Angelegenheit kommen Sie?"
"Wir sind die Weithmanns und kommen wegen ...!"
"Oh ja, ich weiß schon. Bitte folgen Sie mir!" Sie stand auf, richtete sich die Jacke ihres beigen Kostüms und meinte dann, während sie eine Türe öffnete:
"Herr Doktor, Familie Weithmann! Möchten Sie Kaffee?" Mit dieser Frage wandte sie sich an die beiden Erwachsenen. Doch beide lehnten ab und betraten den Raum, der hinter der geöffneten Tür lag. Die Sekretärin schloss hinter Markus, der als letzter eintrat, die Tür und die Aufmerksamkeit der Weithmanns richtete sich nun auf den großen Schreibtisch, der ein Drittel des Raumes einnahm. Davor standen vier tiefe Stühle. Seitlich befand sich eine kleine Sitzgruppe mit bequemen Sesseln und einem niedrigen Tisch, auf dem einige Zeitschriften lagen.
"Treten Sie näher und nehmen Sie bitte Platz!" Die Stimme des Mannes hinter dem Schreibtisch war tief und rau. Er stand auf, gab allen die Hand und Diana musste einen Schmerzenslaut verbeißen, denn der Notar hatte einen festen Händedruck. Er bat Platz zu nehmen und als sie saßen, griff er nach einem bereits vorbereiteten Schriftstück, das in einer blauen Mappe lag.
Dr. Klammer war ein mittelgroßer Mann mit Glatze und großem Schnauzer, den er beständig zwirbelte. Man konnte ihn als hager bezeichnen, fast dürr. Er trug einen grauen Anzug, in dessen Brusttasche ein grellrotes Ziertuch steckte. Er hatte eine große Hakennase und eine Zahnlücke, durch die er beim Sprechen pfiff. Seine schwarzen, dichten Augenbrauen waren über der Nasenwurzel zusammen gewachsen, was ihm ein drohendes Aussehen verlieh.
Kurz las er für sich den Akt durch, dann hob er den Blick und sah jeden seiner Besucher einige Sekunden stumm an. Schließlich nickte er und begann:
"Die Legate an die Stieftochter und an jene Leute, die ihrem Onkel einmal gefällig waren, brauchen wir nicht zu besprechen. Für Sie ist nur der Teil von Relevanz, der Sie, liebe Familie Weithmann betrifft. Dass Ihr Onkel vermögend war, wissen Sie vielleicht, auch dass er mehrere Besitzungen und Liegenschaften hatte. Auch dies dürfte bekannt sein. Nun eine der Liegenschaften, ein ziemlich gut erhaltener Bauernhof samt Inventar - sowohl tierischem,als auch Sachwerten - geht in Ihrem Besitz über. Sofern Sie Ihre Erbschaft antreten wollen. Wenn ja, dann unterschreiben Sie hier bitte und der Schlüssel wird Ihnen sogleich ausgehändigt werden!"
Die Weithmanns sahen sich überrascht an.
"Ein Bauernhof, ein richtiger Bauernhof? Mit Kühen, Pferden, Wiesen und Äcker? Oh Mann, mir zieht's die Schuhe hoch!" rief Markus laut und fassungslos. Es brachte ihm einen verweisenden Blick des Vaters ein.
Aber Dr. Klammer lächelte nur über die Begeisterung des Jungen und nickte.
Nachdem sich der Jubel etwas gelegt hatte, fragte der Vater:
"Wie groß ist eigentlich der Besitz? Vielleicht zahlt es sich aus, gleich aufs Land zu ziehen!"
Der Notar nickte und schob einen Plan, der ebenfalls in der Mappe lag, zu Vater Weithmann hinüber. Dieser betrachtete ihn und begann bereits im Kopf die Zahlen zur richtigen Größe zu übersetzen. Er pfiff durch die Zähne.
"Donnerwetter!" war sein Kommentar. Dann schob er den Plan weiter zu seiner Frau und auch diese riss die Augen auf. Ehe Markus nach dem Plan greifen konnte, schob sie ihn dem Notar wieder hin und dieser verstaute den Plan in der Mappe. Er reichte den Weithmanns ein Schriftstück und diese unterschrieben es, nachdem sie es gelesen hatten. Dr. Klammer griff in eine der Schubladen auf seiner Seite des Schreibtisches, holte einen Bund mit verschieden großen Schlüsseln und bunten Zetteln daran,hervor und suchte kurz nach dem richtigen. Er machte diesen vom Rundring los und überreichte ihn der Mutter. Der Schlüssel hatte einen viel zackigen Bart und Verschnörkelungen am Kopf. Sowie ein rotes Zettelchen, auf dem "Weithmann" stand. Nicole nahm den Schlüssel, erhob sich und verabschiedete sich vom Notar. Ihre Familie folgte ihrem Beispiel und so verließen sie die Kanzlei als frisch gebackene Bauernhofbesitzer. Im Hausflur sprang Markus in die Höhe und ließ einen Schrei los. Eine Tür wurde aufgerissen und eine Frauenstimme schimpfte:
"Ist das ein Benehmen? Ruhe sage ich!" Die Tür schlug wieder zu und Markus, der sich ziemlich erschrocken hatte, lief die restlichen Stufen ohne einen Laut von sich zu geben, bis zum Haustor.
"Zur Feier des Tages lade ich euch hiermit alle zum Eisessen ein!" sagte der Vater und erntete wildes Freudengeheul.
Es dauerte dann doch noch sechs Wochen, bis alle laufenden Zahlungen abgemeldet und umgemeldet auf die neue Adresse waren, der gesamte Hausstand eingepackt und verstaut war.
In der Zwischenzeit versorgte eine alte Bekannte des Onkels dessen Hinterlassenschaft für die Weithmanns.
Endlich war es soweit. Die Wohnung war aufgelöst worden und eines Samstag Nachmittags fuhren sie zu ihrer neuen Heimstatt. Als sie durch gute Bekannte erfuhren, dass Großmutter Agatha ganz in der Nähe wohnte, waren alle freudig überrascht. Der Möbelwagen war schon vorgefahren, die Weithmanns folgten mit dem Auto nach. Es dauerte ziemlich lange und beide Kinder vertrieben sich die Zeit mit dem Zählen entgegen kommender Fahrzeuge oder dem Erraten der nächsten Farben der Autos. Doch als dieses Spiel zu langweilig wurde, schliefen sie am Rücksitz einfach ein, die Köpfe an die jeweils andere Geschwisterlicher Schulter gelehnt. Der Vater wechselte sich mit seiner Frau beim Fahren ab und so konnten sie schon bald hoffen, dass sie ihr Etappenziel erreichen würden.
Die Strecke wurde einsamer und immer weniger Autos kamen ihnen entgegen. Bei einer Raststelle musste getankt werden und dort besorgte sich auch Mutter Weithmann Proviant für die Weiterreise.
Endlich erreichten sie das Haus und waren sofort begeistert. Es war ein großes, zweistöckiges Haus mit weiß gestrichenen Fenstern und einer in einem weichen Blauton gehaltener Eingangstür. Vor der Auffahrt stand bereits der Möbelwagen und die letzten Gegenstände wurden schon hinein getragen. Der Vater bezahlte die Männer und bedankte sich bei ihnen. Ehe sie wieder fuhren, schüttelte er ihnen die Hand und betrat als letzter das Haus.
Innen war eine größere Empfangshalle, Holztäflung an allen Seiten und am Boden bunte Teppiche. An der Decke schwebte ein aus Hirschgeweih gefertigter Luster. Vor den Fenstern hingen bunte Vorhänge und etliche Türen zweigten vom Eingang ab. Die Kinder waren schon auf Entdeckungsreise gegangen. Nicole stand staunend noch immer im Eingangsbereich und bewunderte diesen. Vater Herbert legte seinen Arm um ihre Schultern, drückte sie an sich und meinte leise an ihr Ohr:
"Wir haben das große Los gezogen, was Nicoletta?"
"Das denke ich auch. Und den Kindern passt es auch hier!"
Schon kurze Zeit später hatten sich alle eingelebt, als wären sie schon immer dort wohnhaft gewesen. Der Tierbestand stellte sich als vier Hühner samt Hahn und acht Ziegen sowie drei Enten heraus. Die zugehörigen Äcker waren verpachtet und Herbert war froh darüber. Er hätte nichts anzufangen gewusst, mit dem ackern und pflügen. Beinahe jeden Tag waren die Zwillinge drüben bei ihrer Großmutter. Sie hatte einen Stall mit Kaninchen und es war immer ein Erlebnis, wenn diese Junge hatten. Und sie lernten Tante Aloisia kennen, die Schwester ihres Vaters.
Die Großmutter hatte ihnen auch von Aloisias Unfall erzählt. Vor Jahren war ein Blitz eingeschlagen und hatte eine große, alte Eiche gefällt. Aloisia, die unter dem Baum gesessen hatte und las, wurde von diesem getroffen und schwer verletzt. Stunde um Stunde lag sie darunter und als endlich die Suchmannschaft am Unglücksort eintraf, der Schlagerlbauer sie mit der Motorsäge unter dem Blattwerk heraus sägte, war sie nicht mehr bei sich. Drei Wochen lag Aloisia mit Fieber und ohne Bewusstsein in ihrer Kammer. Als sie endlich, laut Doktor, "über den Berg" war, hatte sie sich sehr verändert. Seither sprach sie nur noch über Feen und Hexen, von Zauberern und anderen Wunderwelten. Auf die Frage von Markus, warum man sie nicht in ein Krankenhaus gebracht hatte, meinte die Großmutter, dies wäre zu teuer gewesen. Und außerdem hatte man ja den "guten Herrn Doktor"!
Von da wurde an wurde Aloisia von den Leuten gemieden und sie sahen diese oft schräg an. Manchmal klopfte sich auch mal einer bezeichnend an die Stirn.
Wieder einmal streiften Markus und Diana durch den Wald, erfanden phantasievolle Geschichten, spielten als wären sie in Sherwoods Forest und Markus war Robin Hood, Diana stellte Lady Marion dar. Sie waren auf dem Weg zu ihrer Tante Aloisia.
Sie stürmten in das kleine Zimmer, das Aloisia bewohnte und blieben erstaunt stehen, als sie ihre Tante summen hörten. Diana trat näher und setzte sich auf den Boden, neben Aloisias Füße, die in weichen grauen Pantoffeln steckten.
"Welche Melodie hast du eben gesummt, Tante Aloisia?"
"Das war das Königslied vom Lande Raise. Es ist der Schlüssel zur weißen Tür im langen Korridor!"
Markus setzte sich neben seine Schwester und meinte neugierig:
"Und was bedeutet das, Tante?"
"Das bedeutet, dass eure Großmutter in fünf Tagen Geburtstag hat und euch sowie eure Eltern hierher zu einer zünftigen Party einlädt. Ihr werdet doch kommen, oder?"
"Sicher. Wir wussten nur nicht, dass Oma schon jetzt Geburtstag hat. Was würde ihr als Geschenk Freude machen?"
Aloisia dachte nach und summte erneut. Dann nickte sie und sagte mit einem kleinen Lächeln:
"Ich glaube, am liebsten wäre ihr, wenn ihre Familie mit ihr feiert und ein glückliches Lachen der Kinder durchs Haus schallt!" Das Lächeln verstärkte sich und Aloisia sah auf die beiden Kinder zu ihren Füßen. Die beiden nickten nachdenklich und erwiderten das Lächeln.
"Ja, ich denke, ich weiß, was ich ihr schenke!" Markus grinste erfreut. Diana sah ihn fragend an, doch er schien sein Geheimnis mit ihr nicht teilen zu wollen. Nun, sie würde sich ebenfalls etwas Schönes ausdenken.
"Erzählst du uns eine Geschichte, Tante Aloisia?"
"Ja, bitte. Die Geschichte soll spannend sein, es sollte zum Lachen sein und ...!"
"Warte. Ich kenne eine Geschichte, die wird euch gefallen. Holt euch die Decke, setzt euch darauf, denn der Boden ist kalt und eine Blase ist rasch entzündet. Ich weiß, wovon ich spreche."
Markus stand auf, ging zum Sofa und holte die dicke, graue Flauschdecke. Er breitete sie aus und setzte sich darauf. Diana setzte sich ebenfalls auf die Decke und sie gab im stillem der Tante recht. Erst als sie auf der Decke saß, wurde ihr klar, dass ihr Hinterteil bereits die Kühle des Bodens angenommen hatte. Sie war gespannt, welche Geschichte ihre Tante erzählen würde.
Aloisia hob den Kopf, schloss die Augen und dachte nach. Als die Kinder schon dachten, sie wäre eingeschlafen, öffnete Aloisia die Augen, beugte sich etwas vor und begann mit leiser Stimme zu sprechen.
"Einst war sie eine Lichtgestalt wie viele andere. In lauen Sommernächten flog sie mit ihren Brüdern und Schwestern über die Tau beträufelten Wiesen. Die Menschen, die sie sahen, meinten dann: 'Seht mal, die vielen Glühwürmchen!' Nur ein kleines Mädchen, Robin war ihr Name, wusste wer sie wirklich war. Aber keiner glaubte ihr, alle lachten sie aus und die Schulkameraden zeigten mit dem Finger auf sie. 'Da kommt die Elfenblöde! Die glaubt sicher auch noch an den Weihnachtsmann. So ein Depp!' Robin war sehr allein und einsam. Ihren Eltern konnte sie auch nicht erzählen, sie würden Robin sofort von Arzt zu Arzt schicken. Es änderte sich erst, als Robin wieder einmal beim verbotenen Teich spielte, über einen morschen Baumstamm turnte und dieser brach. Sie stürzte ins Wasser. Obwohl sie alleine gegen die Strömung kämpfte, hatte sie jemand beobachtet. Dieser Jemand flog so schnell es ging zur großen Wiese, wo der alte Hannes, von dem die Leute sagten, er wäre nicht richtig im Kopf, eben seine Brotzeit hielt. Er sah auf und erkannte sofort, dass etwas passiert sein musste. Er legte seine Mahlzeit beiseite, erhob sich und folgte dem drängenden Flug des Lichts. Als er am Bach ankam, hielt sich Robin mit letzter Kraft an einer ins Wasser hängenden Wurzel fest. Er fädelte den Gürtel aus seiner Hose, hielt ihn Robin hin und zog sie aus dem Wasser. Da stand sie nun,ein kleines, klitschnasses Mädchen mit Tränen in den Augen und bedankte sich. Verlegen nickte der Hannes und sagte nur: 'Wusch hat mich geholt! Bei Wusch musst du dich bedanken!' Robin sah ihn erstaunt an. Wusch? Wer war Wusch? Sie zuckte zusammen, als sich etwas feuchtes auf ihre Nase setzte und ein leises Lachen erklang. Gleich darauf erhob sich eine kleine Lichtelfe von Robins Gesicht und flog in den Himmel. Das Geräusch, das ihre Flügel dabei machten, war ein langgezogenes WUUSCH! Da wusste Robin, dass sie nun eine Freundin hatte. Kein noch so grobes Wort anderer konnte Robin nun verletzen und irgendwann hörten die Beleidigungen auf. Robin lernte in ihrem Leben noch viele neue Freunde kennen. Die liebste aber blieb Wusch, die kleine Lichtelfe!"
Aloisia schwieg und schloss wieder die Augen. Markus hatte erst das Gesicht verzogen, er war kein Elfenfreund. Doch bald hatte ihn die kleine Geschichte in den Bann gezogen. Diana dagegen wäre lieber Robins Freundin gewesen. Sie liebte Elfen und sie wusste, wie es war alleine zu sein.
Ein leises Schnarchen erinnerte die Kinder wieder daran, wo sie waren. Sie merkten, dass die Tante scheinbar eingeschlafen war, standen auf und während Diana die Decke aufhob, zusammen legte und sie wieder auf das Sofa packte, war Markus bereits verschwunden. Diana schüttelte den Kopf, warf einen raschen Blick auf die schlafende Tante und ging nun auch, so leise sie konnte. Am Rückweg wollte Markus erneut Robin Hood spielen, doch Diana dachte noch immer über die kleine Geschichte nach. Nach mehreren Ansätzen ihres Bruders, Diana zum Mitspiel zu bewegen, ließ er es schließlich sein. Sein Kommentar war lediglich, ehe er den Weg entlang lief:
"Du bist langweilig, Schwester!" Und weg war er. Diana zuckte die Schultern und erreichte das Anwesen beinahe eine Stunde später als ihr Bruder. Aber sie hatte viel nachzudenken.
Der große Tag war gekommen. Der Garten war mit bunten Lampions geschmückt worden, die an den Ästen der größeren Bäume hingen und bunte Lampen, die vorgesehen waren, die Grillerei am Abend zu beleuchten. Ein Regelschalter brachte sie in bestimmten Zeitabständen zum Blinken. Zuerst tollten die Zwillinge noch im Garten umher, doch der Vater scheuchte sie später ins Haus. Die Mutter hatte mit dem Salat und der Soßenbereitung alle Hände voll zu tun und so waren die beiden alleine auf sich und ihre Fantasie gestellt. Daher beschlossen sie, das obere Stockwerk des Hauses zu erkunden. Bisher war die Mutter immer dagegen gewesen. Es wäre nichts anderes als ein großer Dachboden, der irgend einmal ausgebaut werden könne. Außer altem Gerümpel und einer verschlossenen Tür, zu der es scheinbar keinen Schlüssel gab, wäre dort oben nichts zu entdecken. Doch gerade dies wirkte auf die beiden Kinder anziehend, wie Honig für Fliegen und Speck für Mäuse. Vaughy folgte den Zwillingen überall hin und es gab viel zu lachen, wobei der Hund seinen Teil mit lautem und erfreutem Bellen beitrug.
Im Laufe des Spiels erreichten sie aber auch die Treppe, deren dritte Stufe von der Tür beendet wurde. Sonst war sie immer zu, doch jetzt stand sie einen Spalt offen. Die Zwillinge verstummten und sahen erstaunt auf die halboffene Tür.
"Was meinst du, haben sie den Schlüssel gefunden?"
Diana zuckte auf die Frage ihres Bruders die Schultern. Sie bemerkte den hellen Schein, der unter der Tür hindurch auf die oberste Stufe fiel. Neugierde packte sie und auch Markus ging näher. Er überlegte noch immer,was er machen sollte, als Diana bereits die Stufen betreten hatte und ihre Hand auf die Klinke der Tür legte. Sie spürte die rostigen Stellen darauf, die über ihre Handfläche kratzten. Markus war inzwischen seiner Schwester gefolgt und schluckte. Ganz geheuer war beiden nicht, doch wenn sich hier die Gelegenheit zu einem spannenden, neuen Spiel bot, dann sollte man doch wirklich zugreifen. Vaughy winselte. Doch die beiden kümmerten sich nicht um den Hund. Weit in der Ferne hörten sie die Großmutter mit dem Vater sprechen.
Diana drückte die Tür etwas weiter auf. Sie knarrte laut in den Angeln.
"Scht!" machte Markus.
"Selber scht!" erwiderte Diana.
Doch hatte sie etwas weltbewegendes erwartet, als sie einen Blick hinter die Tür werfen konnte, sah sie sich enttäuscht. Dahinter befand sich ein hellblau bestrichener Raum. Und er war leer. Leer bis auf ein Bild, das genau gegenüber der Tür an der Wand hing. Die beiden gingen in den Raum, näher zum Bild.
Die Zwillinge, sonst immer laut und kaum zu bändigen, waren jetzt ziemlich eingeschüchtert. Ein seltsames Gefühl machte sich in Diana breit. Sie zuckte erschrocken zusammen, als Markus nachdenklich meinte:
"Wenn der Dachboden leer ist und nur dieses Bild da hängt, warum hat man die Tür zugeschlossen?"
Diana nickte, doch sie dachte nicht weiter über die sicher berechtigte Frage ihres Bruders nach. Sie betrachtete das Bild.
Es zeigte eine Landschaft, wild und romantisch zugleich. Mit hohen, von Sonnenstrahlen vergoldeten Bergen und einem See.Er glitzerte ebenso im Sonnenschein und schien sehr tief zu sein. Ein Wald umgab ihn auf drei Seiten, dessen Bäume sehr sonderbar aussahen. Sie hatten viele Luftwurzeln und lilafarbige Blüten. Darin waren Augen zu erkennen. Bei manchen war dieses Auge geschlossen und von langen Wimpern umgeben. Bei anderen Blüten war es offen und man konnte den Stiel sehen, worauf es saß. In der etwas dunstigen Ferne konnte man ein Dorf erkennen, mit Häusern die wie Pilze geformt waren.
Die Kinder starrten das Bild an und Markus flüsterte:
"Phantastisch! Wenn ich das den anderen erzähle, glauben sie ich spinne!"
Diana nickte, noch immer in das Bild vertieft.
Ein plötzlicher, kühler Windstoß fuhr durch das Zimmer und schlug die Tür hinter den Kindern ins Schloss. Bevor sie sich noch umdrehen konnten, ergriff sie der Wind und zerrte sie auf das Bild zu. Diana schloss in Erwartung des gleich erfolgenden Stoßes die Augen. Als er nicht erfolgte, öffnete sie die Augen wieder und konnte gerade noch erkennen, dass sie irgendwie in dem Bild versank. Es war plötzlich gewachsen und stülpte sich über Markus und sie. Der Wind legte sich, kaum waren die Zwillinge in dem Bild verschwunden und Vaughy begann außen an der Tür zu kratzen und zu winseln. Schließlich legte sich der Hund vor die Türe, den Kopf auf die Vorderpfoten und wartete hoffnungsvoll darauf, dass seine beiden jungen Herrchen ihr unheimliches Spiel beendeten, um wieder mit ihm zu spielen. Er setzte sich erwartungsvoll auf, als sich die Türe ein weiteres Mal öffnete, lief die beiden Stufen hinauf und ins Zimmer hinein. Abrupt blieb Vaughy stehen, von seinen beiden Herrchens keine Spur. Nur ein Bild hing an der Wand, das dem Hund nicht geheuer war. Warnend begann er zu knurren. Schließlich ging es in lautes Bellen über.
Als sie wieder zu Atem gekommen waren, bemerkten die Kinder, dass sie sich in eben der Landschaft befanden, die das Bild gezeigt hatte. Da waren die Berge, der Wald und ...!
Das kleine Mädchen in dem kurzen Graskleid war aber nicht auf dem Bild zu sehen gewesen. Einige Augenblicke sahen sich die Kinder misstrauisch an, dann meinte das fremde Mädchen:
"Ich heiße euch willkommen im Land der grauen Lügner, im Lande Raise. Ich bin die Eichenfee Nee und soll euch hier abholen!"
"Uns abholen?" fragte Markus verdattert.
"Eichenfee? Haben Feen nicht spitze Ohren und Flügel?" Diana versuchte hinter den Rücken des Mädchens zu spähen.
"Nun, ihr seid doch Diana und Markus, oder etwa nicht?"
"Ja schon, aber ...!"
"Euch soll ich hier abholen!"
Während sich Diana noch wunderte, dass sie hier in einer Bilderlandschaft bekannt waren, beschloss Markus das Mädchen zu fragen, was sie wohl mit der Bezeichnung 'Eichenfee' gemeint hatte.
"Entschuldige bitte, aber was ist eine Eichenfee eigentlich?"
Nee sah ihn erstaunt an, aus dem Erstaunen wurde Spott und sie legte den Kopf leicht zur Seite, als wäre es eigentlich Dummheit danach zu fragen, wo doch jedes Kind wisse, was eine Eichenfee war. Doch erbarmte sie sich und klärte Markus auf.
"Das ist ein Titel wie jeder andere auch. Ihr habt sicher auch verschiedene Bezeichnungen. So ist das auch bei uns. Doch lasst uns keine weitere Zeit verlieren, ihr werdet schon sehnsüchtig erwartet!"
"Wirklich? Von wem? Wir kennen hier doch niemand, außer ... außer natürlich dich jetzt."
"Wir benötigen eure Hilfe. Meine Königin und Herrin Moonlady braucht eure Hilfe!"
"Wirklich? Aber wir sind noch Kinder. Erwachsene würden besser deiner Königin helfen können!"
"Nur ihr beide könnt uns helfen. Doch kommt jetzt, jede Sekunde die ungenützt verstreicht, verändert das Reich und die darin Lebenden!"
Ohne ein weiteres Wort noch zu verlieren wandte sich Nee um und stieß beinahe mit einem Baum zusammen. Markus hätte schwören können, dass dieser vor wenigen Minuten noch nicht hier gestanden hatte. Jetzt ließ er kein Auge von dem Baum und er bemerkte, dass dieser Baum ...
"He! Der Baum geht ja! Diana sieh doch nur, er geht mit seinen Wurzeln. Und das Auge dort oben sieht mich voll an. Uh ist das gruselig!" Markus starrte noch immer auf den Baum.
Nee rempelte ihn an und unterbrach dadurch den Blickkontakt. Markus schüttelte sich und sah dann umher, wie jemand der eben aus tiefem Schlaf erwacht war.
"Was war das denn?" fragte er noch etwas benommen.
"Du darfst dem Samenfruchtbaum nie direkt ins Auge sehen. Er macht dich willenlos, dann bist du dein Leben los!" rezitierte Nee.
"Was ist?"
"Der Samenfruchtbaum ist Fleischfresser. Beinahe hätte er ein Opfer gehabt", erwiderte Nee mit einem leichten Grinsen.
"Was ... was mag er denn am liebsten?" Diana schluckte. Aber dass Pflanzen Fleisch zu sich nahmen kannte sie ja von der Venus Fliegenfalle ihrer Mutter.
"Menschenkinder! Vor allem wenn sie jung und zart sind, so wie ihr!"
"Gruseliges Land!"
"Weshalb? Ist es dort, woher ihr kommt weniger gefährlich?"
Markus dachte an den Straßenverkehr und nickte, dann schüttelte er den Kopf. Langsam wollte er nur noch weg von hier. Doch er hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte, wieder das Bild zu verlassen.
Nee forderte die beiden mit einer knappen Handbewegung auf, ihr zu folgen. Sie verließen die Stelle, der Baum war weiter gegangen, und folgten der Eichenfee in Richtung des Waldes. Noch ehe sie ihn erreicht hatte, hörten sie ein feines Singen. Es war so schön, dass Diana Tränen in die Augen traten.
"Oh wie schön!" rief sie entzückt.
"Das sind die singenden Wasserkaskaden aus dem Mirakelbrunnen", erklärte Nee. Sie deutete auf einen Steinberg etwas links von ihnen, wo es blitzte und funkelte. Als Diana die bezeichnete Stelle besser ins Auge fasste, konnte sie die aufsteigenden Wasserfontänen erkennen. Das feine Singen erklang wieder und sie und Markus erkannten nun auch, dass das Wasser in allen Farben des Regenbogens leuchtete. Im selben Maße wie sich die Farbe des Wassers veränderte, im gleichen Maße änderte sich auch der Ton. Bei tiefen Tönen waren die Wasserkaskaden dunkelrot und lila. Bei hohen leuchteten sie in hellblau bis gold. Diana konnte sich nicht satt sehen. Nee packte sie nach längerer Zeit am Arm und zog sie weiter.
Sie betraten den Wald, der voll dieser Samenfruchtbäume war und die beiden Kinder versuchten keinem einzigen der Samenfruchtbäume ins Auge zu sehen. Und das war nicht so leicht. Denn sie hatten alle eine Vielzahl von diesen Augen mit den Wimpern. Ihr Stamm verzweigte sich zu mehreren Stämmen, die wie die Stelzwurzeln der Mangroven aussahen.
"Was ist der wirkliche Grund, dass wir hier sind?" Markus nickte zustimmend, als Diana diese Frage stellte. Ja, es wurde Zeit, dass diese seltsame Birkenfee oder Eichenfee oder von welchen Baum auch immer, endlich Tacheles sprach.
Nee blieb stehen.
"Keiner der Bewohner Raises, egal ob erwachsen oder Kind, kann lachen oder Geschichten erzählen. Sie haben es über Nacht verlernt. Kennt ihr Geschichten?"
Diana runzelte die Stirn. Sie wurde sehr an die Geschichten von Peter Pan und den verlorenen Jungs erinnert, als Nee von deren Problem erzählte. Dort hatte auch Wendy Geschichten erzählen müssen. Sie war aber sicher alles andere, als eine zweite Wendy!
"Na klar! Unsere Tante Aloisia hat einen ganzen Sack voll Geschichten." Markus hatte leuchtende Augen bekommen, als er antwortete. Diana sah zu ihrem Bruder hin. Kam ihm hier nichts komisch vor? Scheinbar nicht. Diana konnte das nicht verstehen, vor allem weil meist Markus der skeptische unter ihnen beiden war. Aber wahrscheinlich hatte ihn Nee so fasziniert, dass er alles um sich herum vergaß.
"Ihr Glücklichen. Aber lasst uns weiter gehen."
Sie setzten sich wieder in Bewegung, wobei Diana sich immer wieder umsah. Sie bemerkte die Käfer, die am Boden krochen, eilig als hätten sie noch viel vor an diesem Tag. Und die vereinzelten Spinnennetze, die zwischen den Bäumen hier und da hingen. In einem zappelte noch ein lebendiger Schmetterling.
Bald lichtete sich der Wald und die Kinder waren froh darüber. Doch hatten sie gehofft, sie wären nun aus diesem Wald heraußen, sahen sie sich enttäuscht. Vor ihnen lag eine nicht allzu große Lichtung mit roten und gelben Blumen und einem Waldsee. Obwohl kein Sonnenstrahl das ruhige Wasser berührte, funkelte und glitzerte es wie flüssiges Gold.
Staunend und ergriffen blieben die Geschwister stehen. Diana meinte:
"Oh Gott, ist das schön! Was ist das für ein See?"
"Es ist ein Wunschsee!"
"Was? So etwas gibt es nur im Märchen!" rief Markus und sein Ton war ziemlich abfällig. Diana verdrehte die Augen. Das war wieder typisch für ihren Bruder. Keinen Sinn für die Schönheit. Egal, ob die Lichtung, sowie sie vor ihnen lag, märchenhaft war oder nicht. Oder dieser geheimnisvolle See wirklich Wünsche erfüllte. er war einfach nur idyllisch.
"Was ist ein Märchen?"
"Ein Märchen, das ist ...! Weißt du wirklich nicht, was ein Märchen ist?"
"Du vergisst, dass wir alle weder Geschichten noch ... Märchen kennen", tadelte Nee den Jungen. Beschämt senkte er die Augen.
"Ausserdem, es gibt mehrere Welten und Wahrheiten nebeneinander!"
"Ist ja gut, ich habe es schon kapiert!"
"Und was kann man sich wünschen?" fragte Diana und überlegte sich gleich nebenher ihre Wünsche. Da wären zum Beispiel diese super coolen Schuhe, die ihre Freundin Rosi von ihrem Onkel bekommen hatte und die auch Diana gefielen. Oder das Videospiel mit dem Drachen, der ....!
"Alles was dein Herz begehrt", klang Nees Stimme in ihre Überlegungen. "Du spuckst dreimal ins Wasser. Spuckt der See zurück, darf man einen Wunsch äußern. Wünscht du dir für jemand anderen etwas, darfst du dir selbst auch noch etwas wünschen. Ist dein Wunsch aber schlecht oder fügt er jemand böses zu, wird dein Wunsch nicht akzeptiert. Im Gegenteil, er wendet sich dann gegen dich!"
"Das sind ja tolle Aussichten," brummte Markus. Er hatte sich eben überlegt, seinem Erzfeind Mario eine schlimme Halsentzündung zu wünschen.
"Hat er auch einen Namen?" wollte Diana wissen. Nee nickte und sekundenlang lächelte sie.
"Er wird vom Volk im Lande Raise 'Iconoclast - Bilderstürmer' genannt!"
"Mich überrascht schon gar nichts mehr", murmelte Markus leise.
Diana warf ihm einen strengen Blick zu, doch Markus zuckte nur mit den Achseln.
"Gab es eigentlich schon Wünsche, die verweigert worden waren?" Diana betrachtete noch immer den See, während sie fragte.
"Oh ja. Aber es waren nicht sehr viele. Doch jetzt sollten wir weiter. Sonst wird unsere Königin unruhig und der See läuft nicht davon!"
Markus kicherte, als er sich vorstellte, dass der See seine Mulde verließ und einfach davon floss. Es brachte ihm einen schmerzhaften Rippenstoß Dianas ein.
Sie betraten die Lichtung und überquerten sie. Immer wieder schielte Markus zum See und unwillkürlich sammelte er bereits Spucke in seinem Mund. Doch ehe sie die Lichtung gänzlich überqueren konnten, um am anderen Ende wieder in den Wald einzutauchen, wurden seltsame Geräusche laut.
Diana legte den Kopf schräg, so konnte sie besser auf die Laute hören und dabei bemerkte sie es.
Ein seltsames Wesen, das wie eine Mischung aus Krokodil, Drache und Walross aussah, wurde von einer Schlinge fest gehalten. Das andere Ende dieser Schlinge verschwand in einem der Stämme eines Samenfruchtbaumes. Abermals öffnete sich das Maul des Untieres und das seltsame Geräusch ertönte. Es klang beinahe wie das Blöcken eines Schafes.
Erschrocken zog Nee die Luft zwischen die Zähne. Dann rief sie laut:
"Oh nein! Der arme Leviathan! Er wird gefressen werden! Versucht ihn zu befreien, er ist ein heiliges Tier! Und mir ist es verboten, ihn zu berühren!"
Markus ahnte, dass dem Leviathan nur noch einer helfen konnte: der Wunschsee!
Er wandte sich um, sammelte erneut Speichel im Mund und lief die wenigen Schritte zum See zurück. Dicht davor stellte er sich hin, starrte in die dunklen Fluten, die jedoch trotz allem ein hypnotisch wirkendes Glitzern aufwiesen und repetierte kurz Nees Erklärungen zum Benutzen des Sees. Er beugte sich etwas vor und spuckte dreimal hinein. Markus erschrak, als die Wasserfläche, wo seine Spucke noch schwamm, Wellen schlug und sich zu verfärben begann. Er holte tief Luft und rief:
"Ich wünsche mir, dass der Leviathan wieder aus der Schlinge des Baumes befreit wird und dass er gesund sein soll!"
Das Wasser wurde weiter aufgewühlt, seine Farbe war nun beinahe schwarz und es sah aus, als würde es kochen.
Plötzlich erhob sich eine kleine Fontäne, übergoss Markus und durchnässte ihn.
Ärgerlich wischte er sich übers Gesicht und meinte mit zusammen gebissenen Zähnen:
"So eine Frechheit! Das ist ja so, als hätte dieser komische See zurück gespuckt!"
"Nun, dein Wunsch wurde erfüllt, mein Freund!" sagte eine tiefe, leicht singende Stimme hinter Markus.
Markus wirbelte herum und sah in lilafarbene Augen in denen goldene Pünktchen schwammen. Über den Augenbrauen befanden sich kleine Fühler. Sonst sah das Gesicht dem eines Walrosses ähnlich. Nur die Zähne waren nicht weiß, sondern hatten rosa und blaue Streifen. Es war sogar ein Bart vorhanden, der allerdings aussah, als hätte sein Besitzer versucht, ihn über Feuer zu halten. Der Körper war wie ein grünes Fass geformt. Am Rücken befanden sich kleine Flügel, die in allen Farben schillerten. Sie bestanden allerdings nicht aus Haut, sondern waren bedeckt mit Federn. Die Füße und der Schwanz waren sicher von einem Krokodil entlehnt. Statt Krallen waren auf den Füßen drehbare Bohrkranz ähnliche Nägel. Das seltsame Wesen ging aufrecht und hatte die Vorderfüße wie Hände angewinkelt.
Markus bemerkte auch bewegliche Finger. Sieben an jeder Hand.
"Wer oder was bist du denn?" fragte Markus verdattert.
"Ich bin Reapear, der Leviathan und ich verdanke dir mein Leben. Ich bin in deiner Hand. Wir wollen nun zu meiner Herrin gehen und dort werdet ihr alles erfahren!"
Der Leviathan wandte sich um und die Kinder folgten ihm. Sie durchquerten den Wald und Diana merkte, dass einige der dünneren Bäume immer wieder vom Schwanz des Untieres getroffen und einfach wie Grashalme geknickt wurden.
Als sie endlich den Waldrand erreichten, zeigte Reapear mit einer seiner Hände auf einen Berg, der weiter entfernt zu sehen war. davor dehnte sich eine riesige Wiese aus, mit Blumen in allen möglichen und auch unmöglichen Farben und einer Duftpalette, dass Diana die Nase kraus zog, als die Geruchsvielfalt sie traf. Tausende von Schmetterlingen, ebenfalls bunt, gaukelten darüber hinweg und kleine Vögel, blau und mit einem seltsamen Fühler an der Stirn standen über den Blumen, die der bekannten Wiesenglockenblume sehr ähnlich sahen. Nur dass die Glocken dieser Blume nach oben zeigten. Diana wurde sehr an Kolibris erinnert. Mit dem Unterschied, dass sie noch keine Fühler an diesen Vögeln entdeckt hatte.
Auf dem Berg stand ein Gebäude in Form eines Pilzes. Auf dem Pilzhut saß noch ein zweiter, größerer. Eine gewundene Strasse führte den Berg hinauf, und es dauerte eine geraume Weile, bis die Wiese durchquert und die Strasse bewältigt war.
Aus der Nähe erschien der Doppelpilz größer. Diana legte den Kopf in den Nacken, um sich die Unterseite des Pilzes anzusehen. Wie bei einem richtigen Pilz waren auch hier Lamellen zu sehen. Leichter gelblicher Nebel schwebte darunter. Sollten dies etwa Pilzsporen sein? Sofort musste Diana einen Niesreiz unterdrücken. Am Pilzstamm befand sich eine nach innen klappende Tür und die Besucher traten durch sie ins Pilzinnere.
Ein großer Saal nahm sie auf. Er war viel größer, als der Pilz in dem er sich befand. Die Wände bestanden aus einem Glasartigem Metall, der Boden war ein einziges Mosaik aus Perlen und Amethysten, sowie Bernstein. In der Saalmitte hing ein Kristallluster. Diana bemerkte erst wenige Augenblicke später, dass es sich dabei um gläserne Tiere handelte.
Nee erwiderte auf Dianas Frage, was diese Tiere seien:
"Das sind Glasfeuertiere. Sie dienen nur hier im Palast der Herrin Moonlady!"
Ehe sie weitergehen konnten, glitt eine der Seitenwände zurück und zwei weitere Kinder betraten den Saal. Doch bei genauerem Hinsehen bemerkten die Geschwister, dass es sich bei den Neuankömmlingen nicht um Kinder handelte. Die Gesichter der beiden Wesen waren auf seltsame Weise alt, uralt. Sie hatten einen zeitlosen Ausdruck in den Augen, die beide silberfarben waren. Das eine, weibliche Wesen, hatte langes braunes Haar und trug an den Füßen Pantoffel aus weißen Daunen. Auf dem Haar hatte sie einen roten Metallreif. Von einer Kleidung konnte man nichts erkennen, die langen haare verdeckten alles. Das andere Wesen trug ebenfalls den roten Metallring im braunen Haar, das ihm jedoch nur bis an die Schulter reichte. Seine Kleidung bestand aus einem Grasrock und einer ebensolchen Hose. Seine Füße steckten in Blütenblätterschuhen. In einer Hand trug er eine Pfauenfeder, in der anderen einen Spiegel. Dieser war jedoch stumpf und grau.
Nee und Reapear verneigten sich. Sie bedeuteten den beiden Kindern sich ebenso zu verbeugen. Markus machte seinen schönsten Diener und Diana knickste.
Der Mann mit der Pfauenfeder winkte ihnen freundlich zu. Dann nickte er zu Nee. Diese räusperte sich und sagte dann:
"Dies ist unser Herrscherpaar. Unsere Königin Moonlady und unser geliebter König Lillak. Sie werden euch erzählen, was ihr wissen müsst. Dies, verehrtes Herrscherpaar sind die beiden Verheißenen. Jene Erretter, die der Mirakelbrunnen erwählt hat!"
"Wir freuen uns, dass ihr uns helfen wollt. Doch hört, es ist nicht das erste Mal, dass Retter kamen um uns zu helfen. Sie alle hatten grausam versagt. Wollt ihr hören, wie es kam, dass wir so tief im Elend stecken?"
Markus und Diana nickten.
"Ja, bitte!"
"Es war nicht immer so, das könnt ihr mir glauben. Wir konnten früher lachen, singen, Geschichten erzählen und vieles mehr. Aber dann, über Nacht kann man sagen, geschah das Furchtbare. Der Mirakelbrunnen versiegte und der Wunschsee lag tagelang im Nebel. In dieser Nacht lagen meine Kinder Lichtlocke und Ray sehr krank im Bett. Wir alle glaubten schon beide zu verlieren, doch sie wurden wieder gesund. Jedoch konnten sie und alle hier im Lande raise nicht mehr lachen und die Geschichten waren vergessen. Unsere Wahrsager die Zukunftsfrauen meinten, eine böse Macht wolle den Thron meiner geliebten Moonlady und meinen Platz. Doch es hat sich nie jemand gemeldet, der dies auch vorhatte. Trotz des Aufrufes und des Erlasses der Bestrafung, den ich unter die Bewohner tragen ließ. Es war wie eine Seuche über uns gekommen, keiner konnte sich wehren. Und nun wurde uns verheißen, dass zwei fremde Menschenkinder - ein Pärchen - uns aus dieser Not retten werden. Doch ich sehe, Reapear hat schon den Tisch mit den Speisen hergerichtet. Verzeiht, dass ich so gedankenlos war, während ihr sicher hungrig seid. Bitte greift zu!"
Markus wandte sich in die Richtung, in die der König gedeutet hatte und machte große Augen. Wirklich war da ein großer Tisch aufgestellt worden, der voll mit köstlichen Speisen war. Da gab es große und kleine Äpfel, Melonen, Pilze und Krüge mit verschieden farbigen Flüssigkeiten. Es standen Eisbecher und Fruchtschüsseln darauf. Auf einer riesigen bunt marmorierten Platte lagen verschiedene Käsestücke, appetitlich angerichtet. Aber nirgends lag Fleisch oder Wurst. Also Markus dewegen eine Frage an Nee stellte, sagte Reapear erschrocken:
"Weshalb sollen wir unsere Brüder und Schwestern essen? Isst du deine Schwester?"
"Natürlich nicht!" empörte sich Markus. Was dachte sich dieses Vieh eigentlich?
"Eben!" erwiderte Reapear lakonisch.
Nun begann ein Schmausen und Markus griff kräftig zu. Jetzt erst merkte er, wie hungrig er war. Diana folgte seinem Beispiel.
Sie waren noch fest beim Essen, da öffnete sich wieder die Seitenwand und zwei Kinder traten Hand in Hand in den Saal. Die Königin stand auf und breitete die Arme aus. Die Kinder fielen ihr um den Hals und küssten sie heftig. Danach wandten sie sich an die übrigen Anwesenden und kraulten den Leviathan unter dem Bart. Nee strichen sie übers Haar. Als sie die Zwillinge sahen, stutzten sie. Fragend blickte das Mädchen zur Königin und sagte:
"Wir haben Gäste, Mutter?"
"Es sind die vom Mirakelbrunnen angekündigten Retter, mein Kind. Dies ist Diana und ihr Bruder Markus. Sie haben Reapear aus der Fallenschlinge eines Samenfruchtbaums gerettet!"
"Ich danke euch, dass ihr das getan habt. Wir sind euch wirklich sehr dankbar. Eure Namen sind Markus und Diana? Ich bin Ray und das ist meine jüngere Schwester Lichtlocke!"
Diana beobachtete den Jungen sehr genau, während er sprach. Er war etwa so groß wie sie, seine Schwester war um einen Kopf kleiner. Beide hatten blaues Haar und trugen rote Mäntel. Bei dem Mädchen entdeckte Diana kleine Fühler auf der Stirn. Bei Ray sah sie keine. Die Füße steckten in Federschuhe und Lichtlockes Schuhe hatten überall kleine rote Blumen. Es sah sehr hübsch aus.
Nun, da die Königskinder ebenfalls anwesend waren, wurde das Fest erst richtig schön. Ray brachte die Wände mit einer Handbewegung zum Glühen und Markus erzählte eine lustige Geschichte, die sehr belacht wurde. Sehr spät am Abend rief der König in die Stille, die eingetreten war als er sich erhob:
"Nun ist der grüne und blaue Mond aufgegangen. Es wird Zeit, unseren Gästen die Schlaftreue anzubieten. Wollt ihr die Schlaftreue?"
Obwohl sich Diana unter dieser "Schlaftreue" nichts vorstellen konnte, sagte sie zu. Darüber freuten sich das Königspaar und deren Kinder. Nee hatte das Fest schon längere Zeit vorher verlassen und der Leviathan war ebenso verschwunden.
Mit Mühe konnte Markus ein Gähnen unterdrücken. Diana stupste ihn mit dem Ellbogen in die Rippen. Markus sah seine Schwester an und zuckte die Achseln.
Ein Zwergenmann mit weißem Mantel, roter Mütze und rosa Bart führte die Zwillinge in einen blauen Raum. Aus den Wänden wuchsen kleine lilafarbene Betten. Ein lilafarbener Waschtisch folgte ihnen, ebenso ein Tisch und zwei Stühle. Um sich noch darüber zu wundern, waren die Zwillinge zu müde. Sie legten sich gleich in die Betten, nachdem sie sich rasch etwas entkleidet hatten. Denn Pyjamas konnten sie keine in den Betten entdecken.
Kaum lagen sie in den Betten, wellten diese sich kurz, dann wuchsen decke und Kopfkissen daraus hervor. Aber das merkten die beiden schon nicht mehr.
Es war sehr ruhig im Palast. Und doch lag Gefahr in der Luft. Merkte denn niemand den drohenden Schatten, das leise Raunen, das auf dem Weg ins königliche Schlafgemach war? Nein, niemand hörte oder merkte etwas.
Eine Seite des Schlafraumes wurde zuerst rot, dann schwarz und brach schließlich zusammen. Eine schwarze, unheilvolle Gestalt mit vielen Gliedmaßen schob sich keuchend und eine schleimige spur nachziehend ins Gemach des Königspaares.
Als die Königin verschlafen die Augen öffnete, fasste die Gestalt bereits nach dem König und zerrte ihn vom Lager. Ehe einer noch einen Laut von sich geben konnte, war die Gestalt und der König durch die verbrannte Wand verschwunden. Erst jetzt reagierte die Königin und sandte den stummen Ruf.
Doch der König antwortete nicht mehr. Nur schwach merkte sie, dass er noch lebte. Sie drückte auf die Klingel neben ihrem Bett und ein Zwergendiener erschien.
"Jemand hat den König entführt! Man soll ihn suchen! Aber weckt die Gäste nicht!"
Sekundenlang starrte sie der Diener erschrocken an. Welch ein Frevel war da geschehen? Der König entführt? Beim heiligen Mirakel, welch ein Unglück!
Die Königin sah ihn bleich an und klatschte in die Hände. Da erst wich die Erstarrung von ihm und er huschte nach einer Verbeugung schnell aus dem Raum.
Doch irgendwie hatte sich die Nachricht über diesen Frevel in Windeseile durch den gesamten Palast verbreitet. Von überall her strömten Zwerge, dünne Hohlmenschen - durch die man durchsehen konnte - und auch die Zwillinge mit den beiden Königskindern.
Aufgeregt tuschelte die Schar und die Königin rang in stummer Verzweiflung die zarten Hände.
Mitten ins Stimmengewirr fragte Markus:
"Was ist eigentlich passiert? Was soll die ganze Aufregung?"
Jedes Geräusch, jeder Atemzug erstarb. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, wenn es denn eine gegeben hätte.
Lichtlocke sah zu ihrer Mutter und meinte:
"Meine edle Mutter, was ist passiert? Wir hörten den stummen Ruf und sind zu dir geeilt!"
"Man hat den König entführt!"
Das vielarmige Wesen schleppte den König weiter mit sich. Sein Körper schlug wie ein Pendel einer Uhr an Bäume und im Weg liegende Steine. Jedes mal entrang sich seinen Lippen ein leises, schmerzliches Stöhnen. Doch das Wesen hielt nicht an.
Es dauerte nicht lange, da verschwand das Wesen mit dem König in einer Berghöhle. Zuerst konnte der König nichts sehen. Rabenschwarz umgab ihn die Felswand. Aber als er seinen Entführer ansah, bemerkte der König, dass dieser zu leuchten begonnen hatte. Ein sanftes, rotes Licht umgab nun sie beide. Und gleichzeitig mit dieser Erkenntnis drang auch eine weitere in sein Gehirn. Sein Entführer war niemand anderes als eine Feuerspinne seiner größten Feindin, der Nebelfrau.
Nun wusste der König, er war verloren. Er würde nie mehr sein Reich, seine Kinder und die Königin sehen. Doch er war gewillt, sein Leben so teuer als möglich zu erkämpfen.
Er war eben bei diesem Gedanken angekommen, als auch schon das Ziel erreicht war. Vor den beiden öffnete sich der Felsengang zu einer großen Höhle, die von einem Lavastrom im Hintergrund beleuchtet wurde. In etwas weiterer Entfernung zu der Lichtquelle stand ein Thronsessel, der mit grauem, samtigen Gewebe ausgeschlagen war. Um die Rückenlehne züngelten zu rotem Stein erstarrte Flammenzungen. Darauf saß eine Frauengestalt, in wallende Nebelschleier gehüllt und sah dem König entgegen. Auf einen Wink von ihr ließ die Feuerspinne den König fallen. Dieser rappelte sich auf und sah sich kurz um. Die Nebelfrau beobachtete jede seiner Bewegungen. Nun hob sie den verschleierten Arm und sagte mit sanfter Stimme:
"Seid mir willkommen, König Lillak! Ich freue mich immer über Gäste. Was führt Euch in mein Reich?"
"Es waren Eure Feuerspinnen, die mich von meinem Lager vertrieben, Nebelfrau Rotstern. Was wollt Ihr von mir? Sagt es mir, dann bringt mich wieder zurück zu meinem Volk!"
"Ihr seid sehr stolz, Lillak! Aber Ihr werdet noch winseln!" Rotstern hatte sich in Zorn geredet. Ihr grausam-schönes Gesicht flammte beinahe vor Wut. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und starrte den König wütend an. Dieser stand gelassen vor ihr und sah sie ruhig an.
"Glaubt Ihr wirklich, ich werde mich so weit vergessen, dass ich vor Euch, einer Abtrünnigen, winseln werde?" fragte der König.
"Ja, Ihr werdet winseln und um Euer Leben flehen, das verspreche ich Euch, König Lillak!"
"Nun beendet dieses Euch unwürdige Spiel und sagt mir endlich, was Ihr wirklich von mir wollt!" Der König runzelte die Stirn. Die Nebelfrau setzte sich aufrecht hin und sagte mit bebender Stimme:
"Ich verlange von Euch die beiden fremden Kinder aus dem 'anderen Reich', sowie Euren Treueschwur mir gegenüber!"
"Ihr seid übergeschnappt, Rotstern! Ihr verlangt Unmögliches!"
"Nun, so werdet Ihr sterben!"
"Lieber sterben, als Verrat üben!"
"So stirb!" schleuderte die Nebelfrau dem König entgegen. Aus einer der rückwärtigen Nischen stürzte eine große Schar Feuerspinnen hervor und der König verschwand unter ihren klebrigen Körpern.
Eine Zeitlang versuchte er sich zu wehren, doch immer mehr bissen ihn und seine Gegenwehr wurde schwächer. Schließlich sandte er den stummen Ruf und starb.
Die Feuerspinnen begannen den Körper des toten Königs aufzulösen und zu verzehren, während die Nebelfrau voll Zorn zusah. Sie hatte wieder eine Runde verloren.
Die Königin vernahm den stummen Ruf und fühlte tiefe Trauer in sich hoch steigen. Ihr geliebter Lillak war tot. Er war in Erfüllung seiner Pflicht einen grausamen Tod gestorben.
Auch die anderen hatten den stummen Ruf vernommen und senkten die Köpfe in Trauer.
Ehe einer der Anwesenden etwas tun konnte, stürzte aus einer kleinen Tür in der Wand eine Gestalt hervor, gehüllt in einen weiten, schwarz glitzernden Mantel. Sie packte Markus und verschwand sofort wieder mit dem Jungen durch die Tür. Starr vor Schrecken standen alle da. Nur Diana rief erschrocken:
"Markus! Wo will er mit meinem Bruder hin?"
"Das war der Nachtmahr! Wir müssen ihm folgen, damit wir wissen, wo er den Jungen hinbringt!" erklärte einer.
"Unsere Feinde wissen bereits, dass wir von euch Hilfe erhoffen. Wir müssen schnell machen. Sonst war alles umsonst!" sagte die Königin und nickte. Sie wischte sich über die Augen, doch immer wieder füllten sie sich mit Tränen.
"Aber wer sollte unsere Hilfe ablehnen? Wollen denn nicht alle, dass euer Volk wieder lachen und Geschichten erzählen kann?"
"Oh nein! Wenn wir an der Seuche sterben, wird das Reich der Finsternis herrschen und die Nebelfrau wird mit dem Nachtmahr wilde Hochzeit feiern! Dann geht es den Menschen schlecht. Sie werden nur an sich und ihren Profit denken. Keiner wird für andere da sein oder eine helfende Hand ausstrecken. Alle werden kalt und egoistisch handeln. Niemand an seine Kinder denken. Wollt ihr das?"
Diana schüttelte sich. Nein, das wollte sie sicher nicht.
"Was werdet ihr jetzt machen?" fragte Moonlady Diana und ihre Kinder.
Ray sah erst seine Schwester, dann Diana an. Er wandte sich an seine Mutter und sagte ernst:
"Wir werden Markus suchen und auch hoffentlich finden. Im Reich des Nachtmahrs kenne ich mich etwas aus. Segnet mich, Königin!"
Moonlady sah ihren Sohn an und neigte den Kopf. Als ihre Stirn die des Jungen berührte, sprang ein Blitz über. Genau so machte sie es bei ihrer Tochter. Über Dianas Haar strich sie mit sanfter Hand. Dann wandte sie sich um und verließ mit ihren Untertanen den Raum.
Ray drehte sich um und meinte:
"Noch sehen wir den Weg, den der Nachtmahr mit Markus genommen hat. Wenn wir uns beeilen, holen wir ihn womöglich noch ein!"
Aber Diana glaubte nicht daran. Zuviel Zeit war unterdessen vergangen. Sie begaben sich zu der Tür und traten in das dahinter liegende Zimmer.
Eine zarte, schwarze Glitzerspur führte in einen weiteren Raum. Als Diana sich umwandte, verschwand eben die Spur hinter ihr. Sie löste sich einfach auf.
"Wir müssen uns beeilen. Sonst verlieren wir die Spur!"
Die beiden Königskinder nickten und alle drei traten ins Freie.
Die beiden Monde hatten sich bereits zum Wald hin gesenkt. Nur noch leicht sah man die Glitzerspur. Plötzlich wurde ein schabendes Geräusch hörbar. Diana drehte sich erschrocken um und schaute in lilafarbene Augen mit goldenen Punkten. Zwei Fühler waren auf sie gerichtet. Ihr Herz klopfte zum zerspringen, aber da sagte Lichtlocke tadelnd:
"Aber Reapear! Musst du uns so erschrecken? Schau nur, Diana ist ganz blass geworden!"
Schuldbewusst legte der Leviathan eine seiner Hände kurz über die Augen, dann sagte er mit seiner dunklen Stimme:
"Entschuldigung! Ich wollte niemand erschrecken. Aber ich werde euch begleiten! Doch erst müssen wir zu Nee, der Eichelfee!"
"Gut, Reapear. Bring uns hin!"
"Klettert auf meinen Rücken. Ich werde den Heiligen Schritt machen!"
Kaum hatten alle auf Reapears Rücken Platz genommen, setzte sich dieser in Bewegung. Aber er machte nur drei Schritte vorwärts, dann holte er tief Luft und ...
Sie befanden sich dicht vor einem der kleinen Pilzhäuser. Es war mit Eichenlaub gedeckt und die grüne Tür stand offen. Eben trat Nee heraus und erschrak.
"Was ist passiert? Wo kommt ihr her?"
"Wir folgen der Spur des Nachtmahrs und wollen deinen Segen und deine Hilfe!"
"So muss etwas schreckliches geschehen sein!" rief Nee und sah den Leviathan fragend an. Reapear nickte und erzählte, unterstützt von Diana und Ray, was passiert war.
"Woher weißt du das alles?" fragte Diana erstaunt. Reapear erwiderte, traurig lächelnd:
"Wir Leviathans haben das 'magische Verstehen'!"
"Ich kann euch nicht alleine gehen lassen!" meinte Nee.
"Wirst du uns begleiten?" fragte Diana freudig. Nee nickte, verschloss die Pilztür und warf sich einen braunen Rindenumhang über die zarten Schultern. Dann gab sie Reapear ein Zeichen. Dieser nickte, nahm die Kinder und Nee auf seinen Rücken und machte wieder den Heiligen Schritt.
Sie waren wieder dort angekommen, wo sie die Spur verlassen hatten. Doch jetzt sah man keine Glitzerspur mehr.
"Wir haben die Spur verloren!" rief Diana verzweifelt.
"Ich fühle sie noch." Reapears Antwort kam in einem bestimmenden Ton. Seine Fühler über den Augenbrauen standen steil in die Höhe, irrten dann zitternd und bebend umher. Schließlich deutete der Leviathan mit einem Händchen nach vorne und sagte:
"Dort geht es weiter. Doch wir sollten uns wirklich beeilen, die Spur verblasst!"
Der blaue Mond war hinter dem Wald verschwunden und Diana saß zitternd und frierend auf Reapears Rücken. Nee und Lichtlocke schienen zu schlafen. Ray sah angestrengt in die Ferne. Im Osten begann langsam ein neuer Tag.
Sie hatten den Wald durchquert und Diana atmete auf. Der zweite Mond war ebenso im Begriff, unter zu gehen, als Nee leise sagte:
"Wir haben das Reich des Nachtmahrs erreicht. Seine negativen Wellen haben mich geweckt. Nun müssen wir sehr vorsichtig sein!"
Kurz lief ein Schauer über Reapears Rücken, wie Wellen über eine Wasserfläche. Aber es verging schnell.
Die Gegend hatte sich beinahe unmerklich verändert. Große Felsbrocken lagen umher und über allem schwebte eine unheimliche, nebelartige Dunkelheit. Nirgends sah man Blumen oder Gräser. Selbst der Himmel sah seltsam aus. Wo er sonst blau mit weißen Wolken war, war er hier rot mit schwarzblauen Nebelschlieren. Ein kalter Wind wehte.
Plötzlich hielt Reapear an. Diana, die nicht aufgepasst hatte, verlor das Gleichgewicht, rollte über Reapears Schulter und landete mit einem Schreckensruf auf der steinigen Straße. Der Leviathan senkte schuldbewusst die Augen und half Diana hoch.
"Entschuldige, doch wäre ich nicht so rasch stehen geblieben, wären wir jetzt in dem Spinnennetz gelandet. Ich glaube, das wäre nicht so gut!"
"So schlecht sind wir nicht, wie du das hinstellst, Untier!" erklang eine feine Stimme von oben herab. Reapear sah nach oben und gluckste überrascht auf.
Über ihren Köpfen baumelten an einigen beinahe fingerstarken Spinnweben dicke, unförmige Raupen herab. Sie hatten zwischen zwei Felstürmen einen Faden gespannt und dieser hielt auch das große Spinnennetz vor unseren Freunden.
Reapear ließ die restlichen Reiter von sich absteigen und trat einen Schritt vor. Er griff sich einen der klebrigen Fäden und schüttelte kräftig daran.
"He, nicht so stürmisch, Untier! Du machst unsere Arbeit kaputt! Hörst du nicht? Du sollst das lassen, Untier!" riefen die Raupen, auf das höchste erschrocken.
Reapear trat zurück, ließ den Faden los und brummte:
"Wenn ihr mich noch einmal 'Untier' nennt, ihr Rollmöpse, dann werdet ihr mich kennen lernen!"
Ehe ein Streit aus dem Wortwechsel entstehen konnte, griff Nee ein.
"Wartet! Es tut mir leid, dass Reapear euch so erschreckt hat, aber wir haben eine große Aufgabe und sind in Eile!"
"Oho! Ihr seid in Eile und doch wollt ihr anderer Leute ehrliche Arbeit zerstören?"
Diana sah stirnrunzelnd zu den Raupen hoch und sagte, mit Ungeduld in der Stimme:
"Ich weiß nicht warum ihr uns nicht glaubt? Wo es uns doch leid tut! Was wollt ihr denn noch?"
"Du bist ganz schön frech, kleines Mädele. Wenn uns danach ist, werden wir dich und deine Begleiter einspinnen und der Nebelfrau servieren!"
"Wer seid ihr eigentlich, dass ihr das wagen könnt?" fragte nun auch Ray, ziemlich verärgert über die unverschämten Raupen.
"Wir sind die Spinnerraupen. Du hast wohl noch nichts von uns gehört, Bubuli was?"
Eine der fetten Raupen hatte während des Gesprächs zu stark am Faden geschaukelt, dieser riss mit lautem Knall und der Raupenkörper flog gegen die Felswand. Ein reißendes Geräusch war zu hören und die Raupenhaut öffnete sich über dem Kopfteil in zwei Hälften. Ein braunes, rundes Ding fiel zu Boden und lag kurz reglos unter dem Netz.
Dann erbebte es, begann sich einige Male zu biegen und schnellte auch öfters in die Höhe. Schließlich platzte auch diese Hülle und ein wunderschöner Falter kroch aus der Hülle. Seine Flügel, noch klein und zerknittert, leuchteten schon jetzt in allen Farben des Regenbogens und seine Fühler trugen an jedem ihrer gefiederten Enden eine kleine weiße Perle. Seine großen Augen waren von einem tiefen Braun, sahen samtig aus, und glommen leicht in einem sanftem Licht.
Er begann seine Flügel aufzupumpen und sie zum ersten Flug bereit zu machen. Es dauerte nicht lange, so waren sie erstarkt und nun erst kamen die Farben voll zur Geltung.
Der Falter schüttelte sich kurz, rollte den Rüssel aus und ein, schlug einige Male mit den Flügeln und hob torkelnd ab.
Mittlerweile war es heller geworden. Die Sonne tauchte die Felsen in rotes Licht und hauchte ihnen rotgoldene Mützen auf. Diana sah dem Falter hinterher und meinte verträumt:
"Der Falter ist so schön!"
"Schön? Ihr habt eine unserer Schwestern getötet und sie in ein Untier verwandelt! Es wird Zeit, euch als Frühstück für die Nebelfrau zu richten!"
Die Raupen rotteten sich nun zusammen und als die erste beinahe Diana erreicht hatte, fegte der Leviathan diese mit einem unwilligen Laut vom Netz. Sie prallte ebenfalls an die Felswand und auch bei ihr begann die Verwandlung.
Doch statt sich zu freuen, stachelte dieser Vorgang die Wut der übrigen Raupen noch mehr an. Sie bewegten sich schneller und schneller und sowohl Reapear, als auch seine Gefährten verwandelten viele Raupen in Falter. Aber schließlich mussten sie der Übermacht weichen. Kaum hatten sie das Netz umrundet, kehrten die verbliebenen Raupen zu ihrer Arbeit zurück, als wäre nichts geschehen.
Diana war froh, dass sie dieses Abenteuer so gut überstanden hatten. Es hätte böse enden können. Nun verfolgten sie die Spur, die nur noch der Leviathan erahnen konnte und verließen die unwirtliche Gegend. Diana sah kurz zu Nee zurück und meinte leise:
"Wieso sieht nur Reapear diese Spur und du nicht? Du bist doch eine Fee!"
"Auch eine Fee kann nicht alles. Und bei der Nebelfrau versagen meine Fähigkeiten!"
"Wieso?"
Doch Nee schwieg. Nur ihr Gesicht verriet, dass sie nicht gerne über diesen Umstand sprach.
Bald schon änderte sich der Charakter der Umgebung. Wo zuerst Felsgestein und harter Boden war, befanden sich nun Wiese und Moospolster. Aber wie sah die Wiese aus?
Wenn Diana sattes, grünes Gras erwartet hatte, musste sie enttäuscht feststellen, dass das Gras braun und stellenweise sogar schwarz war, als hätte ein Brand gewütet.
"Das sind die Spuren der Feuerspinnen! Wo diese gingen, ist nur noch Tod und Verderben!"
Nee sagte es leise und mit Trauer in der Stimme. Lichtlocke schüttelte sich.
"Aber das war doch nicht immer so, oder doch Nee?" fragte sie. Nee schüttelte den Kopf und sagte:
"Nein, als die Herzblume noch wuchs und der Geschichtenberg hell und leuchtend und nicht so schwarz und kalt war, da war es hier sehr schön!"
Zögernd gingen sie weiter. Reapear hielt seine Fühler noch immer in die Luft gestreckt. aber er begann bereits einige Male zu zögern und immer öfters prüfte er die Gegend. Plötzlich blieb Reapear stehen und schüttelte den Kopf, während sich der schüttere Bart steil aufrichtete. Er drehte sich zweimal um sich selbst, dann seufzte er.
"Jetzt habe ich auch die kleinste Spur verloren. Es tut mir leid. Ab jetzt sind wir nur noch auf unser Glück angewiesen!"
Sie gingen weiter und Diana wurde müde. Sie rasteten kurz und Diana meinte:
"Das wäre toll, wenn man den Mund aufmacht und ein saftiger Apfel oder eine süße Birne fällt hinein!"
"Nun, das kann ich dir leider nicht bieten, aber wie wäre es mit Käse und einem Samenfruchtbrot?" fragte verschmitzt der Leviathan. Diana sah ihn überrascht an und fragte:
"Hast du diese Sachen etwa hier? Du hast wirklich etwas zu Essen mit?"
"Wie wäre es damit?" Und Reapear griff in seinen Bauchbeutel, den Diana erst jetzt merkte und fischte einige appetitlich aussehende Brote und Käselaibchen heraus.
"Nicht verzagen, Reapear fragen, würde Markus jetzt sagen!" Diana lachte, um im nächsten Moment traurig den Kopf hängen zu lassen, als ihr ihr Bruder einfiel.
Reapear legte kurz ein Händchen auf Dianas Arm und forderte sie mit einem Kopfnicken auf, sich satt zu essen.
Diana ließ sich das nicht lange sagen, griff zu und bald war der ärgste Hunger gestillt. Nach dem Stand der Sonne, die in diesem Teil des Landes milchig und verhangen wirkte, musste es bald Mittag sein.
Kaum hatten sich alle anderen auch gestärkt, ging es weiter.
Sie kamen an einem Wasserlauf vorbei und so konnten sie sich auch noch den Durst stillen. Doch nur zu bald drängte Nee weiter.
Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt bereits überschritten, als sie eine Gegend erreichten, die einem Hochmoor glich. Fremdartige Pflanzen und Blumen wuchsen hier. Diana bemerkte, viele davon waren Fleischfresser. Schaudernd zwang sie sich, nicht hinzusehen. Besonders, als eine der Pflanzen plötzlich eine Art Zunge nach einer großen Fliege, die über ihr flog, ausstreckte und sie in sich einzog.
"Hier beginnt das eigentliche Reich des Nachtmahrs!" sagte Ray und sah sich suchend um. Dann schien er gefunden zu haben, was er so eifrig gesucht hatte, denn er zeigte auf einen Baumstamm, der ins Moor führte.
"Wir müssen über diesen Baumstamm, die Moorwiese darauf überqueren und danach haben wir das Herz des Reiches erreicht. Fallt bloß nicht in das Moor! Es hat noch keinen wieder heraus gegeben, der einmal hinein fiel! Es zieht diesen immer tiefer!"
"Solche Moore gibt es bei uns zu Hause auch!" meinte Diana.
"Aus euren Mooren kommen aber sicher keine Toten! Aus diesem schon!"
Diana schauderte es. Reapear setzte vorsichtig seine Krokodilfüße auf den schwankenden Baumstamm. Seine Bohrkranzartigen Zehen bohrten sich fest in den Stamm und er balancierte darüber. Nach ihm gingen Ray und seine Schwester und Diana folgte. Nee glitt vorsichtig darüber und Diana atmete auf, als alle gut angekommen waren.
Es begann bereits wieder zu dunkeln, als sie das Moor hinter sich gelassen hatten. Reapear wandte sich an Ray und meinte:
"Ab nun musst du uns weiter helfen. Ich weiß, du hast schon öfters die Grenze überquert. Darum sag uns, wie es nun weiter geht!"
"Wir müssen hier rasten, den Seelensee können wir nur bei Tag überqueren!"
"Was ist der Seelensee?" fragte Diana, als sie sich unter einem der spärlichen Baumriesen, die hier standen, ausstreckte.
"In diesem See kann man die Seelen der verwunschenen Elfen singen hören. Jeder, der den Gesang vernimmt, ist ihnen für immer als Diener verfallen!"
Die verhangene Sonne war hinter den Baumwipfeln verschwunden. Es wurde dunkler. Nee wickelte sich besser in ihren Rindenumhang und Ray schloss die Augen. Eine Hand legte er um die Schulter seiner Schwester. Er lehnte sich an Reapear. Diana lehnte sich ebenfalls an diesen und dachte daran, dass der Leviathan wie ein richtiger Freund zu ihnen war. Sie mochte dieses große und fremdartig aussehende Tier. Und Diana fühlte ebenso Freundschaft für Reapear.
Ihre Augen wurden schwer und ihr Kopf sank in eine unnatürliche Schrägstellung. Von Reapear drangen leise Schnarchgeräusche an ihr Ohr.
Tatsächlich flogen über ihnen die Geiervögel und senkten sich mit starkem Flügelschlag nieder. Bevor einer der Krallen Diana erwischen konnte, hatte sie sich gebückt und ins Gras geworfen.
Einer der Geiervögel stand sekundenlang unschlüssig rüttelnd über ihr. Der Wind, den seine Flügel erzeugten, trieb ihr abgerissenes Gras und Erde in die Augen und in den Mund. Plötzlich schrie der Vogel krächzend auf und sowohl er als auch die anderen stiegen wieder höher, um endlich in der Ferne zu verschwinden. Diana hatte die Hände in den Boden gekrallt und weinte leise vor Angst und Schrecken. Nees Stimme riss sie aus ihrem Entsetzen, als diese sie aufforderte wieder aufzustehen.
Diana erhob sich und sah, dass Reapear einen langen und gebogenen Stecken in den Händen hielt. Scheinbar hatte er damit die Geiervögel vertrieben.
Nee half Diana beim Reinigen ihres Kleides, danach ging es weiter.
Sie waren bereits weit vorgedrungen, da hörten sie schwaches Rufen und Wimmern. Dianas erster Gedanke war: verstecken.
Doch dann nahm sie allen Mut zusammen und versuchte dem Ruf zu folgen. Hinter einer Strauchgruppe wurde der Jammerlaut deutlicher. Als Diana vorsichtig dahinter sah, konnte sie außer einer Gruppe Pilze nichts entdecken. Wieder erklang der Ruf. Doch diesmal kam er eindeutig von oben.
Diana sah über sich und erschrak. In einem silbernen Netz war ein seltsames Geschöpf gefangen. Diana sah, aus eigener Kraft konnte es sich nicht befreien. Sie rief Reapear zu sich und gemeinsam versuchten sie das Netz herab zu ziehen. Aber irgendetwas hielt es dort oben fest. Diana sah sich suchend nach einem geeigneten Gegenstand um, bemerkte die Stange in Reapears Hand und griff danach. Reapear reichte sie ihr und Diana bohrte in das Netzgeflecht.
Es dauerte nicht lange, da riss das Netz und das Wesen purzelte Diana vor die Füße. Sie wich erschrocken zurück, als sie das komische Ding genauer ansah.
Es sah aus, als bestünde es aus Holz, braun und knorrig war es. Erst bei genauerer Betrachtung bemerkte Diana die kleinen Augen, die jetzt aber fest zusammen gekniffen waren. Das Wesen hatte eine krumme Nase und ein knorriges Loch im verwitterten Gesicht. Diana vermutete, dass dies sein Mund war. Der Kopf saß auf einem Hals, der mehr ein Stielchen war, als denn ein Hals. Darunter befand sich ein Leib, der die Form einer dicken Birne hatte, die Kleidung trug.
Ein gelbes Wams und eine ebenso gefärbte Hose.Die Hose reichte bis zu den Knien und die Füße steckten in blauen Strümpfen und roten Grasschuhen. Es hatte blau-weiß gestreiftes Haar, das ihm bis zur Schulter reichte und ein rotes Barett darauf.
Nun schlug es die Augen auf und Diana schrak zurück, denn sie waren kohlrabenschwarz.
"Was gibt es da zu glotzen?" knarrte das Männchen mit heiserer Stimme. Dann schwang es sich mit unglaublicher Behändigkeit auf die dünnen Beine und betrachtete die Gesellschaft um sich.
"Ich sehe einen Leviathan und eine Eichelfee. Außerdem ein seltsames Wesen, das sicher nicht hierher gehört!" sagte das Männchen und sah jeden der Reihe nach mit seinen schwarzen Augen an.
Reapear nickte und sagte:
"Du siehst richtig und dieses Mädchen, Diana, hat dir das Leben gerettet. Doch du hast einen Vorteil uns voraus. Du weißt, wer wir sind, aber wer oder was bist du?"
"Ich? Sag Leviathan, sag bloß du weißt nicht, wer ich bin!"
"Nein!" knurrte Reapear.
"Nun, so sinke in den Staub, du stehst vor Popohax, dem Mächtigen!"
"Ach?"
"Ja! Werft euch in den Staub! Popohax befielt es euch!"
"Und was gibt diesen Pophax das Recht, uns in den Staub zu befehlen?" fragte Reapear mit leise grollender Stimme.
Diana verschränkte die Arme und trat einen Schritt näher an den seltsamen Gnom.
"Ja, wer bist du, dass du so was verlangen kannst?"
"Ha, ich werde euch alle ... alle ... ach, mein armer Kopf!"
Das Männchen ließ sich leise jammernd und seufzend in das spärliche Gras sinken und hielt sich nun mit beiden Händen den Kopf.
Diana kniete nieder und versuchte die Ursache für das Unwohlsein des Zwerges heraus zu finden. Es dauerte nur kurz, dann hatte Diana die Ursache gefunden. Sie spürte die harte Erhebung auf dem Kopf des Zwerges. Sie wandte sich an Nee und sagte:
"Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen. Das hat bestimmt eine Gehirnerschütterung gebracht. Er müsste etwas ruhen und kalte Umschläge bekommen!"
"Der hat etwas mehr bekommen! Gehirnerschütterung? Welches Gehirn sollte da schon erschüttert worden sein?" brummte Reapear und spreizte seinen Bart ab.
"Gagaga! Popohax bekommt keinerlei Gehirnerschütterung!" fauchte der Zwerg.
"Nun sag uns endlich, wer ist Popohax?" fragte Nee lächelnd.
"Ich! Ich bin Popohax!" kreischte der Zwerg.
"Was ist Popohax?" fragte Nee.
"Ich bin der Wurzelzwergkönig. Sag nur, du hast noch nie von mir gehört!"
"Doch ... doch ja!" Nee zögerte. Aber Popohax hatte nichts gemerkt. Wieder stöhnte er.
Diana betrachtete ihn eine Weile, dann fragte sie vorsichtig:
"Kennst du den Weg zum Nachtmahr?"
Sie hatte wohl eine Reaktion erwartet, jedoch nicht diese, die nun folgte. Der Zwerg sah sie erschrocken an, dann sprang er - ungeachtet seiner Kopfschmerzen - auf und rief in heller Verzweiflung laut aus:
"Hat dir die Sonne dein Gehirn getrocknet? Oder hast du Lomarigkacke darin?"
Diana sah ihn erschrocken an, dann wandte sie sich an Nee und meinte kleinlaut:
"Ich habe doch bloß eine einfache Frage gestellt. Was hat er bloß?"
"Was ich habe - fragt sie - was ich habe!"
"Ja, das war eine einfache Frage. Mit einer einfachen Antwort darauf!"
"Es war eine gefährliche Frage mit einer tödlichen Antwort darauf. Wer fragt schon nach dem Nachtmahrherrn?"
"Ich! Er hat nämlich meinen Bruder entführt, oder entführen lassen. Damit wir beide nicht das Land Raise und dessen Volk retten können. So, nun hast du den Grund für meine Frage!" Diana hatte sich richtig in Rage gesprochen.
Der Wurzelzwergkönig hatte mit offenem Mund zugehört. Nun wandte er sich an Nee.
"Ist das wahr?"
Nee nickte und sagte leise:
"Ja leider. Wir beide begleiten Diana, um ihr in ihrem Kampf beizustehen!"
"Ach? Und wo wollt ihr hin?"
"Zum Geschichtenberg!"
"Zum ... gagaga!" regte sich Popohax von neuem auf.
"Diana kennt viele Geschichten, wir werden wieder gesund und unser Volk und das Land werden weiter bestehen!"
"Wisst ihr nicht, dass nur zum Geschichtenberg darf, der auch Geschichten wirklich kennt? Nicht das Alltagsgeschwätz, das sich die Elfen oder auch die Elfen so vor gackern!"
"Doch, du schäbiger Zwerg, das wissen wir! Deshalb haben wir ja das Mädchen aus der anderen Welt bei uns!" grollte Reapear.
"Ja, aber sie muss alleine, ganz alleine hin und das ist das Schwerste!"
"Mit deiner Hilfe schaffe ich es sicher!" sagte Diana, sich an den Zwergenkönig wendend. Erst sah dieser Diana skeptisch an, dann aber nickte er. Als Nee und Reapear Anstalten machten, ihm und Diana zu folgen, verwehrte er es ihnen.
Schließlich fügten sie sich und Reapear sagte:
"Ich werde hier auf dich und deinen Bruder warten!"
Sie waren bereits endlos unterwegs. Dianas Kraft neigte sich dem Ende zu. Sie erklommen eben eine hohe Böschung und Diana war bereits mehrmals die Schritte, die sie nach oben gemacht hatte, wieder hinunter gerutscht. Jedes mal schnalzte ihr Begleiter ärgerlich mit seiner Zunge. Danach folgte das nervende: "Gagaga!" Langsam kam sich Diana vor, als wäre sie ein Huhn und würde von einem ärgerlichen Gockel begleitet werden.
Oben endlich angekommen, deutete Dianas Begleiter in die dunstige Ferne und knarrte:
"Dort ist der Geschichtenberg!"
Diana folgte dem ausgestreckten Finger und - erschauerte.
Sie sah ein drohendes, schwarzes Gebirge, aus dem ein Berg - besonders hoch und schwarz - hervorstach.
Aber es dauerte beinahe bis zum Einbruch der Dunkelheit, bis sie das Gebirge erreicht hatten. Sie lagerten am Fuß der Berge und Diana dachte an ihren Bruder.
Um sich von ihren düsteren Gedanken abzulenken, erkundigte sie sich:
"Was hat es eigentlich mit diesem Geschichtenberg auf sich?"
Der Wurzelzwergkönig hatte aus seiner Hose ein vierkantiges Stäbchen hervor geholt und strich mit seinem Fingernagel über den Boden. der Nagel flammte auf und er entzündete mit dem Feuer das Stäbchen. Ein nach Apfelblüten duftendes Aroma umwehte Diana. Erstaunt sah sie, dass der Zwergenkönig rauchte.
Nach einigen kräftigen Zügen setzte sich Popohax bequemer hin und begann zu erzählen.
"Früher war der Berg hell und licht und man konnte bis zu seinem Herzen sehen. Sein Herz war eine rote, herzförmige Blume, die wunderbar duftete. Jeder kannte sie beim Namen. Er war groß und heilig. Doch die wenigsten wagten ihn auszusprechen, weil er so heilig war. Dieses Herz hieß 'Kumis', die Erkorene. Aber die Nebelfrau und der Nachtmahr wollten die Macht für sich alleine und so beauftragten sie feindliche Spione, die Blume Kumis zu stehlen. Den Feinden gelang es irgendwie - wie, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben - sie aus dem schützenden Berg zu entwenden. Von dieser Stunde an legte sich Nebel über den Wunschsee und der Mirakelbrunnen versiegte. Er bekam zwar wieder Wasser, doch beinahe alle Bewohner des Landes Raise verloren über Nacht die Fähigkeit Geschichten zu erzählen, zu lachen und zu singen. Es war entsetzlich. Auch der große Wackelstein erschien über Nacht am Gipfel des Geschichtenbergs. So mancher, der es mit dem Geschichten erzählen versucht hatte, wurde von ihm zerdrückt. Danach befand sich der Stein sofort wieder an seinem Platz. Vielleicht waren es aber auch nicht die richtigen Geschichten!"
Popohax gähnte vernehmlich, drückte den Stäbchenrest in den Boden, legte die Arme unter den Kopf und es dauerte nicht lange, so hörte ihn Diana schnarchen. Sie versuchte das eben Gehörte zu überdenken, aber auch ihr fielen die Augen zu und wenig später war sie eingeschlafen.
Es war noch früh am Morgen, als Popohax Diana weckte und aus einer der unergründlichen Tiefen seiner Hosentasche ein schmackhaftes Obstfrühstück hervor zauberte. Während sie den Berg erklommen, aß Diana von den köstlichen Äpfeln und Feigen.
Auf halbem Weg zeigte Popohax ihr den Wackelstein. Diana fühlte Schwäche in ihrem Magen hochsteigen und musste sehr um Beherrschung kämpfen. Am liebsten wäre sie weg gelaufen. So schwarz und drohend wie der Berg, so sah auch der Wackelstein aus.
Popohax beobachtete sie von der Seite her, nickte dann und sagte abfällig:
"Mädchen!"
"Was willst du damit sagen?" fragte Diana und runzelte die Stirn.
"Mit einem Jungen ginge es besser. Die versuchen nicht beim geringsten Hindernis zu kneifen. Mädchen tun das aber!"
"Hast du nie Angst?"
"Doch!"
"Also! Ich habe Angst, aber ich möchte meinem Bruder und diesem Land hier helfen. Ich habe mich nicht danach gedrängt, hier zu sein! Aber ich werde auf jeden Fall das Begonnene zu Ende führen!"
"Hm!"
"Da gibt es nichts zu 'Hm'n'!"
"Gagaga!"
"Los, vorwärts! Popohax, der Berg wartet!" rief Diana in komischer Verzweiflung und stieg wieder weiter. Popohax folgte. Es ging steil aufwärts und schon bald war Diana sehr müde. Doch sie biss die Zähne zusammen und setzte Fuß vor Fuß.
Als Diana schon dachte, sie würden nie ankommen, erklärte Popohax:
"So, wir sind am Ziel. Über uns beginnt der eigentliche Geschichtenberg!"
"Ich dachte, dies wäre er bereits die ganze Zeit!" rief Diana erschrocken.
"Oh ja! Aber dies ist der Teil, den du nun alleine gehen musst!"
Diana sah hoch und erblickte direkt über ihr den drohend schwarzen Geschichtenberg samt Wackelstein. Es kam ihr so vor, als neige sich dieser bereits zu ihr herunter.
Popohax nickte ihr auffordernd zu und setzte sich. Er zog wieder eines seiner Rauchstäbchen aus der Hose hervor und machte es sich gemütlich.
Diana seufzte, dann machte sie sich auf den letzten Teil ihres Weges.
Oben wehte ein heftiger Wind, der an Dianas Haaren riss und zerrte. Und der ihr die Tränen in die Augen trieb. Diana strich sich die meisten Haare wieder zurück und sah sich nochmals den Wackelstein, nun schon dicht über ihr, genauer an. Schauer liefen ihr über den Rücken. Dann holte sie tief Luft und begann alle die Geschichten zu erzählen, die sie kannte und die ihr einfielen. Ihre Tante Aloisia hatte viele Geschichten erzählt und Diana hatte sich die meisten davon gemerkt.
Diana hatte die Augen geschlossen, sie wollte nicht die ständige Bedrohung in Form des Wackelsteins sehen. Deshalb merkte sie auch nicht, dass der Berg heller und heller geworden war.
Erst als eine feine Melodie erklang, die jedes ihrer Worte wie leises Echo begleitete, öffnete sie verwirrt die Augen. Sie bemerkte erstaunt, dass der Berg nun über und unter ihr fast weiß, leicht bläulich schimmerte. Sie hob den Kopf, der Wackelstein war verschwunden.
Sie wusste nicht, ob sie schon genug erzählt hatte und so fuhr sie mit dem Erzählen fort. Mit jeder Geschichte wurde der Berg heller und verlor auch rasch die bläuliche Farbe.
Nun erkannte Diana mitten in der Bergwand eine Tür, die vorher nicht da gewesen war. Diana stand auf und ging näher. Knapp vor ihr öffnete sich diese. Diana schrak zurück, biss sich dann aber auf die Lippen und betrat den dahinter liegenden Gang. Er war lang und hatte eine nicht sichtbare Beleuchtung. Es kam Diana so vor, als würden die Wände leuchten.
Am Gangende, das Diana bald darauf erreichte, befand sich eine weiße Türe. Diana schätzte, dass sie etwa die Bergmitte erreicht hatte. Sie besah sich die Tür und dachte darüber nach, wie sie diese öffnen sollte, da weder Schnalle, noch Schloss, noch ein anderer Öffnungsmechanismus zu sehen war.
Diana stand da, ließ ihre Arme hängen und ganz langsam und leise begann sich in ihrem Kopf die kleine Melodie zu formen, die Aloisia gesummt hatte, und wo in dem Text, der zu der Melodie gehörte, von einer weißen Türe die Rede war. Sollte damit diese Tür gemeint sein?
Diana dachte über den Text nach und befürchtete schon, dass er ihr nicht mehr einfallen würde, doch dann formten sich die Worte beinahe von selbst in ihrem Kopf. Diana fühlte, dass es wichtig war, sich an diese Worte zu erinnern. Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger konnte sie die Worte richtig fassen oder sie auch nur aussprechen. Diana setzte sich vor die Tür und ihre Gedanken liefen zurück, zu der damaligen Situation, als ihre Tante diese Melodie gesummt und dann einmal den dazu gehörigen Text gesungen hatte. Unwillkürlich begann Diana erneut zu summen und merkte, wie die Türe zu flackern und sich zu wellen begann, als wäre sie ein lebendes Wesen. Diana beobachtete dieses Phänomen mit wachsendem Erstaunen. Nun stand sie auf und summte die Melodie lauter. Doch bald summte sie nicht mehr alleine, es schien ein Echo zu geben.
Schließlich kam es Diana vor, als würde der Berg selbst das Lied verstärken und bald vernahm sie auch einzelne Worte und Wortfetzen. Doch sie konnte diese noch immer nicht verstehen.
Diana trat dicht an die Tür, streckte die Hand aus und berührte sie vorsichtig. Das Material fühlte sich warm, fast lebendig an. Es pulsierte leicht unter ihren Händen. Diana wollte nun ihre Hand zurück ziehen, doch es ging nicht. Es war, als würde die Tür Dianas Hand festhalten.
Und plötzlich vernahm Diana die kleine Melodie so kraftvoll wie noch nie. Und sie verstand nun auch die Worte.
"Oh, dass ihr euch in Reihe stellt.
wenn die Liebe Wache hält!
Nebelfrau und Nachtmahr sind
verwundbar wie ein kleines Kind.
Der Berg, der die Geschichten kennt,
weiß wie stark die Hoffnung brennt!
Er hatte Kumis als sein Herz
und verlor sie - welch ein Schmerz!
Ein Mensch vom ander'n Lande kam,
Kumis in seine Arme nahm,
den Berg er seine Schmerzen nahm -
da Kumis ihm zum Herzen kam.
Hab' Dank, du Freund vom Lande Raise
der Berg vergilt es dir auf seine Weise.
Nun setze Kumis an den Platz
sie ist der Welten größter Schatz!"
Während Diana den Worten lauschte, öffnete sich vor ihr die Tür und helles Licht strahlte hervor. Sie betrat den Raum dahinter und sah sich staunend um.
Es befand sich lediglich ein Tisch aus unbekanntem Material darin und darauf stand ein Würfel, in dem eine blaue Blume eingegossen war. Etwas zwang Diana den Würfel hoch zu nehmen. Kaum hatte sie den Würfel in der Hand, geschah etwas seltsames. Der Würfel schien zu schmelzen und die vorher blaue Blume verwandelte sich in ein rotes Herz.
Diana dachte an die Worte des Liedes und presste die Herzblume an sich. Sie verließ den Raum und hinter ihr schloss sich sofort die Tür.
Sie ging so rasch sie konnte wieder zum Ausgang.
Kaum hatte sie den langen Gang verlassen, stürzten gewaltige Steine herunter und verschlossen die Öffnung. Doch keiner der Steine traf oder verletzte Diana. Sie wusste nicht, was sie nun machen sollte. Doch ein sanfter Zug führte sie zum Geschichtenberg, der nun durchsichtig war und im hellen Licht strahlte.
Plötzlich setzte sich die Blume in Dianas Hand von selbst in eine schwebende Bewegung und Diana ließ erschrocken los. Leicht wie eine Feder glitt die herzförmige Blume auf die durchscheinende Bergwand zu und versank darin, als wäre diese aus Luft geformt.
Noch einmal erklang leise die Melodie und Diana sah die Blume durch die beinahe einem riesigen Bergkristall ähnelnden Wand. Ein starkes Glücksgefühl erfasste Diana und auch Freude. Selbst der Gedanke an die lange Abwärtskletterei konnten ihre gute Laune nicht verringern.
Als sie den Platz erreicht hatte, an dem sie Popohax zurück gelassen hatte, war dieser leer. Leer bis auf ...
"Markus!"
"Hallo Schwesterherz!"
"Wo kommst du denn her?"
"Tja, so recht weiß ich das nicht. Erst hat mich so ein Widerling davon gezerrt, dann verbrachte ich einige Minuten in einem ungemütlichen Raum. Plötzlich packte mich wieder etwas und setzte mich hier in Gesellschaft eines Wurzelsepps ab!"
"Ja, wo ist eigentlich Popohax?"
"Wer?"
"Das Wesen, das du 'Wurzelsepp' nanntest."
"Ach so der! Ja, der stand auf, hustete einige Male und dann stieg er den Berg hinab. Er meinte aber noch, du würdest bald kommen und ich sei aus dem Alter heraus, wo man mich hüten müsse!"
Diana musste lachen, ja das war Popohaxs Art, und vom Gipfel wehte ein leises Echo des Lachens zu ihnen.
Der Festsaal im Palast des königlichen Pilzhauses war festlich geschmückt und hell erleuchtet. Aberhunderte der Glasfeuertiere schwirrten herum, ballten sich zu großen Kugeln zusammen, um gleich darauf wieder auseinander zu driften und sich erneut zu ballen. Die Königin Moonlady hatte ein bleiches Gesicht und rot geweinte Augen. Trotzdem lächelte sie erfreut, als Markus und Diana in Begleitung des Leviathans und der Eichenfee Nee den Saal betraten.
Mit ausgestreckten Armen kam sie den Vieren entgegen und drückte die beiden Kinder sanft an sich. Vor den beiden anderen verneigte sie sich respektvoll. Der Leviathan nickte und war alsbald im Gewirr der Besucher verschwunden.
Auch Nee zog sich bald zurück. Diana wollte sich eben nach Nee umdrehen, da fühlte sie sich gepackt und auf eine Art Podium gestellt. Sie wurde aufgefordert, die Erlebnisse zu erzählen.
Erst ging es noch schleppend und leicht überschattet von der Trauer, da Ray ja noch nicht befreit war, und viele Fragen zu Diana gerufen wurden, sodass sie nicht wusste, welche sie zuerst beantworten sollte. Schließlich wurde es still und Diana begann. Die Zuhörer waren so gefesselt von den plastischen Erzählungen, die Diana zum Besten gab, dass atemlose Stille eintrat.
Als Diana fertig war, hielt diese Stille noch eine Minute lang an, dann aber brauste jubelnder Beifall auf. Nach geraumer Zeit hob die Königin die Hand und erneut wurde es ruhig.
"Wir verdanken Diana und ihrem Bruder sehr viel. Aber nun wollen wir lustig und fröhlich sein. Allzu lange mussten wir es entbehren. Die Geigenmänner sollen ihre Instrumente stimmen, die Herren ihre Damen um die Mitte fassen und die Füße sollen im Takt der Musik schwingen. Man soll tanzen!"
Und die Festgäste tanzten, dass sich die Balken bogen. Die Glasfeuertiere zu klingeln begannen und einer Dame sogar das Festkleid vom Körper gezogen wurde, als sie und ihr Tanzpartner etwas stürmisch um eine runde Säule tanzten.
Sofort waren lautlos Diener erschienen, die einen Mantel aus Fäden der Spinnerraupen um die Dame legten. Diese hatte den Vorfall überhaupt nicht bemerkt und wirbelte mit ihrem Partner lustig weiter umher.
Und dann - plötzlich - brach die Musik ab und es wurde totenstill. Die Königin, eben noch mit einem ihrer Minister fröhlich lachend, wurde bleich und griff sich erschrocken an den Mund. Unter den Festgästen waren zwei Gestalten aufgetaucht, vor denen die anderen rasch zurück wichen. Diana sog scharf die Luft durch die Zähne und flüsterte:
"Wer ist das?"
Das weibliche Wesen, zog eine Braue hoch und sah mit einem hochmütigen Blick auf Diana nieder. Sie hatte deutlich deren Worte vernommen.
"Ich bin die Nebelfrau und dies ist mein Verlobter, der Nachtmahr.Da nun alle und jeder sich über alles lieben und der Schrecken von uns genommen wurde, wollen auch wir beide unseren Teil daran haben. Wir haben beschlossen, uns zu verloben und haben für unsere verehrte Frau Königin ein besonderes Geschenk, das sicher zu unseren Gunsten sprechen wird."
Die Nebelfrau hob die Hände, klatschte dreimal hinein und ein Zwerg, der in Begleitung der Nebelfrau gekommen war, brachte ihr eine blaue Tunika. Sie öffnete die zusammen gelegte Tunika und griff in eine der Taschen, die darin waren. Als sie die Hand zurück zog, hielt sie einen Spiegel darin. Diesen hob sie nun hoch und rief mit lauter Stimme:
"Dein Gefährte, Moonlady, war sehr tapfer und er bekam meinen ganzen Respekt. Aber er ist tot. Ich kann ihn nicht mehr hierher bringen. Ich kann aber etwas anderes. In einem Reich, weit weg von hier - es heißt Würdinacke - gab es ein Herrscherpaar, dessen Königin jedoch schwer krank wurde und schließlich starb. Der König ist nun ganz alleine. Sein ältester Sohn Morax hat nun die Herrschaft übernommen und du könntest dir den alten König zu deinem Gefährten erwählen. Sieh in den Spiegel, Königin, ich werde ihn dir zeigen!"
Die Spiegelfläche wellte sich, als die Nebelfrau darüber strich und zeigte ein schönes Männergesicht. Es war nicht alt, nur sehr, sehr traurig.
"Er hat gute Augen!" meinte Moonlady leise.
"Soll ich ihn vorbereiten auf dein Kommen?"
"Nein, ich möchte unerkannt hin. Wie ist sein Name, Rotstern?"
"Er heißt Rocksun, Felsensonne!"
'Ich werde ihn suchen', dachte die Königin und bedeutete der Nebelfrau, den Spiegel wieder weg zustecken.
Danach flackerten die ersten Gespräche wieder auf, die Musik setzte ein und das Fest ging weiter. Auch Rotstern und ihr Verlobter amüsierten sich aufs Beste. Aber den restlichen Verlauf davon war Moonlady sehr abwesend mit ihren Gedanken.
Das Freudenfest dauerte noch vier Tage und ebenso viel Nächte. Doch schon am zweiten Tag fiel Diana auf, dass die Königin verschwunden war. Als sie mit Lichtlocke darüber sprach, meinte diese, die Mutter sei den fremden König besuchen gegangen. Ein weiterer Grund, das Fest hinaus zu ziehen war, als Ray mitten in der Gästeschar auftauchte.
Diana ging zu Ray hin und sah ihn an. Dann griff sie auf seine Schulter.
"Was bedeutet das?" fragte er. Diana schüttelte den Kopf und meinte:
"Ich habe dich nur angefasst, weil du doch verschwunden warst. Von diesen grausigen Geiervögeln entführt wurdest! Und Markus noch immer nicht aufgetaucht ist. Wir hätten ihn schon längst befreien können! Was bin ich doch für eine böse Schwester! Statt ihn zuerst zu befreien und dann die Blume einzusetzen, feiere ich hier mit euch und habe meinen armen Bruder vergessen!"
"Mache dir keine Vorwürfe, ich weiß, wo er ist. Und wir werden ihn befreien. Gleich, wenn die meisten Gäste die Schlaftreue erhalten haben. Lichtlocke und ich werden mit dir kommen und dir helfen. Jetzt, wo der Nachtmahr hier mit der Nebelfrau ist, ist seine Heimstatt unbeaufsichtigt!"
"Ja, das ist auch so eine undurchsichtige Sache. Wieso sind der Nachtmahr und die Nebelfrau eigentlich hierher eingeladen worden? Wo sie doch Feinde eurer Eltern sind!"
"Feinde? Nein, sie sind keine Feinde. Die Nebelfrau und unsere Mutter sind doch Schwestern! Wusstest du das nicht?"
"Nein, woher denn auch?"
"Ja, sie sind Schwestern und Rotstern war ebenso in unseren Vater verliebt, doch dieser hatte sich bereits für unsere Mutter entschieden und das konnte die Tante nicht verstehen."
"Und was ist mit dem Nachtmahr?"
"Dieser verehrte Rotstern, doch die wollte ja nur unseren Vater und deshalb vom Nachtmahr nichts wissen!"
"Junge, sind das verzwickte Verhältnisse. Weil wir gerade beim Lösen der hier entstandenen Rätsel sind, warum hat eigentlich Lichtlocke, deine Schwester, nicht die Blume Kumis eingesetzt?"
"Das konnte sie nicht. Sie ist ein Kind von Raise. Und nur ein Außenstehender, so wie du und dein Bruder, konnten dieses Wunder wagen!"
"Wobei wir wieder bei Markus wären!" Diana strich sich eine einsame Träne von den Wangen. Ray legte einen Arm um ihre Schultern und meinte tröstend:
"Nicht weinen, tapferes Mädchen. Meine Schwester und ich werden dir bei der Befreiung von Markus helfen. Doch wir müssen wirklich warten, bis die meisten Gäste die Schlaftreue erhalten haben. Sonst warnt womöglich noch jemand unbewusst den Nachtmahr!"
"Warum hat dieser Döskopf eigentlich meinen Bruder entführen lassen? Was bringt ihm das?"
"Niemand von uns kennt die wirklichen Beweggründe des Nachtmahrs und warum er etwas macht. Vielleicht wollte er euch einschüchtern, vielleicht wollte er uns einschüchtern. Vielleicht wollte er - weswegen auch immer - deinen Bruder als Gesellschaft haben."
Diana sah Ray mit einem skeptischen Seitenblick an. Das alles war mehr als seltsam. Beinahe erleichtert war sie, als Ray seinen Arm von ihrer Schulter nahm und sich gleich darauf unter die noch immer fröhlichen Gäste mischte. Sie sah Lichtlocke an, doch diese schien ihrem Blick auszuweichen. Diana dachte daran, dass das Mädchen die ganze Reise weder einen Finger gerührt hatte, um Ray zu helfen, noch um sie - Diana zu unterstützen. Lichtlocke war nur wie ein stummer Schatten bei ihnen gewesen. Handelte so eine wahre Prinzessin? Sie schien sich auch nicht viel Gedanken oder Sorgen gemacht zu haben, als ihr Bruder entführt worden war. Als ginge sie das alles nichts an. War Ray nicht der Thronfolger? Oder war Lichtlocke in der Erbfolge des Throns von Raise die Nächste? Und weshalb war die Königin so schnell zu diesem unbekannten König abgereist und hat ihre Gäste in Stich gelassen? Fragen über Fragen und Diana hoffte, dass wenigstens ein Bruchteil davon beantwortet wurde. Sie zuckte zusammen, als sie den Blick auffing, den ihr Lichtlocke zuwarf. Kurz hatte sie das seltsame Gefühl, in einen tiefen, dunklen Schacht zu stürzen. Doch gleich darauf überzog ein Lächeln Lichtlockes Gesicht. Aber welche Art des Lächelns! Wenn Diana es beschreiben müsste, würde sie es als kalt und voll Hohn bezeichnen. Hatte die Prinzessin schon immer so unheimlich gelächelt?
Diana war froh, als einer der Gäste zu ihr kam und ihr einen mit köstlichem Obstsalat gefüllten Teller in die Hände drückte, den Arm um ihre Schultern legte und sie mit sich zog.
Diana war froh, als auch der letzte der Gäste die Schlaftreue erhalten hatte und nun Ruhe einkehrte. Voll Ungeduld wartete sie in ihrem Zimmer, dass endlich Ray und Lichtlocke kommen würden. Wobei Diana auf die Anwesenheit Lichtlockes gerne verzichtet hätte. Sie hatte noch immer deren seltsames Grinsen vor dem geistigen Auge.
Es klopfte leise und auf Dianas Aufforderung kamen Ray und seine Schwester in den Raum. Lichtlocke trug, wie ihr Bruder, einen dunklen Umhang. Einen weiteren hatte Ray mitgebracht. Diesen hielt er nun Diana hin und sie nahm ihn nur ungern entgegen. Als sie ihn sich umlegte, hatte sie kurz den unangenehmen Eindruck, als würde sich etwas schleimiges, kaltes um sie legen. Doch da dieser Eindruck gleich darauf verschwunden war, war sich Diana nicht sicher, ob sie sich das nicht nur eingebildet hatte. Ray legte den Finger auf seinen Mund und deutete zu einem kleinen Bücherregal an der Seite. Diana runzelte die Stirn und dachte bei sich, sie wusste, dass jetzt jede Art von Lärm nur unerwünschte Leute aufscheuchte. Als sie einen raschen Blick zu Lichtlocke warf, hatte diese wieder dieses penetrant garstige Grinsen im Gesicht. Denn Lächeln konnte Diana dieses seltsame Zähne fletschen nicht nennen. Ray schien nichts davon zu merken. Als Diana erneut zu Lichtlocke sah, lächelte diese nun wieder so, wie sie es schon früher getan hatte. Diana hatte sich also scheinbar das Grinsen nur eingebildet.
Ray führte die beiden Mädchen zu dem Bücherregal und Diana erwartete nun, dass er das dritte Buch von oben oder das zehnte Buch von links vorziehen und kippen würde. Doch Ray ging einfach dicht an das Regal heran und ... verschwand darin.
Diana keuchte erschrocken auf und blieb abrupt stehen. Gleich darauf erhielt sie einen kräftigen Stoß in den Rücken, der sich gar nicht nach der Hand eines kleinen Mädchens anfühlte.
"Wenn du auch nur einen Mucks von dir gibst, werde ich dich erst beißen, dann gut verpackt meinem Herrn abliefern!" Die Stimme hinter Diana war zwar leise und flüsterte dicht an ihrem Ohr, doch sie kam unverkennbar von Lichtlocke. Was war nur in dieses Mädchen gefahren? War sie schon vorher so seltsam gewesen? Doch Diana kam nicht mehr dazu, die Frage auch laut zu stellen, denn sie erhielt einen weiteren Stoß und taumelte gegen das Regal und ... durch. Dahinter begann ein gemauerter Gang. Ray wartete bereits ungeduldig und runzelte die Stirn.
"Was habt ihr so lange gemacht? Wir haben nur die Chance, Markus noch vor Tagesanbruch zu finden und zu befreien, solange der Nachtmahr nicht zurück gekehrt ist!"
"Diana traute sich nicht durch die Spiegeltür gehen!" sagte Lichtlocke und Diana wollte eben die Tatsache richtig stellen, als sie in ihrem Rücken etwas spitzes, hartes fühlte. Sofort fiel ihr ein, was Lichtlocke vorhin ihr ins Ohr geflüstert hatte und schloss ihren bereits geöffneten Mund wieder. Kurz hörte sie die Stimme ihrer Lehrerin, die ihr immer gesagt hat: "Schritt für Schritt, so kommst du besser an dein Ziel, als wenn du wild durch die Gegend rennst, viele Dinge beginnst und deine Kraft vergeudest ohne eines wenigstens zu beenden!"
Ja, sie hatte recht gehabt. Erst würde Diana sich um Markus und dessen Befreiung kümmern, dann konnte sie noch immer Lichtlockes Geheimnis erforschen.
Der Gang war nur kurz und mündete an einer mit einer Gittertür verschlossenen Öffnung. Ray griff in die Tasche seiner Kleidung und holte einen flachen Schlüssel hervor. Diesen steckte er in das oben angebrachte Schloss und mit zwei kräftigen Umdrehungen schloss er die Tür auf. Er steckte den schlüssel zurück, schob die leicht quietschende Tür weiter auf und ging durch. Diana, Lichtlocke dicht hinter ihr, folgten. Kaum waren alle draußen, verschloss Ray die Tür wieder und wandte sich dem weiteren Weg zu. Diana trat neben ihn und schauderte. Dicht vor ihr floss rasch ein nicht all zu breiter Fluss. Doch nirgends war ein Boot oder dergleichen zu erkennen. Ray deutete ins Wasser und sagte:
"Wir müssen da hinüber!"
"Ins Wasser?"
"Das ist kein Wasser! Das ist der Fluss der Zeit. Das was du hier für Wasser hältst, ist in Wahrheit die Zeit, die so schnell fließt. Der Geheimgang endet hier. und der Weg zur Behausung des Nachtmahrs, wo man Markus sicher gefangen hält, führt über den Zeitfluss. Einmal an einem Tag bleibt das Zeitgewässer stehen und da können wir den Fluss überqueren. Wir müssen aber schnell sein, denn das dauert nur wenige Augenblicke!"
"Und wann ist das?"
"Wenn die ersten zwölf Stunden voll sind und die Dreizehnte beginnt!"
"Wieso die Dreizehnte? Die gibt's doch gar nicht!" sagte Diana.
"Eben deshalb hält der Zeitfluss inne und wenn er wieder zu fließen beginnt, hat die erste Stunde der neuen Dekade begonnen."
"Das heißt, dass wir nur wenig Zeit haben, Markus zu suchen, zu finden, befreien und ihn wieder hierher zu bringen? Das ist - finde ich - verflixt wenig Zeit!"
"Wenn wir das nicht in der Sekunde des Stillstands erledigen, müssen wir erneut zwölf Stunden warten. Bis zum nächsten Stillstand. dabei würden wir aber dem Nachtmahr in die Arme laufen. Wenn ich 'Jetzt' sage, bereite dich vor, den Fluss so rasch als möglich zu durchqueren!" Ray wandte sich wieder dem Fluss zu und starrte hinein. Diana seufzte leise und blickte ebenfalls auf den Fluss. Es sah nicht so aus, als wollte er bald anhalten.
Diana fuhr erschrocken zusammen, als Ray rief:"Jetzt!" und loslief. Sie sah auf den wie erstarrte daliegenden Fluss der Zeit und wie Ray von Wellenkamm zu Wellenkamm sprang. Ihr war entgangen, dass der Zeitfluss tatsächlich erstarrt war. Schon hatte er das andere Ufer erreicht und winkte ungeduldig zu den beiden Mädchen hin. Lichtlocke gab Diana einen aufmunternden Stoß in den Rücken und Diana schwor sich, sobald dieses Abenteuer vorbei war, würde sie dieser aufgeblasenen und unangenehmen Prinzessin die Meinung sagen. Sie lief los und hielt den Atem an, als sie bei jedem Sprung, den sie machte, ein wenig einsank. Sie kam sich vor, als würde sie über Harschschnee laufen und dieser würde bei jedem ihrer Schritte einbrechen. Nur dass sie wenige Zentimeter einsank und nicht bis etwa zum Knie einbrach. Doch atmete sie erleichtert auf, als auch sie das andere Ufer erreicht hatte. Diana sah kurz zurück und sah verwundert, dass ihre Spuren im Fluss der Zeit sichtbar geblieben waren. Doch Ray drängte zu Weitergehen, kaum hatte auch Lichtlocke das Ufer erreicht. Aber weder Ray, noch seine Schwester hatten ihre Abdrücke hinterlassen, nur Dianas Fußstapfen waren wie eingefroren auf dem Zeitfluss erkennbar. Diana wollte Ray fragen, wie dies sein könnte, doch er drängte eilig weiter. Und Lichtlocke gab Diana einen weiteren Stoß in den Rücken. Und dieser war nicht von aufmunternder Art, denn er hätte Diana beinahe von den Beinen gerissen.
"Macht endlich! Wir haben noch ein gutes Stück. Erst durch die Sümpfe der Traurigkeit, dann durch den steinernen Wald. Aber wenn wir diese Hürden bewältigt haben, müssen wir nur noch in die Höhle des Nachtmahrs um Markus in einem der zahlreichen Räume zu finden. Also, sei nicht böse, Diana, wenn ich jetzt etwas dränge!" Ray wandte sich ohne ein weiteres Wort um und begann schnellere Schritte zu setzen. Diana sah noch einmal zu dem Fluss zurück. Dieser hatte wieder zu fließen begonnen und ihr Fußabdrücke schwebten über den Zeitwellen, als wären sie dorthin gemalt worden. Abermals erhielt Diana einen Stoß, der sie weiter taumeln ließ. Sie sah zu Lichtlocke und wollte diese eben ermahnen, sie soll endlich mit diesem herum stoßen aufhören, doch sie machte sehr schnell den Mund wieder zu, als in Lichtlockes Gesicht dunkle, garstige Haare zu wachsen begonnen hatten und ihre Augen seltsam vergrößert und glühend wurden.
"Ich würde an deiner Stelle endlich weiter gehen. Die Zeit bleibt nicht stehen!" sagte Lichtlocke und lachte hämisch. Diana lief es kalt den Rücken hinunter. Was geschah mit Lichtlocke? Machte dies die Nähe des Nachtmahrs? Diana nahm all ihre Ausdauer zusammen und lief Ray nach. Dieser war bereits weit gekommen, doch Diana und Lichtlocke holten langsam auf.
Als weiter vor ihnen eine weite, rote Ebene auftauchte, zeigte Ray während des Laufes hin und sagte keuchend:
"Dort beginnen die Sümpfe der Traurigkeit. Steigt nur in meine Fußstapfen und seht nicht in die kleinen Wasserflächen, die zwischen den Trittsiegeln liegen."
Diana nickte nur, denn sprechen konnte sie nicht. Obwohl sie sonst eine gute Läuferin war, kam sie hier und jetzt völlig ausser Atem.
Es dauerte nicht lange, da wurde Ray langsamer und begann auf breite, seltsam gelblich gefärbte Steinplatten zu steigen. Diana folgte und stieg auf die selben Steine. Sie versuchte nicht zu den dazwischen liegenden trüben Wasserflächen zu sehen, doch es fiel ihr zusehends schwerer. Vor allem, da die Steinplatten allmählich kleiner und weniger wurden. Und dann hörten sie ganz auf. Sie hatten ungefähr die Mitte des Sumpfgebietes erreicht und nun standen alle drei auf der letzten, einer der bisher größten Steinplatte. Diana sah sich um. Wenn sie nicht wüsste, dass sie in einem anderen Land war, könnte sie glauben, dies wäre ein echter Sumpf, so wie sie ihn kannte. Mit Sumpfgewächsen, dem breiten Grasschwengel und einigen der Fleischfressenden Pflanzen. Diese dort könnte ein Sonnentau sein und jene die Stinkkanne. Und dann fiel ihr Blick unwillkürlich nach unten, knapp vor ihre Füße und sie konnte nicht anders. Sie stieß einen erschrockenen Schrei aus und klammerte sich unwillkürlich an Ray fest. Dieser sah sie erschrocken an, dann folgte er ihrem ausgestreckten Finger. Er sog scharf die Luft durch die Zähne, doch dann packte er Dianas Schultern, drehte sie zu sich und schüttelte sie.
"Schau nicht hin! Du darfst sie nicht ansehen! Sie holen dich sonst!"
Doch das war leichter gesagt, als getan. Vor ihren Füßen schwammen bleiche Körper mit skelettierten Gesichtern. Nur die Augenhöhlen glühten in einem unheilvollem Licht. Erst hatte Diana gedacht, es handelt sich um Moorleichen, doch dann hatte sie gesehen, dass diese Dinger lebten. Und erst da hatte sie geschrien. Langsam und beinahe widerwillig löste Diana ihren Blick von den unheimlichen Moorwesen und sah in Rays Gesicht. Sie fühlte sich matt und starke Übelkeit würgte in ihrem Hals. Trauer trieb ihr die Tränen aus den Augen. Wo diese zu Boden fielen, zischte dieser auf, als fiele Säure darauf. Die Moorpflanzen, die von Dianas Tränen benetzt wurden, verdorrten und Ray sah erstaunt zu. Er hatte Dianas Schulter los gelassen und starrte zu Boden. Dann hob er den Kopf und meinte leise:
"Wie machst du das? Sind deine Tränen Gift für die Pflanzen? Aber weshalb? Keine unserer Tränen hatte je diesen Effekt!"
Doch das war Diana zu diesem Zeitpunkt völlig egal. Sie war müde, todtraurig und hatte noch immer vor ihrem geistigen Auge die grauslichen Dinger im Wasser.
"Wie geht es weiter?" fragte sie schließlich nach einiger Zeit.
"Wir müssen das letzte Stück schwimmen. Die letzten Siegel sind nicht mehr vorhanden!"
"Schwimmen? Wo diese Dinger sind?" Diana riss ihre Augen auf und schüttelte heftig den Kopf.
"Dann ist dein Bruder nicht mehr zu retten!" mischte sich Lichtlocke ein.
Diana wandte sich zu Lichtlocke, um ihr gehörig die Meinung zu sagen, doch inzwischen hatte sich Lichtlockes Gesicht und auch ihre Gestalt verändert. An den Seiten waren ihr weitere Hände und unten ein weiteres Paar Füße gewachsen. Ihr Körper hatte einen schwärzlichen Pelz angenommen und ihre Augen glühten in einem unheimlichen, dunkelroten Feuer. Diana machte ihren Mund wieder zu und sah erschrocken erst Lichtlocke an, dann Ray. Dieser hatte die Stirn gerunzelt. Doch er sah nur Diana an. Sah Ray denn nicht, was mit seiner Schwester passiert war?
"Ray? Ich denke, das ist keine so gute Idee!" sagte Diana und nahm sich sehr zusammen, um nicht erneut aufzuschreien. Aber sie ahnte, dass der selbe Zauber, der aus Lichtlocke eine der Feuerspinnen gemacht hatte, auch Ray vorgaukelte, dass Lichtlocke immer noch aussah wie Lichtlocke. Wieso sie, Diana, jedoch erkennen konnte, was aus Lichtlocke geworden war, hielt sie ihrer Herkunft zugute.
Also hatte weder der Nachtmahr, noch die Nebelfrau ihren dunklen Absichten aufgegeben. Diana biss die Zähne zusammen, setzte sich auf den Trittstein und rutschte vorsichtig in das trübe Wasser. Ray folgte ihrem Beispiel und es dauerte nicht lange, so schwammen drei Körper durch die sumpfigen Wasserflächen.
Diana atmete erleichtert auf, als sie sich am anderen Ufer wieder an Land ziehen konnte. Kurz rutschte sie wieder zurück, doch Ray half ihr Fuß zu fassen. Diana warf einen raschen Blick zu Lichtlocke, sah den verärgerten Blick, den diese Ray zuwarf, doch gleich darauf lächelte sie wieder. Ray sah Diana gespannt an und fragte:
"Ist alles in Ordnung?"
Diana nickte und konnte sich nicht verkneifen, zu fragen:
"Fällt dir nicht etwas auf, bei deiner Schwester?"
Ray sah kurz zu Lichtlocke, schüttelte den Kopf und fragte dann erstaunt:
"Was soll mir den auffallen? Lichtlocke ist so wie immer. Nur dass sie ihre Kleidung jetzt schmutzig hat. Aber das haben wir beide auch!"
Für Diana war Rays Antwort, der Beweis, dass er die Verwandlung Lichtlockes zu einer der Feuerspinnen nicht bemerkt hatte. Wahrscheinlich sah er sie noch immer so, wie sie immer gewesen war.
Die Kinder gingen weiter und je weiter sich Diana von den Sümpfen entfernte, desto mehr verschwand diese unerklärliche Traurigkeit in ihr. Ray zeigte nach vorne, wo in der dunstigen Ferne ein Wald zu erkennen war und meinte, während sie weiter über die Wiese, die sich an den Sumpf anschloss und deren Boden unter den Schritten der Drei federte:
"Dort ist der steinerne Wald und gleich dahinter der Eingang. Von da ab kann ich dir aber mit dem Weg nicht mehr viel helfen. Geht es dir gut?"
Diana nickte, doch sie fror. Ihre Zähne schlugen ein schnelles Stakkato, obwohl sie versuchte, das Klappern unter Kontrolle zu bringen. Erst jetzt merkte Diana, dass die nasse Kleidung ihre Wärme aus den Gelenken zog.
Ray schlug eine schnellere Gangart an und langsam erwärmte sich Diana. Die Kleidung trocknete und sie fragte sich, woher der steinerne Wald seinen Namen hatte. Doch gleich, als die ersten Bäume erreicht waren, erkannte Diana den Grund. Die Rinde der Bäume hatte einen grauen Schimmer und als sie an einen jungen, dünnen Holzstamm unabsichtlich mit einer Hand ankam, durchzuckte ihr Handgelenk ein kurzer Schmerz. Diana kam sich vor, als hätte sie mit dem Handrücken gegen einen Betonpfeiler geschlagen. Hin und wieder ließ sich Lichtlocke zurück fallen und Diana merkte, als sie sich einmal umwandte, dass Lichtlocke zwischen manche Baumstämme Netze spann. Doch auch das erkannte Ray nicht. Er ging mit ernsten, nein steinernen Gesicht zwischen den Bäumen durch und Diana war froh, als sie den schmalen Streifen, den der Wald hier bildete, durchquert hatten. Dicht vor ihnen ragte ein Berg auf. Ein schwarzer Berg.
"Ab jetzt müssen wir sehr vorsichtig und leise sein!" sagte Ray, sah zu Diana und deutete gleichzeitig auf den Berg. Vorsichtig sein? Waren sie das nicht schon bisher? Und leise? Was verstand Ray unter "leise"? Diana wunderte sich nur noch. Dass Ray die Verwandlung seiner Schwester nicht sah, hielt Diana der Tatsache zugute, dass es hier einen eigenen Zauber gab, der dies verhinderte. Aber dass er sie sinnloserweise zu mehr Stille und Vorsicht aufforderte grenzte für sie schon an ein Paradox. Trotzdem nickte sie und folgte Rays Hand mit ihrem Blick. Erst jetzt sah sie das dunkle Loch, das scheinbar ins Innere des Berges führte. Wäre da nicht rund um das Loch ein hellerer Schein gewesen, es wäre Diana in all der Schwärze des Berges nicht aufgefallen.
Langsam gingen die Kinder darauf zu. Inzwischen hatte sich auch Lichtlocke dicht neben Diana eingefunden und drängte sich unangenehm eng an das Mädchen. Diana warf einen nervösen Blick zu Lichtlocke, erschrak heftig, als sie die Zangen neben ihren noch immer ziemlich normal wirkendem Mund bemerkte und meinte:
"Kannst du etwas ab rücken? Ich kann mich nicht einmal rühren. Hast du soviel Angst?" Ein schrilles Lachen war Lichtlockes Antwort auf Dianas Frage. Ray runzelte die Stirn, sah zu seiner Schwester und kurz zuckte Erschrecken durch seinen Blick. Gleich darauf aber war er nur ärgerlich, sodass Diana sich dachte, sie hätte sich eben getäuscht.
Sie gingen auf den Eingang zu und - durch. Dahinter lag ein hell erleuchteter Gang. An den Wänden befanden sich in Abständen Fackelhalter und darin steckten brennende Fackeln. Die Wände schienen durchwegs aus verschiedenen Edelsteinsplittern zu bestehen, die im Licht der Fackeln immer wieder aufblitzten oder dieses sogar kurzzeitig verstärkten. Da der Weg ohne irgendeine Abzweigung war, folgten die Kinder diesem weiter ins Berginnere.
Langsam wurde es wärmer und irgendwo in der Ferne brauste es, als würde sich ein Wasserfall im Berg befinden.
Je weiter sie vordrangen, desto wärmer, ja heißer wurde es und schließlich wurde ihr Vormarsch von etwas gestoppt, das Diana als die Ursache des Brausens, das die letzten Schritte laut geworden war, erkannte. Dicht vor ihnen fiel ein breiter Vorhang aus Feuer in die Tiefe. Ein äußerst schmaler Steig führte dicht an ihm vorbei, auf die andere Seite. Diana starrte in die Tiefe und Ray biss sich auf die Lippen. Nur Lichtlocke grinste verächtlich und drängte sich nach vorne.
"Worauf wartet ihr? Es wird nicht besser!"
"Was willst du denn, wir können doch den schmalen Steg nicht betreten!"
Doch Lichtlocke warf Ray nur einen verächtlichen Blick zu, betrat vorsichtig den Steg und balancierte darüber. Ray folgte und Diana bildete den Abschluss. Sie wandte das Gesicht ab, als die Hitze sie traf und biss sich auf die Lippen. Lichtlocke legte ein schnelleres Tempo vor, als es die Situation erlaubte. Nach der Hälfte des Stegs liefen die drei, so rasch sie konnten. Wobei Lichtlocke ihre zusätzlichen Beine einsetzte. Am gegenüber liegenden Ende prallte Ray gegen seine stehen gebliebene Schwester und Diana lief gegen ihn.
"Was ist?" fragte sie und rieb sich die Stirn, mit der sie gegen Rays hochgerissene Faust gerannt war. Wieder einmal deutete er nach vorne. Diana beugte sich etwas zur Seite und erstarrte. Vor ihnen standen drei Feuerspinnen und grinsten die unerwarteten Besucher an.
"Wir haben uns schon gefragt, wann ihr endlich kommen würdet! Unsere Schwester hatte wohl etwas mehr Zeit und Überredungskunst aufbringen müssen, um euch hierher zu bringen, oder?"
Ray wandte sich zu Diana und meinte mit vor Hitze rotem Gesicht:
"Was meint sie damit?"
Diana runzelte die Stirn und meinte ärgerlicher, als sie es vorgehabt hatte:
"Was fragst du mich? Du solltest lieber das Ding vor dir fragen, das du als deine Schwester siehst!"
"Aber das ist doch meine Schwester!" Rays Blick wurde langsam hilflos. Nicht nur, dass sie scheinbar nicht so verstohlen hier her kamen, und erwartet wurden, sondern auch seine Schwester veränderte sich zusehends vor seinen Augen von Lichtlocke, die er kannte und liebte zu einem Feuerspinnenmonster, das ihm kalte Schauer über den Rücken laufen ließ.
"Was geht hier vor?"
"Das fragst du noch? Ich habe mir die Freiheit genommen und deine kleine Schwester hier ein wenig zu einem Besuch bei mir ... sagen wir ... eingeladen!" Die Stimme der Nebelfrau, die unvermittelt aus einem Seitengang der Höhle hervor trat, klang spöttisch. Sie hatte eine Hand auf der Schulter Lichtlockes, diesmal der echten, und ihr Blick enthüllte tiefen Zorn und Verachtung.
"Aber wenn meine Schwester dort steht, wer ist dann das hier?"
Diana schüttelte den Kopf, als sie die leisen Worte Rays hörte. Hatte er noch immer nicht begriffen, dass er einem Zaubertrugbild gefolgt war? Doch ehe sie etwas dergleichen sagen konnte, meinte die Feuerspinne, die bisher das Bild Lichtlockes noch immer etwas aufrecht gehalten hatte:
"Bist du so blöd, oder tust du nur so? Ich musste dich doch irgendwie hierher locken. Deine dumme Mutter ist auf der Suche nach dem König mit den traurigen Augen, du und deine eklige Schwester seid hier, bei uns und wir haben auch den garstigen Bruder dieser kleinen Närrin da. Das was du am Berg gesehen hast, war nur ein Trugbild. Aber das hast du ja bald begriffen. Wir hatten nur nicht bedacht, dass es so schnell sein könnte. Und jetzt ist der Weg frei, das Land Raise zu übernehmen. Meine Mutter die Königin! Nebelfrau die Erste und Einzige!"
Die Nebelfrau nickte und lächelte.
"Das hast du schön gesagt, Kindchen!" meinte sie zufrieden. "Ich denke, jetzt werden wir unsere ... Gäste ... zu einem Verbrüderungsfeiern zusammen bringen. Ray, mein Lieber, schau nicht so betroffen! Es wird dir hier gefallen! Es hat noch jeden gefallen, der hier mehr oder weniger willkommen gewesen war. Du kannst mit meinen Kindern spielen und du kannst dich auch nützlich machen. Und wenn es meinen Kindern nicht mehr gefällt, dass du dich hier aufhältst, wirst du ein guter Happen für sie sein. Und was die beiden Schätzchen von der Anderwelt betrifft? Nun, da wird mir schon was einfallen. Ich kann sie ja zu Omurg, der Windbraut bringen. Da werden ihnen gleich die Flausen aus dem Kopf geblasen!" Die Nebelfrau begann zu lachen und konnte sich beinahe nicht mehr beruhigen. Diana presste währenddessen die Lippen zusammen und ballte die Finger zu Fäusten, während sie nach einem Fluchtweg Ausschau hielt.
"Du brauchst dir nicht deinen Kopf zerbrechen, Goldlöckchen!" die Nebelfrau hatte sich endlich beruhigt und ihre Stimme, die sonst meist sanft war hatte nun einen harten, kalten Metallton.
"Ich bin hocherfreut, von Euch eingeladen worden zu sein!" erwiderte Diana und knickste. Kurz weiteten sich die Augen der Nebelfrau und sie starrte Diana erstaunt an. Doch gleich darauf hatte sie sich gefangen und ihre Stirn umwölkte sich.
"Das Spotten wird dir noch vergehen, wenn Hogo sich mit dir beschäftigt, Mädchen!"
"Hogo?" rutschte die Frage Diana von den Lippen. Ray zuckte die Schultern, nur die Feuerspinne, die keinerlei Ähnlichkeit mehr mit Lichtlocke hatte, grinste.
"Ja, lass sie Hogo kennenlernen!" rief sie und hopste dümmlich umher. Die einzige, die ein erschrockenes Gesicht machte, war Lichtlocke, die noch immer die Finger der Nebelfrau auf ihrer Schulter liegen hatte.
"Oh bitte nicht Hogo!" rief sie und wurde ganz blass. Diana wurde langsam neugierig auf diesen Hogo.
"Wer ist denn dieser Hogo?"
"Wer Hogo ist? Hogo ist ...! IIhhh!" schrie die Feuerspinne auf und verging in einem grellen Feuerball. Die Nebelfrau blies auf ihre Finger, aus denen ein greller Blitz gezuckt war und meinte dann:
"Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man meine Geheimnisse verrät. Du wirst zu Hogo gehen und damit basta. Wer Hogo ist, wirst du noch früh genug sehen und jetzt meine Lieben, bringt unsere Gäste zu den Gemächern!" wandte sich die Nebelfrau an die drei ebenfalls erschrockenen Feuerspinnen. Diese beeilten sich, dem Befehl ihrer Königin nachzukommen. Zwei der Spinnen begleitete je eines der Kinder an der Nebelfrau vorbei und die Dritte verspann in Windeseile den Eingang zum weiter führenden Höhlengang. Je dichter der Spinnwebvorhang wurde, desto mehr kühlte es ab und das Geräusch des fallenden Feuervorhangs blieb zurück.
Diana und Ray wurden getrennt und jeder in ein dunkles Loch gestoßen, das sofort von den Feuerspinnen zu gewebt wurde. Diana sah sich in ihrer Umgebung um. Sie hätte lieber eine Taschenlampe dabei gehabt, doch daran hatte sie weder gedacht, noch damit gerechnet. Sie lehnte sich an die eine Wand, die ihren Aufenthaltsort von dem Rays trennte und lehnte ihr Ohr daran. Doch sie hörte keinerlei Rufen oder sonst ein Geräusch. Diana beschloss, selbst Kontakt aufzunehmen, doch ehe sie ihren Entschluss in die Tat umsetzen konnte, hörte sie leises Rufen. Doch dieses Rufen kam nicht von Rays Richtung, sondern aus dem dunklen Hintergrund des Gefängnisses, wo sich Diana befand.
Langsam tastete sich Diana an der Wand entlang und zuckte zusammen, als der Ruf erneut ertönte.
"Wer bist du?" rief sie in die Dunkelheit.
"Diana?"
"Markus? Bist du das?" fragte Diana und kam sich gleich darauf ziemlich dumm vor.
"Wo bist du?" fragte ihr Bruder aus der Finsternis. Diana tastete sich weiterhin die Wand entlang und spürte einen scharfen Knick, der in einen engen Riss mündete. Dahinter wurde etwas Licht sichtbar und nun konnte Diana schon besser sehen. Sie zwängte sich durch den Riss und kam in eine größere Höhle. Mitten in dieser Höhle, die von zahlreichen Fackeln erleuchtet wurde, befand sich ein wie mit Kristallstäben umgebener Käfig. In diesem stand Markus und hielt sich krampfhaft an zwei Stäben fest. Unter dem Käfig befand sich ein tiefes Loch, über das zwei dicke Bretter gelegt waren und darauf stand der Käfig. Ein Schieber verschloss die Tür und Diana lief rasch zu dem Käfig, um ihren Bruder zu befreien. Doch sie hatte den Käfig noch nicht ganz erreicht, als der Boden zu beben begann und gleich darauf legte sich eine grüne, kräftig aussehende Krallenhand an den Rand des Loches unter dem Käfig. Der Krallenhand folgte ein länglicher Kopf mit schräg liegenden Augen und einem erregt fächernden Hautkragen im Nacken. Der restliche Körper wurde nun sichtbar und entpuppte sich als kleiner Drachenwaran.
"Ah! Wie ich sehe, hast du bereits den Hogo kennen gelernt!" rief die Nebelfrau, die unbemerkt erschienen war.
"Das ... das ist der Hogo?"
"Oh ja. Das ist der Hogo!" sagte die Nebelfrau und grinste. Sofort wurde sie ernst und meinte zu Diana, ihr einen verschnörkelten Schlüssel hin haltend:
"Mach dich nützlich und lass deinen Bruder aus seinem Zimmerchen!"
"Was haben Sie mit uns vor?"
"Mit euch? Nichts. Was der Hogo will? Na, vielleicht will er bloß mit euch spielen?"
Diana sah zu dem Drachenwaran, der sich am Rand des Loches nieder gelassen hatte und seine gespaltene Zunge immer wieder zur Geruchsaufnahme aus seinem Maul zuckte, um sofort wieder eingezogen zu werden. Seine Augen waren geschlossen und immer wieder sah Diana zu ihm hin. Schließlich nahm Diana den noch immer zu ihr hingehaltenen Schlüssel, ging zum Käfig und steckte ihn in den mit einem Plättchen verdeckten Schlüsselschlitz, drehte zweimal herum und schon sprang die Tür auf. Obwohl noch immer der Schieber daran saß, als wäre er geschlossen. Markus stieg aus dem Käfig und umarmte seine Schwester. Diana erwiderte erleichtert die Umarmung ihres Bruders. Dann schob sie ihn etwas von sich und besah ihn aufmerksam. Leise flüsterte sie:
"Ray und Lichtlocke sind auch hier. Wir müssen sie befreien und dann laufen wir weg!"
"Ach ist das köstlich!" sagte die Nebelfrau und lachte. "Geschwisterliebe ist doch so was schönes. Und ich denke nicht, dass du meine beiden anderen Gäste so einfach mit nehmen kannst. Du kannst ja nicht einmal selber weggehen!"
Diana schrak zusammen. Hatte die Nebelfrau die Worte gehört, obwohl Diana so leise gesprochen hatte?
Die Nebelfrau verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln.
"Jetzt fragst du dich wohl, ob ich dein kleines Komplott, das du mit deinem Bruder hier geschmiedet hast, vernommen habe! Ja, das habe ich. Der Hogo hat es mir verraten. Er kann nämlich in deinen Kopf sehen!"
"Das ist Unsinn!" sagte Diana und dachte kurz an den Fluss der Zeit. Sofort hob die Nebelfrau die Brauen und nickte.
"Ach so! Du hast den Fluss kennen gelernt? Nun ja, er ist nicht der einzige Zugang zu meinem Reich! Und jetzt nimmst du dein Brüderchen und ihr beide werdet nun bei mir Ordnung machen. Und lass dir nicht einfallen, irgend etwas fallen zu lassen oder kaputt zu machen!" Damit packte die Nebelfrau einen Arm von Diana und zog sie mit sich. Markus folgte dicht nach und warf immer wieder kleine, schnelle Blick zu dem noch immer am Rand sichtbaren Hogo.
Die Nebelfrau führte nun die beiden Kinder lange Wege entlang, die immer wieder von Feuerspinnen, die in Rüstungsähnlichen Panzern steckten, bewacht wurden. Fackeln erhellten den Weg und der nur durch den Fels getrennte Lavafluss erwärmte den Gang so sehr, dass bald Schweißtropfen auf Dianas und Markus' Stirn glitzerten.
"Wie weit ist es denn noch?" fragte Markus und hatte auf einmal ein sehr müde wirkendes Gesicht.
"Es ist nicht mehr weit. Das kleine Stück wirst du auch noch gehen können!" Ziemlich unwirsch kam die Antwort von der Nebelfrau, die endlich Dianas Arm los gelassen hatte. Und es dauerte wirklich nicht sehr lange, da versperrte ein rot schimmerndes Tor mit verwirrenden Ornamenten den Weg. Die Nebelfrau hob die Hände und drückte ein Wolken ähnliches Ornament mit der einen nach rechts, ein Baum ähnliches nach links. Mit einem lauten Schnappen sprang das Tor auf und die Nebelfrau betrat den dahinter liegenden Bereich. Markus folgte und blieb abrupt stehen. Diana, die nicht darauf geachtet hatte, prallte gegen seinen Rücken und biss sich in die Lippe.
"Was soll das?" flüsterte sie erschrocken und wischte sich den dünnen Blutfaden von der Unterlippe. Sofort begann diese zu brennen.
"Schau doch mal!" sagte Markus und zeigte nach vorne. Dianas Blick folgte dem Zeigefinger ihres Bruders und ihr Mund öffnete sich vor Überraschung. Eine riesige Höhle befand sich hinter dem Tor und es war herrlich kühl gegenüber der Hitze im Gang. Ein riesiger Wald und ein großer Wasserfall im Hintergrund machten die Höhle zu einer eigenen Welt. Tiere liefen herum und Vögel durchstreiften den Himmel, der sich weit oben im Nebel verlor.
"Wie groß ist die Höhle?" fragte Diana erstaunt.
"So groß, wie ich sie benötige. Und jetzt sputet euch, dort vorne ist mein Haus und die Arbeit wartet auf dich Mädchen!"
Doch so sehr Diana auch Ausschau hielt, sie konnte nirgends ein Haus entdecken. Sie ging nun weiter und sah sich nach allen Seiten um. Da liefen seltsame Pfauen mit roten und gelben Federn herum, Hühner, die statt einem Kamm eine Krone trugen. Pferde, die zwei Hörner auf ihrer Stirn hatten. Die statt Weiß ein intensives Blau als Fellfarbe trugen. Die Vögel die herum flogen erinnerten Diana mehr an Flugsaurier, als an Schwalben oder Adler.
Vor einer dicken Eiche blieb die Nebelfrau stehen, zeigte nach oben und sagte:
"Da werdet ihr ab jetzt bleiben. Es ist mein Sommerhaus und der Fahrkorb wird euch nach oben bringen. Sulzetta, meine Getreue, wird dich in deinen Arbeitsbereich einweisen!" Damit klatschte sie in die Hände, sofort raschelten die Blätter und Zweige und begannen zu zittern. Diana sah hoch und bemerkte den runden Korb, der eben die untersten Zweige erreichte und nun dicht vor ihr am Boden aufsetzte. Sie bekam einen harten Stoß in den Rücken, Markus ebenso und beide stolperten zu dem Korb und fielen hinein. Sofort setzte sich dieser wieder nach oben in Bewegung und Diana, die sich als erste wieder aufgerichtet hatte, warf einen Blick in die Tiefe. Sie schluckte, als sie merkte, wie hoch sie schon waren. und noch immer ging es aufwärts. Diana war froh, als das Blattwerk, das sich hinter dem Korb schloss, ihren Blick von der zurück gelegten Strecke verdeckte. Schließlich erreichten sie die Endstation ihres Fahrkorbes und sie verließen ihn. Markus fasste seine Schwester bei der Hand und Diana sah sich erstaunt um. Die Eiche war mit Treppen und Hängebrücken durchzogen, sodass es aussah, als wäre eine ganze Stadt hier oben vorhanden. Kleine aus Astwerk erstellte Häuser standen auf den dicken Ästen und grüne Lampions verbreiteten einen grünlichen Schein. Erst als einer der Lampions sich erhob und davon flog, merkten die Kinder, dass dies keine Lampions waren, sondern runde Käfer. Diana musste an Glühwürmchen denken.
"Na, genug gestaunt?" sagte eine Stimme hinter ihnen und die beiden Kinder wandten sich um. Vor ihnen stand eine Frau in einem blauen Arbeitskleid und einer grünen Schürze darüber. Die Füße steckten in Schuhen, die scheinbar aus Rinde gefertigt waren. Doch das seltsamste war ihr Gesicht. Sie sah aus wie eine Katze. Ihre blauen Haare fielen ihr in Zöpfen über die Schulter und ihre Ohren, die aus den Haaren hervor sahen, besaßen kleine Haarbüschel.
"Genug gestaunt?" fragte sie und unwillkürlich nickten die Geschwister. "Fein, dann würde ich die Straße frei machen und endlich mit der Arbeit beginnen. Die Königin mag keine Faulpelze!" Die Katzenfrau drehte sich um und ging in das Haus, das gleich neben dem Fahrkorb stand. Diana und ihr Bruder folgten. Innerlich erwartete Diana weitere Wunder im Haus, doch es war so eingerichtet, wie Häuser im Allgemeinen sind.
Nun begann der erste Tag einer ganzen Reihe von Tagen, in denen Diana das Hausinnere säubern musste und nach einigen Tagen begann es ihr sogar Spaß zu machen. Markus wurde zu den gröberen Arbeiten heran gezogen, wie Ausbesserungsarbeiten, oder manchmal einen Stuhl oder den Fensterrahmen zu tischlern.
Nachdem viele Tage oder gar Wochen vergangen waren, verspürte Diana immer wieder kleinere Traurigkeitsattacken in sich aufsteigen. Immer wieder liefen ihre Gedanken zu dem Fluss der Zeit zurück. Sie fragte sich, ob die Fußstapfen noch sichtbar waren, da doch schon mehr als die eine Stunde vergangen war.
Auch Markus verspürte Trauer in sich. Er sehnte sich langsam zurück, weg vom Lande Raise, zurück in seine eigene Welt.
Während die beiden Geschwister ihre ihnen zugeteilte Arbeit verrichteten, waren sie nicht einmal von der Nebelfrau besucht oder kontrolliert worden. Sie sahen nur immer wieder diese Katzenfrau Sulzetta. Und es schien, als wäre diese mit der Arbeit von Diana und Markus sehr zufrieden. Langsam durften sie auch Arbeiten vor und unter dem Haus verrichten. Markus durfte schließlich auch Pilze suchen gehen. Zwar immer unter Aufsicht der Katzenfrau, doch Diana war zu diesen Zeiten alleine im Haus. Sie putzte die Fenster oder kehrte auf und langsam nahm ein verwegener Fluchtplan immer mehr Gestalt in ihren Gedanken an. Sie beschloss, sich und ihren Bruder bei der nächsten Gelegenheit von der "Gastfreundschaft" der Nebelfrau zu befreien. Die Details waren zwar noch nicht ausgereift, doch das würde auch noch geschehen. Inzwischen würden sie ihre ihnen zugeteilten Pflichten so gut wahrnehmen, als es ihnen möglich war.
Die Gelegenheit kam schneller, als Diana gedacht hatte. Wieder einmal sollte Markus Pilze sammeln, doch Diana war die Aufgabe übertragen worden frische Walkereier zu besorgen. Als sie die Katzenfrau ratlos ansah, da sie sich unter dem Begriff "Walkereier" nichts vorstellen konnte, wurde ihr erklärt, dass Walker die Vögel mit den Kronen seien. Und aus den unbebrüteten Eiern konnte man herrliche Kuchen und Torten machen. Man könnte die bebrüteten Eier leicht von den anderen unterscheiden, denn die bebrüteten hätten eine intensiv grüne Farbe. Während jene, die Diana holen sollte blau waren.
Diana wurde ein kleiner Korb in die Hände gedrückt und Sulzetta, die Katzenfrau bestimmte, dass sich beide Kinder zum Seilkorb begeben sollten. Sie meinte noch, als beide in dem Korb waren:
"Ihr könnt in zwei Stunden wieder hier sein. Ich vertraue euch. Ihr habt bisher gute Arbeit geliefert und ich würde nur ungern der Herrin einen negativen Bericht liefern!"
Markus nickte und legte die Arme um Sulzettas Hals. Die Katzenfrau machte einen erschrockenen Schritt zurück und Markus' Arme rutschten herab.
"Was soll der Unsinn?" fragte sie mit einem Grollen im Hals. Markus senkte den Kopf und sah zu Boden. So entging ihm der zuerst erstaunte, dann aber nachdenkliche Blick seiner Schwester. Sollte sie Markus falsch eingeschätzt haben? Mochte er diese gewiss nette Katzenfrau wirklich so sehr, dass er ihr die Arme um die Schulter legte?
Ruckelnd setzte sich der Korb in Bewegung und Markus meinte, etwas lauter als er allgemein sprach:
"Das ist meine nächste Arbeit. Das Einfetten der Seile. Warte nur, bis wir mit den Pilzen und den Eiern zurück kommen!" Dann hob er den Blick und Diana sah ebenfalls nach oben. Das erleichtert wirkende Gesicht der Katzenfrau verschwand eben hinter der oberen Astreihe und den Blättern. Diana wollte etwas sagen, doch Markus legte den Finger an die Lippen und grinste. Dann zeigte er in den Korb und Diana sah eine runde Muschel darin liegen. Sie hob den Deckel von ihrem eigenen Korb, auch dort lag diese Muschel. Diana fiel wieder ein, dass zu Beginn ihres Aufenthalts im Baum die Katzenfrau diese Muschelart das "Ohr" genannt hatte. Damit belauschte sie die Gespräche der Kinder. Diana nickte, zum Zeichen dass sie verstanden hatte, dann begann sie ein kleines Lied zu singen. Markus sah sie erst erstaunt an, dann fiel er in den Refrain mit ein.
Kaum kam der Seilkorb zum Stillstand, stiegen beide Kinder aus und Diana deutete auf eine nahe Wiese.
"Ich denke, dort werden wir finden, was wir benötigen!" meinte sie und legte erneut den Finger auf ihre Lippen. Markus grinste und war insgeheim froh, dass sie nur das "Ohr" und nicht auch noch das "Auge" bei sich tragen mussten.
Diana nickte, zum Zeichen dass sie verstanden hatte und sie dachte über diese "Walkereier" nach, die sie holen sollte. Wo brütete überhaupt diese Vogelart? Auch in der Wiese oder auf Bäumen? Das hatte sie vergessen zu fragen. Doch da sie nicht die Absicht hatte, jemals mehr zurück zu kehren, war dies wohl nicht so wichtig.
Unter Dianas Füßen knirschte es und als sie hinunter sah, stand sie auf einer von ihrem Fuß zermatschten Eierschale, die eine tiefblaue Farbe aufwies. 'Somit ist die Frage, wo die Walker brüten, wohl auch geklärt' dachte sich Diana und verzog das Gesicht, als ein intensiver Kloakengeruch in ihre Nase stieg.
"Na Pfui, woher kommt das denn?" fragte Markus und schlug die Hand vor die Nase. Seine Gesichtsfarbe änderte sich zu Bleich und einen leichten Stich ins Grünliche. Auch Diana verzog das Gesicht und musste mit einem beginnenden Brechreiz kämpfen.
"Ich glaube, ich habe eben eines der nicht bebrüteten Walkereier zertreten!" sagte sie kleinlaut.
"Pass besser auf!"mahnte Markus und würgte. Diana nickte, wischte ihre Schuhsohle im umliegenden Gras ab und senkte den Blick, um zu sehen, ob noch weitere Eier da lagen, die sie womöglich ebenfalls zertreten könnte. Doch es blieb bei dem einen Ei.
Langsam gingen die beiden Kinder weiter und tiefer in die Wiese. Das Gras stand ihnen bis zur Hüfte und die roten Blumen erinnerten Diana an Mohnblumen. Ihre Köpfe zeigten nickend ins Gras hinein und Diana musste sich sehr zusammen reißen, um nicht einige abzupflücken.
Markus bückte sich und im Nu hatte er etwa zwanzig Pilze im Korb gesammelt.
"Das ist wirklich der richtige Platz. Da stehen noch mindestens zehn von den braunen und acht von den intensiv lilafarbigen Pilzen. Die mit dem Nussgeschmack!" meinte er und Diana konnte über soviel Pilzsammeleifer nur den Kopf schütteln. Hatte Markus vergessen, was sie eigentlich tun wollten?
Ein leichter Wind kam auf und brachte das Gras und die "Mohnblumen" zum Schwanken. Gelber Blütenstaub erhob sich von den meisten Blumen und wurde durch den Wind zu Markus und Diana geblasen. Vereinzelte Staubkörner setzten sich an der Kleidung von Markus und Diana fest. Der nächste Windstoß ließ das Gras sich tief zu Boden neigen und ein erneuter Blütenstaubvorhang wehte den beiden Kindern genau ins Gesicht. Ehe sie noch die Augen zukneifen konnten, hatten sich diese auch schon mit einigen Pollenkörnern gefüllt und beide rieben sofort die Augen, die plötzlich zu brennen begannen.
"Aua! Ich sehe ja gar nichts mehr!" beschwerte sich Markus und rieb seine Augen erneut. Doch je länger er rieb, desto mehr brannten und tränten die Augen. Diana ging es genauso.
So plötzlich wie der Wind aufgekommen war, so plötzlich schlief er auch wieder ein. Diana rieb sich die letzten Spuren des Blütenstaubs aus den tränenden Augen und sah umher. Als sie den Blütenstaub in die Augen bekommen hatte, hatte sie instinktiv den Korb fallen gelassen. Nun hob sie ihn wieder auf und wischte sich erneut über das Gesicht. Das Brennen in den Augen hatte nachgelassen. Auch Markus begann sich zu erholen und so machten sie sich wieder auf den Weg ihre ihnen gestellte Aufgabe zu erfüllen.
Plötzlich griff Diana nach Markus' Hand und riss daran. Als Markus einen bösen Blick zu seiner Schwester warf, deutete sie nach vorne. Markus folgte der Handbewegung und seine Augen weiteten sich überrascht. Sie waren seltsamerweise in unmittelbarer Nähe des Tores, durch das sie vor so langer zeit gekommen waren. Doch gleich daneben befand sich eine kleine Holztür, die sie damals nicht gesehen hatten. Markus und Diana sahen sich an, dann nickten sie zur gleichen Zeit und setzten sich in Bewegung. Diana erkannte neben der Tür eine Holzbank und daneben einen großen Pilz, dessen Hut wie ein Tisch wirkte.
Ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln, stellten sie die Körbe auf den Pilzhuttisch und Diana streckte die Hand nach der verschnörkelten Klinke der Türe aus. Kurz zögerte sie, doch dann drückte sie diese hinunter. Die Tür öffnete sich und kühle Luft strömte heraus. Diana betrat den dahinter liegenden Gang als erste. Kurz hinter ihr kam Markus und beide zuckten erschrocken zusammen, als dicht hinter Markus die Tür ziemlich laut ins Schloss fiel. Sofort drehte sich Markus um und versuchte die Türe wieder zu öffnen. Doch sie war so fest verschlossen, als hätte jemand dahinter einen Schlüssel umgedreht und sie versperrt.
"Das heißt ja wohl, dass wir nur da entlang können!" sagte Diana und zuckte zusammen, als ein gespenstisch wirkendes Echo ihre Worte tausendfach wiederholte und lauter wirken ließ, als sie in Wirklichkeit waren.
"Aber warum haben wir die Tür und den Gang hier nicht schon viel früher bemerkt? Wir waren oft genug hier in der Nähe!" sagte Markus und rieb sich das letzte Blütenstaubkörnchen aus dem rechten Auge. Diana zuckte die Schultern.
"Vielleicht waren wir mit Blindheit geschlagen!" meinte sie und ahnte nicht, wie nahe sie der Wahrheit gekommen war.
"Hoffentlich ist am Ende des Tunnels auch wirklich ein Licht!" meinte Markus mit einem verschmitzten Lächeln, da er eben an ein sehr bekanntes Lied dachte, das ihm von Anfang an gefallen hatte. Diana warf einen schnellen Blick zu ihrem Bruder und ihr Finger schlug dreimal auf die Stirn. Markus zuckte die Schultern und machte einen Schritt von der Tür weg. Unter seinen Füßen knirschte es und als er den Blick senkte, bemerkte er, dass der Weg mit einem seltsamen, gelb farbigen Sand ausgelegt war. Es war aber nur die Mitte des Wegs damit ausgelegt und Markus begann zu kichern. Erneut tippte sich Diana auf die Stirn. Doch Markus zeigte auf den Weg und fragte:
"Woran erinnert dich das hier?"
"Woran soll es mich schon erinnern? An einen mit gelben Sand ausgestreuten Weg in einem Felsengang, der uns hoffentlich zum Fluss der Zeit bringt!"
"Denk doch mal nach, Schwesterherz!" rief Markus und zuckte erschrocken zusammen, als auch bei ihm dieses vielfältige Echo erklang. Diana nickte und meinte, während sie die Hände zu Fäusten ballte:
"Mach nur so weiter! Irgendwann werden sie uns hören, dann kannst du dir unsere Flucht abschminken!"
"Dann denke doch mal nach, woran dich das hier erinnert!" beharrte Markus.
"Es erinnert mich an gar nichts. Und jetzt komm, wir haben noch einen weiten Weg vor uns!"
"Der Zauberer von Oz!"
"Was?"
"Der Zauberer von Oz! Dieser Weg ist so ähnlich wie der Weg zum Zaubererschloss war, den Dorothy, der Löwe, die Vogelscheuche und der Blechmann gegangen sind!"
"Du hast einen Vogel, Bruder!" attestierte Diana, zeigte Markus die Zunge und betrat den gefärbten Sandweg. Wollte Markus nicht zurück bleiben, musste er wohl oder übel folgen.
"Du weißt doch, der Weg war auch mit diesen gelben Steinen ausgelegt und die vier folgten ihm, nachdem die Hexe des ...!"
"Also wenn du nicht bald mit diesem Kleinkinderkram aufhörst, kannst du gerne alleine deinen Weg gehen!"
"Aber wenn ich dir doch ...!"
"Markus!" Dianas Stimme hatte plötzlich einen seltsam wirkenden Metallklang. Markus schloss den Mund und schwieg. Immer wenn Diana diese Stimme hatte, war sie meist sehr wütend. Und dann war es wirklich gut, wenn man nichts mehr sagte. Wobei sich Markus im Stillen fragte, wer oder was Diana so wütend gemacht hatte. Er konnte es nicht gewesen sein, denn seine Bemerkung vom Lande Oz war eigentlich harmlos gewesen.
Schweigend gingen nun die Geschwister weiter und immer wenn der Gang einen Bogen machte, erhofften sie sich den Ausgang. Doch irgendwie kam es ihnen vor, als führe der Weg immer tiefer in den Berg hinein, statt heraus.
"Hast du auch den Eindruck, dass es kälter wird?" fragte Markus und zog sich sein Hemd höher an die Ohren.
"Hast du es auch gemerkt?" fragte Diana und versuchte das Klappern ihrer Zähne etwas zu unterdrücken. "Ich dachte, ich hätte mich getäuscht!"
"Ich fürchte, das ist keine Täuschung!" sagte Markus und zeigte an die Decke. Unmerklich hatte sich diese mit einer leichten Eisschicht überzogen. Die dort gebildeten Stalaktiten hatten ebenso einen Eisüberzug. Kurz fragte sich Diana, wieso sie im Dunklen sehen konnte, doch dann bemerkte sie die kleinen Käfer an den Wänden. Ihr Hinterteil funkelte und immer wenn einer der Funkelstrahlen das Eis an der Decke streifte, war es, als würde ein heller Lichtstrahl durch den Gang huschen. Da sich die Käfer aber oft bewegten, funkelten ihre Hinterteile in schnellen Funken und erhellten den Gang ausreichend.
Der Gang teilte sich und die Kinder blieben stehen.
"Und welche Seite nehmen wir?" fragte Markus und kratzte sich an der Stirn. Diana sah von einem Gang zum anderen und konnte sich nicht richtig für einen der beiden entscheiden.
"Da fällt die Auswahl schwer, oder?" fragte eine tiefe Stimme hinter den Kindern. Mit einem erschrockenen Ruf drehte sich Diana um, während Markus wie erstarrt stehen blieb. Ein großer Mann in einem weißen Pelzmantel, der ihm bis zu den Stiefeln reichte stand hinter ihnen. Sein Gesicht war von einem grauen, langen Bart ziemlich verdeckt. Langes, weißes Haar schaute unter einer dicken, ebenfalls weißen Pelzmütze heraus. Diana sah nur die unter ebenfalls grauen, buschigen Augenbrauen hervor funkelnden hellblauen Augen.
"Stehen Sie schon lange da?" entfuhr es Diana und sie gab sich selbst einen gedanklichen Tritt, dass ihr nichts besseres einfiel. Der Mann nickte und warf ihr einen freundlichen Blick zu.
"Lange genug, um eure Überlegungen, welchen Gang man nun nehmen sollte, zu sehen. Übrigens mein Name ist Murfix und ich wohne hier!"
"Wir sind ...!" begann Diana doch der Mann winkte ab.
"Ich weiß, wer ihr beide seid. Reapear hat lange nach euch gesucht und sich schließlich an mich gewendet. Seit ihr durch die Hintertür in mein Reich gekommen seid, verfolge ich euch schon. Ich musste ja sicher gehen, dass ihr beide die Richtigen seid, die ich zu Reapear bringen soll!"
"Sie kennen Reapear?" fragte Diana erstaunt. Murfix nickte und lächelte. Der Bart brach etwas auseinander, dort wo Diana den Mund vermutete.
"Ja sicher. Er ist mein Freund. Und jetzt bringe ich euch mal zu mir nach Hause. Wir nehmen den rechten Tunnel, aber ihr solltet euch setzen. Am besten auf meinen Mantel!" Murfix nickte, setzte sich und Diana nahm rechts, Markus links auf dem Mantel Platz. Murfix schob etwas an, dann glitt er samt seinen Mitreisenden in den rechten Tunnel. Hier war es noch mehr vereist, als bisher. Auch der Boden hatte nun eine Eisschicht. Darum beschleunigte sich die Fahrt, denn der Tunnel neigte sich gleich hinter dem Eingang ziemlich steil nach unten und wie in einem gigantischen, vereistem Schneckenhaus ging es in Serpentinen in die Tiefe.
Die Augen der beiden Kinder begannen bei der rasanten Fahrt zu tränen und Diana steckte ihr Gesicht tief in den flauschigen Mantel von Murfix. Markus hingegen versuchte durch die Tränen zu blinzeln und sich die an ihm vorbei flitzende Umgebung anzusehen. Doch ausser einem leicht bläulich wirkenden Schimmer und dem eisigen Wind, der sein Gesicht zum Erstarren brachte, konnte Markus nichts erkennen.
Die Fahrt wurde langsamer und stoppte schließlich vor einem Haus mitten in einer riesigen Eishöhle. Diana sah auf und erhob sich. Auch Markus stand auf und unterdrückte ein Ächzen, als seine Beine gegen diese Anstrengung protestierten.
"Wow!" machte Diana, die sich das Haus angesehen hatte. Es war nicht sehr groß und überall hingen Eiszapfen. Vom Dach, die Fenster waren bis auf die Mitte vereist und die Stufen, die zur Eingangstür führten, sahen aus wie aus Zuckerwatte.
"Jetzt fehlt nur noch eine Hexe, die Hänsel und Gretel ins Haus bittet, um den Hänsel zu mästen, weil sie ihn fressen will!" sagte Markus und zuckte zusammen, als ihm Diana ihre Faust gegen den rechten Oberarm stieß.
"Aua! Hast du einen Knall?" rief er und rieb sich die Stelle.
"Ich denke, dir tut die Luft hier unten nicht gut! Oben faselst du vom Zauberer von Oz, hier siehst du ein Hexenhaus - obwohl mich das Haus hier eher an ein Lebkuchenhaus erinnert, das uns Mutti immer zu Weihnachten gebacken hat!"
"Na da wird sich aber meine Lisa freuen!" sagte Murfix und lachte schallend.
"Wobei werde ich mich freuen?" fragte eine Frauenstimme und die beiden Kinder drehten sich nach der Stimme in ihrem Rücken um. Markus machte große Augen und auch Diana kiekste erschrocken auf.
"Also, Kinder, das ist meine Lisa! Lisa das sind die beiden Kinder aus der Anderwelt, von denen Reapear uns erzählt hat!"
"Das ist ja Rotkäppchen!" rief Markus und diesmal konnte Diana nichts dagegen sagen.
"Nein, nein mein Junge. Rotkäppchen ist meine kleine Enkelin. Eigentlich heißt sie ja Susi und ihr Wolffreund heißt Lupino, aber die beiden sind momentan in der Schule. Kommt rein, Kinder, das Bad wartet bereits und dann gibts Schokoeiskuchen und Pilztorte!"
"Das Bad?" fragte Markus und Frau Lisa, die sich bereits auf den Weg zur Treppe befand, wandte sich um und sah ihn mit einer hoch gezogenen Braue an.
"Ja, sicher! Oder darfst du dich bei deiner Mutter auch ungewaschen zu Tisch setzen? Ich denke nicht!"
"Aber ...!" begann Markus verlegen, doch Lisa unterbrach ihn ziemlich unwirsch.
"Papperlapap! Sprich nicht weiter, das Bad wartet und wenn du dir Zeit lässt, ist das Wasser kalt und nicht mehr so heiß, wie es jetzt ist!" Ohne ein weiteres Wort betrat Lisa nun das Haus, die beiden Kinder folgten ihr und Markus erhielt einen freundschaftlichen Stoß von Murfix in den Rücken, als er nicht schnell genug voran ging.
Im Haus drinnen war es warm und Diana hoffte, dass sie das versprochene heiße Bad endlich wieder erwärmen würde.
"So, da geht es zum Bad und die Else wird euch behilflich sein!" sagte Lisa, zeigte auf eine grün gestrichene Tür und Markus wandte den Kopf. Seine Augen weiteten sich, als sich die Türe öffnete, ein dickes, großes Eichhörnchen mit einer grob aussehenden Bürste in den schmalen Händen und einem dicken, flauschig wirkenden Handtuch über die Schulter in den dahinter liegenden Raum deutete.
Diana ging sofort zu dem Eichhörnchen, knickste unwillkürlich vor ihm und betrat den dahinter liegenden Raum. Es herrschte hier beinahe stickige Hitze und durch den Rauch, der nur wenig von dem Raum zeigte, konnte sie eigentlich nur einen Stuhl und ein in den Boden eingelassenes Wasserbecken entdecken.
"Zieht euch aus, dann werde ich euch reinigen und die frischen Kleider bringen. Dann könnt ihr Essen." sagte das Eichhörnchen und legte die Bürste auf den Stuhl, breitete das Handtuch auf den Boden und die Kinder entkleideten sich bis auf die Unterwäsche. Diana stieg als erste in das Bodenbecken und setzte sich. Sofort zog die Wärme wohltuend in ihren Körper und beinahe wäre sie zufrieden eingeschlafen, hätte nicht Markus neben ihr Platz genommen. Auch er entspannte sich und sofort stieg auch das Eichhörnchen in das Becken, griff sich die Bürste und begann die beiden Kinder damit zu bürsten. Die Haut der Kinder begann zu prickeln und sie waren froh, als sie das Becken verlassen konnten. Diana sah noch einmal hinunter und musste lachen. Das vorher relativ reine Wasser hatte nun eine graue Farbe angenommen. Die Beiden wurden abgetrocknet und nun erst entledigten sie sich hinter je einem Sichtschirm, den das Eichhörnchen rasch aufgestellt hatte, der Unterwäsche und zogen die reinen, warmen Sachen an, die sie hinter ihrem Schirm jeweils vorfanden. Als sie fertig angekleidet waren, kamen beide wieder vor den Schirm und bewunderten sich gegenseitig gebührend. Markus hatte eine blaue Pelzhose und ein ebensolches Hemd an, darüber eine Pelzweste und Stiefel. Diana trug ein blaues Kleid mit weißem Pelzkragen und an den Armen waren auch Pelzstreifen. Sie hatte ebenso Stiefel an und auf ihrem Haar, das sich durch die Feuchtigkeit ziemlich kräuselte, einen Pelzhaarreifen. Die Kinder wurden wieder aus dem Bad geführt und Murfix deutete zu dem bereits mit einem bunten Tuch bedeckten Tisch und hob den Deckel einer der zahlreichen Schüsseln. Ein anregender Duft zog zu den Kindern und erst jetzt spürten sie starken Hunger.
"Setzt euch und langt tüchtig zu!" Markus ließ sich das nicht zweimal sagen, lief zu dem Sessel, der ihm gezeigt worden war und Diana folgte seinem Beispiel. Es dauerte nicht lange, so waren alle in die gebotenen Gerichte vertieft.
Nachdem das Essen beendet und alle satt waren, meinte Murfix:
"So, jetzt zeige ich euch wo ihr heute Nacht schlafen könnt und morgen werde ich euch zurück bringen!"
Diana hatte schon während dem Essen nachgedacht, doch da verbot sich das Reden von selbst. Nun aber konnte und wollte sie nicht mehr schweigen und sie fragte mitten aus ihren Gedanken:
"Was passiert mit Ray und Lichtlocke? Wir sollten die beiden Kinder von der Königin Moonlady befreien. Beide sind in den Klauen der Herrin von den Feuerspinnen!"
"Die Nebelfrau? Ja also da kann ich nichts machen. Und Reapear hat mich gebeten, euch beide zu retten. Alles andere muss warten. Vielleicht entkommen die Beiden ja auch!" Um weiteren Fragen zu entgehen, wurden Murfix' Schritte schneller und beide Kinder hatten Mühe ihm zu folgen. Doch der Weg zu der Nachtunterkunft war nicht weit und bald befanden sie sich in einem kleineren Raum mit gemütlichen Möbeln, die so ähnlich aussahen, wie Dianas frühere Puppenhauseinrichtung. Als sie dies kurz erwähnte, tippte sich Markus wieder einmal an die Stirn. Gleich darauf zog er den Kopf ein, als Diana ihm ihre Hand über den Scheitel schlug.
"Aua! Pass doch auf!" rief Markus erbost und strich sich die hoch geschobenen Haarsträhnen wieder an ihren Platz zurück. Diana sah sich um und wunderte sich schon nicht mehr, als sie ihr Bett entdeckte. Einen Traum in Rosa. Während Markus zu dem Bett im Dschungel aussehen ging. Grinsend ließ er sich drauf fallen und es dauerte nicht lange, da waren beide Kinder fest eingeschlafen.
"Guten Morgen!" Die laute Stimme holte Diana und Markus aus ihren Träumen. Sie setzten sich auf und merkten erst jetzt, dass sie in den Kleidern eingeschlafen waren. Nachdem sie sich erfrischt und gefrühstückt hatten verabschiedeten sie sich unter viel Umarmen und ausgesprochenen Glückwünschen von Lisa. Die Enkelin Susi war mit ihrem Wolf auch gekommen und jetzt merkte Diana schon den Unterschied zwischen Susi und ihrer Großmutter. Susi sah eher aus als Rotkäppchen. Sie trug sogar eine rote Haube. Und Lupino hatte ein ebenfalls rotes Halsband. Als Diana zu ihm ging um sich auch von ihm zu verabschieden, legte er kurz die Ohren zurück, zeigte seine Zähne und ein bedrohliches Knurren kam aus seiner Kehle.
"Ach der Lupino mag nicht von anderen angegriffen werden. Aber sonst ist er sehr freundlich!" sagte Susi und strich dem Wolf sacht über den Kopf. Diana nickte. Sie musste ja den Wolf nicht streicheln.
"Nun, dann wollen wir mal!" rief Murfix und die Drei machten sich auf den Weg wieder in die von Eis überzogene Höhle.
Es dauerte nicht lange, da wich das Eis zurück und machte dem normalen Stein Platz. Und es dauerte dann auch noch etwa zwanzig Schritte, dann verließen sie die Höhle und dicht vor Diana floss ein relativ breiter Fluss.
"Ist das der Zeitfluss?" fragte sie Murfix. Dieser schüttelte den Kopf und meinte:
"Nein, nein. Das ist der Lamentos. Ein winziger Seitenarm des Zeitflusses. Und dort drüben ist ja auch schon Reapear!" Murfix deutete ans andere Ufer und Diana jubelte auf. Markus riss den Arm in die Höhe und winkte zu dem Leviathan hinüber. Dieser lüftete seine Flügel, überquerte den Fluss Lamentos und erschrak, als Diana seinen Bauch - kaum war er gelandet - fest mit den Armen umfing. Dabei liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Da sie die Augen geschlossen hatte, sah sie nicht das Kopfschütteln ihres Bruders. Nur sein abfälliges:
"Mädchen! Immer müssen die heulen!" hörte sie. Doch diesmal ließ sie es ihm unbeantwortet.
"Ich danke dir, Murfix, dass du so nett zu den Beiden warst!"
"Ist doch selbstverständlich. Ausserdem sind wir Freunde und das war mein Freundesdienst. Mir wurde auch zugetragen, dass die beiden Königskinder auch gefangen wurden!"
"Ja, aber die Prinzessin ist bereits zurück gekehrt. Sie konnte mit Hilfe eines Lavahelds fliehen."
Diana atmete erleichtert auf, als sie hörte, dass Lichtlocke frei war. Doch was ein "Lavaheld" war, wollte sie lieber nicht fragen. Denn kurz musste sie an die Hitze bei dem Lavafall denken.
Der Abschied von Murfix fiel etwas intensiver aus, als bei dessen Familie. Endlich stiegen Diana und Markus endgültig auf Reapears Rücken, winkten noch einmal zu Murfix und als Reapear mit einem kraftvollen Hopser in die Luft und gleichzeitigem Ausbreiten seiner Flügel Kurs ans andere Ufer nahm, bemerkte Diana die sich kurz umwandte, wie Murfix eben wieder im Höhleneingang verschwand.
Es dauerte dann auch nicht allzu lange bis sie das andere Ufer erreicht hatten. Doch statt zu landen flog der Leviathan weiter.
Die Sonne stieg höher und senkte sich wieder dem Horizont zu ehe er zur Landung ansetzte. Die Kinder stiegen von Reapears Rücken und erkannten, dass sie wieder in der Nähe des Pilzhauses von Ray und Lichtlockes Familie angekommen waren. Vor dem Häuschen stand Nee und lächelte, als beide Kinder voll Freude zu ihr stürmten und sie in die Arme schlossen.
"Ach liebste Nee, ich bin ja so froh, dass ich wieder hier bin. Zurück bei dir und Reapear und, und ...!" Weiter konnte Diana nicht sprechen. Markus hatte sich ebenfalls gleich neben Diana in Nees Arme geworfen, doch er ließ sie sofort wieder los. Denn was ein richtiger Junge ist, führt sich nicht auf wie ein Mädchen, die nur heulen oder kichern. Ein Junge reicht die Hand.
"Ich bin auch froh, dass ihr beide euer Abenteuer überstanden habt. Lichtlocke hat mir schon zum größten Teil erzählt, was sie erlebt hat und dass ihr einer der Lavahelden geholfen hat. Aber erst als dieser von eurer Tapferkeit erfahren hatte. Na ja, diese Lavahelden sind auch nicht mehr das, was sie früher einmal waren. So, Kinder, ich denke ihr werdet sicher das heute Abend stattfindende Freudenfest mitfeiern. Und Diana - hier will dir noch jemand 'Guten Tag' sagen!" meinte Nee, lächelte und trat einen Schritt beiseite. Hinter ihr stand Lichtlocke und strahlte übers gesamte Gesicht.
"Lichtlocke!" rief Diana und die beiden Mädchen fielen sich um den Hals, dann fassten sie sich an den Händen und tanzten unter Lachen und Freudenschreien im Kreis herum. Sie merkten nicht, wie Nee das Gesicht verzog und Markus wieder einmal seinen Finger über der Stirn kreisen ließ.
"Mädchen!" sagte er abfällig und wandte sich um. Sein Fuß stockte, als er Auge in Auge mit Reapear stand. Dieser verzog sein Gesicht und stieß leise Kiekslaute aus.
"Warum lachst du?" fragte Markus und fühlte sich überraschend unwohl dabei.
"Du bist doch auch froh, dass du wieder da bist, oder?"
"Natürlich bin ich froh. Aber ich mache doch noch lange nicht so einen Aufstand wie ein Mädchen!" erklärte Markus und kam sich sehr erwachsen vor. Sein Blick fiel auf Nee, doch diese wandte sich im gleichen Augenblick ab und meinte nur noch leise, dass sie sich um die Festvorbereitungen kümmern müsse. Lichtlocke hatte inzwischen Diana bei der Hand gepackt und sie zum Haus gezogen. Mit zwei Schritte Abstand folgte Markus.
Drinnen führte Lichtlocke Diana in den Festsaal, der bereits geschmückt worden war. An der Seite war eine lange Tafel errichtet worden, wo bereits eine Menge guter und köstlich duftender Kuchen und Suppen standen. Pasteten und Salate. Auf einer ovalen Schüssel befanden sich runde Kugeln, die - so erklärte Lichtlocke - die Eier des Falterkönigs, einer kleinen Vogelart, waren und bestimmt unbebrütet.
Als es Abend geworden war, füllte sich der Saal mehr und mehr und überraschenderweise waren auch die Königin Moonlady und ein Fremder erschienen. Dieser wurde als zukünftiger Herrscher vorgestellt und unterhielt sich sogleich angeregt mit Lichtlocke.
Es wurde das Orchester in den Saal gebeten und unter Applaus nahm es neben einem Wandschirm Platz, stimmte die Instrumente und begann den ersten Tanz.
Reapear machte sich auf den Weg zu Diana, verneigte sich etwas linkisch vor ihr - was sie wieder zum Kichern brachte - und bat um den ersten Tanz. Diana warf einen raschen Blick zu Markus und als dieser nickte, nahm sie Reapears kleine Händchen und begann sich mit ihm im Kreise zu drehen. Zweimal stieg sie ihm zwar auf den Fuß, doch er schwieg dazu. Markus fragte Nee, ob sie mit ihm tanzen wolle. Erst sagte diese, sie wäre nicht die richtige Partnerin und verwies ihn an Lichtlocke, doch diese sprach eben mit einem der Minister und hatte kein Ohr für Nees Angebot. So kam Markus doch noch zu seinem Tanz mit Nee.
Die Feier war im vollsten Gange, als ein neuer Gast erschien. Erst fiel er nicht auf, doch langsam wurde er bemerkt und die Feierstimmung erreichte einen neuen Höhepunkt. Ray war unter den Gästen aufgetaucht. Mancher hielt ihn auf seinem Weg zu Mutter und Schwester auf und fragte, wo er gewesen sei. Doch er antwortete nur kurz und meinte, er würde noch Bescheid geben.
Nachdem nun die Familie der Königin wieder vereint war und die Musikanten, Mitglieder des berühmten Raiseorchesters "Mondscheinschrecken", eine Musikpause einlegten, erzählte Ray was ihm passiert war.
"Ich war weit weg und zwar in einem kleinen Königreich. Ich konnte aus der Gefangenschaft fliehen und habe ein wunderhübsches Mädchen kennen gelernt, das von einem bösen Nichlatal, einem Drachentier, als Dienerin gefangen gehalten wird. Ich werde morgen mich auf den Weg machen, sie zu befreien und sie als Königin meines Herzens nach Hause holen!"
"Kommt es dir auch so vor, als würden sich die Leute hier zu viel mit der Liebe beschäftigen?" fragte Markus und verzog das Gesicht, als Ray seine Geschichte erzählte, als hätte er Zahnschmerzen. Diana nickte und sie spürte tief in sich tiefe Trauer.
"Weißt du was ich jetzt am liebsten machen würde?" fragte sie Markus und dieser schüttelte den Kopf, nahm ein Stück eines Kuchen, da sie neben dem Büffettisch standen und biss hinein.
"Hm! Karottenkuchen! Lecker!" meinte Markus und leckte sich über die Lippen. Doch Diana verspürte seltsamerweise keinen Hunger.
"Ich will heim!"
Markus hielt kurz inne, sah seine Schwester an und nickte, plötzlich nun auch nicht mehr am Essen interessiert.
"Ja, ich auch! Aber du weißt ja, die feiern hier immer so lange. Vielleicht kann uns Nee früher heim bringen!"
"Wir sollten sie fragen. Aber wenn ich dran denke, dass ich auch Reapear hier lassen muss, kommen mir die Tränen!" sagte Diana und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
"Na ja, vielleicht können wir ihn und die anderen ja auch einmal besuchen!" erwiderte Markus und holte ein nicht mehr ganz sauberes Taschentuch aus seiner Hose. Wobei er sich fragte, wie dieses wohl dahin gekommen war. Diana warf einen Tränen verschleierten Blick darauf und schüttelte den Kopf. Darauf konnte sie nun wirklich verzichten!
Das Fest des ersten Tages dauerte noch bis weit in die Nacht. Doch da waren Markus und Diana bereits in ihren Betten und schliefen fest.
Am anderen Morgen erfuhren sie, dass Ray sich bereits auf den Weg gemacht hatte, diesen Nichlatal zu erledigen. Reapear erzählte ihnen davon.
Dabei erfuhren sie auch dass dieser Nichlatal ein weit entfernter Verwandter von Reapear war aber dieser sich nur beglückwünschte, dass er weiter nichts mit diesem zu tun hatte.
Elf Tage dauerte nun schon das Fest und inzwischen waren nur noch wenige Gäste dabei. Alle anderen hatten ihren Alltag und ihre Arbeit - was immer diese auch war - wieder aufgenommen.
Es war noch zeitig am Morgen, da trat Nee zu Diana und Markus und sagte, ihnen die Hand auf die Schulter legend:
"Wir sind euch dankbar für alles, aber nun wird es langsam Zeit, dass ihr wieder in eure Welt zurück kehrt!"
"Ja, ich habe schon richtig Heimweh, nach Mama und Oma und nach Vaughy!" Markus musste schlucken. Diana nahm ihn bei der Hand und sagte zu Nee:
"Wann können wir denn heim?"
"Wenn ihr wollt, könnt ihr gleich gehen."
"Worauf warten wir noch?" fragte Markus, bereits in Aufbruchsstimmung.
"Wie sollen wir uns von den anderen verabschieden?" fragte Diana, doch Nee meinte nur, dass sie das nicht brauchten, denn die anderen hätten Nee schon am Vortag gesagt, dass alle guten Wünsche die beiden Kinder begleiten würden.
Nee ging voran und führte die beiden Kinder an den meist noch Schlafenden vorbei in den Wald. Sie kamen wieder am Wunschsee vorbei und Nee fragte, sich an Markus wendend:
"Hast du noch einen Wunsch?"
"Ja, ich will mit Diana endlich nach Hause. Wir sind lange genug hier!"
"Dann sprich deinen Wunsch aus. Einen Wunsch hast du ja noch frei!"
"Aber das ist unmöglich, denn ich habe ja damals schon den Wunsch ausgesprochen, der dann Reapear befreite." erwiderte Markus überrascht und schüttelte den Kopf. Sollte ihre Rückkehr so einfach sein?
Nee aber meinte, leicht lächelnd:
"Du hast wohl deinen Wunsch ausgesprochen, aber zu eines Anderen Glück und Wohl! Nun hast du für dich selbst und deine Schwester einen Wunsch frei!"
Markus und Diana sahen sich an und nickten sich zu. Markus sammelte alle Spucke, die er im Mund hatte und wollte eben in den See spucken, als er sich von einer unwiderstehlichen Kraft gepackt und in die Höhe gerissen fühlte. Da der Druck um seine Hüfte und die Schulter gleichzeitig stärker wurde, hörte er das Blut in den Ohren rauschen. Wie aus weiter Ferne hörte er Diana schreien und er fühlte nun, wie jemand oder etwas seine Beine packte und ebenfalls daran zog.
Er wurde weiter in die Höhe gerissen und hing nun mit dem Kopf nach unten. Markus holte Luft, doch er bekam nicht genug, denn seine Lungen wurden erbarmungslos zusammen gedrückt.
Er riss seine Augen weit auf und - wünschte sich im nächsten Moment, er hätte es lieber nicht getan.
Markus schwebte ungefähr zwei Meter über dem Boden und es schien noch kein Ende zu nehmen, was seine Aufwärtsbewegung betraf. Er bewegte sich langsam immer höher an - ja, an was eigentlich?
Der Druck ließ etwas nach, sodass er vorsichtig wieder Luft holen konnte und somit klärte sich sein Blick.
Markus sah sich vorsichtig um und mitten in ein lilafarbenes Auge, das umgeben von schwarzen, langen Wimpern ihn schadenfroh ansah.
Bei genauerem Hinsehen bemerkte er, dass rund um ihn noch weitere dieser Augen waren. Nicht alle waren geöffnet oder auf ihn gerichtet.
Das Auge vor ihm saß auf einem biegsamen Stiel und schaukelte heftig vor seiner Nase herum. Der Stiel schien irgendwo zwischen grünen Blättern zu verschwinden. Doch gleich darauf korrigierte Markus diesen Eindruck, denn der Stiel saß an der Baumrinde. Und als in Markus diese Erkenntnis reifte, wusste er wo er sich befand.
"Oh heiliger Bimbam! Ein Samenfruchtbaum!"
Er schloss ergeben die Augen und nach einiger Zeit spürte Markus, dass die Aufwärtsbewegung aufgehört hatte.
Jetzt bin ich beim Maul angekommen, dachte Markus und konnte nicht verhindern dass er sich wie ein kleiner Junge vor kam und Tränen über sein bleich gewordenes Gesicht liefen.
"Warum regnest du?" fragte da an seinem linken Ohr eine heisere Jungenstimme.
Markus öffnete erst ein Auge, dann das zweite und sah, dass er im dichten Blätterdach des Baums in einem Nest saß.
Vor ihm bemerkte er einen etwa fünfjährigen Jungen, der ihn neugierig ansah. Dieser hatte schwarzes, Schulterlanges Haar und ein Graskleid an. In seiner linken Hand hielt er einen Stab. Genau so einen, wie ihn Markus schon öfters auf Bilder von Hirten und Schafherden gesehen hatte. Sonst war nichts außergewöhnliches an ihm zu entdecken, außer dass am Hals des Jungen eine Samenfruchtbaumblüte saß. Die Beiden lebten anscheinend in Symbiose.
Wieder fragte der Junge:
"Warum regnest du?"
"Ich regne nicht. Ich weine. Wer bist du?"
"Ich bin Schonny, der Baumtreiber. Und du?"
"Ich ... ich bin Markus. Was ist ein Baumtreiber? Tut er dir nichts zuleide?" Während Markus seine Fragen stellte, blinzelte er immer wieder vom Nestrand nach unten ins dichte Blattgewirr und auf die Blüte an Schonnys Hals.
"Er ist ich und ich bin er. Wir sind eins. Ich bin sein Wille und er mein Reich und meine Füße!"
"Hast du mich zu dir hier herauf geholt, dass der Baum mich fressen kann?"
"Keine Angst, er ist satt. Ja, ich habe dich nach oben holen lassen, denn ich wollte den Jungen kennenlernen, der Raise gerettet hat!"
"Aber das war ich nicht, sondern meine Schwester Diana. Sie musst du kennenlernen und nach der Rettung befragen."
"Wir Baumtreiber sprechen nicht mit Weibchen. Nur zur Nestzeit. Du weißt sicher auch, was nötig war und was ihr gemacht habt. Also erzähle bitte!"
Markus traute sich nicht zu fragen, was wohl eine "Nestzeit" ist, aber er konnte sich denken, dass es irgend etwas mit Fortpflanzung zu tun hatte.
Soweit er die Geschichte kannte und seiner Schwester zugehört hatte, erzählte er den Hergang. Schonny hörte ihm aufmerksam zu. Als Markus geendet hatte, griff Schonny über sich und pflückte eine blaue Frucht. Diese reichte er Markus. Vorsichtig und irgendwie misstrauisch sah Markus die Frucht an, nahm sie aber schließlich.
Sie sah aus wie eine zu groß geratene Birne, schmeckte aber nach Honig und Schokolade. Mit drei Bissen hatte Markus die Frucht gegessen. Er bedankte sich artig und meinte dann:
"Darf ich wieder hinunter, wir wollen nämlich nach Hause!"
"Selbstverständlich. Ich werde dich wieder absetzen lassen. Nun weiß ich ja, was ich wissen wollte, hab Dank dafür. Wo, sagtest du, wirst du jetzt hin gehen?"
"Nach Hause. Durch das Bild, oder unter den See oder sonst wie, nur heim!"
"Dann lebe wohl und nochmals Danke!"
Schonny verneigte sich, machte ein seltsames Zeichen in die Luft und eine der Luftwurzeln packte Markus und die Reise begann von neuem, diesmal jedoch dem Erdboden zu.
Unsanft wurde er abgesetzt, der Baum wandte sich weg und stakste anderen Bäumen zu. Noch etwas ausser Atem, aber froh dieses Abenteuer so glimpflich überstanden zu haben, setzte Markus dort fort, wo er so abrupt unterbrochen worden war. Kurz wunderte er sich, dass weder Diana noch Nee ihn nach seinem Baumabenteuer fragten, doch dann sammelte er den Speichel, spuckte dreimal über die Wasserfläche und rief:
"Ich wünsche mir mit meiner Schwester nach Hause zurück zu kehren!"
Die Oberfläche kräuselte sich wieder, ein längerer Wasserspritzer überlief Markus' Gesicht und gleich darauf fühlten die Geschwister den schon einmal erlebten Sog.
Sie wurden mit immer schnellerer Wucht in eine Art Tunnel gezogen und ein einsames Licht glitt immer schneller auf sie zu. So wie das Licht vor ihnen immer größer wurde, versank das Land Raise und seine Bewohner hinter ihnen.
Ehe sie noch begriffen, was geschehen war purzelte Markus, dicht gefolgt von Diana aus dem Bild und landeten aufeinander am Boden des leeren Zimmers. Vor ihnen öffnete sich die Tür von alleine und Markus rappelte sich auf, half auch Diana auf die Beine und beide machten, dass sie so schnell als möglich das Zimmer verließen. Hinter ihnen schnappte die Tür wieder ins Schloss und es hörte sich an, als würde ein Schlüssel umgedreht. Doch darauf achteten die Geschwister nicht, denn sie hörten die Stimmen der Großmutter und der Eltern. Sie gingen in Richtung der Stimmen und Markus rief:
"Wir sind wieder da, Oma!"
"Ja, das sehe ich. Ihr kommt gerade recht, die Würste sind schon gegrillt. Dort auf dem kleinen Tisch stehen die Salate und Soßen. Von den Pommes könnt ihr euch auch nehmen!"
"Bist du gar nicht überrascht, uns erst jetzt zu sehen?"
"Sollte ich das? Seid ihr etwa krank?" fragte die Großmutter besorgt und legte eine Hand auf Dianas Stirn, um zu fühlen, ob da etwa Fieber wäre.
"Aber wir waren doch so lange weg!" rief Diana und trat einen Schritt zurück.
"Ja, etwa zehn Minuten lang. Wo wart ihr eigentlich? Und habt ihr euch schon die Hände gewaschen?"
"Zehn Minuten? Nein, das war viel länger! Viele Wochen lang!" rief Markus und stampfte mit dem Fuß auf.
Die Großmutter und der Vater beugten sich über Markus und legten nun abwechselnd dem einen Kind, dann dem anderen die Hand auf die Stirn. Besorgt fragte die Mutter:
"Ihr habt doch nichts unrechtes gegessen, oder?"
Doch beide verneinten. Da fragte Aloisia aus dem Hintergrund:
"Na, wo wart ihr denn?"
"Im Lande Raise!"riefen die Beiden wie aus einem Mund und Markus wurde rot vor Ärger, als er merkte, dass dabei ein dünner Speichelfaden aus seinem Mund sprühte.
"Oh!" sagte die Tante und machte große Augen.
"Was ist denn dort passiert?" mischte sich die Großmutter ein und verärgerte nun auch Diana, die noch immer einen Ausspruch ihrer Großmutter im Ohr hatte, als dieses meinte, man soll die Fantasie der Kindheit mit allen Mitteln unterstützen. Wo, bitteschön, befand sich beim vorhin Erlebten denn Fantasie? Sie waren ja wirklich dort!
"Wir waren in dem Zimmer mit der verschlossenen Tür und da war sie offen. Darin befand sich ein Bild und wir wurden hinein gezogen. Frage doch einfach Vaughy, er kann es dir bestätigen!" Markus bekam vor Aufregung ganz rote Wangen. Diana verdrehte die Augen. Na toller Zeuge! Ein Hund! Ärgerlich gab sie ihrem Bruder eine Kopfnuss.
"Was ist? Ist doch wahr!" verteidigte sich dieser.
"So, ein Zimmer mit verschlossener Tür und ein Bild, das euch eingesaugt hat - tolles Abenteuer!" scherzte der Vater.
"So ein Zimmer gibt es im ganzen Haus nicht!" Die Stimme der Großmutter klang tadelnd.
"Aber lasst die Beiden doch einmal erzählen! Ich bin immer für eine gute Geschichte offen!" mischte sich die Tante ein und forderte Diana mit einer Handbewegung dazu auf.
"Ja, wir waren dort, weil die Bewohner uns brauchten. Da gab es den Wunschsee, der spuckte und erfüllte Wünsche!"
"Logisch! Bei einem Wunschsee!" ulkte der Vater und handelte sich einen Rippenstoß seiner Gattin ein.
"Und die Eichenfee Nee nahm uns ins Schloss mit, vorher hat Markus noch einen Leviathan, den Reapear aus der Gewalt eines Samenfruchtbaums gerettet. Dann wurde der König Lillak verschleppt und die Königskinder Lichtlocke und Ray haben mich begleitet, ihn zu retten. Der Nachtmahr hat Markus verschleppt und Lichtlocke wurde zu einer der Feuerspinnen von der Nebelfrau."
Vater Weitmann tippte sich an die Stirn und Mutter Nicole verdrehte die Augen. Selbst die Großmutter schmunzelte hinter vorgehaltener Hand. Nur Tante Aloisia saß da und verfolgte mit Spannung die Erzählung.
Vom rückwärtigen Ende des Gartens kam Vaughy gelaufen, winselte kurz als er die Kinder sah, schnupperte an den Beinen der Beiden und ließ sich zufrieden neben Markus nieder, nachdem er sich einige Male im Kreis gedreht hatte. Er schloss die Augen und war froh, er hatte seine Menschen wieder.
Währenddessen erzählte Diana aufgeregt weiter.
"Geiervögel entführten nun auch Ray den Prinzen, und Reapear und Nee brachten mich zum Geschichtenberg. Dort habe ich Geschichten erzählt und die Blume Kumis gefunden. Dann sind wir wieder zurück und haben uns dummerweise von der Nebelfrau und ihren Feuerspinnen fangen lassen. Nach langer Zeit konnten wir fliehen, lernten Rotkäppchen und Lupo kennen, ihren Wolf und viele haben uns geholfen wieder nach Hause zurück zu kehren!"
Markus nickte und mischte sich nun in den Redeschwall seiner Schwester ein, als diese sich kurz unterbrach, um Luft zu holen.
"Oh ja und wir waren auch Gefangene in einem großen Saal ... also vorher, ehe wir fliehen konnten ... ich meine ...! Also, wir mussten Pilze und unbebrütete Vogeleier suchen und rutschten einen Eistunnel hinunter, Schonny der Baumhirt hat mich auf seinen Samenfruchtbaum gezogen und danach habe ich in den Wunschsee gespuckt, da ich ja noch einen Wunsch offen hatte und ... und ...!" verlegen schwieg Markus, als er die roten Gesichter seiner Eltern und der Großmutter sah. Er ahnte, dass ihm kein Stück seiner Erzählung geglaubt wurde und dass sich die Erwachsenen lustig über ihn und Diana machten. Es war immer dasselbe!
"Na, jetzt seid ihr ja wieder zurück. Doch dieses Zimmer, von dem ihr da erzählt habt, würde ich gerne einmal sehen." Die Großmutter stellte den Teller von ihren Knien auf den Servierwagen zurück und folgte den Kindern, die bereitwillig wieder ins Haus zurück gingen. Sie betraten den Gang, merkten dass sich sowohl die Eltern als auch die Tante angeschlossen hatten und betraten ihn. Markus ging nun voran und blieb vor der Tür stehen.
"Macht sie auf!" sagte der Vater und wieder begann sein Gesicht zu zucken.
Zaghaft griff Markus zur Türklinke und die Tür ging auf ...
Das Zimmer dahinter war vollgestopft mit alten Möbeln und Kleinkram. Es befand sich auch ein Bild gegenüber der Tür an der Wand, dieses jedoch zeigte ein wild bewegtes Meer und ein Schiff das gegen die Wellen ankämpfte.
"Hier wohnte euer Großvater, ehe er in den Bergen verunglückte. Das war sein Lieblingsraum. Und jetzt ist es ein Abstellraum geworden. Ihr seht also, ihr habt geträumt!"
Die Großmutter wandte sich um und ging mit den Eltern wieder in den Garten. Die beiden Kinder standen auf der Schwelle und sahen sich betroffen an.
"Ich glaube euch! Denn ich selbst war schon im Lande Raise. Allerdings führte mich meine Schicksalstraße nicht durch ein Bild, sondern durch eine Höhle. Es tobte ein heftiges Gewitter und als ich von meiner Reise zurückkam, erschlug mich fast ein Baum. Sie brauchten dort meine Hilfe, ein Nichlatal, ein Drachenmonster bedrohte das Volk und keiner hatte es gewagt, ihnen zu helfen. Nur ich!" sagte die Tante und blinzelte den beiden freundlich zu. Dann setzte sie hinzu:
"Ihr solltet mit dem Erzählen vorsichtiger sein. Es glaubt nicht jeder an Raise und seine Bewohner! Nur solche, die bereits dort waren!"
"Werden wir nochmals hin können?"
"Wer weiß! Vielleicht niemals mehr, vielleicht doch, spätestens wenn wieder einmal Hilfe nötig ist!"
Aloisia wandte sich um und ließ die Beiden alleine. Markus sah seine Schwester an und spürte verwundert, dass die Erinnerung an das Erlebte bereits schwächer wurde.
"Was ist? Eure Würste werden kalt!" rief Vater Weitmann von unten. Die Beiden nickten gleichzeitig und machten sich wieder auf den Weg in den Garten. Dort angekommen erhielten sie von ihrer Mutter je einen Teller mit Grillgut und Salat. Sie setzten sich auf die bereit stehenden Stühle und als ihr Blick zu der Tante ging, sahen sich die Drei wie Verschwörer an. Nun endlich konnten sie sich dem Essen widmen.
Ende
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2017
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