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Rhabarber macht Urlaub


Sie wohnte mitten auf einem kleinen Hügel. Umgeben von blühenden Wiesen und fröhlichem Vogelgezwitscher stand das windschiefe Häuschen und blickte auf das Dorf am Fuße des Berges herab. Kleine, ebenso windschiefe Fenster mit blank geputzten Scheiben sahen wie lustig zwinkernde Augen in die Ferne. Das rote Dach hatte eine schräge Neigung, war auch oft geflickt. Das ganze Häuschen strahlte fröhliche Beschaulichkeit und Freundlichkeit aus. Wie die Herrin des Häuschens.
Wenn man sie zum ersten mal erblickte, fiel zuerst das grüne Haar und die großen, sanft blickenden Goldaugen auf. Dann erst merkte man, dass es ein altes, behäbiges Weib war, mit oftmals geflicktem Kleid und Holzpantoffel an den Füßen, welches an der Haustür stand und den Himmel prüfend ansah.
Sie steckte den Finger in den Mund und hielt ihn nass in den Wind.
"Ostwind! Rhabarber, Rhabarber es herrscht Ostwind! Rasch die Wäsche auf die Leine und dann einen lustigen Reisigbesenflug! Am besten zu Lilli und Hannes!"
Das waren ihre speziellen Freunde unten im Dorf.
Was ein Reisigbesenflug ist? Oh, habe ich vergessen, zu sagen, wer Rhabarber ist? Rhabarber ist eine Hexe. Eine lustige, liebe und gute Knuddelhexe.
Mit den Menschen im Dorf war sie gut Freund. War jemand krank, ging er zu Rhabarber. Diese lief dann in den kleinen Kräutergarten hinter dem Haus und im Handumdrehen kochte sie einen Tee, der den Kranken innerhalb kurzer Zeit heilte.
Die Dorfbewohner waren auch immer sehr um Rhabarber besorgt und die Speisekammer der Knuddelhexe wurde nie leer.

Doch eines Tages, als wieder einmal ein Dorfbewohner einen starken und hartnäckigen Husten hatte und zum Hexenhaus kam, war dieses verschlossen. Die schiefen Fensterläden waren geschlossen, ebenso die Haustür. Kein Rauch stieg aus dem kleinen Rauchfang und außer den Vögeln in den Sträuchern war niemand zu hören oder zu sehen.
Obwohl der Kranke klopfte und von Husten geschüttelt heiser rief - es blieb alles ruhig. So blieb ihm nichts übrig, er musste wieder gehen und einen Arzt aufsuchen.
Längere Zeit fanden die Dorfbewohner noch den Weg zum Hexenhaus, doch immer weniger kamen sie, denn das Häuschen blieb verschlossen. Schließlich kam niemand mehr und es geriet in Vergessenheit. Die Wiesen verwilderten und die gepflegten Kräuterbeete erstickten im Unkraut.
Was war geschehen?

Rhabarber, sonst immer fröhlich und lustig, wurde von Tag zu Tag trauriger. Eine unerklärliche Unruhe und Sehnsucht hatte die Hexe erfasst. Und eines Nachts wachte sie auf und wusste, was ihr fehlte: sie war Urlaubsreif!
Noch in der selben Nacht packte sie einige Dinge, die man bei einer solchen Reise benötigte, in eine alte Tasche. Diese war ihr einmal von selbst zugeflogen. Sie verschloss das Häuschen und schwang sich voll Tatendrang auf ihren Reisigbesen und - hui - ging's ins Abenteuer. Rhabarber machte Urlaub!

Erst ging es über den Wald hinweg zum Dorf. Dort lag alles noch im tiefsten Schlaf. Der Vollmond stand hoch und kugelrund am Nachthimmel und ein paar Fledermäuse flatterten mit Rhabarber um die Wette. Doch nach und nach ließen sie die Hexe alleine, denn der Hunger nach fetten und geschmackvollen Insekten wühlte im kleinen Batmanmagen. Der Flug ging weiter über eine kleine Bergkette, über Wiesen und Felder. Sie kam zu einem Teich, dort machte sie Rast. Ganz in der Nähe wuchsen Büsche mit saftigen Himbeeren und dunklen Brombeeren. Dort nahm sie ein schnelles Frühstück. Sie wusch sich den verschmierten Mund im Wasser und erschrak, als sich die Teichoberfläche kräuselte und ein junger Mann mit ebenfalls grünen Haaren und einem Froschgesicht heraus sah und sie mit offenen Mund anstarrte.
"Was bist du denn für ein Besuch", fragte er mit einer Stimme, als würde er einen Schluck Wasser gurgeln.
"Ich bin Rhabarber! Ich mache Urlaub! Und mit wem habe ich das Vergnügen?"
"Ich bin Brodi, der jüngste Sohn vom Teichmann Wasserschopf. Ich würde auch gerne Urlaub machen. Zum Teich auf der Waldwiese. Dort wohnt meine Freundin Morsine. Der Überlauf zwischen unseren Gebieten ist nämlich verstopft!"
"Was du nicht sagst! Du hast eine Freundin? Ist sie hübsch?"
"Das schönste Mädchen, das du dir vorstellen kannst! Ihre Haare sind von einem so edlen Grün und leichtem Braun, ihr Gesicht ist so sanft wie ein Wassertropfen. Ihre Hände sind so fein und zart wie ein Wasserfall, der den Berg hinunter rauscht und ihre Füße ...!" begann Brodi zu schwärmen.
"Halt, halt! Ich weiß schon Bescheid! Sie ist also wunderschön und deine Freundin", unterbrach Rhabarber und kicherte. Brodi nickte und sah die Hexe neugierig an.
"Was wirst du jetzt machen?"
"Wenn du möchtest, mache ich einen Abstecher zu deiner Morsine und bringe ihr eine Nachricht!"
"Wirklich? das wäre super", rief Brodi voll Freude, glitt unter Wasser und kam wenig später mit einem dicht beschriebenen Seerosenblatt wieder.
"Donnerwetter, kannst du schnell schreiben!" Rhabarber staunte. Brodi wurde verlegen und sagte:
"Naja, ich habe das alles hier schon vergangene Nacht geschrieben. Wenn du nicht vorbei gekommen wärst, hätte ich es einem der hochnäsigen Libellenmädchen mitgeben müssen. Und wer weiß, ob sie es nicht verloren hätte!"
"Liebesbotin war ich noch nie! Gib mir das Blatt und ich werde es Morsine geben. Mit einem schönen Gruß von dir!"
"Am Besten gibst du ihr das auch", sagte Brodi, zog sich etwas höher und drückte Rhabarber einen feuchten Kuss auf die Wange.
"Es wird mir ein Vergnügen sein", sagte sie, stand auf und wischte sich heimlich über die nasse Wange. Brodi nickte, winkte zum Abschied und verschwand.
Rhabarber steckte das Blatt vorsichtig in ihre Kleidertasche und stieg auf den Besen. Sie hob sich in die Luft und nahm den Weg zum Waldwiesenteich.
Es war nicht weit und Rhabarber kam auch bald dort an. Sie grinste und während sie zur Landung ansetzte meinte sie zu sich selbst:
"Weit hast du's gebracht, Rhabarber. Bist von Hexe zur Liebesbotin avanciert!"
Es hatte begonnen zu dämmern. Die Nacht würde bald vorüber sein und ihr erster Urlaubstag beginnen.
Sie stieg vom Besen und kniete sich am Teichrand nieder. Dann holte sie das Blatt aus der Tasche und rief in die dunklen Fluten:
"Morsine, schöne Morsine! Ich habe eine Nachricht von Brodi!"
Sie zuckte zurück, als plötzlich dicht vor ihr eine grüne Gestalt auftauchte und fragte:
"Wirklich? Geht es ihm gut? Denkt er wirklich noch an mich? Wo hast du die Nachricht?"
Das Wesen riss Rhabarber das Blatt aus der Hand und tauchte unter.
"Manieren sind das! Nicht einmal den Gruß hat sie abgewartet", murmelte Rhabarber und war ganz froh, dass sie die Teichdame nicht küssen musste.
Sie sah sich um. Einige der Bäume schienen krank zu sein. Sie ging hin, legte ihre Hand auf deren Borke und lauschte auf das Rauschen der Säfte. Bei zweien hörte sie hinter der Rinde das leise Rascheln von Holzfressern. Sie wusste, da konnte sie mit ihrer Magie nichts ausrichten, aber sie konnte die richtigen Hilfstruppen rufen. Sie sah sich suchend um, dann hatte sie entdeckt, was ihr beim Rufen helfen konnte. Sie bückte sich, hob den hohlen Stiel eines Rohrkolben auf und blies vorsichtig hinein. Ein lang gezogener dumpfer Ton kam am anderen Ende heraus. es dauerte nicht lange, da umschwirrte sie auch schon die Anführerin der Holzwespenlegion. Rhabarber war gut bekannt mit ihr und erklärte:
"Ich freue mich, dass es Euch gut geht, Frau Wespa. Bei den beiden Bäumen haben sich Fresser eingenistet. Ich denke, das wird ein gefundenes Fressen für Euch und Eure Kolleginnen sein!" Rhabarber kicherte, als sie die kleine Wortspielerei machte. Frau Wespa sah sie nur groß an, sie hatte wenig Humor, wenn es darum ging, einen reich gedeckten Tisch verspottet zu bekommen. Dann nickte sie leicht, rief ihre Schwestern mit einem kurzen Trillern herbei, wobei sie sich auf Rhabarbers Besen setzte und meinte danach:
"Euer Holzstiel ist auch nicht mehr der Jüngste!"
"Dafür ist er zum Fliegen noch gut zu gebrauchen!"
Zu mehr Worte kam es nicht mehr, denn Frau Wespas Kolleginnen waren eingetroffen und machten sich sogleich über den reichhaltigen Speisezettel her.
Inzwischen war die Sonne aufgegangen und Rhabarber war müde geworden. Sie kroch unter ein dichtes Hagebuttengestrüpp und schon wenige Minuten später schnarchte sie so laut, dass ein Eichhörnchen, das über ihr in einer Tanne sein Haus hatte, einen Zapfen nach ihr warf und nur den großen Zeh traf. Doch Rhabarber drehte sich nur um und schlief weiter.
Sie merkte nicht die Tiere, die nach und nach zum Fressen auf die Lichtung kamen. Sie bemerkte auch nicht den Sonnenschein, der sich im Tau zu Tausenden bunten Tropfen verteilte. Sie hörte nicht die Heuschrecken im Gras, die sich die neuesten Geschichten erzählten. Ja, nicht einmal Frau Imme konnte Rhabarber wecken, obwohl sie diese fest in die Nase zwickte.

Es war beinahe Abend, als Rhabarber erwachte. Ihr Magen knurrte laut und sie holte sich das Stück Kräuterkäse, das sie sich mitgenommen hatte, aus der Tasche und biss hinein. Sie sah zum Teich, doch Morsine ließ sich nicht blicken. Während sie den nächsten Bissen nahm, stand sie auf und besuchte die Bäume, die am Morgen noch ziemlich krank wirkten. Sie legte ihr Ohr an deren Rinde, doch die dahinter stattgefundenen Fressorgien waren verstummt. Frau Wespa hatte gute Arbeit geleistet. Sie biss erneut ab, tätschelte die beiden Bäume auf der Rinde und meinte, während sie das letzte Stück in den Mund schob:
"Ihr werdet sehen, bald geht es euch wieder wunderbar!"
Sie nahm ihren Besen auf, schwang sich darauf und nach einem letzten Blick über die Lichtung und den Waldwiesenteich flog sie weiter.
Nach einiger Zeit sah sie unter sich zwei lange, silberne Schnüre. Auf ihnen keuchte ein seltsamer Zeitgenosse. War es ein Drache? Doch den letzten hatte seit langem keiner mehr gesehen. Es hieß, er würde seine Höhle nur noch selten verlassen, ihn plagte Rheuma.
War es ein Teufel? Dem Rauch und dem Lärm nach zu urteilen, könnte es sich um so ein Wesen handeln. Nicht, dass Rhabarber schon oft mit diesen Leuten zu tun gehabt hatte.
Doch dann fiel Rhabarber ein, dass die Leute im Dorf sich erzählten, dass ein neuer Sonderzug mit alter Dampflokomotive eingestellt worden war, damit die Leute mit ihm fahren konnten, so wie es früher der Brauch war. Nostalgische Reisen, nannten sie es. Rhabarber lenkte ihren Besen zum Dach eines der vier Waggons, die an dem Feuer und Rauch spuckendem Ungetüm hingen und landete. Der schnelle Fahrtwind trieb ihr die Tränen in die Augen und die Haare um die Ohren. Das Kopftuch rutschte ihr vom Kopf und sie stieß einen lauten Schrei aus.
"Juchhe", schrie sie. "Juchhe! Das ist mal ein schneller Ritt! Los, du altes Dampfross, bewege dich! Lauf schneller", schrie sie und zuckte erschrocken zusammen, als eine tiefe Stimme sagte:
"Wer hat dir erlaubt, auf meinem Kopf zu reisen? Und warum schreist du so?"
"Wo bist du denn", fragte Rhabarber und griff rasch nach ihrer Tasche, die zum Dachrand gerutscht war.
"Ich bin Gerda, die Dampflok und du schreist hier herum, ich soll schneller fahren!"
"Entschuldige, ich war nur so berauscht, weil du schneller als mein Besen bist. Da ging es mit mir durch", entschuldigte sich Rhabarber.
"Gut, für dieses Mal werde ich ein Auge zudrücken. Aber du solltest dich jetzt ducken!"
"Warum denn", fragte Rhabarber, die noch immer am Dach stand, in einer Hand den Besen in der anderen die widerstrebende Tasche. Die Lok schwieg und weit vor ihr wurde ein dunkles Loch sichtbar. Die Lok fuhr mitten hinein und ehe Rhabarber etwas sagen oder tun konnte, verspürte sie einen heftigen Schlag auf die Stirn. Es wurde dunkel um sie und sie hatte kurz das Gefühl des Fallens.
Rhabarber schlug auf dem Boden auf und griff in der Dunkelheit um sich. Doch ihre Tasche und der Besen, die sie beide vor Schreck losgelassen hatte, waren noch immer auf dem Dach des Zuges, der bereits in einen weiter entfernten Tunnel gefahren war.
"He, gib mir Besen und Tasche wieder", rief sie, aber eine Männerstimme hinter ihr sagte mit strenger Stimme:
"Das Betreten der Gleise ist verboten!"
"Ich bin vom Zug gefallen! Meine Tasche und mein Besen sind noch drauf!"
"Das Raus werfen von Gegenständen und das Aussteigen während der Fahrt ist auch nicht erlaubt!"
"Hören Sie, guter Mann, ich bin eine Hexe und mache Urlaub!"
"Und ich bin der Weihnachtsmann und mache hier meine Arbeit!" erwiderte der Mann und grinste.
"Der Weihnachtsmann sieht anders aus!"
"Eine Hexe auch. Mütterchen, die so alt sind wie Sie, sollten sich nicht zu weit vom Altersheim entfernen. Schönen Tag auch!"
"Ich mache Urlaub!" schrie ihm Rhabarber nach.
"Schön für Sie", war die Antwort. Rhabarber setzte sich. So ein Reinfall! Wie sollte sie je wieder nach Hause kommen? Ohne Besen! Vielleicht konnte ihr ja Gerda helfen.
Rhabarber beschloss als erstes, den jetzigen Aufenthaltsort hier zu verlassen. Irgendwie musste sie mit Gerda in Verbindung treten.
Sie sah sich um, erblickte etwas weiter entfernt ein Maisfeld und darauf eine in bunte Kleider gehüllte Gestalt. Sie beschloss diese Gestalt, offensichtlich eine feine Dame, wegen des Hutes den sie auf hatte, zu fragen.
Rhabarber machte sich auf den Weg und als sie dicht vor der Dame stand, erkannte sie, dass es eine Vogelscheuche war.
"Zu dumm, die Vogelscheuche kann ich nicht fragen!"
"Wer sagt denn das? Ich kenne viele Antworten auf ebenso viele Fragen!"
"Wie denn, du sprichst?"
"Na und? Das machst du doch auch. Was bist du eigentlich? Eine Verwandte kannst du ja nicht sein!"
"Ich bin Rhabarber, eine Knuddelhexe. Wenn du möchtest, kann ich dir schon eine Frage stellen, die mir so auf der Zunge brennt!"
"Was ist denn eine Knuddelhexe?"
"Na ich bin eine Knuddelhexe. Ich bin in großer Not. Ich bin vorhin mit dem Dampfross, Gerda war ihr Name, mitgereist und ein dunkles Loch hat mich erst auf den Kopf geschlagen, dann vom Dach geworfen. Mein Besen und meine Tasche sind aber noch am Dach von Gerda. Und ohne die kann ich nicht weiter. Ich mache nämlich Urlaub!"
"Oh, ich kenne Gerda gut. Früher stand ich ganz in der Nähe bei dem Loch. Aber dann haben die Leute, die mich gemacht haben, mich hierher gestellt. Ich soll nämlich die Vögel vertreiben. Aber das möchte ich gar nicht. Ich habe viele Freunde unter den Vögeln. Frau Meise hat letztes Jahr im rechten Schürzensack gebrütet. Vier Junge wurden flügge. Und der Jakob, hat mir vor einigen Tagen seine Braut Kekke vorgestellt. Der Jakob ist ein ganz lieber, das kannst du mir glauben!"
"Das glaube ich gerne, bloß was mache ich mit meinen verlorenen Sachen?"
"Da sollten wir ein Wort mit Frau Adele reden. Die kann dir vielleicht helfen!"
Die Vogelscheuche nickte so heftig, dass ein Strohschauer von ihrem Kopf nieder ging. Dann schüttelte sie sich leicht und aus einem der vielen bunten Flicken kroch eine Maus. Sie sah sich um und als sie Rhabarber erblickte, stieß sie einen erschrocken Pfiff aus. Doch die Vogelscheuche meinte nur besänftigend:
"Die Knuddelhexe tut dir nichts, Mausine, aber ich muss dringend Adele sprechen! Kannst du sie für mich verständigen?"
Das Mäuschen nickte, warf noch einen raschen Blick auf Rhabarber und huschte davon. Es dauerte nicht lange, kam sie wieder und hinter ihr hüpfte eine Krähe her.
Die Krähe setzte sich auf die Schulter der Vogelscheuche und begann sich ihr Gefieder zu putzen. Von dem Gespräch zwischen der Vogelscheuche und der Krähe hörte Rhabarber nicht viel. Sie sah nur erstaunt der Krähe nach, als diese sich erhob und weg flog.
"Adele kennt den Weg, den Gerda zurück legt. Sie wird dir deinen Besen und deine Tasche holen."
"Das ist sehr nett von dir und deinen Freunden, dass ihr mir so behilflich seid!"
"Naja, wir Frauen müssen zusammen halten!"
Es dauerte nicht lange, da kam Adele wieder zurück, hinter ihr flog der Besen und an seinem hölzernen Ende hing Rhabarbers Tasche. Der Besen senkte sich und fiel mit einem leisen Rauschen vor Rhabarbers Füße.
"Toll! Das hat er noch nie getan", wunderte sich die Hexe.
"Wahrscheinlich hat er sich alleine auf Gerdas Dach gefürchtet", vermutete die Vogelscheuche.
"Wahrscheinlich", gab ihr Rhabarber recht. Dann schwang sie sich auf den Besen und meinte, ehe sie sich in die Luft erhob:
"Ich werde immer an deine Freundlichkeit zurück denken und wenn ich Zeit und Gelegenheit habe, werde ich dir eine schöne Karte schicken!"
"Das wäre schön, ich habe noch nie eine Karte erhalten. Und danke schön für deinen Besuch!"
Rhabarber nickte, winkte noch einmal kurz und stieg höher und höher. Sie ließ das Feld und die Straße des Dampfrosses zurück. Sie beschloss ihrem alten Freund, dem Zauberer Jaromir, einen Besuch abzustatten. Vielleicht hatte er wieder neue Rezepte erprobt und konnte ihr einige davon verraten.

Der Weg zu Jaromir führte über Wiesen und Wälder. Einige male hielt Rhabarber an, um Rast zu machen. Immer wieder fand sie Stellen, wo süße, saftige Beeren wuchsen oder ein Bienenvolk etwas Honig mit ihr teilte.
Sie verschwendete keinen Gedanken an ihr Häuschen oder an die Freunde, die daheim geblieben waren. Sie flog mit ihrem Besen manchmal mit einem Adler oder den Schmetterlingen um die Wette. Doch folgte sie den Schmetterlingen, kam sie nicht vorwärts, denn diese flatterten nur von Blume zu Blume und manchmal blieben sie endlos sitzen, um von dem Nektar zu naschen.
Die Nacht senkte sich nieder, doch schon bald begann ein neuer, strahlender Morgen. Rhabarber aber flog immer weiter. Wenn sie müde war, schlief sie auf ihrem Besen ein, an den sie sich fest klammerte. Eines Morgens wurde sie wach und dachte sich, dass etwas nicht stimmen konnte. Es dauerte etwas, bis sie merkte, dass sie kopfüber am Besen hing. Wie war das denn passiert? Schnell drehte sie sich nach oben, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, dass sie ihr Ziel beinahe erreicht hatte. Vor ihr lag der Düsterwald, dahinter würde sie das Haus ihres Freundes Jaromir sehen. Vom Düsterwald erzählten sich die Menschen ganz komische Sachen. Dass Riesen ihn einst gesät hätten. Wilde Einhörner und bösartige Zwerge sollten darin ihr Unwesen treiben. Also, wenn jemand den kleinen Mickrig als bösartig bezeichnen würde, hätte Rhabarber demjenigen etwas erzählt. Oder dass Sternenlicht wild war. Etwas eigensinnig vielleicht, aber wild? Sicher nicht.
Während Rhabarber so über die ersten Bäume des Düsterwaldes flog, verfolgte sie in ihren Gedanken weiter, was ihr eingefallen war, als sie seiner ansichtig geworden war. Und sie beschloss, ehe sie bei Jaromir anklopfte, einen Abstecher zu Mickrig und Sternenlicht zu machen. Sie würden sich sicher freuen, wieder einmal ein Pläuschchen mit Rhabarber zu halten.
Sie senkte den Besen und kaum berührten ihre Füße den Boden, stieg sie herunter, packte ihn und die Tasche unter den Arm und betrat den Wald.
Unter den Bäumen war es ruhig und schattig. Hier standen sie noch nicht so dicht und die Sonne konnte den mit Nadeln bedeckten Boden erwärmen. Ameisenhaufen waren überall zu sehen und der mit dichten Moospolstern bewachsene Boden unter Rhabarbers Füßen gab nach, so dass ihre Schritte gedämpft wurden. Schwarze und grün schillernde Laufkäfer krabbelten am Boden, ein großer Hirschkäfer verspeiste mit Genuss einen erbeuteten Wurm und wurde bei seiner Mahlzeit gestört, als ein Widersacher ihn zum Kampf heraus forderte. Rhabarber ging schnell weiter, denn sie hatte wenig Lust zum Schiedsrichter nominiert zu werden. So dumm war sie nur einmal gewesen und hatte hinterher noch eine Woche lang den blauen Fleck, den ihr der Verlierer, ein großer Hirschkäfermann, mit seinen Zangen verpasst hatte, weil sie in seinen Augen falsch entschieden hatte. Sie schüttelte sich noch nachträglich.
Tiefer im Wald ging ein Specht seiner Arbeit nach. Rhabarber hörte sein stakkatoartiges Klopfen. Ja, er müsste jetzt Nachwuchs zu versorgen haben.
Beinahe wäre sie in ein Netz einer Spinne gelaufen. Im letzten Moment konnte sie noch stoppen und sah sich den vier Augen einer Kreuzspinne gegenüber.
"Verzeihung!"
"Keine Ursache, du bist ja noch rechtzeitig ausgewichen!"
"Spidana? Ja, das ist aber eine Freude!"
"Tut mir leid, aber das war meine Urgroßmutter. Und wer bist du?"
"Oh, ja ich bin Rhabarber!"
"Ach, von dir hat mir meine Uroma schon viel erzählt. Ich dachte immer, du würdest nur in ihrer Fantasie existieren. Naja, zuletzt war sie schon sehr seltsam. Da war es direkt eine Erlösung, dass einer der Flugmäuse sie eines Nachts vom Netz pflückte. Und jetzt solltest du wieder gehen, du verhinderst, dass ich heute Beute mache!"
Rhabarber stolperte zwei Schritte rückwärts und runzelte die Stirn. Dann zuckte sie die Schultern und ging ohne einen Gruß weiter. Das Jungvolk war schon sehr unhöflich. Spidana hätte ihrem Nachwuchs etwas Manieren beibringen sollen. Doch Schwamm darüber.
Rhabarber kam nun in den dichter mit Bäumen und Büschen bewachsenen Waldteil. Stille umgab sie. Hin und wieder hörte sie das eilige Summen von Waldbienen, die ihren Weg kreuzten, doch sonst war sie alleine.
Sie schwenkte hinüber zum Altbestand des Waldes. Hier lagen nach wenigen Schritten gestürzte Baumriesen am Waldboden. Bei manchen ragten die Wurzeln anklagend in die Luft. Doch sie waren nicht tot. Viele Bäumchen hatten ihre gefallenen Körper als neue Lebensgrundlage erkoren. In diesem Wirrwarr von gestürzten Bäumen, dichtem Gebüsch und neuem Leben wohnte Mickrig. Er und seine große Familie. Sie blieb stehen, drehte sich einmal um sich selbst und legte Besen und Tasche auf den Boden. dann formte sie mit den Händen einen Trichter und rief in den Wald:
"Mickrig! Herr Mickrig! Ich bin zu Besuch! Ich, Rhabarber!"
"Warum schreien Sie denn so, gute Frau! Denken Sie, ich bin schwerhörig geworden?" Die Stimme kam von unten, direkt von Rhabarbers Füßen. Sie sah hinunter und da stand er. Klein, das schwarze Haar verstrubbelt und seine blaue Mütze schief auf dem rechten Ohr. Er hatte die Arme in die Hüfte gestemmt und sah ziemlich ärgerlich zu Rhabarber hoch. Neben ihm lehnte eine Axt und daneben stand ein Korb aus dünnen Zweigen. Darin befanden sich bereits einige der seltenen Alraunen, zwei Pilze und einige Harztropfen.
"Entschuldigung! Aber ich wusste nicht, dass Sie bereits hier sind!"
"Na gut, weil Sie es sind, Entschuldigung angenommen. Und jetzt muss ich wieder weiter arbeiten. Aber wenn Sie zu meiner Betty wollen, dann nur zu. Sie kennen ja den Weg noch, oder?"
Rhabarber nickte und ließ Mickrig seine Arbeit tun.

Unter einer besonders verkrüppelten Tanne stand das Häuschen von Mickrig und seiner Frau Betty. Es war so wie seine Bewohner - klein, lieb und schnuckelig. Zumindest hätte Rhabarber es so bezeichnet. Es war weiß angestrichen, hatte eine Tür aus Rinde, die jetzt offen stand und an der Vorderfront drei Fenster. Eines links, zwei rechts neben der Tür. Vor jedem der Fenster befand sich ein blütenweißer Vorhang mit zarten Blumenstickereien. Das Dach saß wie eine Zipfelmütze auf dem Haus und war so rot, wie eine Zipfelmütze sein sollte. Aus dem etwas windschiefen Rauchfang stieg eine dünne Säule Rauch auf. Vor dem Häuschen war eine Kleine Frau mit Wäsche aufhängen beschäftigt. Dazu waren zwei dicke Äste in den Boden gesteckt worden und den Strick dazwischen bildeten ineinander verdrehte Spinnweben. Die Wäsche selbst wurde mit je zwei Hirschkäferscheren daran befestigt. Als Rhabarber näher kam, hielt die Zwergenfrau inne und rückte sich kurz ihre runde Brille auf der Nase, die wie ein Schmetterling dort saß, zurecht. Sie hatte ein freundliches, rundes Gesicht und unzählige Lachfalten darin. Ihre braunen Haare lugten unter einem roten Kopftuch hervor, das sie im Nacken verknotet hatte. Ihre blauen Augen wurden durch die runde Brille noch hervorgehoben. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, als sie Rhabarber erkannte. Sie ließ die Unterhose ihres Mannes in den vor ihren Füßen stehenden Korb zurückfallen, und rief erfreut aus:
"Nein, so eine Freude! Frau Rhabarber! Sie waren ja schon lange nicht mehr hier auf Besuch! Gerade heute Morgen sagte ich noch zu Mickrig, dass es wieder an der Zeit wäre, Besuch zu bekommen und schon sind Sie hier. Kommen Sie herein, in die gute Stube. Ich habe heute guten Fliegenpilzauflauf gebacken. Also davon müssen Sie unbedingt kosten. Sollte er Ihnen munden, dann können Sie das Rezept haben. Ich habe es von meiner Mutter!"
"Ich freue mich, dass Sie sich freuen, Mamsell Betty. Und ich nehme gerne Ihre Einladung an. Aber Sie sollten vorher Ihre Arbeit beenden, sonst ändert sich noch das Wetter und Ihre Wäsche trocknet nicht!" Rhabarber setzte sich neben der Zwergenfrau, die sich nun wieder der Unterhose Ihres Mannes zu wandte, ins Gras, das vor dem Haus wuchs und genoss den warmen Waldboden. Der Besen lehnte inzwischen hinter ihr am Stamm eines noch jungen Tannenbaumes, die Tasche lag gleich daneben.
Es dauerte nicht lange, da war Betty fertig, nahm den nun leeren Korb hoch und ging ins Haus. Gleich darauf kam sie wieder heraus, in den Händen einen klappbaren Tisch, den sie auch gleich aufklappte, die Füße mit kleinen Riegeln arretierte und wieder ins Haus ging. Sie kam mit einer bunten Tischdecke unter dem Arm heraus, in der rechten Hand balancierte sie einige Teller, in der anderen hatte sie Besteck. Sie legte alles fein säuberlich auf den Tisch und ging wieder ins Haus.
"Soll ich Ihnen helfen, Mamsell Betty?"
"Nein, Sie sind unser Gast und Gäste arbeiten nicht!" Die Stimme Bettys klang sehr resolut aus dem Hausinnern. Rhabarber zuckte die Achseln und dachte, wenn die Frau das so möchte, würde sie es auch so bekommen. Nun marschierte Betty noch einige male ins Haus und kam wieder hervor. Zu den Tellern und dem Besteck gesellten sich nach und nach Gläser, Servietten aus Schmetterlingsflügel und Platten mit Beeren, sowie eine Schüssel voll der schönsten Moosblüten. Inzwischen war Mickrig mit seiner Arbeit fertig geworden und ebenfalls eingetroffen. Er umarmte seine Frau und küsste sie mitten auf ihren Mund, als sie wieder einmal aus dem Haus trat, die Arme voll mit einer großen Schale, worin sich der Pilzauflauf befand.
"Wasch dir die Hände, Mickrig, wir essen gleich!" Bettys Kommandoton ließ Mickrig schrumpfen. Er wirkte nun in Rhabarbers Augen noch kleiner, als er ohnehin schon war. Sie verbiss sich ein Grinsen, denn Mickrig war da sehr eigen, was seine Größe betraf. Und um ihn zu beleidigen mochte sie den Zwergenmann viel zu sehr. Mickrig ging mit gesenktem Kopf ins Haus, nahm den Korb mit sich und Rhabarber hatte Mitleid mit ihm. Er wirkte wie ein gescholtenes Kind. Es dauerte nicht lange, da kam er wieder heraus, diesmal mit frischer Kleidung und setzte sich auf einen der Baumstämme, die neben dem Tisch standen. Betty hatte vorher noch weiche Moospolster auf beide gelegt und nun schnitt sie den Auflauf in größere Stücke. Eines gab sie auf den Teller und reichte ihn Rhabarber. Dann teilte sie für sich und Mickrig den restlichen Auflauf auf die verbliebenen Teller. Mickrig setzte sich und griff nach dem Besteck. Er sah zu Rhabarber hin und nickte.
"Sie sollten essen, gute Frau! Sonst wird er kalt und dann spürt man seinen feinen Pilzgeschmack nicht mehr so gut!"
Rhabarber nickte. Ja Mickrig hatte recht. Sie griff nach dem Besteck und begann vorsichtig eines der Stücke aufzuspießen. Erst roch sie daran, doch dann schob sie das Stück in den Mund. Sogleich schmeckte sie das feine Aroma und verdrehte entzückt die Augen.
"Also Mamsell Betty; Sie machen die besten Pilzgerichte und ich habe schon wirklich viele gegessen. Aber Ihrer ist immer noch der Beste!"
"Danke schön!" Die Zwergenfrau errötete, als Rhabarber ihr dieses Kompliment machte. Mickrig nickte, dass sein Gesicht ganz rot wurde.
"Ja, ja! Meine Betty kann schon was!"
Die nächsten Minuten waren nur noch die Geräusche zu hören, die Speisende so machen. Hin und wieder ertönte auch leises Aufstoßen, das meist von Mickrig kam. Es brachte ihm einige vorwurfsvolle Blicke von Seitens seiner Gattin ein.
Nachdem die Drei sich satt gegessen hatten, stand die Zwergenfrau auf, räumte das Geschirr vom Tisch und schlug höflich, aber bestimmt Rhabarbers Antrag auf Mithilfe ab. Gäste würden bei ihr nie arbeiten müssen. Mickrig lehnte sich etwas zurück und holte aus seiner Hose eine kleine, gebogene Pfeife hervor. Er nahm auch noch einen kleinen Lederbeutel aus der selben Tasche und begann mit bedächtigen Bewegungen die Pfeife zu stopfen.
Währenddessen kam Betty mit einer großen Kaffeekanne und einigen Tassen erneut aus dem Haus, stellte alles auf den Tisch und verschwand noch einmal drinnen. Als sie wieder kam, hatte sie einen großen Teller und darauf stand ein köstlich duftender Kuchen. Rhabarber spürte, wie ihr im Mund das Wasser zusammen lief.
"Uraltes Rezept meiner Frau Mutter!" sagte Betty stolz und stellte auch den Teller auf den Tisch. dann teilte sie die Tassen aus und goss den Kaffee ein.
"Was ist das denn für ein Kaffee?" fragte Rhabarber und kostete vorsichtig. Doch nicht vorsichtig genug, denn sie verbrannte sich die Oberlippe.
"Eichelkaffee. Mit einem Schuss Tannenhonig und etwas Brennesselmilch. Sehr gesund und gut nach einem solchen opulenten Essen!"
Rhabarber nickte. Das war ein guter Abschluss.
"Und der Kuchen?"
"Waldbeerenbrei vermischt mit Tannenzapfensamen und Holzwurmsaft. Dazu habe ich noch das Innere eines großen Ameisenpilzes genommen, verrührt und gebacken. Ich hoffe, er schmeckt Ihnen auch."
"Mh! Der ist ja ganz köstlich!" Rhabarber schnalzte genüsslich mit der Zunge. Also, sie hatte schon lange keinen so guten Kuchen verzehrt. Während Mickrig seine Pfeife rauchte, aß er auch von dem Kuchenstück, das ihm seine Frau gereicht hatte und trank zwischendurch von seiner Tasse.
Rhabarber war etwas traurig, als sie ihr Kuchenstück fertig gegessen hatte und nun wieder an den Weiterflug dachte. Sie stand auf und schüttelte den beiden freundlichen Zwergen die Hand.
"Lassen sie sich bald wieder einmal anschauen, gute Frau!" Mickrig nickte bekräftigend.
"Ja, dann lasse ich Sie die anderen Köstlichkeiten kosten, die meine Frau Mutter auf Rezeptbasis hatte!"
Rhabarber nickte und eine kleine Träne der Rührung glitt aus dem rechten Augenwinkel und fand den Weg über ihre Wange.
Ja, nun stand noch der Besuch beim Zauberer an. Hoffentlich war er in guter Stimmung. Denn mit vollem Magen wollte sich Rhabarber nicht ärgern.

Rhabarber griff ihre Tasche und den Besen, schwang sich darauf und nachdem sie ein letztes Mal gewunken hatte, flog sie hoch zu den Baumwipfeln und darüber hinweg. Sie lehnte sich nach vorne und beschattete die Augen mit einer Hand.
Flog da vorne nicht auch eine Hexe? Und hatte diese Hexe nicht genau die selben Sachen als Bekleidung, wie sie selbst? Auch die gleiche Tasche hatte die Hexe und auch sie lehnte sich auf ihrem Besen nach vorne, die Hand über den Augen.
Rhabarber stieß ein verächtliches Schnaufen aus, als sie den Spiegeltrick durchschaute. Ein belustigtes Lachen hallte an ihr Ohr und sie nickte. Ja, Jaromir hatte glänzende Laune! Rhabarber machte gute Miene zum dummen Spiel und lenkte ihren Flugapparat nun in einer eleganten Kurve zu der kleinen Wiese, die vor ihr lag.
. Auf dieser Wiese stand ein ziemlich schiefes Haus, das etwas ihrem eigenen ähnelte und davor stand ein alter Mann mit einem weißen Bart, der seltsame rote Streifen aufwies. Weiters hatte er eine grell rote Mütze auf seinem langen Haar, das seltsamerweise nicht weiß war, wie Rhabarber es in Erinnerung hatte, sondern blau.
Rhabarber lenkte den Besen bis dicht vor Jaromir, dann landete sie und stieg herunter.
"Ich grüße Sie, Meister Jaromir!"
"Ich grüße Sie ebenso, Frau Kollegin! Wie hat Ihnen denn mein Kunststück gefallen?"
"Das war schon recht beeindruckend. Ich dachte wirklich, eine zweite Hexe fliegt vor mir!"
"Das freut mich aber, dass Sie mein kleiner Spiegeltrick beeindruckt hat. Was werden Sie denn dann dazu sagen, wenn Sie meinen neueste Erfindung sehen?"
"Oh jeh!" entfuhr es Rhabarber und sie schlug sich sofort auf den Mund. Doch das erwartungsvolle Gesicht des Zauberers war bereits beleidigt geworden.
"Wieso denn 'oh jeh'?" fragte er und er fuhr sich durch seinen zweifarbigen Bart. Es tat Rhabarber bereits leid, dass ihr dieses Wort entschlüpft war und so meinte sie, um Jaromir von ihrem Ausrutscher abzulenken:
"Wie sind Sie denn zu den schönen blauen Haaren gekommen?" Dass sie wieder etwas falsches gesagt hatte, merkte sie daran, wie der Zauberer sie ansah. Dann stemmte er die Arme in seine Hüfte und meinte ziemlich lautstark:
"Ja, wie bin ich wohl zu den blauen Haaren gekommen? Ist wohl eine Marotte von mir, mein Zeichen des Alters so zu verschandeln, oder? Und noch dazu dieses hässliche Blau! Wenn's wenigsten Magenta gewesen wäre oder Marine! Oder meinetwegen einen sanften Stich ins Violette. Aber nein! Dieses ...! Ach! Fragen Sie mich nicht weiter, kommen Sie lieber herein. Es wird gleich junge Hunde regnen!"
"Was wird es regnen?" Rhabarber dachte sich, dass der alte Jaromir noch seltsamer war, als sie geahnt hatte. Plötzlich schlug ihr jemand auf den Kopf und neben ihr purzelte ein Hundebaby in die Wiese. Es jaulte leise und versuchte weg zu kriechen. Gleich darauf schlug ein Hundebaby Rhabarber auf die Schulter, eines traf ihren Besen und schlug ihn ihr aus der Hand. Als sie sich bückte, fielen gleich drei größere Hundekinder auf ihren Rücken.
"Was soll denn das?" fragte Rhabarber und zupfte sich einen jungen Hund vom Genick, wo er sich mit allen Kräften fest klammerte.
"Ich habe Ihnen doch gesagt, es wird junge Hunde regnen!"
Jaromir sprang zurück, als dicht vor ihm ein junger Dobermann landete und ihn sofort anknurrte. Schnell öffnete er die Tür und Rhabarber machte, dass sie aus dem Hunderegen kam. Sie atmete auf, als Jaromir die Türe schloss und den Hunderegen aussperrte.
Jaromir durchquerte den winzigen Vorraum seines Hauses und bat mit einer Handbewegung Rhabarber in sein voll gestopftes Studierzimmer. Die Hexe betrat es und sofort fiel ihr Blick auf eine silberne Kugel, die neben einem Haufen dicker Bücher, die aufgeschlagen und manche mit Lesezeichen versehen waren, und einer Schüssel mit Zaubernüssen stand.
Jaromir war ihrem Blick gefolgt und sein altes und verrunzeltes Gesicht verzerrte sich vor Freude.
"Schön nicht?"
"Toll! Und was ist das?"
"Das, Frau Kollegin, ist meine Erfindung!"
"Eine Silberkugel?"
"Nicht die Kugel, das was darin ist!"
"Fein! Was ist denn drinnen?"
"Meine Erfindung!"
"Oh jeh!" seufzte Rhabarber ein weiteres Mal. Sie konnte nur hoffen, dass Jaromir ihr seine Erfindung zeigt, ehe der Sankt Nimmerleinstag eingeläutet werden würde. Wenn der Zauberer so um eine Sache herum redete, konnte man fast immer sicher sein, dass es nichts war, das man gerne wissen oder sehen wollte.
"Na schön, erzählen Sie mir von Ihrer Erfindung, bitte!"
"Aber gerne,sehr gerne sogar. Doch vorher müssen Sie unbedingt diesen wunderbaren ...! Ja, wo ist er denn?"
"Suchen Sie etwas bestimmtes?" fragte Rhabarber und wieder dachte sie bei sich, dass Jaromir sehr wunderlich und schusselig geworden sei. Doch in diesem Moment rief er laut "Quantado!" und hielt triumphierend einen Bleistift mit Flügeln empor.
"Wer bitte?" fragte Rhabarber irritiert. Ihr Blick wurde abgelenkt, als die Silberkugel zu beben und schließlich zu schweben begann.
"Hm, Meister Jaromir! Ihre Erfindung macht sich eben aus den Staub!"
"Was? Oh nein, nein! Bleibst du wohl hier!" rief Jaromir und machte einen Sprung zu der Kugel hin, um sie aufzuhalten. Doch er hatte den kleinen Schemel übersehen, der sich eben vor seine Füße gestellt hatte. So stolperte Jaromir über den Schemel, riss im Fallen noch zwei Gläser mit Krötenaugen und eines mit einer undefinierbaren Schleimmasse von einem kleinen Regal und schlug lang hin. Währenddessen schwebte die Kugel unter die Decke und stand dort dann still in der Luft.
Rhabarber hatte sich mit einem schnellen Schritt in Sicherheit gebracht und schaute nun mit misstrauischem Blick den schon wieder zu Wandern beginnenden Schemel.
"Du bleibst auch hier, verflixt noch einmal!" rief Jaromir, griff schnell zu und packte den Wanderschemel bei einem seiner Füße.
"Was bewegt sich denn noch alles bei Ihnen, durch Zauber belegt?"
"Ach, das hat mir diese Zwettelmaus eingebrockt!" In einer Hand den Schemelfuß, in der anderen den Bleistift mit den Flügeln, so versuchte Jaromir wieder auf die Beine zu kommen. Als es ihm endlich gelungen war, seufzte er.
"Diese verrückte Alte. Bloß weil ich zu ihr gesagt habe, die Warze, die sie sich wegzaubern wollte, wäre noch immer da und außerdem zweimal so groß geworden. Sie ist aber auch immer gleich so schnell beleidigt!"
Rhabarber hatte noch nie etwas von dieser Maus gehört. Doch langsam dämmerte ihr, dass es wohl kein Tier, sondern eine Kollegin von Jaromir war.
"Ist Ihre etwas seltsame Haarfarbe auch das Ergebnis dieser beleidigten Maus?" fragte Rhabarber und konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Jaromir warf der Hexe einen bösen Blick zu, brummte in seinen Bart und warf den Schemel in eine Ecke. Dieser hatte nichts eiligeres zu tun, als sich unter einem dort stehenden Tisch zu verkriechen.
"Ich denke, eine Tasse Jaromirtee wird uns beiden gut tun und dann zeige ich Ihnen die Erfindung!"
"Die Silberkugel?"
"Nicht die Kugel! Das was drinnen ist!"
"Was ist denn drinnen?"
"Meine Erfindung!"
"Oh je!" Rhabarber seufzte. Aber eine Tasse von dem Tee war keine so dumme Idee. Sie nickte und sah sich nach einem freien Platz um. Doch so sehr sie auch suchte, sie sah überall nur Sachen, die auf allen freien Plätzen lagen.
"Nein, nein. Hier in der Studierzimmer werden wir den Tee nicht einnehmen. Dazu gehen wir in den Salon!" meinte Jaromir, als er den suchenden Blick Rhabarbers merkte.
"Salon? Seit wann haben Sie denn einen Salon?" Rhabarber war erstaunt. Sie kannte so in etwa die Räume, die Jaromirs Haus hatte. Bisher hatte es keinen Salon gegeben. Sollte er sich einen gezaubert haben?
Jaromir grinste, als er die Überraschung im Gesicht der Hexe sah. Er klatschte in die Hände, hatte aber vergessen, dass er noch immer den geflügelten Stift hielt und brach einen der Flügel ab. Der Stift machte ein schrilles Geräusch und dadurch fiel der Blick des Zauberers auf dieses Missgeschick.
"Au weh! Das ist schlimm!" meinte er und griff mit zwei Fingern nach dem nun traurig herab hängenden Flügel. seine Stirn runzelte sich, dann sah er sich um und griff nach einem schmalen, hohen Glas. Darin befand sich silbern glitzernder Sand. Jaromir nahm den Glasstopfen vom Glas, schüttelte es und eine kleine Sandwolke stob in die Höhe, verließ das Glas und senkte sich auf den gebrochenen Flügel des Stifts. und - hast du's nicht gesehen - war er wieder gesund. Jaromir ließ den Stift los und dieser flog gleich weg von dem Zauberer. Inzwischen verschloss Jaromir das Glas wieder und stellte es zurück.
"Feenstaub! Hat mir Frau Königin Isobell geschenkt. Aber jetzt wollen wir in den Salon! Bitte gehen Sie voraus!" Jaromir deutete zur Eingangstür und Rhabarber warf ihm einen erstaunten Blick zu.
"Da raus?"
"Nein, da rein! Da geht's in meinen Salon!"
"Aber wir verlassen ja Ihr Haus!"
"Aber nein! Wieso denn?" Jaromir sah die Hexe erstaunt an.
"Na, wir sind doch vorhin eben von dort herein gekommen!"
"Wirklich? Ich gehe dort meistens in meinen Salon!" Jaromir war nun sehr verwirrt.
"Ach lassen Sie uns einfach nachsehen, wer recht hat!" meinte er schließlich, ging zur Tür und öffnete sie. Rhabarber war ihm gefolgt und wollte eben lachen, als sie einen Blick in ein Zimmer werfen konnte, das beinahe so groß wie Jaromirs Haus war.
"Na, wusste ich doch, dass hier mein Salon ist. Treten Sie ruhig ein, gute Frau. Ich beiße Sie nicht!"
Rhabarber ging an Jaromir vorbei ins Zimmer. Es verdiente wirklich die Bezeichnung 'Salon'. An den Wänden rankten bunte Blumen und Schmetterlinge flogen umher. Manche saßen auch auf den Blüten und holten sich mit ihrem Rüssel den Nektar heraus. Die Decke bestand aus einem Stück Himmel, auf dem kleine rosa umrandete Federwolken zogen. Der Boden war mit weichem Gras bedeckt. Mitten im Zimmer standen drei gemütlich wirkende Sitzgelegenheiten und ein runder Tisch dazwischen. Darauf stand bereits ein Tablett mit einer großen Kanne und zwei ebenfalls großen Tassen. Aus der Kanne rauchte es und plötzlich erhob sich diese, goss aus der gebogenen Öffnung eine dunkle Flüssigkeit in jeder der Tassen und stellte sich wieder auf ihren Platz.
"Mein Salon!" sagte Jaromir mit Stolz in der Stimme und einer umfassenden Handbewegung. Rhabarber war sprachlos. Sie setzte sich und Jaromir nickte zufrieden, als er sah, dass sein Gast sehr beeindruckt war. Er nahm neben Rhabarber Platz griff nach der Tasse vor ihm und schlürfte geräuschvoll die heiße Flüssigkeit.
Rhabarber verzog das Gesicht. Sie war lange nicht bei Jaromir auf Besuch gewesen, deshalb hatte sie viele seiner Angewohnheiten vergessen. Dieses Schlürfen allerdings gehörte zu seinen unangenehmen Angewohnheiten.
Er stellte die Tasse nieder und schaute zu Rhabarber, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück, verschränkte die Hände über seinem Bauch und schien auf etwas zu warten.
"Nun?" fragte er, als nichts passierte. Rhabarber sah ihn erstaunt an. Sie hatte noch nicht von ihrer Tasse gekostet.
"Was 'nun'?" fragte sie und griff endlich nach ihrer Tasse. Jaromir machte eine Hand von den Fingern der anderen frei und wischte damit wild durch die Luft.
"Momantum rumum!" rief er. Rhabarber ließ die bereits beinahe an den Mund geführte Tasse wieder sinken und starrte ihr Gegenüber nachdenklich an. Dann stellte sie vorsichtig die Tasse wieder auf den Tisch und wollte eben Jaromir etwas fragen, als aus dem Nichts ein blauer Teller mit kleinen runden Kuchenstücken auftauchte.
"Greifen Sie zu, nicht so schüchtern, Frau Rhabarber! Maulbeertaschen, frisch aus der Hofzauberbäckerei!"
Rhabarber nickte, griff zu einem der Kuchen und führte ihn zu ihrem Mund. Plötzlich begann der Kuchen in ihrer Hand zu zappeln und zu schreien.
"Hilfe, ich will nicht gegessen werden! Ich bin doch noch so frisch!"
"Ich finde das aber nicht sehr freundlich, wenn das Essen auch schon um Hilfe ruft! Was haben Sie sich dabei gedacht, Meister Jaromir?" fragte Rhabarber und warf den Kuchen zu den anderen auf den Teller zurück.
"Autsch! Pass doch auf, alte Wetterhexe!" rief dieser und Rhabarbers Gesicht verfinsterte sich zusehends.
"Wenn, dann bitte schön 'Knuddelhexe'! Merk dir das!"
Jaromir hatte dem Ganzen mit offenem Mund zugesehen. Jetzt rief er erbost:
"Also, das ist doch die Höhe!" Kaum hatte er das letzte Wort gesprochen, begann er auch schon aus dem Sessel hoch zu schweben, wie ein Ballon. Rhabarber sah ihm nachdenklich nach. Sie griff gedankenvoll erneut nach dem Kuchen und biss ein Stück von ihm ab, trotzdem er wieder und diesmal lauter protestierte. Ja, es machte ihr sogar heimlich Spaß, dieses vorlaute Kuchenstück mit ganz kleinen Bissen zu verzehren.
Inzwischen schwebte Jaromir nahe der mit dunkleren Wolken bezogenen Himmeldecke und drehte sich langsam um die eigene Achse. Sein Blaues Haar schwebte wie ein Strahlenkranz um sein Gesicht. Immer wenn sein Kopf zum Boden zeigte, fiel ihm der Bart über seinen Mund und die Nase, dann nieste Jaromir. Zeigte sein Kopf wieder nach oben, sackte der Bart auf seine Brust und Jaromir spuckte die kleinen, abgebissenen Bartstücke wieder aus.
Rhabarber sah eine Weile diesem Spektakel ruhig zu, verzehrte nacheinander jeden der um Hilfe rufenden Kuchen und bediente sich an Jaromirs Tee. Schließlich stand sie auf, schnippte einmal mit drei Fingern und Jaromirs Aufstieg verwandelte sich in einen Fall.
Mit einem lauten Gepolter krachte der Zauberer auf seinen Stuhl und dieser zerbrach unter soviel roher Gewalt. Rhabarber beugte sich vor, um nachzusehen, ob der Zauberer außer dem Stuhl noch etwas zerbrochen hatte, doch da erhob er sich bereits wieder. Mit einer Hand hielt er sich den Rücken, mit der anderen rieb er sich über eine bereits im wachsen begriffenen Beule dicht über seinem rechten Auge.
"Verdanken Sie das hier auch dieser Maus?" fragte Rhabarber und konnte sich ein kleines schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.
"Ach! Ich weiß gar nicht, was so schlecht an der Wahrheit ist. Sie ertragen sie ja auch auch, oder?"
"Naja, mir haben Sie ja auch nicht ins Gesicht gesagt, dass die Warze, die eigentlich verschwinden sollte, noch immer da ist und noch dazu gewachsen war! Ich glaube, dann hätte ich Ihnen meinen Besen auf den Kopf geschlagen. Vielleicht hätten Ihre Haare wieder Normalfarbe angenommen!"
"Sie hätten Ihren Besen ...?" fragte Jaromir und hielt in seinen Bewegungen inne.
"Naja, wenn nichts anderes gewirkt hätte? Wie kann man auch einer Frau ins Gesicht sagen, dass ihr Schönheitsfehler zugenommen hat? Wo doch angebracht wäre, ihr das Gegenteil zu sagen!"
"Die Zwettelmaus ist keine Frau, sondern meine Nachbarin. Und wenn die Warze nicht verschwunden ist, kann ich ihr nicht das Gegenteil sagen!"
Rhabarber verdrehte die Augen. Sie deutete auf das leere Teller und meinte, während sie sich wieder setzte:
"Tut mir leid, während Sie da oben Ball gespielt haben, habe ich hier unten Ihre köstlichen Maulbeertaschen verzehrt. Trotz des heftigen Geschreis!"
"Ach, das ist halb so schlimm. Ich lasse mir schnell neue schicken!" Ehe Rhabarber protestieren konnte, rief Jaromir :
"Momantum rumum!" Und sogleich war der Teller wieder befüllt. Jaromir machte eine schnelle Handbewegung, der Sessel setzte sich sogleich wieder zusammen und war - schwuppdiwupp - wieder heil. Jaromir zog ihn an sich heran, setzte sich und griff nach einem Kuchen. Rhabarber verzog das Gesicht, sie erwartete, dass auch dieser Kuchen nach Hilfe schreien würde. Doch er war so stumm, wie Maulbeertaschen sonst auch sind. Gleich danach griff Jaromir nach seiner Tasse und schlürfte den nächsten Schluck abermals geräuschvoll in sich hinein.
"Muss das sein?" fragte Rhabarber und verzog wieder das Gesicht, als hätte sie die ärgsten Zahnschmerzen.
"Aber natürlich! Nur so kommt das ganze Aroma zur Geltung!" Jaromir wunderte sich, dass die sonst so kluge Rhabarber dies nicht wusste.
"Was ich Sie bereits die ganze Zeit fragen wollte, mein lieber Jaromir. Sie haben doch diese Erfindung gemacht! Wobei ich mich frage, was das wohl für eine Erfindung sei?"
"Mm. Ich finde, Sie sind ziemlich durcheinander, gute Frau. Erst fragen Sie mich, dann fragen Sie sich! Ja was denn nu'? Mich oder sich?" Jaromirs Augen glitzerten vor verhaltenem Spott. Rhabarber, die eben nach ihrer Tasse greifen wollte, ließ ihre Hand wieder sinken, ihre Kinnlade klappte nach unten und sie starrte kurz wortlos den Zauberer an. Dann schloss sie den Mund, schluckte ihre Erwiderung auf Jaromirs Spott hinunter und nickte.
"Ja, gut. Ich frage Sie, mein bester Jaromir. Also, was ist diese Erfindung? Ich weiß, ich bin jetzt in Ihren Augen ein sehr neugieriges Weib, aber es würde mich wirklich brennend interessieren, was das ist. Obwohl ich mich frage ...!" Rhabarber unterbrach sich, als Jaromir kicherte.
"Schon wieder? Na schön, ich bin sowieso gleich fertig, dann zeige ich Ihnen das gute Stück. Möchten Sie noch etwas?"
"Danke, nein. Die Maulbeertaschen haben gut geschmeckt und Ihre Teekreation war meisterlich, wie immer. Allerdings ist Ihr Salon hier das absolute Meisterstück!"
"Das freut mich, dass dies hier Ihren Beifall hat. Ja, ich bin auch wirklich stolz darauf!" Jaromir nickte, stellte die Tasse, aus der er den letzten Schluck getrunken hatte, auf den Tisch zurück und stand auf. Mit einem auffordernden Winken zu Rhabarber, ihm zu folgen, verließ er den Salon und begab sich wieder in seinen Arbeitsraum. Rhabarber war nun schon sehr gespannt, auf diese Erfindung.
Jaromir griff nach der Kugel und ließ sie auf den Boden fallen. Sie sprang auf und ...!
"Wo ist denn nun Ihre Erfindung?"
"Genau hinter Ihnen, gute Frau!"
"Hinter mir?" Rhabarber zog ihre Brauen zusammen. Sie wandte den Kopf und sah genau ihrem Gesicht gegenüber ein großes, blaues Auge schweben.
"Hach! Was ist das denn?" rief sie und machte einen erschrockenen Schritt beiseite.
"Das, meine liebe Frau Rhabarber, das ist meine Erfindung!"
"Ein Auge? Wollen Sie sich das Auge dann einsetzen, wenn Ihre Nachbarin wieder etwas an Ihnen verändert?"
"Warum sollte ich das tun?" fragte Jaromir erstaunt. Dann zuckte er die Schultern, ließ Rhabarbers Frage auf sich beruhen und fuhr fort:
"Das ist das 'Fliegende Auge'. Es fliegt überall hin und sendet mir dann die Bilder, die es sieht. So brauche ich mein Haus hier nicht zu verlassen und war trotzdem überall zu Besuch. Demnächst habe ich vor, auch ein Ohr zu erfinden. Denn man sieht den anderen reden, hört oder versteht ihn leider nicht. Ich habe bereits versucht, das Auge mit einem Ohr zu verbinden, aber das Ohr ist mir damals abgehauen. Und dann hat es sich ein Falke gekrallt und an seine Jungen verfüttert. Das waren vielleicht grausige Geräusche. Und zu diesem Zeitpunkt kam die Zwettelmaus mit ihrer dummen Warze dazwischen. Da hatte ich natürlich keine Nerven mehr, dieses Ding klein zu reden!"
"Das kann ich verstehen!" sagte Rhabarber, obwohl sie es nicht verstand. Aber als sie die Trauer in Jaromirs Gesicht über den Verlust des komischen Ohres sah, wollte sie ihn wenigstens ein wenig aufmuntern.
"Nun, ich möchte Sie jetzt nicht länger aufhalten, ich war ja auch nur auf Durchreise hier. War interessant, mit Ihnen zu plaudern. Und das nächste Mal nicht wieder jemanden ins Gesicht zu sagen, was man tunlichst verschweigen soll!"
"Sie werden doch jetzt nicht schon wieder gehen? Was haben Sie denn heute noch vor?"
"Nun ja, ich sollte mich langsam nach einem geeigneten Nachtquartier umsehen. Und ich gehe nicht, ich fliege. Denn ich mache ja Urlaub!"
"Nun, da könnte ich Ihnen das 'Gasthaus zur schielenden Eule' empfehlen. Die haben meistens Zimmer frei und so nette Gäste, wie Sie, sind immer willkommen!"
"Das kostet aber sicher was. Denn umsonst ist der Tod!"
"Ist nicht so teuer, wenn Sie sagen, Sie wurden von mir empfohlen!"
Rhabarber nickte, schüttelte Jaromir die Hand und drehte sich um, um gleich darauf einen schrillen Schrei aus zustoßen. Dann stemmte sie die Arme in die Hüfte und wandte sich erneut an Jaromir:
"Geben Sie das dumme Ding wieder in die Silberkugel. Sonst kann ich heute Nacht nicht schlafen. Dann träume ich womöglich von diesem Auge!"
"Oh ja! Entschuldigen Sie. Das habe ich ja ganz vergessen! Huschmusch!"
Das Auge, das bisher starr auf Rhabarber gestarrt hatte, wandte den Blick ab und flog schnurstracks zu der Kugel, die in zwei Hälften zerbrochen am Boden lag. Kaum war das Auge in der einen Hälfte zur Ruhe gekommen, schloss sich die andere Hälfte und die Kugel war wieder heil. Sie schwebte zum Tisch und ließ sich darauf nieder.
Rhabarber atmete erleichtert auf, schnappte sich ihren Besen, hing sich die Tasche um und verließ Jaromirs Haus. Sie sah kurz zum Himmel, als ihr die Sache mit dem Hunderegen einfiel. Jaromir war ihr gefolgt und sagte;
"Also das 'Gasthaus zur schielenden Eule'. Es ist nicht zu verfehlen!"
"Ich danke Ihnen für alles. Auch für die interessante Sache mit dem Auge. Obwohl das weniger meine Sache ist, von einem einzelnen Auge angestarrte zu werden!" Rhabarber stieg auf ihren Besen und machte sich reisefertig.
"Ja, jedem das Seine. Und nicht vergessen, mich als Empfehlung zu erwähnen!" rief Jaromir der bereits langsam davon schwebenden Hexe nach. Rhabarber atmete erleichtert auf. Sie war froh, dem Blick des seltsamen Auges entkommen zu sein. Noch nachträglich lief es ihr kalt den Rücken hinunter.
Doch Rhabarber war kein Freund von lange nachhängenden Gedanken, eher einer von schnellen Entschlüssen und so machte sie sich zu dem Gasthaus auf. Sie hatte schon öfters davon gehört und wusste auch, wo es ungefähr lag. Und es befand sich wirklich in der Nähe zu Jaromirs Haus. Jetzt Luftlinie gerechnet. Mit einem leisen Zungen schnalzen spornte sie ihren Besen zu einer schnelleren Flugart an und schon nach kurzer Zeit, sie hatte eben den Wald und auch die große Wiese überflogen, die sich an Jaromirs Haus anschlossen, konnte sie den Rauch sehen, der sicher aus den Schornsteinen kam.
Es dauerte auch nicht lange, hatte sie die dicke Eiche erreicht, in dessen Stamm das Gasthaus eingebettet war. Vor der Eiche standen bereits eine Reihe von Besen aller Art. Gelächter und hin und wieder der Duft nach heißem Essen drang an Rhabarbers Nase und Ohr. Sie landete, stieg ab, band den Besen neben einem wie ein Staubwedel geformten Besen an und schulterte ihre Tasche etwas höher. Dann stieß sie die Tür auf.
Ein Dunstgemisch aus Essen, Wein und Pfeifenrauch schlug ihr entgegen und nahm ihr sekundenlang den Atem. Sie wedelte mit der Hand durch die Luft und sofort verzog sich der Rauch und der Geruch nach verschüttetem Wein und angebranntem Essen verschwand.
"He, Alte! Tür zu!" rief eine rostige Stimme aus der Tiefe der Gaststube.

"Was denn, Jüngelchen! Ziehts dir zu viel?" rief Rhabarber in die Gaststube und verzog das Gesicht, als Gelächter aufbrandete. Der Rufer schien nicht sehr geschätzt zu sein, bei den Gästen.
"Setz dich und sag mir, was ich für dich tun kann, Muttchen!"
Rhabarber wandte sich nach dem Sprecher um und nickte. Hinter ihr stand der Wirt, spindeldürr und mit einer großen Warze auf seiner Hackennase. Vier Haare sprossen daraus. Er hatte die obligatorische Wirtsschürze über seinem blau-rot gemusterten Hemd und der grauen Hose. An den Füßen trug er Schuhe, deren Spitzen sich nach oben bogen. In der rechten Hand trug er einen großen Krug, aus dem der Geruch nach frischem Bier in Rhabarbers Nase stieg. Sie deutete darauf mit dem Kopf und meinte:
"Wie wäre es mit einem Schluck daraus?"
"Na meinetwegen. Aber dann solltest du dir einen Platz suchen, am besten neben dem Ofen und bestellen."
"Klar, das werde ich dann!" Rhabarber griff nach dem Krug, führte ihn zum Mund und trank mit langen, durstigen Zügen. Als sie ihn wieder absetzte und dem Wirt zurück gab, meinte sie:
"Ja, das war jetzt gut. Etwas zu Essen und ein Nachtlager wären jetzt auch nicht schlecht!"
Der Wirt sah in den Krug und schließlich hob er sein Gesicht und starrte erstaunt Rhabarber an.
"Muttchen, du hast einen Zug, wie ein Holzknecht! Das war ein Krug, der nie leer wurde. Jetzt ist er total leer!"
"Tut mir leid, aber ich hatte Durst. Kannst du ihn nicht wieder füllen?"
"Nicht ehe Wendel wieder kommt. Er weiß den richtigen Spruch, um ihn wieder zu füllen!"
"Hast du nur den einen Krug? Dann wäre deine Wirtschaft aber sehr arm dran!" Rhabarber sah sich suchend um und kaum hatte sie die angebotene Stelle neben dem Ofen entdeckt, kurvte sie auch schon um die Stühle und die darauf sitzenden Gäste herum und ließ sich aufatmend auf die breite Bank plumpsen, die mit dicken Kissen belegt war. Angenehme Wärme strömte über breite Lüftungsschlitze aus dem Ofenkörper in die Gaststube und Rhabarber sah sich neugierig um. Es waren sehr illustre Gäste anwesend. Zauberer, Hexenmeister, Anwärter und auch einige Hexen mit krausem, schwarzem Haar und der obligatorischen Hakennase.
Es dauerte nicht lange, da trat ein junges Mädchen zu Rhabarber und stellte ein Holzbrett vor sie hin. Darauf lagen dicke Stücke einer harten Wurst, zwei Dreiecke Käse, acht Pilze, die leicht nach Zimt rochen und außerdem noch zwei Äpfel, drei Birnen und ein kleines Stück einer Riesenmarkbeere. Das Mädchen knickste als sie wieder ging und Rhabarber griff herzhaft zu.
Manch ein Blick blieb an ihr haften und Augen wurden groß vor Überraschung, als Rhabarber mit ihrer Mahlzeit in kürzester Zeit fertig war. Sie lehnte sich satt zurück und zuckte zusammen,als ein unanständiger Rülpser zwischen ihren Zähnen aus dem Mund floh. Lautes Gelächter antwortete.
"Tut mir leid!" sagte Rhabarber, doch ihr Tischnachbar winkte nur ab.
"Du brauchst dich nicht entschuldigen, Frau. Dein Rülpser ist unserem Wirt ein Zeichen, dass es dir geschmeckt hat."
"Na ja, es war schon gut. Doch gegen einen guten Kaffee hätte ich jetzt auch nichts einzuwenden!"
"Oder einen Krug Bier!" rief eine laute Stimme von weiter weg.
"Oder einen Krug Bier!" bestätigte Rhabarber und lachte leise.
"Tut mir leid, das Bier ist alle. Wein kann ich anbieten!" sagte der Wirt von der Theke her, wo er die benützten Trinkbecher auswusch.
Rhabarber dachte kurz nach, dann winkte sie ab und stand auf.
"Nein danke, Wirt. Keinen Wein. Aber ein Nachtlager würde ich jetzt nicht verachten!"
"Das kleine Zimmer unter dem achten Ast hätte ich noch frei!"
"Das werde ich nehmen. Ach so, ich soll schöne Grüße von Jaromir ausrichten und ich komme auf seine Empfehlung hin!"
"Jaromir? Was hat er denn jetzt wieder ausgefressen, dass er dich hierher mit seiner Empfehlung schickte?"
"Ach nichts eigentlich. Nur seine Nachbarin hat er etwas böse gemacht und ein fliegendes Auge erfunden!"
"Da Jaromir dich empfahl, habe ich da noch das Zimmer meiner jüngsten Tochter. Möchtest du dieses für heute Nacht?"
"Und wo schläft diese?"
"Sie übernachtet im Dorf. Bei ihrer Freundin. Also ihr Zimmer wäre frei!"
"Ich danke dir, Wirt! ich nehme es gerne an. Ich werde nur eine Nacht bleiben!"
Rhabarber erhob sich, nahm ihre Tasche und folgte dem Mädchen, das plötzlich neben ihrem Tisch erschienen war. Sie wurde durch die Schankstube geführt, dann zwei Treppen nach oben und vor einer roten Tür mit Zuckerglasscheibe blieb das Mädchen stehen. Sie öffnete die Tür und knickste.
"Gute Nacht!" wünschte sie und lief die Treppe wieder hinunter. Rhabarber sah ihr kurz nach, dann betrat sie das Zimmer. Es war sehr karg eingerichtet. Ein Schrank, ein schmales Bett und ein kleiner Nachttisch neben dem Bett war das gesamte Mobiliar. Rhabarber stellte die Tasche auf den Boden neben die Tür, schloss diese und ließ sich dann aufs Bett fallen. Ehe Rhabarber es noch begriff, war sie eingeschlafen.

Der neue Morgen steckte noch in den Kinderschuhen, als Rhabarber die Augen aufschlug, herzhaft gähnte und sich streckte, dass die Knochen knackten. Sie hatte wunderbar geschlafen, nichts geträumt und hatte Lust, ihren wohl verdienten Urlaub weiterhin mit vollen Zügen zu genießen. Rhabarber schwang ihre Füße vom Bett und merkte erst jetzt verwundert, dass sie sich am Vorabend scheinbar nicht entkleidet hatte. Doch dann zuckte sie die Schultern und packte ihre Tasche, die am Fußende des Bettes lag und begab sich hinunter in die Wirtsstube.
Als sie die Türe dazu öffnete, stieg ihr starker Kaffeeduft in die Nase. Unwillkürlich leckte sich Rhabarber über die Lippen. sie betrat die Stube und sah, die Stühle standen auf den Tischen und diese waren bereits säuberlich abgeräumt. Der Boden war ebenfalls schon gereinigt und roch etwas nach Seifenwasser. Rhabarber setzte sich wieder neben den Ofen. Dann steckte sie zwei Finger in den Mund und stieß einen lauten Pfiff aus. Es dauerte nur wenige Augenblicke, da kam der Wirt aus dem Boden. Erst jetzt bemerkte Rhabarber, dass neben der Theke eine offene Falltüre lehnte, die scheinbar in den Keller führte. Der Wirt wischte sich an seiner frischen Schürze die Hände ab und nickte Rhabarber freundlich zu.
"Der Kaffee wird gleich serviert, gute Frau. Habt noch etwas Geduld. Die Mia, meine Gute, hat schon frisches Brot gebacken und die Pfaueneier benötigen noch etwas, bis sie die richtige Weichheit erreicht haben. Oder willst du sie hart?"
"Nein, nein. Das ist schon recht so. Aber du brauchst dich nicht so bemühen, Herr Wirt!"
"Das mache ich doch gerne, Muttchen. Ich hatte schon lange keinen so angenehmen Gast im Haus, wie dich. Solltest du wieder in diese Gegend kommen, kannst du jederzeit wieder dein Quartier hier nehmen!" Der Wirt nickte bekräftigend und begab sich zurück zu der Falltür. Diese schloss er nun leise, wandte sich dann dem Kaffeekocher zu und befüllte eine große Tasse. Ein Klingeln ertönte und hinter dem Wirt wurde eine undurchsichtige Scheibe weg geschoben, ein Tablett durch gereicht, auf dem sich einige Brotstücke befanden, appetitlich dünn geschnitten, ein kleines Butterfass, Besteck und die erwähnten Pfaueneier. Das und die große Kaffeetasse brachte nun der Wirt Rhabarber und wünschte ihr noch einen "Guten Appetit"!
Das ließ sich Rhabarber nicht nochmal sagen und machte sich über das Frühstück her. Es dauerte dann auch nicht lange, da war das Tablett bis auf die Tasse leer und Rhabarbers Magen voll. Sie stand auf, strich sich noch einmal zufrieden über den nun sichtbar gewölbten Bauch, nickte dem Wirt freundlich zu und ging nach draußen. Ihr Besen stand einsam nun vor dem Gasthaus. Sie verstaute die Tasche darauf, schwang sich danach ebenfalls auf den Besen und nach einer Ehrenrunde über das gastfreundliche Haus flog sie weiter. Der aufgehenden Sonne entgegen.
Während Rhabarber nun so in den Morgen flog, der Wind an ihrem kopftuch rüttelte und ihr manch ein Tränlein in die Augen drückte, dachte sie nach, was sie als nächstes tun könnte. Sie hielt den Besen in der Luft an, als dünne Melodiefetzen an ihr Ohr drangen. Gleich darauf flog sie diesen Fetzen entgegen und es dauerte nicht lange, sah sie auch den Grund dafür. Auf einer großen Wiese standen viele bunte Zelte und dazwischen befanden sich kleine Bretterbuden. Viele Menschen liefen dazwischen herum. Ein großes Rad mit seltsamen Häuschen, die daran hingen, drehte sich und Rhabarber bekam Spaß, sich auf eines der Dächer nieder zu lassen. Sie sah, etwas abseits stehend, eine hohe Statue und eben schlug ein kräftiger Mann mit einem Hammer drauf. Ein Stein flog in die Höhe und ein heller Glockenschlag zitterte zu Rhabarber hoch. Eine kleine Menge Menschen und auch ein Häufchen Kinder hatte sich bei der Statue versammelt und jetzt jubelten alle. Neugierig flog Rhabarber näher und landete schließlich hinter dem letzten, der immer wieder in die Höhe sprang, da er nichts sehen konnte. Rhabarber grinste und überlegte kurz, ob sie ihn beim Kragen packen sollte und auf den Besen heben, doch dann ließ sie es sein. Sie wollte ihn schließlich nicht erschrecken. Mit dem Verkleinerungsspruch verkürzte Rhabarber nun den Besen, steckte ihn in ihre Tasche und drängte sich durch die Menge. Seltsam bereitwillig machte man ihr Platz und bald stand sie genau hinter jenem Mann, der erneut auf den Fuß der Statue schlug und den Stein nach oben trieb, wo er diesmal volltönig und laut an die Glocke schlug. Der Beifall brandete auf und der Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Rhabarber drängte sich wieder durch die Menge, doch diesmal weg von dem Hammermann und sah sich um. Ihr Auge fiel auf ein blaues Zelt, das etwas weiter von ihr entfernt stand. Der Eingang des Zeltes war mit einem ebenfalls blauem Vorhang verschlossen. Darauf befanden sich viele Sterne und etliche Sonnen sowie vier verschieden farbige Monde. Rabarber grinste erfreut, als sie neben dem Zelteingang die kleine Fahne bemerkte. Auf blauem Grund ein rotes Auge. Zügig machte sich Rhabarber auf den Weg zu dem Zelt und schlug den Vorhang zurück. Sie bückte sich und betrat das Zelt.
Innen war es dunkel und ein leichter Geruch nach Salbei und Zimt erfüllte die Luft. Es befand sich ein runder, kleiner Tisch darin, zwei Sessel mit dem Tisch dazwischen. Über den Tisch war eine Decke mit silbernen Sternen gebreitet und auf einem durchsichtigen runden Gestell lag eine mit bunten Wirbeln gefüllte Kugel. Aus einem durch eine silberne Decke abgeteiltem Abteil des Zeltes drang eine sanfte Stimme:
"Nehmt schon mal Platz! Die Dame Aureola wird sich sofort um Ihre Belange kümmeren!"
Rhabarber nickte und grinste mehr. Sie freute sich schon auf die Augen, die Aureola machen würde, wenn sie ihre Schwester hier im Zelt sitzen sehen würde.
Es dauerte nicht lange, da bewegte sich die silberne Decke und eine ältere Frau mit langem weißem Haar, gekleidet in ein langes, grünes kleid auf dem geheimnisvolle fremdartige Blumen gestickt waren, kam herein. Rhabarber hatte sich inzwischen gesetzt und sah der eingetretenen 'Dame Aureola' neugierig entgegen. Die dunklen Augen Aureolas weiteten sich, als sie ihre Kundin erkannte. Sie riss freudig die Arme auseinander und rief - wenig damenhaft:
"Bei allen wilden Klabautermännern! Rhabarberlein! Was führt dich, altes Hexengestell, in mein bescheidenes Arbeitshaus?"
"Ich mache Urlaub!" erwiderte Rhabarber und stand auf. Die Tasche hatte sie neben sich auf den Boden gestellt. Jetzt ging sie um den Tisch herum und nahm ihre jüngste Schwester in die Arme und diese begann lautstark vor Freude und Rührung in Rhabarbers Hals zu schluchzen. Es dauerte eine Weile, bis sich Aureola beruhigt hatte und Rhabarber wieder auf dem Stuhl Platz nehmen konnte. Aureola wischte sich mit einer Hand über die feuchten Augen und schniefte durch die Nase. Rhabarber sah sich um und meinte, mit einem leichten Nicken:
"Hübsch hast du's hier, Herzkind!"
"Danke. ich bin zufrieden! Die Arbeitsbedingungen sind erträglich und mein Mann ist ein herzensguter Freund."
"Ach ist Hanno auch hier?"
"Ja, er ist der 'stärkste Mann der Welt'. Und seine kleine Schwester hat er diesmal in seinem Vertrag dazu genommen!"
"Hanno hat eine Schwester?" Das war Rhabarber neu.
"Na ja, eigentlich ist sie die Schwester von einem Freund, aber der ist vom Seil gestürzt und darf nun nicht mehr Seiltanzen. Aber Majora wollte unbedingt mit kommen, so hat Hanno sie als seine Schwester ausgegeben. Es ist ja auch für einen guten Zweck, denn Hanno gibt sein verdientes Geld Majoras richtigem Bruder. So kann sich die Familie am Leben halten."
"Und was macht diese Majora?" fragte Rhabarber, der etwas schwindlig geworden war, bei den Erklärungen Aureolas.
"Das ist die Dame ohne Unterleib!"
"Igitt! Hat sie wirklich keinen Unterleib?" fragte Rhabarber und versuchte sich vorzustellen, wie es wohl sein mochte, nicht sitzen oder stehen zu können.
"Doch, aber da sie das Kleid ihrer Großmutter meist anhat und die eine Riesin gewesen war, sieht es so aus, als hätte sie keinen Unterleib!"
Rhabarber atmete erleichtert auf.
"Und du machst Urlaub?" fragte Aureola und strich leicht über die Kugel auf dem Tisch. Rhabarber nickte und öffnete den Mund, um von ihren Abenteuern zu erzählen, doch da wurde ein Vorhang zur Seite gerissen und ein spindeldürrer Mann in einem schwarzen Anzug, der am Körper des Mannes schlotterte, trat ins Zelt. Sein Blick aus unergründlich schwarzen Augen fiel auf Rhabarber und da sein schmales Gesicht sehr bleich war, begann es dunkelrot zu glühen, als er errötete. Rhabarber grinste, als sie ihm zunickte.
"Hallo, Hänselmann! Auch wieder einmal bei der Gruppe?"
Der schwarzgekleidete Hänselmann grinste erfreut, dabei legte sich sein Gesicht in eine Vielzahl von Falten und es sah kurz aus, wie ein sehr zerknittertes Taschentuch. Rhabarber streckte die Hand aus und Hänselmann beugte sich darüber. Seine Lippen berührten kaum die Haut Rhabarbers, dann richtete er sich wieder auf und meinte mit einer Stimme, die so gar nicht zu seiner Gestalt passte. Sie war tief und volltönig.
"Also hat meine liebe Freundin Rhabarber wieder einmal zu ihrer Schwester gefunden!"
"Tja, lieber Hänselmann, ich mache Urlaub. Dabei hatte ich endlich Zeit und Gelegenheit, Aureola zu besuchen. Wenn ich allerdings gewusst hätte, dass Sie auch hier zu finden sind, hätte ich euch schon früher aufgesucht!" Rhabarber blickte kurz zu ihrer Schwester, dann grinste sie Hänselmann an.
"Kommen Sie heute in unsere Vorstellung?"
"Ich hätte nichts dagegen. Was ist denn Ihre Aufgabe, lieber Hänselmann?"
"Ich bin der Zauberer. Wie bei jeder Fahrt, Wissen Sie schon, wo Sie unterkommen werden?"
"Ach, ich denke, nach der Vorstellung werde ich mich wieder auf den Flug machen. Und irgendwann sollte ich auch wieder nach Hause, zu meinem kleinen Häuschen!"
"Schade. Meine Molly wäre begeistert, Sie näher kennen zu lernen. Sie können sich an Molly noch erinnern?"
Rhabarber nickte. Oh und ob sie sich an die bärtige Dame Molly erinnerte. Sie konnte sich auch noch an den Schrecken erinnern, als Mollys Bart plötzlich schütter wurde und ihr buchstäblich von den Wangen fiel. Zum Glück war ein Arzt in der Nähe und dieser hatte Molly damals Vitamintropfen verschrieben. Danach wuchs ihr ein Bart, der schöner und dichter war, als jener vorher.
"Wie geht es denn Molly?"
"Wir sind seit vergangenem Jahr stolze Eltern von Schwanenkind. Das Mädchen hat einen so entzückend langen Hals, dass sie ihn beinahe zweimal über ihren Körper ziehen könnte, wenn sie ihre Nummer übt. Aber sie ist ja noch so klein und darum achtet Molly darauf, dass sie sich ihren Schwanenhals nicht zuviel verbiegt!" Stolz klang aus Hänselmanns Stimme. Aureola sah langsam ungeduldig zu ihm und meinte:
"Was wolltest du denn vorhin von mir? Du bist ja hier herein geflattert, wie der buchstäbliche Strich in der Landschaft!"
"Ja, also, ich wollte fragen ...!" Hänselmanns Gesicht verzog sich vor Anstrengung, sich zu erinnern, was er eigentlich gewollt hatte. Schließlich zuckte er die Schultern und meinte lakonisch:
"Vergessen!"
Rhabarber winkte ab und meinte:
"Dann gehen Sie nochmals dorthin zurück, wo Ihnen die Frage eingefallen ist und vielleicht kommt sie wieder in Ihr Gedächtnis. Doch dann bin ich schon wieder weg. Also, lassen Sie mir schön Molly grüßen und Ihrem Schwanenhalsmädel geben Sie einen Kuss von mir. Hat mich wirklich gefreut, Sie wieder zu sehen, Hänselmann!"
"Danke schön, liebste Frau Rhabarber. Hat mich auch gefreut, Sie wieder zu sehen. Und jetzt werde ich wieder zurück gehen, vielleicht fällt mir ja wirklich ein, was ich wollte!" Hänselmann hob kurz eine Hand zum Gruß und verließ das Wahrsagerzelt. Rhabarber nickte und meinte:
"Ein lieber Mann, der Hänselmann! Und noch immer so spindeldürr wie eh und je!"
"Du wirst doch erst nach dem Auftritt wieder fliegen, oder? Ich meine, weil du dich bereits verabschiedet hast, von Hänselmann!"
"Ja natürlich. Doch Hänselmanns Auftritt kann ich mir nicht entgehen lassen. Aber wir werden danach nicht mehr zusammen kommen können, daher habe ich mich schon einmal verabschiedet. Du weißt ja, alles andere wäre unhöflich!"
Aureola nickte. Ja, so war ihre Schwester Rhabarber nun mal!
Rhabarber stand auf, drückte ihre Schwester herzlich an sich und verließ dann das Zelt. Ein Duft nach gebrannten Mandeln und Honigschleckereien lag in der Luft und die lauten Stimmen der einzelnen Budenbesitzer mischten sich mit den Kreischen der Kinder am Teufelsrad und den verschiedenen Musikfetzen, die an Rhabarbers Ohr flogen. Rhabarber begab sich zu einem der Stände, die Lebkuchenherzen verkauften und sah sich die angebotene Ware an. Ein Herz fiel ihr besonders in die Augen. Es war etwas verzerrt und das Band war auch an den Rändern ausgefranst. Die Schrift war zerlaufen, doch man konnte noch lesen: "Herz ... Binkerl .... Mund!"
"Tut mir leid, gute Frau, dass ich das häßliche Ding noch nicht entsorgt habe, aber das hat meine kleine Tochter gemacht und ich hätte es nicht übers Herz gebracht!" Die Budenbesitzerin sah Rhabarber neugierig an.
"Ach, das macht doch nichts. Es ist jedenfalls sehr interessant. Wie alt ist denn Ihre Tochtrer?"
"Oh, die Lisa ist ein Jahr. Und weil sie so schön schreiben kann, habe ich ihr dieses Herz beschriften lassen. Aber dann ist ein kleines Malheur passiert, der Zucker hat sich nicht spinnen lassen und darum ist die Schrift so zerronen!"
"Na, für so ein kleines Kind ist das aber eine tolle Leistung. Was kostet denn das Herz? Auch wenn es nicht schön aussieht, so wird es doch wenigstens gut schnmecken!"
"ja, schmecken wird es sicher gut. Aber verkaufen kann ich es nicht. Da wäre die Lisa traurig!"
Rhabarber warf der Frau einen erstaunten Blick zu.
"Ja, warum haben Sie es denn da hängen?"
"Damit es mich immer an meine kleine Lisa erinnert!" die Frau nickte und ihre grauen Augen füllten sich mit Tränen. Ihr ebenfalls graues Haar hatte sie unter einem bunten Kopftuch versteckt, das sie sich jetzt besser aus dem Gesicht zog. Ihre Wangen waren voll und stark gerötet. Ihre Nase hatte einen kräftigen Knick dem Mund zu und Rhabarber hätte sich nicht gewundert, wenn sie eine Hexe gewesen wäre. Aber dann wäre es eine ganz gute gewesen. Keine Knuddelhexe wie Rhabarber, eher eine Lebkuchenherzhexe. Unwillkürlich musste Rhabarber grinsen. Die Budenfrau erwiderte das Grinsen und ihre Augen waren wieder blank und ohne Tränen.
"Wollen Sie etwas anderes? Kandierte Äpfel? Oder Honigkuchenpferde?" wurde Rhabarber gefragt. Kurz dachte sie nach, dann nickte sie.
"Die Honigkuchenpferde würden mir zusagen!"
"Gerne!" Die Lebkuchenherzhexe wandte sich ab, holte aus einer der Ecken eine größere Tüte und steckte ein braunes Honigkuchenpferd hinein. Dann reichte sie die Tüte Rhabarber, die bereits nach etwas Geld suchte. Doch die Budenfrau winkte ab und meinte nur:
"Lassen Sie mal stecken. Das schenke ich Ihnen, weil Sie so nett über meine Lisa gesprochen haben!"
Rhabarber bedankte sich artig und nahm die Tüte entgegen. Kurz hatte sie den Eindruck, als würde sich das Pferd darin bewegen, doch da sonst nichts passierte, vergaß sie es wieder. Rhabarber verabschiedete sich von der freundlichen Lebkuchenherzhexe und ging weiter. Immer wieder wurde sie von den anderen Besuchern angerempelt oder einige stolperten auch über ihre Schuhe. Und immer dann bewegte sich das Pferd in der Tüte.
Während Rhabarber nun sich so zwischen den zahlreichen Besuchern durch drängte, dachte sie nach, wie sie wohl zu Hänselmanns Zaubererzelt kommen würde. Plötzlich zupfte sie etwas am Rock und als sie sich umdrehte, um nachzusehen, wer da wohl so frech war, erblickte sie einen kleinen Mann mit einer riesigen Feder auf seinem Hut. Weiters hatte er eine rote Jacke an und blaue Hosen. An den Füßen trug er rote Stulpstiefel und er hatte in seinem Gesicht, das ganz mit Fell bedeckt war einen großen, weißen Schnurrbart. Rhabarbers Mund öffnete sich fassungslos, dann lachte sie los.
"Ja, Hänschen Katerpfote! Was machst du denn hier?"
Über das Pelzgesicht lief ein belustigtes Lachen.
"Na was denkt Ihr denn, Frau Rhabarber?" erwiderte Hänschen Katerpfote, der in einem Märchenspiel den gestiefelten Kater zum Besten gab.
"Nun, ich dachte, du wärst noch beim König in Neuhaus!"
"Ach, das ist doch schon lange her!" rief Katerpfote und winkte ab. Seine Nase begann zu zucken und er trat dichter an Rhabarber heran.
"Was habt Ihr denn da in dem Sack?"
"Da habe ich ein Honigkuchenpferd. Das hat mir die nette Lebkuchenherzhexe geschenkt!"
"Habt Ihr damit etwas bestimmtes vor? Wollt Ihr damit etwa weiterreiten?"
"Was sind das denn für dumme Ideen?" fragte Rhabarber und drehte sich entrüstet nach einem Mann um, der sie beinahe umgeworfen hatte.
"Na? Keine Manieren der Herr?"
"Na? Keinen anderen Platz zum Tratschen mit einem Pelzgesicht, die Dame?" erwiderte der Mann und ging weiter. Rhabarber blieb vor Staunen der Mund offen. Also, so hat noch keiner mit ihr gesprochen.
"Ach, macht Euch nichts daraus. Das ist der alte Memoran gewesen. Der Löwendompteur. Der ist zu allen so garstig. Bloß zu seinen Löwen nicht. Die hat er aufgezogen, die nennt er seine 'Babys'. Also, mich reizen diese Biester weniger!" Und Katerpfote schüttelte sich. Er hatte so seine Erfahrungen gemacht mit den Löwen. Vor allem Sultan und Nirana waren seine Lieblingsfeinde. Einmal wäre Katerpfote beinahe von Sultan verspeist worden. Im letzten Moment hatte ihn Memoran mit einem harten Tritt in den verlängerten Rücken vor Sultans Zähnen bewahrt. Er sah zu Rhabarber, die in den Beutel griff, das Pferd heraus nahm und es Katerpfote hin hielt.
"Da, kannst du haben, Hänschen!"
"Und was esst Ihr, Frau Rhabarber?"
"Ach, ich hätte es sowieso nur entweder vergammeln lassen, weiter geschenkt oder verloren. Und wenn du es verspeist, hat es wenigstens einem Freude gebracht."
Hänschen Katerpfote riß sich seinen Federhut vom Kopf und schwenkte ihn vier- fünfmal vor sich über den Boden, während er seinen schönsten Gestiefelten-Kater-Kratzfuß machte. Dann stülpte er ihn wieder auf den Kopf zurück, nahm das Pferd und schwupps war es hinter den Schnurrbarthaaren im Mund mit den weißen, spitzen Zähnen verschwunden. Ein lautes und tiefes Schnurren ließ die Bartspitzen erzittern. Rhabarber grinste. Ja, Hänschen Katerpfote war ein Naschkater!
"So, Hänschen, jetzt werde ich mir die Vorstellung von Zauberer Hänselmann ansehen und dann weiter reisen. Ich habe mir sagen lassen, Vogel Rock hat drei Junge bekommen und auch im Zaubergarten soll die Königin der Nacht vor dem Erblühen stehen. Die möchte ich alle noch besuchen, dann kehre ich heim, zu meinem kleinen Häuschen und den freundlichen Nachbarn. Sonst denken die noch, ich wäre verschollen und hätte sie alle vergessen. Dann sage ich dir schon mal Wiedersehen und nasch nicht zu viel, sonst passt dir deine Hose nicht mehr!"
"Ach nein, liebste Frau Rhabarber. Wenn ich wieder einmal aus dem Leim gehen sollte, macht mir meine Minka einen Mäuseeintopf und da nehme ich freiwillig wieder ab!"
Rhabarber nickte. Ja, Katerpfote konnte nichts mit Mäusen anfangen. Er mochte weder ihren Geschmack noch den Geruch davon. Hänschen Katerpfote verneigte sich nochmals und erst jetzt fiel Rhabarber auf, dass beinahe keine Besucher mehr zwischen den Ständen zu sehen waren. Die Budenbesitzer saßen oder lümmelten hinter ihren offenen Ständen und Buden und langweilten sich. Rhabarber beschleunigte nun ihre Schritte und schon hörte sie den Applaus und die geheimnisvoll wirkende Musik, die Hänselmanns Auftritt einleiteten. Sie lief die letzten Meter und der Aufpasser, der vor dem Zelt stand wollte sie erst nicht mehr hinein lassen. Doch als sie ihren Namen nannte, entschuldigte er sich und führte sie zum letzten freien Ehrenplatz, der für sie vom Zauberer persönlich reserviert worden war. Aufatmend ließ sie sich in den gepolsterten Stuhl sinken und richtete ihr Augenmerk auf den von einem einzelnen Scheinwerfer angestrahlten Zauberer im nachtschwarzen Umhang mit silbernen Sternen und dem schwarzen Zylinder.
Hatte man vorher noch vereinzeltes Geraschel von den Papiertüten vernommen, die viele Kinder in den Händen hielten, in denen Honigkuchenpferde, Lakritze oder süße Bonbons waren, trat nun atemlose Spannung und Ruhe ein. Der Zauberer hob den Zauberstab, wischte damit rasch durch die Luft und sofort fielen vom Zeltdach bunte Blumen und Blätter. Es sah aus wie in Gestöber, nur nicht aus Schnee. Ein Raunen lief durch die Reihen und Applaus brandete auf. Abermals wartete der Zauberer, bis wieder Ruhe eingekehrt war und wieder wischte er rasch mit dem Stab durch die Luft. Ein lauter Knall und roter Nebel, der Hänselmann einhüllte, war das Ergebnis. Kaum hatte sich der Nebel verzogen, wurden der Tisch und die Zaunumfriedung sichtbar, in deren Mitte zwei Ponys, vier Hunde und acht Hühner waren.
Rhabarber fragte sich erstaunt, seit wann Hänselmann in seine Zaubernummer Tiere miteinband, doch dann vergaß sie die Frage und ihre Augen weiteten sich. Der Stab wischte erneut durch die Luft und der rote Nebel erschien und wurde blau, grün und schließlich weiß. Als er sich verzogen hatte, war die Einfriedung leer und die Tiere befanden sich alle auf dem Tisch. Dass es sich dabei nicht um Spielzeug handelte, bewieß das eine Pony, als es plötzlich laut wieherte und einen kleinen Haufen Roßknödel fallen ließ. Ein Begeisterungssturm lief durch die Menge und Rhabarber rümpfte ihre Nase, als ihr der zu ihr ziehende Geruch verriet, dass dies wirkliche die Hinterlassenschaft des Ponys war. Abermals wurde applaudiert und Hänselmann, der immer noch sein ernstes Gesicht aufgesetzt hatte, verneigte sich. Dabei berührte sein Zauberstab - absichtlich oder nicht - eines der Hühner und es verwandelte sich in einen Schmetterling. Nacheinander verwandelte der Zauberer nun die Tiere in Schmetterlinge, die Hunde in Bienen und die beiden Ponys in Kolibris. Von allen Ecken kamen Laute, wie: Ah!" oder "Schön!" oder "Herrlich!" Rhabarber war ebenso der Meinung, wie die anderen Zuseher. Diesmal hatte sich der Zauberer Hänselmann selbst übertroffen.
Hänselmann schlenkerte mit der Hand, die den Stab hielt und alle Schmetterlinge, Bienen und die beiden Kolibris verschwanden von einem Augenblick zum anderen. Der Tisch kam zwei Schritte nach vorne und gab Hänselmann einen Stoß. Rhabarbers Augen wurden groß, als sie den Tisch beobachtete. Hänselmann drehte sich um und meinte laut:
"Was willst du denn?" Der Tisch wackelte mit den Beinen und schien zu tanzen. Hänselmann sah ihm kurze Zeit zu, dann rief er:"Tischlein deck dich!" Rhabarber hielt den Atem an und fragte sich im Geheimen, ob der Tisch das wirklich tun würde, doch da warf der Tisch die Decke, die auf ihm lag von sich, trat Hänselmann gegen sein rechtes Schienbein und verließ das Zelt. Das Gesicht des Zauberers verzog sich vor schmerz und sofort lief an der getroffenen Strelle eine riesige Beule auf. Sie wurde größer und größer, das Hosenbein platzte auf und die Beule wuchs immer noch. Schließlich platzte auch die Beule auf und ein wahrer Regen von buntem Konfetti verließ die Beule.
Zuerst wirkten die Zuschauer geschockt und irritiert, dann aber klatschten sie so begeistert, dass einige sogar von der Rangseite gefallen wären, hätten sie die darunter angebrachten Netze nicht davor bewahrt. Kurz wurde es dunkel und als das Licht wieder schien, war das Zelt von allen Überbleibseln der Zaubervorstellung gereinigt und Rhabarber konnte auch nicht eines der Konfettiblättchen entdecken. Der Zauberer Hänselmann verneigte sich, nachdem er hinter einem Vorhang, der wenige Augenblicke vorher noch nicht da gewesen war, hervor kam. Er sah jedem einzelnen Zuschauer ins Gesicht und sein Gesicht verzog sich zu einem kleinen, aber sehr seltenen Lächeln. als sein Auge auf Rhabarber fiel, wischte er wieder durch die Luft und eine kleine, rote Rose fiel auf Rhabarbers Schoß. Sie nahm sie in die Hand, roch daran und ... nieste. Mit jedem Nieser, den Rhabarber tat, flogen hunderte roter Blumen durch die Luft. Die restlichen Zuseher lachten, applaudierten und ... begannen zu niesen. Ein jeder nieste viele kleine, in allen Farben schillernde Blumen. Dieses Blumenniesen hörte erst auf, als Hänselmann dreimal in die Hände klatschte und die herum fliegenden Blumen sich zu Boden senkten und dort scheinbar zu Staub wurden. Abermals verneigte sich Hänselmann, zwinkerte Rhabarber zu und verließ das Zelt. Stürmischer Applaus und laute "Hoch"-Rufe folgten ihm. Rhabarber stand auf und verließ das Zelt. Einige der Zuschauer erhoben sich auch, doch Rhabarber achtete nicht weiter auf sie. Noch immer kitzelten einige Blüten ihre Nase und sie musste erneut niesen. Wieder stoben einige rote Blüten aus ihren Nasenlöchern, doch sie wurden rasch dunkler und fielen schließlich wie Russ zu Boden. Rhabarber griff in ihre Tasche, holte ein großes, blaukariertes Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. Sofort ließ jeder Niesreiz nach. Sie steckte es wieder zurück, holte den Besen, sagte halblaut: "Protomora" und der Besen vergrößerte sich zu seiner normalen Größe. Rhabarber sah noch einmal zurück zum Zaubererzelt, aus dem jetzt die Zuschauer kamen, bestieg den Besen, hängte die Tasche über den Stiel, schnalzte mit der Zunge und war mirnichts - dirnichts aufgestiegen und auch schon im weiten Himmelsblau verschwunden.


Während Rhabarber so dahin flog auf ihrem Besen, dachte sie zurück an die Zaubervorstellung ihres alten Freundes Hänselmanns. Als ihre Gedanken bei den Rosen angekommen waren, verspürte Rhabarber gleich darauf wieder große Lust, so recht nach Herzenslust zu niesen. Doch sie vergaß diesen Reiz, als plötzlich neben ihr ein riesiger Vogel auftauchte, sie in seine Suppentellergroßen hellgrünen Augen fasste und mit seinen ebenfalls großen Schwingen Rhabarber beinahe vom Besen wehte.
"He! Pass doch auf!" rief sie und drohte dem Vogel mit der Faust. Doch gleich darauf griff sie schnell nach dem Besenstil, denn sie kippte seitlich und nun flog Rhabarber mit dem Kopf nach unten neben dem Riesenvogel her. Dieser stieß eine Reihe von seltsam gackernden Lauten aus, bei denen Rhabarber an ein Gelächter denken musste. Sie dachte sich schnell einen "Aufsitzspruch" aus und schon saß sie wieder auf dem Besen und hing nicht mehr wie eine Traube unter ihm.
Der Vogel öffnete den Schnabel und packte den Besen bei dessen Borsten. Zuerst verfehlte er diese und rupfte den Besen tüchtig. dabei kam der Vogel aus dem Flugtakt und wäre beinahe selbst abgetrudelt. Im letzten Moment fing er sich jedoch und packte erneut den Besen. Soviel Rhabarber auch mit der Hand wedelte und schrie, der Vogel hielt den Besen unverrückbar fest und zwang diesen mit der auf ihm hockenden Rhabarber in eine andere Richtung.
Es wurde kälter und die Luft dünner. Weit vor dem Vogel und dem Besen samt Knuddelhexe tauchte ein einzelner hoher Berg auf. Er sah etwas seltsam aus, denn ihm fehlte der Gipfel. Er sah aus, als hätte ihm ein Riese diesen Gipfel weg geschnitten. Oben war er völlig eben. Auf diesen ebenen Bergteil hielt nun der Riesenvogel zu und bald erkannte Rhabarber, dass oben ein riesiges Nest lag. Statt Zweigen und Äste jedoch waren ganze Bäume verarbeitet und ausgepolstert war es mit Büschen, an denen noch die vertrockneten Wurzeln hingen. Drei grünliche, mit braunen Sprenkel versehene Eier lagen darin. Der Riesenvogel öffnete seinen Schnabel und ließ den Besen mit der Hexe ins Nest fallen. Der Schnabel des Vogels schien Rhabarbers Besen etwas beleidigt zu haben, denn dieser fiel wie ein Stein in das Riesennest und warf schließlich Rhabarber von sich.
Rhabarber fing sich zwar mit Händen und Füßen etwas ab, doch sie konnte nicht verhindern, dass sie mit einem ihrer Schuhe an das Ei, neben dem sie dicht gelandet war, etwas fester schlug. Sofort lief ein gezackter Sprung über die Schale und ein winziges Loch - gemessen an dem sonst riesigen Ei - erschien. Krächzlaute wurden hörbar und gleich darauf wurde das Loch größer gemacht und ein gebogener Schnabel mit einem gezackten Kamm über den Nasenlöchern erschien. Rhabarber sprang so schnell sie konnte auf und balancierte über die Büsche weiter von dem Ei weg.
Am Nestrand ließ sie sich erschrocken nieder und warf einen Blick in die Tiefe. Doch sie konnte nicht viel erkennen, denn dicht unter dem Nest war eine geschlossene Wolkendecke zu erkennen.
War sie denn so hoch über der Erde? Rhabarber konnte das nicht glauben. Sie stand nochmals auf, griff sich den in ihrer Nähe liegenden Besen und untersuchte ihn. Er machte einen sehr zerrupften Eindruck.
Rhabarber hob den Kopf, als ein weiteres Ei mit einem unheimlichen Krachen von unzähligen Sprüngen überzogen wurde. Und plötzlich fiel Rhabarber ein, wo sie sich befinden könnte. Dies war sicher das Nest des Vogel Rock. Und sie war als Futter für die schlüpfenden Rockkücken gedacht. Doch das würde sie sich nicht gefallen lassen. Sie würde bis zum letzten Atemzug um ihr Leben kämpfen.
"Was machst du denn für ein böses Gesicht?" fragte da plötzlich eine Stimme hinter ihr. Rhabarber zuckte zusammen und wandte sich um. Ein kleiner Mann mit einer blauen Hose und einem roten Hemd stand am Nestrand und hatte in seiner Hand einen dickeren Ast. Darauf steckte ein Apfel. Er hatte weißes Haar, das wild vom Kopf abstand und sein Gesicht hatte soviel Falten und war so zerknittert, dass nicht einmal Rhabarbers Bügeleisen geholfen hätte. Das Männchen hatte helle blaue Augen, die jetzt Rhabarber belustigt ansahen.
"Wer bist du denn?" fragte Rhabarber überrascht und sah von dem Männchen, zu dem Apfel und zu den bereits beinahe vollständig geschlüpften ersten Rockkücken.
"Ich bin der Theobald und bin der Futterknecht von seiner Ehrenhaftigkeit, Rock dem 572en. Und wer bist du?"
"Ich bin Rhabarber und auf Urlaub. ich glaube, dein Vogel Rock hat mich hierher gebracht. Wahrscheinlich soll ich an seine Kinder verfüttert werden!"
"Wieso? Hat er etwas derartiges gesagt?"
"Nein, er hätte beinahe meinen Besen gefressen und hat mich dann hier abgeworfen!"
"Woraus ist denn dein Besen? Hat er Pflanzenteile?"
"Ja, sicher. Er ist aus bestem Holz vom ...!"
"Holz? Da wunderst du dich, dass er ihn gefressen hätte? Das wäre doch ein wahrer Leckerbissen gewesen!"
Rhabarber sah das Männchen, das sich Theobald nannte, erstaunt an. Dann zeigte sie zu dem nun endgültig geschlüpften Kücken und gleich darauf zu dem zweiten und sagte, einen schnellen Blick zu dem bisher unversehrten Ei werfend:
"Glaubst du nicht, dass mich die Jungen deines Herrn als Appetithappen verschlingen würden?"
"Ich glaube, dann würden sie sich den Magen verderben. Weißt du denn nicht, dass seine Ehrenhaftigkeit, Rock der Fünfhundertzweiundsiebzigste, Vegetarier ist? So wie es seine Kinder und seine Vorfahren sind. Aber warte hier, ich muss nur schnell den Apfel verfüttern, denn das Eiausschlüpfen ist für die armen Kleinen schwere Arbeit. Und macht hungrig!" Ehe Rhabarber etwas erwidern konnte, war das Männchen an ihr vorbei gestolpert und hielt den Ast mit dem darauf gespießten Apfel dem zuerst geschlüpften Kücken hin. Dieses beäugte ihn erst sehr aufmerksam, dann nahm es den Apfel sehr vorsichtig vom Ast, verneigte sich höflich vor Theobald und mit einem schnellen Schnabelöffnen glitt der Apfel hinein und war im nächsten Moment verschluckt. Theobald griff in seine Hose, zog einen weiteren Apfel heraus, spießte ihn wieder auf den Ast und fütterte das inzwischen geschlüpfte zweite Kücken. Auch das bedankte sich höflich mit einer Verbeugung, setzte sich neben das Geschwisterchen, steckte den Kopf unter die weichen Dunenfedern und schloß die Augen.
"So, jetzt haben wir etwas Zeit, bis das Kleinste schlüpft und wenn du willst, zeige ich dir, wo ich hier wohne. Außer du musst schon wieder weiter. Aber vielleicht kann ich dir bei deinem Besen helfen!"
"Das wäre ganz lieb von dir!" sagte Rhabarber und folgte Theobald zum Nestrand. Dort führten einige Stufen nach unten, die Rhabarber erst jetzt entdeckte. Mit einem raschen Griff fasste sie nach Besen und Tasche und machte sich hinter Theobald an den Abstieg.
Während Rhabarber so dahin flog auf ihrem Besen, dachte sie zurück an die Zaubervorstellung ihres alten Freundes Hänselmanns. Als ihre Gedanken bei den Rosen angekommen waren, verspürte Rhabarber gleich darauf wieder große Lust, so recht nach Herzenslust zu niesen. Doch sie vergaß diesen Reiz, als plötzlich neben ihr ein riesiger Vogel auftauchte, sie in seine Suppentellergroßen hellgrünen Augen fasste und mit seinen ebenfalls großen Schwingen Rhabarber beinahe vom Besen wehte.
"He! Pass doch auf!" rief sie und drohte dem Vogel mit der Faust. Doch gleich darauf griff sie schnell nach dem Besenstil, denn sie kippte seitlich und nun flog Rhabarber mit dem Kopf nach unten neben dem Riesenvogel her. Dieser stieß eine Reihe von seltsam gackernden Lauten aus, bei denen Rhabarber an ein Gelächter denken musste. Sie dachte sich schnell einen "Aufsitzspruch" aus und schon saß sie wieder auf dem Besen und hing nicht mehr wie eine Traube unter ihm.
Der Vogel öffnete den Schnabel und packte den Besen bei dessen Borsten. Zuerst verfehlte er diese und rupfte den Besen tüchtig. dabei kam der Vogel aus dem Flugtakt und wäre beinahe selbst abgetrudelt. Im letzten Moment fing er sich jedoch und packte erneut den Besen. Soviel Rhabarber auch mit der Hand wedelte und schrie, der Vogel hielt den Besen unverrückbar fest und zwang diesen mit der auf ihm hockenden Rhabarber in eine andere Richtung.
Es wurde kälter und die Luft dünner. Weit vor dem Vogel und dem Besen samt Knuddelhexe tauchte ein einzelner hoher Berg auf. Er sah etwas seltsam aus, denn ihm fehlte der Gipfel. Er sah aus, als hätte ihm ein Riese diesen Gipfel weg geschnitten. Oben war er völlig eben. Auf diesen ebenen Bergteil hielt nun der Riesenvogel zu und bald erkannte Rhabarber, dass oben ein riesiges Nest lag. Statt Zweigen und Äste jedoch waren ganze Bäume verarbeitet und ausgepolstert war es mit Büschen, an denen noch die vertrockneten Wurzeln hingen. Drei grünliche, mit braunen Sprenkel versehene Eier lagen darin. Der Riesenvogel öffnete seinen Schnabel und ließ den Besen mit der Hexe ins Nest fallen. Der Schnabel des Vogels schien Rhabarbers Besen etwas beleidigt zu haben, denn dieser fiel wie ein Stein in das Riesennest und warf schließlich Rhabarber von sich.
Rhabarber fing sich zwar mit Händen und Füßen etwas ab, doch sie konnte nicht verhindern, dass sie mit einem ihrer Schuhe an das Ei, neben dem sie dicht gelandet war, etwas fester schlug. Sofort lief ein gezackter Sprung über die Schale und ein winziges Loch - gemessen an dem sonst riesigen Ei - erschien. Krächzlaute wurden hörbar und gleich darauf wurde das Loch größer gemacht und ein gebogener Schnabel mit einem gezackten Kamm über den Nasenlöchern erschien. Rhabarber sprang so schnell sie konnte auf und balancierte über die Büsche weiter von dem Ei weg.
Am Nestrand ließ sie sich erschrocken nieder und warf einen Blick in die Tiefe. Doch sie konnte nicht viel erkennen, denn dicht unter dem Nest war eine geschlossene Wolkendecke zu erkennen.
War sie denn so hoch über der Erde? Rhabarber konnte das nicht glauben. Sie stand nochmals auf, griff sich den in ihrer Nähe liegenden Besen und untersuchte ihn. Er machte einen sehr zerrupften Eindruck.
Rhabarber hob den Kopf, als ein weiteres Ei mit einem unheimlichen Krachen von unzähligen Sprüngen überzogen wurde. Und plötzlich fiel Rhabarber ein, wo sie sich befinden könnte. Dies war sicher das Nest des Vogel Rock. Und sie war als Futter für die schlüpfenden Rockkücken gedacht. Doch das würde sie sich nicht gefallen lassen. Sie würde bis zum letzten Atemzug um ihr Leben kämpfen.
"Was machst du denn für ein böses Gesicht?" fragte da plötzlich eine Stimme hinter ihr. Rhabarber zuckte zusammen und wandte sich um. Ein kleiner Mann mit einer blauen Hose und einem roten Hemd stand am Nestrand und hatte in seiner Hand einen dickeren Ast. Darauf steckte ein Apfel. Er hatte weißes Haar, das wild vom Kopf abstand und sein Gesicht hatte soviel Falten und war so zerknittert, dass nicht einmal Rhabarbers Bügeleisen geholfen hätte. Das Männchen hatte helle blaue Augen, die jetzt Rhabarber belustigt ansahen.
"Wer bist du denn?" fragte Rhabarber überrascht und sah von dem Männchen, zu dem Apfel und zu den bereits beinahe vollständig geschlüpften ersten Rockkücken.
"Ich bin der Theobald und bin der Futterknecht von seiner Ehrenhaftigkeit, Rock dem 572en. Und wer bist du?"
"Ich bin Rhabarber und auf Urlaub. ich glaube, dein Vogel Rock hat mich hierher gebracht. Wahrscheinlich soll ich an seine Kinder verfüttert werden!"
"Wieso? Hat er etwas derartiges gesagt?"
"Nein, er hätte beinahe meinen Besen gefressen und hat mich dann hier abgeworfen!"
"Woraus ist denn dein Besen? Hat er Pflanzenteile?"
"Ja, sicher. Er ist aus bestem Holz vom ...!"
"Holz? Da wunderst du dich, dass er ihn gefressen hätte? Das wäre doch ein wahrer Leckerbissen gewesen!"
Rhabarber sah das Männchen, das sich Theobald nannte, erstaunt an. Dann zeigte sie zu dem nun endgültig geschlüpften Kücken und gleich darauf zu dem zweiten und sagte, einen schnellen Blick zu dem bisher unversehrten Ei werfend:
"Glaubst du nicht, dass mich die Jungen deines Herrn als Appetithappen verschlingen würden?"
"Ich glaube, dann würden sie sich den Magen verderben. Weißt du denn nicht, dass seine Ehrenhaftigkeit, Rock der Fünfhundertzweiundsiebzigste, Vegetarier ist? So wie es seine Kinder und seine Vorfahren sind. Aber warte hier, ich muss nur schnell den Apfel verfüttern, denn das Eiausschlüpfen ist für die armen Kleinen schwere Arbeit. Und macht hungrig!" Ehe Rhabarber etwas erwidern konnte, war das Männchen an ihr vorbei gestolpert und hielt den Ast mit dem darauf gespießten Apfel dem zuerst geschlüpften Kücken hin. Dieses beäugte ihn erst sehr aufmerksam, dann nahm es den Apfel sehr vorsichtig vom Ast, verneigte sich höflich vor Theobald und mit einem schnellen Schnabelöffnen glitt der Apfel hinein und war im nächsten Moment verschluckt. Theobald griff in seine Hose, zog einen weiteren Apfel heraus, spießte ihn wieder auf den Ast und fütterte das inzwischen geschlüpfte zweite Kücken. Auch das bedankte sich höflich mit einer Verbeugung, setzte sich neben das Geschwisterchen, steckte den Kopf unter die weichen Dunenfedern und schloß die Augen.
"So, jetzt haben wir etwas Zeit, bis das Kleinste schlüpft und wenn du willst, zeige ich dir, wo ich hier wohne. Außer du musst schon wieder weiter. Aber vielleicht kann ich dir bei deinem Besen helfen!"
"Das wäre ganz lieb von dir!" sagte Rhabarber und folgte Theobald zum Nestrand. Dort führten einige Stufen nach unten, die Rhabarber erst jetzt entdeckte. Mit einem raschen Griff fasste sie nach Besen und Tasche und machte sich hinter Theobald an den Abstieg.
Während Rhabarber so dahin flog auf ihrem Besen, dachte sie zurück an die Zaubervorstellung ihres alten Freundes Hänselmanns. Als ihre Gedanken bei den Rosen angekommen waren, verspürte Rhabarber gleich darauf wieder große Lust, so recht nach Herzenslust zu niesen. Doch sie vergaß diesen Reiz, als plötzlich neben ihr ein riesiger Vogel auftauchte, sie in seine Suppentellergroßen hellgrünen Augen fasste und mit seinen ebenfalls großen Schwingen Rhabarber beinahe vom Besen wehte.
"He! Pass doch auf!" rief sie und drohte dem Vogel mit der Faust. Doch gleich darauf griff sie schnell nach dem Besenstil, denn sie kippte seitlich und nun flog Rhabarber mit dem Kopf nach unten neben dem Riesenvogel her. Dieser stieß eine Reihe von seltsam gackernden Lauten aus, bei denen Rhabarber an ein Gelächter denken musste. Sie dachte sich schnell einen "Aufsitzspruch" aus und schon saß sie wieder auf dem Besen und hing nicht mehr wie eine Traube unter ihm.
Der Vogel öffnete den Schnabel und packte den Besen bei dessen Borsten. Zuerst verfehlte er diese und rupfte den Besen tüchtig. dabei kam der Vogel aus dem Flugtakt und wäre beinahe selbst abgetrudelt. Im letzten Moment fing er sich jedoch und packte erneut den Besen. Soviel Rhabarber auch mit der Hand wedelte und schrie, der Vogel hielt den Besen unverrückbar fest und zwang diesen mit der auf ihm hockenden Rhabarber in eine andere Richtung.
Es wurde kälter und die Luft dünner. Weit vor dem Vogel und dem Besen samt Knuddelhexe tauchte ein einzelner hoher Berg auf. Er sah etwas seltsam aus, denn ihm fehlte der Gipfel. Er sah aus, als hätte ihm ein Riese diesen Gipfel weg geschnitten. Oben war er völlig eben. Auf diesen ebenen Bergteil hielt nun der Riesenvogel zu und bald erkannte Rhabarber, dass oben ein riesiges Nest lag. Statt Zweigen und Äste jedoch waren ganze Bäume verarbeitet und ausgepolstert war es mit Büschen, an denen noch die vertrockneten Wurzeln hingen. Drei grünliche, mit braunen Sprenkel versehene Eier lagen darin. Der Riesenvogel öffnete seinen Schnabel und ließ den Besen mit der Hexe ins Nest fallen. Der Schnabel des Vogels schien Rhabarbers Besen etwas beleidigt zu haben, denn dieser fiel wie ein Stein in das Riesennest und warf schließlich Rhabarber von sich.
Rhabarber fing sich zwar mit Händen und Füßen etwas ab, doch sie konnte nicht verhindern, dass sie mit einem ihrer Schuhe an das Ei, neben dem sie dicht gelandet war, etwas fester schlug. Sofort lief ein gezackter Sprung über die Schale und ein winziges Loch - gemessen an dem sonst riesigen Ei - erschien. Krächzlaute wurden hörbar und gleich darauf wurde das Loch größer gemacht und ein gebogener Schnabel mit einem gezackten Kamm über den Nasenlöchern erschien. Rhabarber sprang so schnell sie konnte auf und balancierte über die Büsche weiter von dem Ei weg.

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Tag der Veröffentlichung: 13.01.2012

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