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Pack die Badehose ein...



Hektisch sammelte Finn seine Sachen zusammen. Er hatte das Ende seiner letzten Vorlesung kaum abwarten können.
Die letzten 5 Minuten hatte er nur noch mit einem Ohr und mit einem Auge mitbekommen. Wenigstens das Thema für die Seminararbeit hatte er sich noch notiert, während sein Kopf schon auf dem Weg war.

Das Grinsen seiner Banknachbarin, die während des Algebrakurses seit nun schon fast einem Semester, neben ihm sass, bekam Finn schon nicht mehr mit. Schmunzelnd stellte diese fest, dass das seit inzwischen drei Wochen zu einem Ritual geworden war.

Der sonst eher schüchterne, zurückhaltende Mathematikstudent war normalerweise jemand, der die Vorlesungen nachwirken liess. Jemand, der noch fünf Zeilen extra notierte, um in der nächsten Klausur auch wirklich auf jede Eventualität vorbereitet zu sein.

Doch seit eben drei Wochen hatte sich das geändert. Nicht dass Finn’s Aufmerksamkeit während der Kurse oder seine Zielstrebigkeit in den Seminaren nachgelassen hätte. Aber eben dieses Aufspringen, noch bevor der Dozent die Kreide niedergelegt hatte, das war neu.

Sie hatte schon Finn’s Mitbewohner gefragt. Doch der wusste auch nichts Genaues. Hatte nur mit den Schultern gezuckt und war dann zu seiner Biologie-Vorlesung weitergestiefelt. Hatte sie einfach im Uniflur stehen und sie mit ihren Gedanken alleine gelassen hatte.

Irgendetwas musste sich im Leben des jungen Mannes geändert haben.
Aber letztendlich ging es sie ja auch nichts an, weswegen sie nicht weiter nachfragte. Nur das Schmunzeln über eben diese nicht bekannte Veränderung, das erlaubte sie sich.

Finn hatte seine Unterlagen schon im Laufen unachtsam in den Rucksack zu seinen Strandsachen gesteckt. Noch ein ganz schneller Abstecher durch die Uni-Mensa um ein belegtes Brötchen für auf den Weg zu erstehen und schon stand er bei seinem Fahrrad.

Das Brötchen während der Fahrt essend, krümelig summend fuhr er Richtung Baggersee.

Wie in letzter Zeit jeden Tag nach den Vorlesungen. Seit eben ziemlich genau diesen 3 Wochen.

Egal, ob es nun tatsächlich richtiges Badewetter war oder ob der Himmel bewölkt blieb. Hauptsache zum See.

Hauptsache zu ihm.

Dem Bademeister…naja… eigentlich ja Rettungsschwimmer…

Vor drei Wochen hatte Finn ihn das erste Mal gesehen.

Blonde, kurze Haare. Grüne Augen. Freundliches Lächeln. Breiter Rücken. Schwimmerfigur. Knappe Badeshorts. So um die 20 Jahre alt.

Einfach zum Anbeissen.

Und auch schwul… das hatte ihm das Bändchen um das Handgelenk verraten. Das von der Party in diesem Gay-Club, in den Finn auch hin und wieder ging. Schön unauffällig, aber für Wissende eindeutig.

Mehr wusste Finn bisher nicht über den Typen, der jeden Nachmittag Stellung im DLRG-Aufsichtshäuschen bezog. Und dort dann bis zum Badeschluss ein Auge auf die Badegäste hatte.

Viel war im Moment noch nicht zu tun, da es erst Mitte Mai war und so konnte Finn ihn des Öfteren beim Lesen irgendeines dicken Schinkens beobachten. Sah nach Lernstoff aus. Vielleicht Uni oder Abi-Abschluss. Aber bisher hatte Finn auch das noch nicht herausbekommen.

Nein, seit er den DLRG-Typ das erste Mal in dem Aufsichtshäuschen gesehen hatte, hatte Finn nichts unternommen, ausser zu schauen. Und rechtzeitig, wenn sein Blick erwidert wurde wieder in seinen Büchern zu versinken.
Für kurze Zeit. Bis er wieder sicher war, dass er unbeobachtet schauen konnte und der namenlose Unbekannte sich wieder seinem Buch oder den badenden Gäste zugewandt hatte.

Sobald Finn sich sicher war, wanderte sein Blick sofort wieder zum Aufseherhäuschen.

Besonders wenn der Typ seinen Stammplatz verlassen hatte, um die tobenden Kinder zur Ruhe zu bringen oder seinen Kontrollgang anzutreten, fühlte Finn sich, als ob da 1000 Ameisen in seinem Magen ein Tanzballett aufführten.

Wie gerne wäre er ihm einfach mal um den Hals gefallen. Hätte seine Lippen auf die des anderen gedrückt.

Aber dafür müsste er sich dem Wasser ja mal nähern. Weil ja dort das Häuschen stand. Und um dem Rettungsschwimmer auch nur einen Meter näher zu kommen. Ihm mal ins Gesicht zu schauen, ihn vielleicht sogar mal anzusprechen.

Denn auch das hatte Finn bisher nicht getan. Nicht ein Mal war er schwimmen gewesen. Obwohl er jeden Tag in voller Bademontur am Badesee erschienen war. Und er konnte auch ganz gut schwimmen. Okay, ein zweiter Micheal Phelps war er sicher nicht. Aber das war ja auch nicht nötig. Um am Baggersee eine passable Figur abzugeben und nicht als Bleiente aufzufallen.

Mitten in seinen Gedanken versunken, den Blick ins Leere um über die letzten drei Wochen nachzudenken, spürte Finn, wie ihn ein Blick streifte. Wieder ein Mal. Und sofort verschwand seine Nase im Buch. Wieder ein Mal.

Während er dort zum keine Ahnung wievielten Mal die Kurvendiskussion für die kommende Klausur betrachtete und kein Wort davon in seinen Erinnerungsregionen im Hirn ankam, fasste Finn einen Entschluss. So konnte es ja nicht weiter gehen. Er musste was tun, sonst würde er hier noch ewig liegen, das Mathebuch auswendig lernen und trotzdem nicht mehr zu wissen, irgendeinen Typen in kurzen Badeshorts anschmachten und bis zum Herbst an Hautkrebs leiden.

Entschlossen klappte er das Buch zu und legte es unter seine Klamotten. Bevor sein innerer Schweinehund auch nur den Hauch einer Chance bekam, sich zu melden, erhob er sich, zupfte seine Badeshorts zurecht und machte sich auf den Weg zum Wasser. Und somit zum Aufsichtshäuschen.

Und er würde ihn ansprechen. Ganz unverbindlich nach der Zeit fragen. Oder nach den Wetteraussichten für die nächsten Tage. Ob es sich lohnen würde, wiederzukommen.

Als ob er nicht wiederkommen würde, wenn es kein Badewetter wäre. Kurz bevor Finn die Geste angefangen hatte, konnte er sich noch stoppen und schüttelte nur innerlich den Kopf. Man, er war schon echt nichtmehr ganz beisammen.

Und das mit fast 22.

War ja nicht der erste Typ, der ihn optisch anmachte. Und auch nicht der erste, von dem er mehr wollte. Seit seinem Outing mit 19 hatte er zwar nicht wie ein brünstiger Stier durch die Gegend gemacht, aber ganz unerfahren war er auch nicht. Erfahrener jedenfalls, als viele aufgrund seines zurückhaltenden Wesens meinten. Wenn sich mal die Gelegenheit geboten hatte, hatte er selten abgelehnt. Aber das hier… das war etwas völlig anderes.

Den Kerl wollte er wirklich kennen lernen. Das ging weit übers körperliche hinaus. Sonst wäre Finn sicher schon nach einer Woche drüber hinweg gewesen. Aber das war er eben nicht.

Die Hälfte des Weges war schon geschafft. Noch an seinem Vorhaben, den Typen in den roten Rettungsschwimmershorts anzusprechen festhaltend stapfte Finn entschlossen weiter. Drückte nochmal sein Kreuz durch, atmete tief ein.

Das Häuschen kam immer näher und näher. Die Begegnung mit IHM auch.

Finn hatte es fast geschafft. Hatte sich inzwischen sogar schon für die Frage nach dem Wetterbericht für die nächsten Tage entschieden und ging diese nun unentwegt im Kopf durch.

Die Frage nach der Uhrzeit wäre nun auch wirklich zu blöd gewesen. Immerhin prangte gross und gut sichtbar eine Uhr über dem Rettungsschwimmerhäuschen. Für wie selten dämlich sollte der Typ ihn denn halten, wenn er danach fragen würde. Und dümmlich gespielt vor die Stirn schlagen wollte Finn sich dann auch nicht.

Er wollte zwar bleibenden Eindruck hinterlassen. Aber keinen blöden.

So… nur noch fünf Schritte, dann wäre es soweit. Der Typ sass noch immer entspannt in seinem Beobachtungsposten. Der dicke Wälzer lag aufgeschlagen auf seinen Knien. Aber der Rettungsschwimmer schaute ganz aufmerksam in die Runde seiner Schwimmschäfchen.

Noch drei Schritte… und dann würde die Stunde der Wahrheit schlagen. Tief atmete Finn noch einmal ein, noch einmal aus.

Angekommen. Endlich. Wo waren jetzt bitte die Worte, die seine Frage nach dem Wetter bilden sollten? Wo? Hallo? Hirn?? Noch irgendjemand da?

Mit seinen grünen Augen schaute der Typ ihn an. Und Finn spürte diesen Blick am ganzen Körper. Obwohl der Rettungsschwimmer ihn nicht musterte, sondern nur in die Augen schaute.

„Äh… ich.. äh..“

Weiter kam Finn nicht. Sein Gegenüber sprang plötzlich auf, griff nach seiner Boje und seiner Pfeife und drückte sich an Finn vorbei.
Mit schnellen Schritten war er schon in Richtung der tunkenden und döppenden Kinder verschwunden, ohne sich noch mal umzudrehen.

„…is eh egal…“ murmelte Finn vor sich hin. Am liebsten hätte er sich jetzt selbst in den Arsch getreten. Mann, wie dämlich. Gestottert wie ein Schulmädchen in der 6. Klasse.

Etwas unschlüssig, was er nach dieser vermasselten Aktion tun sollte, stand Finn noch ein paar Minuten am Häuschen. Sollte er jetzt zurück zu seinem Handtuch? Zu seinem Platz? Man, wie dämlich sah das denn bitte aus?
Also blieb nur noch eine Runde schwimmen im See. Premiere sozusagen.

Langsam trat Finn vom Häuschen zurück, beobachtete den Rettungsschwimmer, der gerade seine Ansprache an die Kids losgelassen hatte und nun zu seinem Kontrollgang ansetzte. Gebannt starrte Finn auf die Rückenmuskulatur, die sich beim Gehen leicht, aber deFinniert bewegte. Ob sich die sanft gebräunte Haut auch so zart anfühlen würde, wie sie jetzt in der Sonne schien?

Schwer seufzend dachte Finn an seinen missglückten Anmachversuch. So, wie er sich anstellte, würde er das sicher nie herausfinden. Nicht, wie sich die Haut des Rettungsschwimmers auf seiner anfühlte, nicht das Gefühl erleben, wie dessen Haare durch seine Hände glitten. Und ganz sicher auch nicht, wie diese Lippen küssen würden. Oder ihm über die Haut gleitend den Verstand rauben würden...

Plötzlich verlor Finn den Boden unter seinen Füssen. Spürte noch einen Ellbogen in seiner Seite. Und das nächste, was er mitbekam, war sein Körper, der die Seeoberfläche durchbrach und wie er ins kühle Seewasser eintauchte.

Begossene Podel



Prustend und hustend strampelte Finn sich wieder an die Wasseroberfläche. Den Rempler von den Kindern hatte er nicht wirklich kommen sehen. Und dementsprechend unvorbereitet war er ja auch im kühlen Nass gelandet. Dieses Überraschungsmoment erklärte sicher auch, dass er noch eine halbe Sekunde zu lange geatmet und dabei einen ordentlichen Schwall Seewasser geschluckt hatte.

Noch halb blind vom Seewasser, welches ihm in den Augen stand, tastete er nach dem Ponton-Rand, von dem aus er in den See gefallen war.

Immer wieder blinzelnd, versuchte er seinen Blick zu klären. Und es wäre sicher auch ganz gut, wenn das blöde Gefühl, vom Wasser in seiner Nase, endlich nachlassen würde.

Endlich, endlich, immer noch nicht wirklich was erkennend, fand Finn den gesuchten Halt. Krallte sich instinktiv fest, damit er nicht wieder abrutschte und so Gefahr lief, nochmal unangenehme Bekanntschaft mit dem nassen Element zu machen.

„Hey, ist alles klar?“

Erst jetzt bemerkte er, dass er gar nicht den kühlen Rand der Pontoneinfassung erwischt, sondern eine Hand nach seiner gegriffen hatte.

Und sofort klärte sich Finns Blick um gefühlte hundert Prozent.

Seine Ohren hatten gar keine Chance, anzufangen zu rauschen. Und auch sein Herz verweigerte, wegen des Schocks der vergangenen Minuten, einen noch schnelleren Takt. Obwohl es angesichts der tiefgrünen Augen, die ihn besorgt anschauten sicher nötig und vollkommen vertretbar gewesen wäre.

Der Rettungsschwimmer hatte Finns Hand immer noch nicht losgelassen.

„Bist du in Ordnung? HEY?“

Aufgeregt schüttelte der Kerl Finn an der Hand, um irgendeine Reaktion zu bekommen.
Endlich kam wieder etwas Leben, welches der Schock über die Wasserbekanntschaft und der anschliessende Blick in unendliches Grün mit sich gerissen hatte, in Finn.

Langsam, ohne diese Augen loszulassen, genauso wenig wie die Hand, nickte Finn. Zu mehr war er einfach noch nicht in der Lage.

„Am besten kommst du da erst mal raus.“

Die Stimme des Rettungsschwimmers, die sich eben noch sehr besorgt angehört hatte, klang nun auch wieder sicherer. Beiläufig nickte er zu der Leiter.

Schliesslich passierte das, womit Finn eigentlich hätte rechnen müssen, was aber irgendwie nicht so ganz in seine Gedanken passte.

Der Rettungsschwimmer liess seine Hand los. Stand sogar wieder aus seiner knienden Hocke auf. Und zu guter Letzt wandte er sich auch noch von Finn ab.

Verdammt.

Langsam, immer noch nicht ganz greifen könnend, was da gerade passiert war, schwamm Finn die wenigen Meter bis zur Leiter. Kletterte wie in Trance die Stufen hoch.

Immer den Blick auf die Hand gerichtet, die eben IHN berührt hatte. Die SEINE Haut unter sich hatte spüren dürfen.

Und das Kribbeln, welches diese Berührung eigentlich ja schon im Moment eben dieser hätte auslösen sollen, welches aber von Finns allgemeiner Überforderung ob der ganzen Situation, keine Chance auf Entfaltung bekommen hatte, begann nun endlich und langsam sich Bahn zu rechen. Bitzelte unter seiner Haut, während die Sonne langsam seinen nassen Körper zu wärmen begann.

Nachdem Finn auch die Leiter überwunden hatte, stand er, immer noch auf seine Hand starrend, mitten auf dem Ponton. Unfähig, über mehr als diese eine Berührung nachzudenken.

„Ist wirklich alles okay?“

Plötzlich war sie wieder da. Diese Stimme. Von der Finn bis vor fünf Minuten nicht wirklich gewusst hatte, wie sie sich anhörte. Bisher hatte er seinen Rettungsschwimmer schliesslich immer nur aus der Ferne gesehen. Oder im Vorübergehen, wenn dieser mit seiner Aufsicht beschäftigt war. Oder aufgeregt rufend, weil eines der Badekinder mal wieder Blödsinn gemacht hatte und zurechtgewiesen werden musste. Was alles in allem in den letzten drei Wochen nicht öfter als drei oder viel Mal vorgekommen war.

Irgendwie überraschte Finn die Stimme. Obwohl sie genau zu der Erscheinung seines Retters passte.

„Vielleicht setzt du dich besser mal noch?!“

Ohne Finn aus den Augen zu lassen, deutete sein Gegenüber auf die Rasenstufen am Seeufer. Und als wolle er keine Widerrede zulassen, ging er einfach ein paar Schritte voraus. Drehte sich noch einmal kurz um, um zu schauen, ob Finn ihm auch wirklich folgte.

Dieser starrte die ersten beiden Schritte nur auf den ihm zugewandten Rücken. Doch als ihn der Blick aus diesen intensiv grünen Augen wieder traf, setzte Finn sich schnell in Bewegung. Mit zwei halben Schrittlängen mehr, war er neben dem Rettungsschwimmer.

Bis sie die Stufen erreicht hatten, schwiegen sie beide.
Während Finn fast schon stoisch auf seine Füsse starrte, weil er nicht wusste, wohin mit seinem Blick, liess sein Wegbegleiter das Wasser immer nur sehr kurz aus den Augen. War halt ganz Rettungsschwimmer.

Nur noch wenige Schritte bis zu den Stufen und immer noch, oder schon wieder, wusste Finn einfach nicht, was er sagen sollte. Fast schon verzweifelt suchte er nach irgendetwas, das er sagen konnte. Aber so wirklich fiel ihm nichts sein.

Doch!

Na klar!

„Danke...“

„Hm? Hast du was gesagt?“

Überrascht blickte der Rettungsschwimmer zu Finn. Dieser hatte schweigend über seine Schwimmschäfchen geschaut, während sie zu dem vorgeschlagenen Platz gegangen waren.

„D.. Danke...“

„Oh. Da nicht für. Ist ja mein Job hier.“

Zwinkernd lachte ihn der Typ an. Fuhr sich sogar mit einer Geste, die in gleichen Teilen unsicher, zufrieden und stolz wirkte, durch die Stirnhaare.

„Hm...trotzdem...“

Es hätte ihm ja klar sein können. Der Typ machte hier seinen Job, der interessierte sich nicht die Bohne für junge Mathestudenten, die sich derartig spätpubertär aufführten, dass sie keinen Ton über die Lippen brachten. Die sich von kleinen spielenden Kindern überrumpeln und ins Wasser stossen liessen, um dann wie begossene Pudel aus dem See zu klettern. Und dann zu guter Letzt noch nicht einmal einen anständigen Ton über die Lippen brachten.

Oh, es war doch zum Haare ausraufen. Innerlich schlug Finn schon eine ganze Weile seinen Kopf gegen die nächstbeste, unbeobachtete Wand.

Immer noch leise lachend drehte sich Finns Stufennachbar zu ihm. Musterte den immer noch triefnassen jungen Mann, der seinen Blick vehement auf das Wasser gerichtet hielt.

„Sei mir nicht böse, aber für die Spitze der Rangliste hat das noch nicht gereicht.“

Überrascht blickte Finn auf und wieder direkt in die grünen Augen. Die ihm herzlich entgegen blitzen und schon wieder dem Tanzballett der Ameisen seinen Einsatz gab.

„Hä?“

Mann, Finn. Ein bisschen mehr Eloquenz wäre durchaus nicht zu viel verlangt. Sonst war er doch auch nicht so um Worte verlegen. In den Vorlesungen konnte er seine Lösungsansätze ja auch immer überraschend und wortgewaltig verteidigen. Ebenso konnte Finn die diverse Party-Dispute doch meist ganz souverän für sich gewinnen.
Also! Bitte! Hirn zusammen und mal was Anständiges über die Lippen gebracht. Auch wenn er im Moment trotz allem nicht wusste, worauf der Typ neben ihm hinaus wollte.

„Na, deine unterhaltende Einlage eben. Sehenswert, aber nicht ausreichend, um in Führung zu gehen.“

„Hm... meinst du?“

Immer noch leise lachend nickte sein Gegenüber.

„Wer führt denn die Rangliste an?“

„ICH!“ Stolz drückte der Rettungsschwimmer seinen Rücken durch. Nickte noch einmal kurz bestätigend, eher er wieder lachte.

„Hm... gut zu wissen! Dann werd ich wohl noch ein bisschen üben müssen.“

Mit immer noch schneller schlagendem Herzen stimmte Finn in das angenehme Gelächter ein. Obwohl das tanzende Ameisenballett gerade sein Bestes gab, begann Finn sich in dieser, doch leicht absurden, Situation wohl zu fühlen. Zwar hatte er sich das Alles so nicht vorgestellt, als er vor einer guten halben Stunde seinen Sonnenplatz verlassen hatte, aber die Wendung war schon irgendwie … nicht schlecht.

Erst als der Blick des Rettungsschwimmers sich kurz verdunkelte, wurde Finn wieder unsicher. Hatte er was falsch gemacht? Hätte er nicht lachen sollen? Scheisse, er ging dem Typen sicher jetzt schon auf den Keks.
Aber noch während auch Finns Lachen erstarb, bemerkte er, dass sein Gegenüber gar nicht ihn anschaute, sondern dass dessen Blick über Finns Schulter ein paar Meter weiter weg geglitten war.
Fast schon panisch drehte Finn sich um. Sofort auf der Suche nach dem, was sein Rettungsschwimmer da wohl so anstarrte.

Die Kinder, denen dieser finstere Blick augenscheinlich gegolten hatte, trollten sich sofort Richtung Fußballfeld. Wobei ihr kleiner Anführer noch trotzig den finsteren Blick erwiderte, ehe auch er sich aus dem Staub machte.

„Kinder...“

„Was?“

„Kinder... sie sind beleidigt, weil sie wegen der Sache eben ’ne Ansage kassiert haben.“

„Oh! Wegen mir?“

„Klar. Die sind hier schliesslich nicht alleine. Auch wenn sie das oft meinen.“

Inzwischen hatte der Rettungsschwimmer sich wieder ganz Finn zugewandt. Der Blick aus diesen grünen Augen machte Finn schon wieder ganz kirre. Aber inzwischen hatte er sich doch ganz gut im Griff und kam sich nur noch ein klitzekleines bisschen pubertär vor, während er vorhin ja schon nahe an der Grenze zum 15-jährigen Quietsche-Girlie, das jeden Moment Gefahr lief, in Ohnmacht zu fallen, gestanden hatte.

„Na überleg' mal, was dir alles hätte passieren können. Die sollen gefälligst aufpassen.“

Nee, darüber wollte Finn jetzt lieber nicht nachdenken. Insgeheim war er den Kindern eher dankbar, dass die ihm diesen Schubs gegeben hatten. In mehr als einer Hinsicht. Wenn das nicht passiert wäre, sässen sie jetzt sicher nicht hier nebeneinander. Finn hätte nicht diese Hand in seiner gespürt, hätte nicht so einen Blick in diese Augen werfen können und sie würden sehr wahrscheinlich auch nicht miteinander lachen.

Definitiv war er den Kids dankbar. Auch wenn er auf den ungalanten Abgang, mit dem anschliessenden halben See im Körper, irgendwie auch gut hätte verzichten können.

Aber dafür war es jetzt ja eh zu spät.

Mit einem Mal begann dieser Moment der Glückseligkeit allerdings, sich aufzulösen. Denn sein Sitznachbar begann gerade aufzustehen. Mit grossen Augen starrte Finn diesen an.

Und suchte schon wieder nach Worten.

„Also, ich will dann mal wieder, wenn bei dir alles okay ist.“

„Ja, alles okay.“

Etwas unschlüssig blickte Finn an dem nun vor ihm stehenden Körper hinauf. Und als ihm bewusst wurde, was er da gerade getan hatte, sprang er regelrecht auf seine Füsse.

„Gut. Also dann bis ...“

Bis wann liess sein Gegenüber offen.
Allerdings streckte er Finn seine Hand hin, schaute ihn fragend und auffordernd an. Einen kurzen Augenblick brauchte Finn, um zu verstehen, dass er jetzt wohl besser auch mal reagieren sollte.
Langsam, fast schon bedächtig ergriff er die ihm entgegen gestreckte Hand. Schaute von den beiden Händen auf in diese grünen Augen, die ihn schon wieder munter und herausfordernd anblitzten.

„Äh... Finn.“

„Ich bin Lars.“

Damit löste Lars den Griff und wandte sich zum gehen.

„Ich muss mal wieder. Die Pflicht ruft.“

„Ja.. ja klar.“

So ganz konnte Finn das Bedauern über diese Tatsache nicht aus seiner Stimme bannen. Im Moment konnte er nur hoffen, dass Lars das nicht zu offensichtlich mitbekam.

„Vielleicht bis demnächst. Und schon‘ dich heute noch etwas. Du scheinst ziemlich durch den Wind zu sein.“

Damit war Lars schon wieder auf dem Weg zu seiner Kontrollrunde. Kurz drehte er sich noch ein letztes Mal um, deutete einen Abschiedsgruss an und widmete sich wieder ganz seiner Aufgabe.

Einen kurzen Augenblick schaute Finn ihm noch nach, ehe er sich umdrehte und zu seinem Platz zurück ging. Unschlüssig betrachtete er sein Handtuch, seine Klamotten.

Im Nachhinein war ihm die ganze Aktion schon sehr peinlich. Soviel zum ersten Eindruck. Der definitiv bleibend gewesen war. Nur eben sicher auch äusserst dämlich.

Schnell kramte Finn seine Sachen zusammen, zog sich um und machte sich auf den Heimweg.

Als Lars, der Rettungsschwimmer, von seiner Kontrollrunde zu seinem Aufsichtshäuschen zurückkam, war der Platz, an dem Finn, der unfreiwillige Schwimmer und Taucher, gelegen hatte, leer.

Einbildung ist auch eine Bildung



Vollkommen in Gedanken schüttelte Finn sein Handtuch auf. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er sich heute hier am See wohlfühlen würde.

Nicht nach der Katastrophe von gestern.

Nicht nach dem überaus lächerlichen Auftritt gestern vor Lars. Der ihn hatte aus dem Wasser fischen müssen. Und danach fast schon Selbstgespräche geführt hatte.

Weil er selbst, Finn, es nicht auf die Reihe gebracht hatte, in geraden Sätzen zu denken, geschweige denn in eben solchen zu sprechen. Nach diesem hilflosem Gestammel musste Lars ihn ja vollkommen für den Depp halten, den er kurze Zeit zuvor mit seinem überaus eleganten, aber eben nicht 10-Punkte werten Bauchplatscher dargestellt haben musste. Wundern würde es Finn nicht.

Nochmal schüttelte Finn das Handtuch durch. Aber so wirklich merkte er das nicht. Seine Gedanken hingen nach wie vor am gestrigen Tag und der Frage, ob sein Besuch am See heute so eine gute Idee war.

Die Antwort hierauf würde er wohl in diesem Leben nicht mehr finden. Nicht, wenn er nicht langsam mal fertig werden würde mit Handtuch schütteln.

Noch ein letztes Mal flog das Handtuch schwungvoll auf und nieder, als Finn plötzlich innehielt. Mitten in der Bewegung. Und da auf der Wiese stand, wie ein Ölgötze kurz vor der Prozession.

Da beobachtete ihn doch jemand, oder? Den Blick auf seinem Rücken hatte Finn genau gespürt. Instinktiv drehte er sich um seine eigene Achse. Suchte nach dem vermeintlichen Beobachter, blieb kurz am leeren DLRG-Häuschen hängen, suchte weiter.

Doch niemand schaute in seine Richtung.

Irritiert über sich selbst und seine Einbildungen, schüttelte Finn nicht nur sein Handtuch noch ein letztes Mal, sondern auch seinen Kopf.

Endlich war er mit seinen Vorbereitungen so weit fertig, dass das Handtuch im Gras lag und er sich darauf niederlassen konnte. Obwohl er es auch ohne einen Blick in diese Richtung wusste, schaute Finn nochmal nach. Doch das Rettungsschwimmerhäuschen war noch immer leer. Auch hatte er Lars, seinen Rettungsschwimmer heute noch nicht gesehen. Aber er war ja auch gerade mal sieben Minuten am See. Und davon hatte sein Handtuch ihn fünf Minuten beschäftigt. Oder besser dieses Gedankenkarussell, welches ihn nun schon seit gestern Abend begleitete.

Es war aber auch zum aus der Haut fahren. Da hatte er endlich, endlich, endlich, nach endlosen drei Wochen, die Gelegenheit gehabt und es so herrlich auf ganzer Linie vermasselt.

Schwer seufzend liess Finn seinen Kopf auf sein Analysis-Buch sinken.

Ob es eine mathematische Formel gab, mit der man die Zeit zurückdrehen konnte? Wohl eher nicht. Verdammt...

Seinen Kopf immer noch im Mathe-Buch vergraben, hatte Finn schon wieder das untrügliche Gefühl, beobachtet zu werden. Sofort suchten seine Augen nach dem möglichen Beobachter. Aber da war nichts. Gar nichts. Niemand hier am See interessierte sich für ihn.

Mann, war er jetzt schon so weit, dass er sich Blicke, die gar nicht da waren, einbildete?

Und mit seiner Konzentration auf die Hausarbeit war es auch aus. Okay, die war hier am See ja nie so wirklich da gewesen. Aber jetzt ging echt gar nichts mehr.

Frustriert seufzend setzte Finn sich auf. Betrachtete nochmal das Buch, als wolle er ihm eine letzte klitzekleine Chance geben, ihn zu überzeugen, jetzt die Hausarbeit zu beginnen. Aber anscheinend interessierte sich nicht mal das Buch für ihn, denn es machte immer noch keine Anstalten, spannender zu werden.
Dann konnte er auch schwimmen gehen.

Und heute vielleicht sogar mal richtig. Mit elegantem Köpper und einer auspowernden, gedankenlöschenden Strecke quer über den See.

Ja, das klang doch wie ein Plan, der danach schrie, in die Tat umgesetzt zu werden.

Sorgfältig verstaute Finn seine Sachen im Rucksack, eher er sich langsam dem Wasser zuwandte. Im DLRG-Häuschen herrschte immer noch gähnende Leere. Weder Lars noch irgendein anderer waren dort zu sehen.

Aber davon wollte Finn sich heute mal nicht ablenken lassen.

Mit graden Schritten ging er zu dem Ponton-Steg, betrachtete das Wasser und bereitete sich innerlich auf eine angenehme Runde Schwimmen vor. Ein bisschen liess ihn die Vorfreude, gleich die Ruhe des Wassers um sich zu spüren, lächeln.

Noch einmal tief Luft geholt, einmal ausgiebig gestreckt, voll auf sein Vorhaben konzentriert, sprang Finn mit einem ganz ansehnlichen Kopfsprung ins Wasser. Die ersten Meter tauchte er, eher er begann, mit kräftigen Zügen durch den See zu schwimmen. Anfangs noch recht schnell, doch schon bald drosselte er das Tempo, damit er eine möglichst lange Strecke zurücklegen konnte.

Die Kinder und anderen Badegäste um sich herum hatte er ausgeblendet und genoss einfach das Gefühl, sich im Wasser frei bewegen zu können. Kurz hatte er beim Auftauchen wieder das Gefühl gehabt, dass er beobachtet worden war. Aber das waren sicher nur irgendwelche Kinder, die neben ihm im Wasser gespielt hatten.


Von Finn vollkommen unbemerkt, hatte auch der Rettungsschwimmer vom Dienst seinen Platz im DLRG-Häuschen wieder bezogen. Beobachtete das Badegeschehen, liess seinen Blick über den Ponton gleiten.
Und blieb an der Rückenansicht von Finn hängen, der sich gerade ins Wasser abstieß. Kurz aber scharf, zog Lars die Luft in seine Lungen.

Er hatte es vorhin schon kaum geschafft, seinen Blick von dem Badegast, der derart vertieft sein Handtuch aufgeschüttelt hatte, dass es schon fast etwas komisches hatte, abzuwenden. Nur als Finn sich dann umgedreht hatte und nach irgendetwas zu suchen schien, hatte Lars sofort seinen Blick abgewandt und sich schnell wieder seiner Aufgabe gewidmet.

Anscheinend hatte Finn ihn nicht entdeckt, denn dieser hatte sich wieder seinem Handtuch gewidmet und mit der Aufschüttelaktion ganz von vorne gestartet. Lars hatte doch schon sehr schmunzeln müssen, als er das gesehen hatte.

Der dunkelblonde Strubbelkopf hatte auch gestern schon wie ein zerstreuter Professor auf ihn gewirkt. Ein bisschen chaotisch, aber sehr interessant. Aber sicher war der ungewollte Bauchplatscher auch erst mal ein kleiner Schock für Finn gewesen. Konnte ja schon passieren, wenn man da so unvorbereitet Bekanntschaft mit dem immer noch verhältnismässig kühlen Nass machte.

Aber so wie Finn eben auf ihn gewirkt hatte, als dieser mit seinem Handtuch zwar auf der Wiese gestanden hatte, aber so vollkommen in Gedanken gewesen war, dass er auch auf einem anderen Planeten hätte sein können, schien diese Zerstreutheit etwas zu sein, was zu Finn gehörte. Wobei es bei diesem auf eine nicht unangenehme Art vollkommen passend zu sein schien.

Obwohl Lars eigentlich alle Badegäste im Auge behalten sollte, schaffte er es nur sehr unzureichend, seinen Blick von diesem einen abzuwenden, der da seine einsamen Kreise im entfernteren Teil des Sees zog. Und dabei eine Ruhe ausstrahlte, die Lars selten erlebt hatte. Die so gar nicht zu dem passen wollte, was er gestern an Zerstreutheit und leicht chaotischem Charakter an Finn kennen gelernt hatte.

Damit er überhaupt eine Chance bekam, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, stand Lars wieder auf und begann erneut seine Kontrollrunde am Seeufer entlang. Die wievielte war das heute eigentlich? Nur damit er nicht immer zu diesem einen Blondschopf schaute?

Erleichtert, dass er sich nun wirklich würde ablenken könne, wandte Lars sich den Kindern zu, die schon wieder im flachen Teil des Sees Kopfsprünge und Arschbomben machten. Mit strenger Miene wandte er sich diesen kleinen unverbesserlichen Gören zu und konzentrierte sich voll auf seine Aufgabe.


Finn hatte derweil seine Seedurchquerung beendet und schwamm in langsamen Zügen zur Leiter. Etwas ausser Atem stand er schliesslich auf dem Ponton, schaute nochmal zurück auf den See und die Strecke, die er absolviert hatte. Er fühlte sich schon viel besser. Ein bisschen müde vielleicht, aber doch ziemlich klar im Kopf.

Jetzt würde er sich sicherlich auf seine Aufgabe konzentrieren können und auch seine Gedanken besser im Griff haben. Mit langsamen Schritten, um die wärmende Sonne noch ein wenig auf seiner Haut zu spüren, lief er den Ponton zum Strand hinauf.

Er hatte gerade begonnen, die Treppe hinaufzusteigen, als ihn eine Stimme aus seinen Gedanken riss.

„Hey, Training schon vorbei?“

Automatisch schob sich ein Lächeln in Finns Gesicht. Natürlich hatte er die Stimme von Lars sofort erkannt. Nur hatte er nicht mit ihm gerechnet, da er den Rettungsschwimmer heute noch gar nicht gesehen hatte.

Langsam drehte er sich um und lächelte Lars an.

„Naja, für heute muss das reichen. Nicht dass ich mich überanstrenge und das Training sich negativ auf meinen Wettkampf-Zustand auswirkt.“

Sofort wurde auch Lars Grinsen breiter. Sogar seine Augen schienen frech zu blitzen. Dann musterte er Finn, der immer noch halb verdreht auf der Treppe stand.

„Schon auf dem Heimweg für heute?“

Finn stutze. Lag da ein klitzeklein wenig Bedauern in Lars Stimme? Oder bildete er sich das jetzt nur ein, weil er in genau diesem Moment eigentlich gar nirgends mehr hin wollte?

„N…Nein. Ich wollte mich noch ein wenig in die Sonne legen. Zum Trocknen.“

Lars schaute über Finns Schulter. Und obwohl er es ja eigentlich genau wusste, musste er fragen. Die Frage war auch schneller raus, als er sie sich selbst hätte verbieten können.

„Bist du allein da?“

In Finns Blick flackerte es kurz wieder irritiert auf, ehe er nickte. Finn war sich sicher, dass er da gerade so viel mehr in die Situation hinein interpretierte, als sie tatsächlich hergab, aber er konnte es nicht ändern. Ging nicht. So sehr er es auch versuchte.

„Dann kannst du ja auch hier trocknen. Und mir ein bisschen Gesellschaft leisten.“

„Äh… ja klar… wieso eigentlich nicht?“

Jetzt war Finn endgültig irritiert. Nicht nur, dass Lars ihn angesprochen hatte, sich somit auch an ihn erinnerte – wie diese Erinnerung aussehen würde, hinterfragte Finn jetzt einfach mal nicht, sonst würde er sofort im Erdboden versinken müssen – der Rettungsschwimmer hatte ihn sogar gefragt, ob er noch ein bisschen mit ihm hier am Seeufer in der Sonne sitzen wolle. Mit ihm! IHM!

Und der Rettungsschwimmer hatte gelächelt, als Finn auf dessen Frage genickt hatte. Ein bisschen hatte es erleichtert gewirkt. Aber ganz sicher war Finn sich nicht.

So, Finn, und jetzt kommen wir mal schön langsam wieder runter. Das war sicher alles nur Einbildung!

Wahrscheinlich war es einfach nur ein bisschen langweilig so ganz alleine am Seeufer. Immerhin war heute trotz des schönen Frühsommerwetters kaum Betrieb am See.

Lars hatte indessen den Weg zu den Grasstufen eingeschlagen. Inzwischen war er wieder die Ruhe selbst. Aber als der Dunkelblonde vorhin aus dem Wasser gestiegen war und sich zum Gehen gewandt hatte, da hatte Lars fieberhaft überlegt. Ob er Finn ansprechen sollte, ob dieser das überhaupt wollte.

Doch eine echte Chance, darüber nachzudenken, hatte er gar nicht gehabt. Ohne bewusst etwas dagegen tun zu können, hatte er Finn angesprochen. Und war aus dieser Situation auch nicht mehr heraus gekommen. Nicht, dass er das gewollt hätte!

Und nun sassen sie wieder hier auf den Stufen im Gras.

in der Welt der Grasstufen



Da sassen sie nun also. Auf den Stufen. Am See. In der Sonne. Nicht zu nah nebeneinander, aber auch nicht in zu grossem Abstand. Normal eben für zwei junge Männer, die sich gerade Mal ein paar wenige Worte lang kannten.

Verzweifelt suchte Finn nach einem Thema, um die eingetretene Stille zu durchbrechen. Er hatte doch eigentlich so viele Fragen, wollte so viel von und über Lars wissen. Aber er wollte ja nun auch nicht das neugierige Marktweib markieren. Also schwieg er für den Moment lieber. Zumindest, bis ihm die ultimative, aber nicht zu neugierige, interessierte und nicht zu auffällige Frage einfallen würde.
Hoffentlich passierte das noch heute Nachmittag. Am besten innerhalb der nächsten Augenblicke. Sonst würde das hier fast so dümmlich peinlich schweigend werden, wie gestern.
Vorsichtig, nicht zu auffällig, aber mit einer kleinen Spur Neugier in den Augen, linste er zu Lars. Der ja auch noch nichts gesagt hatte.

Lars schaute gerade wieder sehr geschäftig nach den wenigen Badegästen. Die Kinder hatten es vorgezogen, für heute keine Ansage mehr zu kassieren und waren für ihre Sprungübungen ins tiefere Wasser umgezogen. Aber das registrierte Lars nur sehr nebenbei.


Im Moment wollte Lars sich am liebsten selbst in den Hintern beissen. Klar hatte er Finn gefragt, ob dieser noch ein bisschen hier mit ihm in der Sonne sitzen wollte. Aber jetzt, wo es soweit war, fiel ihm nichts Gescheites ein. Nada, niente, null! Seine Gedanken liefen im Leerlauf rund um die Frage, wie er ein Gespräch in Gang bringen könnte. Bevor Finn es vorzog, doch lieber auf seinem Handtuch zu trocknen, anstatt hier schweigend neben ihm zu sitzen. Und so langsam wurde das Schweigen auch etwas unangenehm. Zumindest für ihn selbst.


Nur, was sollte er fragen, ohne gleich zu neugierig und zu sehr ausfragend zu wirken? Andererseits sollte es auch keine belanglose Smalltalk-Frage sein, wie er sie auch jedem x-beliebigen Banknachbarn im Biergarten stellen könnte.

Verdammte Zwickmühle, in die er sich da rein manövriert hatte. Ganz toll gemacht, Herr Rettungsschwimmer. Wirklich Oscarreif... oder doch eher Goldene Himbeere? War ja auch egal. Die Preisverleihung würde heute nicht mehr stattfinden, wenn er hier nicht bald einen Anfang finden würde.

Zumal er von dem Dunkelblonden nichts, aber auch gar nichts wusste. Ausser eben dessen Namen.

„Wie wird man eigentlich Rettungsschwimmer?“

Finns plötzliche Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Hektisch löste Lars seinen Blick von den springenden und lachenden Kindern. Schaute Finn verwirrt an.

„Hm... ich weiss nicht.“

Etwas belustigt zog Finn eine Augenbraue hoch. Seine Lippen umspielte ein Grinsen, ehe er antwortete.

„Na, du musst doch wissen, wieso du das hier machst. Ist ja schon ein ganz schön anstrengender Job, oder?“

„Nee. So sehr eigentlich nicht. Zumindest jetzt noch nicht. Im Hochsommer und in den Ferien kann sich das aber noch ändern.“

„Okay...“

Inzwischen hatte Finn sich an der hinteren Stufe angelehnt und so der Sonne die Möglichkeit gegeben, ihm auch auf den Bauch zu scheinen. Genüsslich streckte er die Beine aus, eher er wieder zu Lars schaute.

„Und wie bist du jetzt Rettungsschwimmer geworden?“

„Also das 'wie' ist einfach... ich war jahrelang im Schwimmverein. Und naja, da lernt man halt schon mal die Grundlagen.“

„Cool... bist du denn auch Wettkämpfe geschwommen?“

„Hm, ja... manchmal...“

„Wahnsinn. Ich bin bei so was ’ne volle Niete.“

Überrascht zog Lars eine Augenbraue hoch und liess Finn nicht aus den Augen. Musterte ihn regelrecht. Unter diesem Blick kribbelte Finns Haut. Aber er versuchte, so ruhig wie möglich, sitzen zu bleiben, und erwiderte so gelassen, wie es nur irgendwie ging, Lars’ Blick.

„Das kann ich mir jetzt aber gar nicht vorstellen... siehst doch ganz sportlich aus...“

Shit, was plapperte er denn hier? Wollte er einem kichernden Schulmädchen Konkurrenz machen? Na wenigstens hatte er nicht dümmlich gekichert. Aber jetzt bloss schnell weitersprechen, ehe Finn die Gelegenheit bekommen würde, irgendwas zu antworten. Schnell ablenken... SCHNELL!!!

„... und so, wie du eben durch den See geschwommen bist, das war doch auch okay. Da gibt es hier deutlich schlimmere Bleienten...“

Gut so, Lars! Ganz toll gemacht! Jetzt hatte er Finn auch noch auf die Nase gebunden, dass er ihn beobachtet hatte.
Nur aus den Augenwinkeln schielte er zu Finn herüber. Kopf nicht drehen... nicht drehen. Bloss nicht auffallen.
Glücklicherweise liess dieser gerade seinen Blick auf der Suche nach diesen angepriesenen Bleienten über das Seeufer schwanken.

„Naja... ich hab's nicht so mit Wettkämpfen. Ich mach lieber die Dinge, die mir Spass machen, ohne den Druck von Konkurrenten.“

Immer noch klebte Finns Blick auf dem Seeufer. Doch im nächsten Augenblick wandte er sich wieder Lars zu und lächelte ihn offen und freundlich an.

„Kann ich verstehen. Und was wäre das zum Beispiel?“

„Hm... Mathe zum Beispiel. Oder Mountainbiking... viele Dinge. Ich leg mich da nicht so fest.“

Lars konnte sein Grinsen nicht unterdrücken. Ja, so in etwa hatte er sich die Antwort vorgestellt. Und diese Widersprüchlichkeit der beiden Dinge faszinierte ihn sofort.

„Mountainbiking? Echt? Krass...“

„Ja, das ist total cool. Erst die fiese, nicht enden wollende Anstrengung, sich den Berg rauf zu quälen. Und dann dieses absolute Gefühl von Freiheit, wenn du oben stehst. Der Stolz, es geschafft zu haben. Vielleicht sogar schneller als beim letzten Mal. Und dann die Belohnung! Das Runterfahren. Mit dem freien Fahrtwind. Und trotzdem musst du vollkommen konzentriert sein. Damit du keine Kurve, keinen Huckel auf dem Trail übersiehst. Das kann sonst echt böse enden. Weisst du, so ein Trail ist immer nur sehr schmal. Und wenn du da was übersiehst oder unkonzentriert bist, dann kann das auch mit gebrochenen Knochen enden, weil du über den Lenker abgeflogen bist. Keine schöne Sache. Weiss ich aus Erfahrung. “

Während Finn vom Biken berichtete, begannen seine Augen leicht zu leuchten. Ohne dass er es merkte, war er ins Schwärmen geraten. Untermalte jeden Teil mit Gesten. War schon fast in Gedanken auf dem Bike und kurvte seinen Hausberg herunter. Legte sich sogar unbewusst in die Kurven, wie Lars schmunzelnd feststellte.

Dieser genoss den gelösten und lockeren Anblick, den Finn vielleicht zum ersten Mal, seit er ihn kennen gelernt hatte, bot. Lehnte sich zurück, beobachtete den Wuschelkopf, der sich immer weiter in diese eigene Welt erzählte und es nicht mal merkte.

Die ganze Badewelt um sie beide herum, hatte er inzwischen auch weitestgehend verdrängt. Konzentrierte sich voll auf ihre kleine Welt, die da ihren Platz zwischen Wiese und Seeufer hatte. Genau hier auf den Grasstufen. Und nur Platz hatte für sie beide.
Erst als Finn am Fuss des Berges und somit am Ende seiner Mountain-Biking-Beschreibung angelangt war, wurde auch Lars wieder bewusst, wo genau sie sassen.

Und was hier seine Aufgaben war. Schnell schaute er sich um. Doch glücklicherweise war am Ufer alles ruhig. Die Kinder hatten sich auf die Spielwiese verzogen und die paar Seeschwimmer schienen alle gut zurecht zu kommen. Erleichtert atmete er aus.

„Shit... Tut mir leid...“

Irritiert blinzelte Lars zu Finn herüber.

„Hm? Was tut dir leid?“

„ ... ich lenk dich total von deiner Arbeit ab. Sorry.“

Doch so wirklich leid tat es Finn eigentlich gar nicht. Und er wollte Lars auch gar keine Chance geben, sich jetzt wieder voll und ganz seinem Job zu widmen. Dafür genoss er das alles hier viel zu sehr. Kurz schaute er Lars Profil an, während der wieder auf das Wasser schaute, ehe Finn einfach leicht grinsend weitersprach.

„Aber du schuldest mir noch eine Erklärung.“

Überrascht zuckte Lars Blick zu ihm. Sein Kopf legte sich leicht schief. Und das grosse Fragezeichen auf dessen Stirn war deutlich zu erkennen.

„Naja... der Job hier? Wie kommt man dazu. Ist ja doch eher... ungewöhnlich, oder?“

Grinsend schüttelte Lars seinen Kopf. Irgendwie hatte er jetzt eine ganz andere Frage oder Erklärung erwartet. Wieso, konnte er selbst nicht sagen. Und auch nicht, ob es ihn jetzt enttäuschte, dass Finn nichts anderes fragte. Aber was hätte Finn ihn auch fragen sollen? Mal ehrlich, vielleicht war die viele Sonne wirklich nicht gut für sein Hirn...

„Lars?“

„Oh, äh, ja... ich kann gut dabei lernen.“

„Lernen?“

Erstaunt schaute Finn zu Lars. Das hätte er jetzt so nicht erwartet. Obwohl... klar, die Bücher. Das würde doch passen.

„Ja, gerade im Frühsommer und abends ist wenig los. Und ich kann für meine Prüfungen lernen. Ich studiere Biologie. Im ersten Semester.“

Verschwörerisch zwinkerte Lars Finn zu.

„Aber verrat‘s keinem, weil es ja auch ein Job ist.“

Grinsend zwinkerte Finn zurück.

Nun war es an Lars, in Erzählungen zu versinken. Auch wenn Finn selbst mit Biologie nicht so viel anfangen konnte, also mit dem theoretischen Teil, angewandte Biologie hatte ja ihren ganz eigenen Reiz, liess er Lars nicht aus den Augen. Nur als dieser anfing, über die auch hier notwendigen Mathe-Vorlesungen zu schimpfen, musste Finn ihn schmunzelnd unterbrechen. Immerhin war das seine grosse Leidenschaft. Neben gewissen Rettungsschwimmern, die davon aber nichts wussten. Und das war auch ganz gut so. Zumindest für den Augenblick.

Schon bald fanden sie sich in einer regen Diskussion über Sinn und Unsinn, über Nutzen und Unnutzen von Mathe wieder. Lachten, argumentierten, widersprachen sich, und fühlten sich einfach pudel wohl. Merkten gar nicht, wie die Zeit verging.

Erst als Lars Blick zufällig über das inzwischen fast leere Ufer glitt, schaute er auf die Uhr. Fast erschrak er. Shit... schon so spät. Wer hatte denn bitte da an der Uhr gedreht? Wenn er den erwischen würde.

Finn war seinem Blick gefolgt. Als dieser die Aussage der Uhrzeiger verarbeitet hatte, erhob er sich langsam. Spürte Lars Blick und erwiderte ihn mit einem, hoffentlich nicht allzu traurigen, Lächeln.

„Na, dann will ich mal... ist ja auch schon spät geworden.“

„Okay... ja... schon spät...“

Lars war inzwischen auch aufgestanden und schaute zwischen Finn, der Uhr und dem See hin und her.
Hatte sein Blick etwas Bedauerndes? Finn war sich nicht sicher. Und für diesen kurzen Moment würde er das auch nicht weiter hinterfragen. Er hatte einen herrlichen Nachmittag am See verbracht. Hatte sich lange mit Lars unterhalten. Ungezwungen, ausgelassen, lachend. Einfach sehr angenehm und wenn es nach Finn ginge, mit einer baldigen Wiederholung... sehr baldigen Wiederholung!

„Dann bis morgen?“

Plötzlich riss Lars Finn aus seinen Gedanken. Schon wieder. Überrascht blinzelte Finn. Hatte er gerade richtig gehört? Hatte er??

Langsam nickte Finn. Und wurde sofort mit einem Lächeln von Lars belohnt.

Auf jeden Fall Morgen! Und wenn die Welt untergehen würde. Oder es regnen würde... er würde hier sein.

Angewandte Mathematik



Schon wieder blickte Finn erst auf seine Armbanduhr, dann auf die grosse Uhr über der Hörsaaltür und zum Schluss, nur um ganz sicher zu gehen, auf die Kirchturmuhr, die er von seinem Platz in der 4. Reihe gerade so am Rand des Fensters erkennen konnte.

Es war doch verhext. Klar, es war Freitag. Aber der 13.? Hatte er den im Kalender übersehen? Oder die Zeitumstellung nicht mitbekommen? Nee, die war ja nur im Herbst und im Sommer.

Aber wieso verdammt, bewegten sich die Zeiger aller drei betrachteten Uhren nicht? Seit er vor Stunden das letzte Mal geprüft hatte, wie spät es war, sollten angeblich nur knappe 5 Minuten vergangen sein. Das ging doch gar nicht! War doch mathematisch, physikalisch und auch sonst empirisch nachweisbar nicht möglich.

Seufzend liess Finn den Kopf auf seine Arme sinken, schaute zwar Richtung Tafel, war aber eigentlich nur körperlich im Hörsaal anwesend.

Wie lang konnte eigentlich so ein Vormittag in der Uni sein. Und wieso bitte schön begannen die Semesterferien nicht einfach mal vier Wochen eher? Und was genau hatte der Dozent da vorne gerade über die letzten beiden Parabelfunktionen erzählt? Und die Schnittmenge der Kurveninhalte?

Die einzige Schnittmenge, die Finn gerade interessierte, war wohl eher der Kurveninhalt unterhalb seiner Seeufer-Anwesenheits-Zeit-Funktion mit der Arbeitszeit-Funktion eines ganz bestimmten Rettungsschwimmers. Wobei die Variablen nur bedingt verhandelbar und eigentlich gar nicht variabel waren.

Die Formel war doch ganz einfach!

Integral über die Funktion f (Lars) = See * Zeit * Anwesenheit (Finn) – Radweg (Finn) zum See

Und nun noch das ganze Auflösen nach dem grösstmöglichen Wert, den dieses Integral annehmen kann. Spricht hier was gegen Unendlich?

Naja, wenn Finn so aus dem Fenster schaute... ja, schon... irgendwie.

Hatte er ja ganz vergessen. Das Wetter. Die einzige Variable, die er nicht per Definition oder durch geschicktes Manipulieren in eine halbwegs gleichbleibende Konstante umwandeln konnte.

Über Nacht waren die Temperaturen deutlich gefallen. Und heute Morgen hatte es sogar geschauert. Und das ziemlich heftig. Zusätzlich hatte das Wetter sich genau die fünf Minuten ausgesucht, die Finn auf seinem Rad gesessen hatte, um zur Uni zu fahren, um diesen Schauer loszulassen

Seine Schwimmsachen hatte er, natürlich, trotzdem eingepackt. Auch wenn sein Mitbewohner reichlich süffisant gegrinst hatte. Der war ja auch nicht blöd. Durfte er bei seinem Studium ja auch gar nicht sein.

Und weil er eben nicht doof war, hatte der ja mitbekommen, dass Finn seine Nachmittage irgendwo verbrachte. Und in Kombination mit den täglich nassen und leicht sandigen Schwimmsachen, sollte die Schlussfolgerung nicht allzu kopfzerbrechend gewesen sein. Das Ganze zusätzlich gekrönt durch Finns dümmliches Grinsen abends auf der Couch, da war jede Frage von Marcs Seite überflüssig.

Dankenswerterweise. Denn Finn wollte nicht über Lars oder den See quatschen. Was hätte er auch erzählen sollen?

Dass es ein schöner Nachmittag gewesen war? Oh ja, zweifelsohne war der toll gewesen. Aber das deswegen gleich brühwarm neben den Abendnachrichten als neueste Schlagzeile präsentieren?

Nein, da hatte Finn dann doch lieber den restlichen Abend und die halbe Nacht ganz für sich alleine von diesem Nachmittag vor sich hin geträumt. Hatte über ihre Gesprächsthemen nachgedacht und auch darüber, dass er sich einiges von dem, was Lars so erzählt hatte, nicht wirklich bei dem Rettungsschwimmer hatte vorstellen können. Aber das machte den anderen ja noch interessanter und dessen kennen lernen noch spannender.

Und da war ja noch was gewesen. Finn war sich nicht ganz sicher. Aber es hatte sich so angefühlt. Und allein die Möglichkeit, dass das auch tatsächlich passiert war, liess Finns Ameisenballett Sondervorstellungen aufführen.

Lars hatte ihm nachgeschaut.

Als Finn sich erhoben und zum Gehen gewandt hatte, weil inzwischen schon fast Abend gewesen war. Und nicht nur er langsam mal den Heimweg hatte antreten müssen. Auch der Rettungsschwimmer hatte vor Feierabend noch ein kurzes, aber intensives Programm, bei dem dieser sich sehr konzentrieren musste. Das hatte Lars ihm zusammen mit seinen anderen Aufgaben als Rettungsschwimmer am See erklärt.

Aber das alles war Finn ziemlich egal gewesen. Je länger er drüber nachdachte, umso sicherer wurde er sich. So sehr konnte er sich doch nichts einbilden, was nicht da gewesen war.

LARS HATTE IHM NACHGESCHAUT!

Das war alles, was den restlichen Abend und die restliche Nacht, gefolgt vom Aufstehen und dem anschliessenden heutigen Vormittag für Finn gezählt hatte.

Aber das alles war nichts, was man seinem Mitbewohner unbedingt auf die Nase binden musste, wenn man viel besser davon träumen konnte. Ganz besonders, wenn besagter Mitbewohner so wunderbar herrlich NICHT nach bohrte.


Finn's Blick wanderte wieder zu den grossen Fenstern des Hörsaals. Immer noch wolkig, immer noch kühl...

Frustriert wandte Finn sich wieder der Frage zu, ob er nun heute zum See fahren sollte oder nicht. Immerhin hatten sie sich verabredet.
Also... naja...
Lars hatte gefragt: ‘dann bis morgen?'
Kein echtes Date, keine echte Verabredung.

Aber wie bitte schön sollte das denn wirken, wenn er heute einfach nicht zum See fahren würde. Abgesehen davon, dass Finn selbst nicht mal sicher war, ob er so einen Nachmittag ohne See, ohne Rettungsschwimmer so einfach und ruhig überstehen würde.

Er konnte sich ja nicht mal jetzt richtig auf seine Aufgabe konzentrieren. Wie sollte das nur werden, wenn er zu Hause sass und alle zwei Minuten zum Fenster starrte, weil das Wetter sich ja geändert haben könnte.

Mit Schwung und durch die direkte Frage des Dozenten wurde Finn aus der Beantwortung seiner inneren Fragerei zurück in den Hörsaal katapultiert. Und da der Prof ihn auch gerade nicht so wirklich wieder in seine fragende Grübelwelt zurücklassen wollte, indem er immer weiter fragte, musste diese nun bis nach Ende der Vorlesung warten.


Eine gefühlte Ewigkeit, tatsächlich aber nur die 20 Minuten bis zum Vorlesungsende, später, stand Finn am Fahrradständer. Betrachtete sein Rad.
Biken sollte er schon mal wieder gehen. Ein bisschen was von dem Gefühl einfangen, welches er gestern Lars beschrieben hatte.

Aber im Moment erst mal die Frage klären, ob er nun heute zum See fahren sollte.

Um ihn herum leerte sich der Rad-Platz stetig. Doch das tangierte Finn nur sehr peripher. Sein Blick wanderte immer wieder den Himmel und die dort ziehenden Wolkenbänder entlang.

Ob Lars heute überhaupt am See sein würde? Bei dem Wetter? Gab es da überhaupt jemanden, der beim Schwimmen beaufsichtigt werden musste?
Oder würde das Rettungsschwimmerhäuschen heute leer und einsam am See stehen?

Verdammt... Fragen über Fragen.

Und würde Lars, gesetzt den Fall, er wäre da, denken, dass Finn bei diesem Mistwetter auch an den See kam? Würde der Rettungsschwimmer sich freuen? Oder würde er Finn für deppert halten? Oder noch schlimmer... würde Lars sich von ihm verfolgt fühlen? Immerhin waren Lars letzte Worte ja keine echte Einladung gewesen. Hatten sie überhaupt so etwas wie eine Verabredung?

Ach, das war doch alles scheisse...!!!

Schon wieder... oder immer noch?... egal... schlug Finn sich die Hände vors Gesicht. Traf eine Entscheidung. Und würde dann später schauen, was dabei herauskam. Vielleicht hatte er dann Antworten und musste sich nicht mehr mit so vielen offenen Fragen beschäftigen.

Zielstrebig, aber nicht vollends von seinem Vorhaben überzeugt, schloss Finn sein Fahrrad los und schwang sich auf den Sattel. Den Weg zum See kannte er inzwischen ja auch, ohne gross drüber nachdenken zu müssen.

Als er am See angekommen war und das Fahrrad sicher an den bekannten Platz am Fahrradständer angebunden hatte, wagte Finn es nicht wirklich, sich dem Strand, der Wiese zuzuwenden. Und damit dem DLRG-Häuschen.
Was, wenn es leer war? Was, wenn es genau NICHT leer war?

Finn war sich gerade nicht sicher, was für ihn jetzt besser wäre. Klar wollte er Lars sehen, sich mit ihm unterhalten. Aber andererseits fieselte da ja schon die Frage, was der von Finn denken sollte, wenn dieser heute bei Wetter, das zu allem einlud, aber garantiert nicht zum Baden im See, trotzdem hier auftauchte. Würde der andere sich freuen? Würde er ihn für total dämlich, dümmlich und bescheuert abstempeln?

Noch während Finn's Gedanken um diese Fragen Kreise zogen, näherte er sich der Stelle, an der er sonst sein Handtuch ausbreitete.

Definitiv zu nass. Also kein Handtuchlager heute.

Alternative?

Klar... das Rettungsschwimmerhäuschen. Dort war es sicher trocken.
Langsam trottete Finn weiter in Richtung des DLRG-Unterstands. Aber seinen Blick hielt er sicherheitshalber mal auf das Gras gerichtet, welches unter seinen Füssen quietschte.

Erst der Übergang zum gepflasterten kleinen Bereich, der ihm zeigte, dass es nur noch zwei Schritte bis zum Haus waren, liess ihn aufblicken.

Schwer seufzte Finn. War ja klar. Hätte er ja auch mit rechnen können. Besser, er hätte es wissen müssen.

Keiner da. Nur das einsame, leere Aufsichtshäuschen. Sonst nichts und niemand.
Nicht mal andere Badegäste.

Und als hätte das einsame Seeufer inklusive DLRG- Häuschen ohne Rettungsschwimmer nicht gereicht, seine Stimmung gen Null zu bewegen, nein, in genau diesem Moment begann es auch noch, wieder zu regnen. Ach quatsch Regen... ein monsunartiges Gewitter brach sich gerade durch den Himmel.

Danke auch Schicksal!

Das unaufhaltsame Sterben von Stromtierchen


Lars hasste den Tag jetzt schon. Obwohl Freitag war, obwohl Wochenende war, obwohl er den letzten Platz in dem vollkommen überfüllten, heissbegehrten Seminar bekommen hatte, welches ausschlaggebend für sein Vordiplom sein würde. Obwohl er dafür nicht mal hatte frei nehmen oder den Dienst tauschen müssen.

Seit heute Morgen war das Wetter mies, seine Laune hatte sich im Laufe des Tages diesem angeglichen. Ohne grosse Probleme. Stetig, konstant, in einer umgekehrt exponentiellen Kurve.

Shit.

Jetzt dachte er schon in mathematischen Formeln.

Und wieder ein neuer Zwischenstand an schlechter Laune erreicht. Na herrlich. Zudem hatte er nun auch das zweite Mal die Versuchsanordnung nicht richtig zusammengesteckt, weil er sich fragte, wie es sein konnte, dass ein Biologe aus Überzeugung plötzlich anfing, in mathematischen Ausdrücken zu denken.

Ach ja...

Und wieder ein kleines bisschen runter mit der Laune. Aber wenn Lars sich richtig erinnerte, glichen sich umgekehrt exponentielle Funktionen irgendwann einer imaginären Geraden an. Also würde, wenn alles gut lief, gleich nichts mehr passieren können, um seine Laune endgültig in den negativen Bereich der Zahlen- und Funktionswelt zu stürzen.

Die Versuchsanordnung hatte es sich inzwischen anscheinend überlegt und hielt unter seinem grimmigen Blick. Und auch sein Versuchspartner hielt endlich mal die Klappe. Den konnte Lars eh nur bedingt ab. Und heute, natürlich nur wegen seiner schlechten Laune, noch ein klein bisschen weniger als sonst.

Aber der liess sich nur kurz von Lars funkelndem Blick beeindrucken und schaltete sofort wieder in den Klugscheissermodus, den er schon seit Beginn des Seminars kurz nach der Mittagspause eingeschaltet hatte. Und Lars hasste ihn dafür.

Andererseits war so wenigstens halbwegs gesichert, dass Lars in dieser Konstellation das Seminar bestehen würde. Etwas, was er alleine und in Kombination mit seinem heutigen Gemütszustand nicht so ohne weiteres hätte erwarten können.

Und dann hätte er das Seminar auch gleich sausen lassen können.

Lars Gegenüber plapperte die ganze Zeit klugscheisserisch weiter und er bemühte sich, so gut es ging, alles gesagte zu notieren, damit er dann am Wochenende wenigstens irgendwann den Abgabebericht mit den Versuchsauswertungen machen konnte, wenn er heute die Versuche schon eher behinderte, als zum Erfolg eben jener beizutragen.

Kurz wanderte sein Blick zum Fenster. Immer noch beschissenes Wetter. Immer noch beschissene Laune. Herrlicher Start ins Wochenende. Ganz wunderbar!

Ob Finn heute wohl an den See kommen würde? Der grössere Teil in Lars hoffte sehr inständig, dass der Wuschelkopf nicht kommen würde. Aber nicht, weil er den anderen nicht sehen wollte. Um Gottes Willen, die halbe Nacht hatte er damit verbracht, sich den morgigen, also ja jetzigen, Nachmittag auszumalen. Versucht, Gesprächsthemen vorzubereiten oder überlegt, ob er Finn nicht einfach auf eine Runde Schwimmen im See einladen sollte.


Und zu allem Überfluss hatte ihm ja nicht nur das Wetter zuverlässig einen dicken Strich durch alle seine Überlegungen, alle seine Ideen und möglichen Vorhaben gemacht, sondern auch sein Prof, der ihm heute Morgen kurzfristig diese Mail geschrieben hatte, auf die Lars ja eigentlich schon seit zwei Wochen wartete.

Nein, der Wunsch, dass Finn bei den Wetter wirklich zu Hause blieb, rührte eher daher, dass Lars sich inzwischen doch Etwas dämlich vorkam. Um nicht zu sagen schulmädchenhaft, zettelschreibend und einfach nur peinlich.
Gut, das war vorhin am See noch anders gewesen. Da hatte er das noch für eine gute Idee gehalten. Aber manchmal kommt die Erkenntnis erst mit dem Alter. In seinem Fall mit der Zeit.

Das war doch alles Scheisse !!!

Und als ob das nicht alles schon genug Übel für heute gewesen wäre, vibrierte sein Handy genau in der Sekunde, in der er die exakte Menge Reagenz abtropfen wollte, so dass er zusammenzuckte, die Menge natürlich vollkommen überdosiert war, und sein Versuchspartner ihn entrüstet anschaute.

Shit, wie gerne hätte Lars in diesem Moment erst das Handy zerlegt, dann fest gegen den Tisch getreten, seinen Versuchspartner einfach stehen gelassen und wäre ab heim ins Bett verschwunden. Wie gerne hätte er diesen NICHT-Tag unter seiner Bettdecke vergessen.

Stattdessen stand er hier, atmete tief und versuchte, alles an Beherrschung aufzubringen, was er irgendwo in sich finden konnte.

Gerade als er sich halbwegs wieder im Griff hatte und er einen erneuten Versuch mit dem Reagenz, dem Trägerplättchen und der Pipette wagen wollte, vibrierte das dämliche Handy schon wieder. Aber diesmal wenigstens rechtzeitig, dass der Versuch nicht schon wieder danebengehen würde.

Mürrisch liess Lars die Utensilien auf den Tisch gleiten und kramte sein Handy aus der Hosentasche. Entschuldigend nickte er seinem Versuchspartner zu und trat vor die Labortür.

„Bär… was ist denn?“

Ups, das kam schärfer als Lars es eigentlich wollte. Tat aber in diesem Moment ziemlich gut und gab seiner Launekurve einen klitzekleinen Aufwärtstrend.

„Äh… hallo, hier ist… also hier ist Finn. Lars, bist du das?“

In dem Moment wäre beinahe ein Handy auf den Boden des Universitätsflur gesegelt, weil dessen Halter fast einen Herzinfarkt bekommen hätte. Wie erstarrt stand Lars da, schaute aus dem Flurfenster und versuchte zu begreifen, wer da am anderen Ende der Leitung war.

„Lars?...“

„Oh, äh, ja… Hey Finn. Hast du meine Nachricht doch gefunden?! “

Ein leichtes, erleichtertes Grinsen schob sich in Lars Gesicht. Wobei sich das Gefühl der Peinlichkeit auch gleich dazugesellte.

Als er vor dem Seminar am See gewesen war, die kleine, gefaltete Nachricht in der Hand gehalten hatte, da war es ihm noch wie eine supergute Idee vorgekommen. Naja, das hatte sich ja inzwischen eben ein klein wenig geändert. Wobei er immer noch nicht wusste, was er anderes hätte tun sollen für den Fall, dass Finn doch zum See kommen würde. Was, wenn dieser dort auf ihn warten würde und Lars ihm nicht mal Bescheid geben konnte, wieso er nicht da war.

Den ganzen Vormittag hatte Lars überlegt… und sich schliesslich am See wiedergefunden. Nun, einmal dort, konnte er auch seinen kleinen Zettel mit der Mitteilung, dass er eben unerwartet zu einem Seminar musste und seiner Telefonnummer, im Rettungsschwimmerhäuschen zwischen die Bretter der Ablage klemmen. Dort, wo normalerweise die Boje hing, wenn einer der Rettungsschwimmer Dienst hatte.

Wenigstens hatte Finn sie gefunden und ihn noch nicht dafür ausgelacht. Dann war es ja doch auch irgendwie gut, oder?!

„Ja, hab ich… Danke dafür!“

Lars konnte spüren, wie sich Finn’s Stimme etwas entspannte. Und in genau diesem Moment schien irgendeine Konstante in seiner umgekehrt exponentiellen Laune-Funktion sich zu ändern, so dass die Kurve nicht nur einen unerwarteten Sprung in heute noch nicht da gewesene Höhen machte, sondern zusätzlich auch ihre Richtung änderte.

Und schon wieder die für sein Biologen-Hirn unbekannte mathematische Formeldenkweise. Scheisse, was stellte der Typ am anderen Ende der Leitung nur mit ihm an.

„Ja sorry, echt.“

Bevor Lars lang und breit ausholen konnte, piepste sein Handy ungehalten an seinem Ohr. Die letzten Warnzeichen, dass der Akku gleich aufgeben würde, weil sämtliche Stromtierchen gestorben waren.
Noch bevor er grossartig über seine Worte nachdenken konnte, sprach er einfach weiter. Ohne wirklich zu überlegen, was genau er da eigentlich sagte.

„Du Finn, mein Akku ist gleich leer. Ich meld mich später bei dir. Und dann können wir ja noch ein Bierchen trinken gehen. Okay?“

„O... Okay... gerne...“

Ein letztes Piepsen und dann war das Gespräch weg. Wie hypnotisiert starrte Lars sein Handy an. Das durfte doch einfach nicht wahr sein. Wieso ausgerechnet heute? Wieso ausgerechnet jetzt?

Er sollte nun langsam echt mal checken, ob nicht doch Freitag, der 13. heute war.

Aber irgendwie wollte sich die erwartete schlechte Laune nicht so richtig einstellen, die so ein unterbrochenes Gespräch doch eigentlich hätte verursachen müssen.

Ganz im Gegenteil.

Leicht beschwingt wandte Lars sich wieder dem Laborraum zu. Lächelnd schob er das Handy in die Hosentasche, achtete darauf, es bloss nicht irgendwo hinzulegen, wo er es womöglich vergessen würde. Nicht auszudenken, was er in so einem Fall heute Abend zu Hause mit seiner Einrichtung würde anstellen müssen, wenn so etwas passieren würde.

Kaum war ihre Versuchsreihe abgeschlossen, die Anordnung geputzt und im Schrank versorgt, beeilte Lars sich, auf dem schnellsten Weg, in heimische Gefilde zu gelangen und das Ladegerät aus der Versenkung zu holen.

Die ersten fünf Minuten, die das Handy brauchte, um dem Power-Knopf die Chance zum reagieren zu geben, nutzte Lars gleich zum duschen.

War das jetzt dämlich oder er schon in Erwartungshaltung, dass er sich frisch geduscht besser auf das Telefonat konzentrieren konnte?

Lieber nicht so genau hinterfragen und das Bierchen festmachen! Immerhin hatte Finn vorhin schon zugesagt.

Baggern am See



Einsam lag Finn am See auf seinem Handtuch im Gras. Zum ersten Mal in diesem Jahr brutzelte die Sonne richtig vom Himmel, noch dazu war Sonntag. Dementsprechend voll war die Wiese am See. Rund um Finn tummelten sich Menschen über Menschen. Kleine Kinder quängelten und Mütter versuchten diese irgendwie zu beruhigen. Oft genug gelang es ihnen nicht.

Genervt drehte Finn die Lautstärke seines MP3-Players lauter. Er wollte nichts von dem allgemeinen Gewusel mitbekommen. Und zu allem Überfluss konnte er sich einfach nicht auf das Kapitel, welches er gerade lesen wollte, konzentrieren.
Stattdessen hing sein Blick wie festgeklebt am Rettungsschwimmerhäuschen. Nein, natürlich nicht an dem Häuschen. Sondern an Lars. An wem oder was auch sonst.


Lars bemerkte seinen Blick gar nicht, so beschäftigt war dieser mit der Versorgung von kleineren Wehwehchen wie Bienenstichen und Schürfwunden. Regelmässig unterbrochen von hektischen und lautstarken Einsätzen entlang des Seeufers. Die pubertierenden Jugendlichen schienen sich einen Spass draus zu machen, Lars auf Trab zu halten. Mehr als einmal hatte Finn Lars Stimme bis hier rauf auf die Wiese gehört.

Kein Wunder, dass Lars da heute keine Zeit hatte, sich auch nur irgendwie für Finn zu interessieren, geschweige denn sich mit diesem zu beschäftigen. Hatte Finn auch gar nicht erwartet, als er vorhin bemerkt hatte, dass die Wiese und das Seeufer schon heillos überfüllt waren, ehe Lars seine Nachmittagsschicht angetreten hatte.

Seufzend löste Finn seinen Blick doch von Lars Rücken, der Finns Blick gerade zu einer Muskelspiel-Vorstellung einlud. Doch statt wie das hypnotisierte Kaninchen auf diesen Schlangenrücken zu starren, versuchte Finn die Augen zu schliessen.

An Konzentration auf seine Mathe-Lektion war in absehbarer Zeit eh nicht zu denken. Da konnte er genauso gut auch seinem eigenen Kopfkino nachgeben. Nicht dass das gerade eine andere Vorstellung spielte, als die Rückenmuskulatur von Lars am Rettungsschwimmerhaus.

Ein leichtes Lächeln schob sich in Finns Gesicht, als er an den Abend vor zwei Tagen dachte.

Man, wie komisch hatte er sich gefühlt, als er am Freitagnachmittag ganz alleine am See im DLRG-Häuschen gestanden hatte und darauf warten musste, dass der Regenschauer, wenn schon nicht ganz aufhörte, so doch wenigstens abschwächte, dass er mit dem Rad halbwegs trocken hätte heim kommen können.

Etwas frustriert hatte er gegen die Rückwand gelehnt und seinen Blick schweifen lassen. Bis Finns Blick an diesem Zettel hängen geblieben war. Der fein säuberlich hinter den Haken der Boje geklemmt war. Lange hatte er das Stückchen Papier fixiert. Hatte überlegt, ob es vielleicht für ihn sein könnte. Hatte diese Überlegungen gleich wieder verworfen. Hatte seinen Blick bewusst weiter schweifen lassen. Doch der war immer wieder hartnäckig zu dem Papier zurück geschweift.

Schliesslich hatte Finn danach gegriffen.

Und sofort hatte sich ein Lächeln in seinem Gesicht breit gemacht, während er sein Handy aus der Tasche gefischt hatte.
Gut, etwas unsicher war er schon gewesen, als Lars sich ziemlich barsch gemeldet hatte. Aber wenn man mitten in einem Seminar oder, in Lars Fall, in einem Labor gestört wurde, konnte so eine Reaktion schon mal harsch ausfallen. Das wusste Finn nur zu gut von sich selbst. Oder besser von seiner Schwester, als diese ihn mal bei einer Seminararbeit aus seinen völlig vertieften Gedanken geholt hatte.

Dafür war ihr Abend umso schöner gewesen. Das Irish Pub, welches Lars vorgeschlagen hatte, war schön gemütlich gewesen. Und erstaunlicherweise an einem Freitag Abend nicht vollkommen überfüllt. So hatten sie sich den ganzen Abend über Gott und die Welt unterhalten, hatten gelacht und getrunken.

Jetzt wusste er, dass Lars fast alle Monthy Python Filme auswendig rezitieren konnte, dass dessen Musikschrank so ziemlich allen Ac/Dc Platten ein Heim bot und sich direkt daneben eine Sammlung moderner Cello-Solisten friedlich eingereiht hatte.

Beruhigt hatte Finn festgestellt, dass Lars fast so voller Gegensätze war, wie er selbst auch. Und das hatte ihnen nur noch mehr Stoff zum Lachen und Quatschen gegeben.

Alles in allen ein wunderbarer, amüsanter, interessanter Abend.

Und für den Moment des Abends hatte Finn auch fast vergessen, dass er nicht nur die Gesellschaft des Rettungsschwimmers mochte. Nein, er hatte sich einfach rundum wohl gefühlt.

So richtig hatte er das erst bemerkt, als er glücklich lächelnd ins Bett gefallen war. Und kein bisschen enttäuscht darüber war, dass sie ausser Reden und Lachen eben nichts getan hatten.

Ohne Frage hätte er Lars geküsst, wenn sich dieser eine Moment ergeben hätte. Hatte er aber nicht. Und so war es nun mal nicht passiert.

Auch den ganzen Samstag wollte sich kein echtes Bedauern einstellen. Eher die Vorfreude auf ihr nächstes Treffen am See, liess Finns Herz schneller schlagen.

Erst hier und heute am See, ständig diesen Anblick vor Augen… da fiel es Finn schon schwer, nicht einfach aufzuspringen, sich seinen Rettungsschwimmer zu schnappen und gepflegt abzuschleppen.

Seufzend liess Finn seinen Arm auf seine Augen fallen. Den Film in seinem Kopf stoppte das aber gerade wirklich nicht.

„Hey, sorry…“

Eine Stimme riss Finn aus seinen Gedanken. Sofort liess er seinen Arm von seinen Augen über den Kopf aufs Handtuch gleiten. Gab somit seinen Blick frei und versank sofort in den grünen Augen seines Rettungsschwimmers.

Was ein Glück, dass er hier auf dem Rücken im Gras lag. Die Gefahr, dass seine Beine beim Anblick dieser Augen einfach nachgegeben hätten, war nicht nur gross, sie war eher sehr sehr wahrscheinlich. Und das unweigerlich darauf folgende, mit genauso grosser Wahrscheinlichkeit, äusserst ungalante Umkippen wäre sicher ein Highlight aller Badegäste inklusive Rettungsschwimmer gewesen.

Da war es schon besser, dass Finn bereits auf dem Rücken lag. Bereit für alles und noch mehr.

In genau diesem Moment wäre es ein Leichtes gewesen, seine Hand in Lars Nacken zu legen. So wie dieser sich neben ihn gekniet hatte und seinen Oberkörper sogar ein Stückchen zu Finn gelehnt hatte.

Wenn Finn jetzt, genau jetzt einfach Zupacken würde… Lars hätte keine Chance, ausser sich auf seinen Lippen abzustützen. Und Finn würde ihn um den Verstand küssen. Würde den anderen einfach nicht mehr loslassen. Ihn mit einer Hand im Nacken festhalten, während die andere langsam ihren Weg über Lars Oberkörper finden würde.

Stattdessen setzte er sich auf. Rutschte ein kleines Stück nach hinten, um nicht sofort in Lars Privat-Radius zu sein. Brachte sich quasi entgegen seines inneren Verlangens in Sicherheit. Andernfalls würde er nicht für die Unversehrtheit von Lars Lippen garantieren können.

Noch völlig, mit offenen Augen, in Gedanken, registrierte Finn nicht, dass Lars Blick kurz flackerte, als er bemerkte, dass Finn etwas abrutschte.

Eben war er sich kurz, wirklich nur einen Wimpernschlag lang sicher gewesen, dass der andere ihn jeden Moment küssen würde. Und den Teufel hätte er getan, sich zu wehren

Stattdessen lehnte er sich jetzt auch zurück. Ganz toll, Lars, ganz toll. Ein bisschen mehr Initiative in dieser Sache hier würde schon nicht schaden… Wenn das diesen Sommer noch irgendwann etwas werden sollte.

„Ich hoffe, du langweilst dich nicht.“ Ein Seitenblick von Lars streifte Finns Buch. Wenn er sich nicht täuschte, war das immer noch die gleiche Grafik, wie vor einer Stunde, als er das letzte Mal, vollkommen beschäftigt natürlich, an Finns Handtuch vorbeigelaufen war. Gleich nachdem er ein Stossgebet zum Himmel geschickt hatte, weil eines der Kinder auf der Wiese in eine Wespe getreten war und er nachschauen sollte, ob es dort nicht vielleicht Erdwespen geben würde. Die aufgebrachte Mutter hatte eh erst Ruhe gegeben, als Lars in seiner Funktion als Aufsicht hinter ihr hergelaufen war. Auf halbem Weg war das ganze Vorhaben Wespennest dann etwas aus seinem Hirn gerutscht, weil er nur wenige Meter an Finn vorbeigelaufen war.

Auf dessen Lächeln hatte Lars sofort zurück gelächelt und sogar einen halben Schritt seine Richtung geändert. Natürlich nicht unbemerkt von jener Mutter, die ihn sofort wieder umlotste.

Aber dieser kurze Augenblick, dieses kurze Lächeln hatte jetzt, nachdem eine weitere Stunde vergangen war, nicht mehr ausgereicht. Jetzt hatte er wenigstens einen kurzen Moment in Finns Nähe geniessen wollen. Den wahrscheinlich letzten für diesen Sonntag Nachmittag.

Scheiss gutes Wetter.

„Nein, passt schon. Ich muss eh noch lernen.“ Kurz blinzelte Lars, weil er gar nicht gemerkt hatte, dass Finn ihm geantwortet hatte.

„Wie sieht's aus? Ich lerne hier noch in Ruhe fertig, du machst das, was ihr Rettungsschwimmer so machen müsst und wenn hier weniger los ist, gehen wir zusammen ne Runde Schwimmen?“

Mit einem zustimmendem Nicken und einem Lächeln, dass es Finn grad wieder den Boden unter den Füssen wegzog und er sich immer noch heimlich über die Tatsache freute, dass er sass, erhob sich Lars.

„Okay... und dann mach ich dich nass.“

Damit war der Rettungsschwimmer verschwunden. Und Finns Absicht zu lernen, in weite Ferne gerückt.

Entzugerscheinungen



Endlich, endlich, endlich Freitag. Und auch endlich, endlich, endlich Ende der anstrengenden Seminarwoche.

Die hatte Finn so einiges abverlangt. Nicht nur, dass Seminarwochen allgemein ziemlich ziemlich ziemlich lang und anstrengend waren, nein, diese Woche kam noch die verflucht ungünstige Tatsache hinzu, dass er ja eben wegen dieser vermaledeiten Seminarwoche nicht an den See konnte.

Das hatte seine innere Ausgeglichenheit doch schon sehr sehr sehr ins Ungleichgewicht gebracht.

Und wenn er nicht bald bald bald aus diesem Gebäude kam, bestand eine, durchaus nicht kleine, Chance, dass er noch wahnsinnig werden würde. Allein, dass er beinahe jedes Adverb dreimal dachte, war schon ein ziemlich eindeutiger Hinweis.

Kaum hatte der Prof seine Abschlussrede zum diesjährigen Analysis-Seminar beendet, war Finn auch schon aufgesprungen. Nach Ende der Seminarstunde hielt ihn wirklich nichts mehr im Mathelabor der Uni. Jetzt interessierte ihn nur der kürzeste Weg zu seinem Fahrrad, der keine Gerade sein konnte, weil das aufgrund der vielen Trennwände sehr schmerzhaft geworden wäre. Dicht gefolgt von der kürzesten räumlichen Verbindung zu seinem Platz am See.

Den ganzen Weg über musste er sich mächtig zusammen reissen, dass er nicht sämtlichen idiotischen Autofahrern gegen irgendeines der Karosserieteile trat, die sie ihm immer wieder in den Weg schoben. Mehr als einen Fussgänger verfluchte er, der nicht schnell genug vom Radweg wieder runter war.

Und dann endlich, endlich, endlich stand er wieder am See. An seinen See.

Da war es schon wieder, dieses dreifache Adverb-Denken. Mann, wurde wirklich Zeit, dass diese Woche rum ging!

Finn wollte gerade sein Handtuch aus der Tasche zerren, als ihn das Vibrieren seines Handys innehalten liess. Statt des Handtuchs hielt Finn nun das Handy in der Hand. Als er den Absender las, konnte Finn nicht anders als dümmlich vor sich hin zu lächeln.

Doch das verabschiedete sich sofort, als er den Inhalt der SMS gelesen hatte. Erstarrt blickte Finn auf das Display. Konnte die Buchstaben, die sich dort zu Worten formten nicht so wirklich greifen.

Verdammt, verdammt, verdammt! Das durfte doch nicht wahr sein. Nicht nach dieser schier endlosen Woche.

- Hey Finn. Ich musste kurzfristig meinen Dienst tauschen, das Labor dauert länger. Gruss Lars -

Mit leicht enttäuscht zitternden Fingern tippte Finn eine Antwort in das Mobiltelefon. Was ein Glück, dass rund um ihn keiner war, der seine deutlich sichtbare Enttäuschung sehen konnte.

Nachdem er seine Antwort, die hoffentlich nicht ansatzweise so traurig und enttäuscht klang, wie er sich gerade fühlte, abgeschickt hatte, überlegt Finn, was er, nun da Lars heute nicht kommen würde, mit dem Abend anfangen sollte.

Auf einen weiteren einsamen Abend zu Hause hatte Finn keinen Bock. Seit sein Mitbewohner Mitte der Woche für die Semesterferien nach Hause gefahren war, war die Wohnung der Zweier -WG ruhig. Für Finn, der es sonst schon gerne hatte, wenn nicht immer Rämidämi herrschte, etwas zu ruhig

Konnte aber auch daran liegen, dass ihn so wirklich keiner mehr von seinen Gedanken an Rettungsschwimmer und Badeseen und andere, grösstenteils nicht jugendfreie, Kopfkinofilme abhielt.

Naja, wenn er schon mal hier war, konnte er ja auch noch ne Runde schwimmen gehen. Vielleicht würde er dann heute Nacht ein bisschen besser schlafen können.

Gedacht, getan. Ordentlich legte Finn seine Klamotten zusammen, versorgte sie ebenso sorgfältig in seinen Rucksack. Ein bisschen Zeit schinden konnte ja nicht schaden. Vielleicht, vielleicht, vielleicht würde Lars’ Labor doch eher fertig und der Rettungsschwimmer würde – möglicherweise- doch noch an den See kommen.

Genauso langsam lief Finn zum Wasser, schlich schon fast die Pontons entlang. Kurz blieb sein Blick am Rettungsschwimmerhäuschen hängen. Shit, er fühlte sich fast schon wie ein Junkie auf Entzug.

Auch Finns Runde durch den See fiel heute deutlich länger und langsamer aus als sonst üblich.

Um seinen Augen gar nicht erst die Möglichkeit zu geben, sich am Rettungsschwimmerhäuschen, das wahrscheinlich nicht mehr leer, für Finn aber eben leerer als je zuvor, war, fest zu saugen, schloss er eben jene verräterischen, eigenwilligen Augen. Sollten die doch mal seine Lider von innen anglotzen.

Vielleicht hätte Finn ihnen eine Chance geben sollen. Zumindest bei seiner letzten Runde durch das stehende Oberflächengewässer. Dann hätte er vielleicht auch bemerkt, dass der DLRG-Unterstand für kurze Zeit zwei Leuten Platz geboten hatte. Von denen einer, mit beinahe erschreckend grünen Augen, nun zum Rand der Pontons gegangen war. Und seinen ganz eigenen Badegast beobachtete, stets bereit, einzugreifen, sollte der aus irgendeinem Grund Hilfe brauchen.

Vielleicht hätte Finn auch das Glitzern in diesen grünen Augen gesehen, die ihm beim Nicht Untergehen beobachteten.

Aber da Finn seinen Augen eben eine intensive Betrachtung der Innenseite seiner Lider gönnte, lief dieser stehende Moment am Pontonrand vollkommen ungesehen an ihm vorbei.

Lars konnte seine Augen einfach nicht von Finn abwenden. Eine Stunde hatte er bei seiner Laborpartnerin Pause raus geschlagen. Weil Finn's Antwort auf seine SMS so traurig geklungen hatte, dass Lars sofort zurückgerufen hatte, als er die Nachricht gelesen hatte.

Und als Finn dann nicht ans Telefon ging, hatte Lars eben jene verständnisvolle Kommilitonin belatschert, bis diese am Ende selbst vorgeschlagen hatte, eine Stunde zu pausieren und dann den Abschlusstest anzugehen. Dass sie beide dafür bis spät in die Nacht im Labor versauern würden, hatte Lars mehr als gerne in Kauf genommen.

Auch wenn er morgen früh wohl nur mit sehr kleinen Augen mitkriegen würde, sollte eine seiner Badeenten, öhm ja klar, einer seiner Badegästen Hilfe brauchen. Aber da musste er durch. Schliesslich diente es einem höheren Zweck.

DEM höheren Zweck!

Finn war inzwischen schon fast wieder bei den Pontons angelangt, als Lars seinen Beobachtungsposten verliess. Das Grinsen, welches vehement seinen Platz in seinem Gesicht suchte, konnte er einfach nicht unterdrücken. Und er gab sich nach dieser langen Woche, die so einsam war, wie selten eine vorher, wirklich sehr viel Mühe, dabei nicht allzu dümmlich auszusehen. Schliesslich sollte Finn ihm ja nicht gleich an der Nasenspitze ansehen, dass er jeden Abend das Handy angestarrt hatte. Immer im Wechsel gehofft hatte, dass eine Nachricht von seinem chaotischem Wuschelkopf kam und abgewägt, wie mädchenhaft es wohl gewesen wäre, einfach selbst eine SMS zu schreiben.

Wann genau hatte er eigentlich angefangen, in Besitzpronomen zu denken?

Mann, er war ein Kerl von Anfang 20, Student und Single seit einer ganzen Weile. Er sollte es doch wohl mal eine Woche aushalten können, ohne vor Sehnsucht zu zerfliessen.

Tatsache war aber gewesen, dass er sich immer öfter dabei ertappt hatte, wie seine Gedanken und somit sein Blick zu der Stelle gewandert waren, an der sonst das braune Handtuch lag. Ein Mathebuch und ein Rucksack an dem einen Ende.
Und ein süsser Mathe-Freak quer über eben jenem Handtuch verteilt.

Und jedes Mal hatte er schwer geseufzt, weil der Platz leer geblieben war. Wie Finn ja angekündigt hatte. Doofes Studium.

Doch jetzt genug der Woche nachgehangen. Jetzt war er ja hier und Finn auch und sie hatten noch eine ganze halbe Stunde, ehe er zum Labor zurück musste.

Finn hatte ihn immer noch nicht bemerkt, wie Lars grinsend feststellte. Reflexartig, ohne dass er wusste wieso, schubste er Finn von der Leiter zurück ins Wasser.

Der ging erst mal prustend unter. Und kaum wieder aufgetaucht, beschwerte dieser sich auch lautstark. Also immer noch nicht gemerkt, wer hier vor ihm stand.

Sofort streckte Lars seine Hand nach seinem Mathe-Studi aus. Hielt diese ganz fest, so dass Finn ihm nicht entgleiten konnte. Und endlich schaute auch dieser auf.

Auf der Stelle verschwand der wütende Blick aus seinen Augen und ein Strahlen erhellte Finns Gesicht. Auch griff er noch ein kleines bisschen fester zu, anstatt seinen Griff zu lösen, um die Leiter zu erreichen. Und selbst als er die Leiter hochkletterte, hielt er Lars Griff weiterhin fest.

Erst als sie sich bereits mehrere Augenblicke, in denen der Rest der Welt quasi nicht existent war, auf den Pontons gegenüberstanden, realisierten sie beide, wessen Hand sie da immer noch umklammerten. Und nur einen Wimpernschlag später auch, dass es eigentlich keine Veranlassung für diesen Körperkontakt mehr gab.

Hektisch liessen sie beide los. Nur ihr Augenkontakt riss nicht ab. Auch das Strahlen in beiden Gesichtern nicht. Nur merkten sie es beide nicht, da sich Gedanken, Herzschlag und Blutzirkulation Wettrennen lieferten.

Vorfreude ist die schönste Freude



Müde gähnte Lars vor sich hin. Zum Glück war Samstagmorgens am See nie viel los. Da waren die meisten noch einkaufen und der Ansturm kam erst zum Mittag. Und dann würde er schon bald frei haben.

Verdammt, freute er sich da drauf. Und nicht, weil er dann heim und ins Bett konnte. Nein, ganz und gar nicht. Da war er hier mit Finn verabredet. Zu etwas musste so ein freier Samstag Nachmittag ja gut sein.

Nun musste er nur noch die paar Stunden bis dahin überbrücken, ohne dass eines seiner Schäfchen Bekanntschaft mit dem Grund machte. Noch einmal musste er herzhaft gähnen. Immerhin hatte er nur vier Stunden geschlafen.

Nachdem er gestern noch die restliche halbe Stunde mit Finn in der Sonne auf den Pontons gesessen hatte, hatte Lars sich deutlich entspannter auf den Abschlussversuch im Labor konzentrieren können. Es hatte zwar die halbe Nacht verschlungen, aber seine Gedanken waren eh nur auf Samstag 14:30 Uhr gerichtet.

Und die Zeit bis dahin würde er schon irgendwie rum kriegen. Jetzt erst mal eine Runde mit offenen Augen dösen, solange die kleinen und grösseren Kinder noch nicht im Anmarsch waren. Die Badegäste, die die frühen Morgenstunden zum Schwimmen nutzten, mussten ja in den seltensten Fällen aktiv beaufsichtigt werden, da reichte blosse körperliche Anwesenheit.
Im Laufe des Vormittags änderte sich die Ruhe am See beinahe im Viertelstundentakt. Immer mehr Familien, kleine Gruppen Jungendlicher oder grössere Gruppen Studenten suchten und fanden ihre Plätze am See.

Lars drehte in regelmässigen Abständen seine Runden, schaute nach dem Rechten und gab sein Bestes, dass die Zeit bis 14:30 Uhr so schnell wie möglich verstrich.
Doch je näher eben jene Stunde rückte, desto schwerer fiel es ihm, sich zu konzentrieren.

Immer wieder prüfte Lars, ob die Stelle, an der Finn sonst sein Lager aufschlug, noch frei war. Oder ob sein Mathe-Freak schon da war. Die Hälfte der gestrigen gemeinsamen halben Stunde, also die Zeit, die sie nicht in den Augen des anderen versunken waren, hatte dieser sich nämlich über das Seminar beschwert. Aber dabei so glücklich und zufrieden gewirkt, dass Lars es ihm keine Sekunde abgenommen hatte.

Gerade beendete Lars wieder eine seiner Kontrollrunden und lief zu seinem Häuschen, da erregte eine rasche Bewegung in seinen Augenwinkeln seine Aufmerksamkeit.
Endlich!

Finn schüttelte gerade sein Handtuch auf und liess es ins Gras sinken. Als er merkte, dass er beobachtet wurde, schaute er sofort auf. Und strahlte Lars an. Winkte leicht zu dem Rettungsschwimmer herüber. Sofort erwiderte Lars den Gruß mit einem Lächeln.

Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass es noch nicht an der Zeit war, die Boje an den Nagel zu hängen. Noch eine Stunde. Die würde er auch noch rumkriegen!

Wie gebannt starrte Lars wieder auf den Strand und das Wasser. Lieber gar nicht erst in Versuchung bringen lassen. Denn die Befürchtung, dass er seinen Blick nicht mehr von Finn würde lösen können, war ja nur zu berechtigt.

Erst gestern war es ihm wieder bewusst geworden, wie wohl er sich in Finn's Gegenwart fühlte, wie leicht er in dessen Augen versinken konnte. Und auch, dass sein Herz begann, schneller zu schlagen, sobald er nur an den verwirrten Wuschelkopf dachte.
Da hatte er sich also innerhalb kürzester Zeit in diesen kleinen Chaoten verliebt. Und das ziemlich heftig. Jetzt musste er nur noch irgendwie heraus bekommen, ob es Finn genauso ging.

Oft genug hatte Lars das Gefühl. Wenn Finn seine Blicke erwiderte oder ihn anlächelte und seine Augen dabei strahlten.
Aber manchmal war Lars sich nicht wirklich sicher, ob Finn überhaupt schwul war. Oder ob er selbst diesen Gedanken einfach der Tatsache zuschob, dass Finn in fast jeder Hinsicht einzigartig und eben leicht chaotisch war

Seufzend schweifte Lars Blick nun doch vom Wasser weg. Hinüber zu Finns Lagerplatz. Ohne dass Lars etwas dagegen tun konnte.

Im nächsten Moment blieb dem Rettungsschwimmer fast das Herz stehen.

Als Finn am See angekommen war - er war natürlich zu früh gewesen - hatte er gleich nach Lars geschaut. Und hatte dessen Blick auch sofort gefunden, noch während sein Handtuch ins Gras sank.

Gegen das Strahlen, welches sich in seinem Gesicht breit machte, konnte Finn nichts tun.
Die halbe Nacht hatte er damit verbracht, sich zu überlegen, wie es weiter gehen konnte. Denn genau das sollte es ja. Endlich mal einen Schritt weiter gehen.

So, wie Lars ihn gestern angelächelt hatte, wie ihr Gespräch immer wieder davon unterbrochen worden war, dass sie sich einfach nur angelächelt hatten. Und in die Augen geschaut hatten. Mann, das musste doch einfach was heissen. Ging doch gar nicht anders.

Heute wäre sein Tag!

Das hatte Finn beim Blick in den Spiegel festgelegt. Heute würde er alles auf eine Karte setzen. Einmal musste er nun mutig sein, wenn es um den Rettungsschwimmer ging. Immerhin hatte er auch etwas zu verlieren.

Nach den gemeinsamen Abenden, den gemeinsamen Stunden hier am See waren sie ja auch ein bisschen Freunde geworden. Aber das reichte Finn nicht mehr.

Noch eine Stunde. Dann würde Lars Feierabend haben. Und den Nachmittag mit ihm verbringen! So hatten sie es gestern verabredet. Irgendwann zwischen zwei Blicken und Lars Abschied zum Seminar. Der Gedanke daran, und die damit verbundene Vorfreude, hatten ihn erst in den frühen Morgenstunden einschlafen lassen.

Genau wie in diesem Moment die Vorfreude auf einen entspannten Nachmittag mit Lars alles ihn ihm anspannte. Ganze vorne natürlich die Hoffnung, dass sich eine Gelegenheit ergab, den Rettungsschwimmer zu küssen.

Und schon wieder drehten sich Finns Gedanken um die Frage, wie sich Lars Lippen wohl auf seinen anfühlen würden? Zart oder doch eher rau, von der vielen Sonne? Bestimmt eine sehr interessante Mischung aus beidem.

Plötzlich landete etwas weiches Schweres in Finns Rücken. Riss ihn somit aus seinen Gedanken, und seinen Blick vom Rettungsschwimmerhäuschen los.

Er hatte sich noch nicht richtig auf den Rücken gedreht, da fühlte Finn schon den schmatzenden Begrüssungskuss auf seinen Lippen. Gefolgt von dem daran hängenden Mädchen, welches nun auf seinem Bauch hockte und ihn breit angrinste. Ihre schwarzen Locken flogen schwungvoll über ihre Schulter.

„Na, Finn-Schatz?! So alleine hier?“

Herausfordernd blickte sie sich um. Offensichtlich auf der Suche nach jemandem. Und Finn ahnte nur zu gut, nach wem.

Oh Gott, er hasste es, wenn sie Finn und Schatz in einem Satz verwendete. Aber so war sie nun mal. Verrückter als er selbst, in absolut jeder Hinsicht, tolerant bis in die Haarspitzen, machte jeden Scheiss mit und nahm ihn so, wie er war.

Mathe-Freak, ohne Führerschein, schwul und der beste kleine Bruder der Welt.

Das sagte Lia jedenfalls immer im Brustton der Überzeugung, wenn irgend jemand sie auf ihn ansprach. Sie war es auch gewesen, die ihn vor der Ablehnung ihres Vaters beschützt hatte, als damals herausgekommen war, dass seine erste Freundin eben sein Banknachbar aus dem Mathe-Leistungskurs gewesen war.

Sanft schob Finn seine Schwester von sich herunter, umarmte sie dann aber doch noch recht herzlich. Er hatte gar nicht gewusst, dass sie schon aus den Ferien wieder da war. Schnell hatte sie erklärt, dass sie mit Finns Mitbewohner telefoniert hatte, als sie ihren Bruder nicht erreichen konnte.

Und der hatte sie kurzerhand neugierig gemacht und so zum See geschickt. Auch wenn dieser das nicht so gesagt hatte. Aber gesegnet sei die Neugier und Kombinationsgabe der Frauen. Und die Berichterstattung war ja wohl Ehrensache hatte Lia ins Handy gezwinkert, ehe sie ihre Schwimmsachen gepackt hatte.

Schon bald lagen die ungleichen Geschwister nebeneinander auf ihren Handtüchern. Lia erzählte von ihrem Urlaub, während Finn nur darauf wartete, dass endlich die lange letzte Stunde bis zu Lars Feierabend rum gehen würde.

Immer wieder wanderte sein Blick unauffällig zum Rettungsschwimmerhäuschen. Doch Lars schien schwer beschäftigt zu sein. Entweder war dieser nicht da oder blickte nicht in Finns Richtung.

Naja, nur noch fünf Minuten. Lars Kollege war schon zur Übergabe da. Was auch immer die dort so lange zu übergeben hatten...

Verliebte Teenager



Lars Gedanken liefen immer noch Kreise um den Anblick, den ihm der Platz auf der Wiese eben geboten hatte. Rund um Finn, auf dem eine Frau hockte.
UND ihn küsste.

Küsste !!

Jedes Mal an dieser Stelle liefen Lars Gedanken volle Wucht gegen eine Wand.

Im ersten Moment hatte Lars nichts tun können. Hatte zwar sofort seinen Blick wieder aufs Wasser gerichtet, doch gesehen hatte er immer nur diesen Anblick. Den sein Hirn nun wirklich nicht verarbeiten konnte.

Nach drei bis fünf Schrecksekunden hatte er begonnen, nach möglichen Erklärungen zu suchen. Wobei es nur eine in die engere Runde der logischen Möglichkeiten geschafft hatte.

Finn hatte eine Freundin. Und war somit auch nicht... nicht...

Den Gedanken brachte Lars dann doch nicht über sein Hirn. Bisher war der Rettungsschwimmer felsenfest davon ausgegangen, dass Finn auch ... also genau wie er selbst... und noch nie ... nicht mal ansatzweise hatte Finn ... und sie hatten doch viel geredet... über Leben, Studium, Zukunftswünsche ... Arhg Fuck ... Gedankencrash ...

Verzweifelt seufzend schlug Lars seine Hände vor seinem Gesicht zusammen. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Nicht jetzt, nicht nachdem er sich sicher war. Naja zumindest sicher gewesen war. Bis vor knapp zwölf Minuten.

Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet Lars zudem auch noch, dass sich irgendwer entschlossen hatte, dass die letzte lange Stunde wohl lang genug gewesen war und nun die Zeit etwas beschleunigt hatte.
Immer näher kam der Feierabend. Und somit das Unvermeidliche.

Aber ob er das lange konnte? Lars war sich ja nicht mal sicher, dass er überhaupt zu Finn und ... und ... naja, zu Finn und seinem Handtuch halt, gehen konnte. Jedenfalls nicht, solange die da ... solange dort... also solange Finn dort nicht mehr alleine lag.

Plötzlich klopfte Lars Ablösung auf den Holztresen und grinste breit was von Feierabend, Schnecke und viel Spass.

Also eins war ja mal so sicher wie das Amen in der Kirche. Spass würde das hier heute Nachmittag sicher nicht werden.

Vor allem, weil Lars sich immer noch nicht abschliessend sicher war, dass er das dort einen ganzen Nachmittag ertragen konnte.

So versuchte er, noch eine Galgenfrist rauszuschlagen, indem er besonders ausführlich von den Vorkommnissen des Vormittages berichtete, die kleinen Gruppen übermütiger Teenies nochmal extra erwähnte.

Doch irgendwann ging ihm auch hier der Stoff zum Berichten aus.

Es wurde also Zeit.

Er hatte schon bemerkt, dass Finn in letzter Zeit öfter zu ihm geschaut hatte. War ja auch nicht weiter verwunderlich. Sie waren ja verabredet.
Nur anscheinend nicht so, wie Lars gedacht hatte.

Scheisse, hatte er sich das gestern nur eingebildet? Aber er war doch so sicher gewesen, dass da bei Finn auch was war. Doch anscheinend hatte Lars sich geirrt.

Aber soweit war er ja heute schon mal gewesen.

Es wurde langsam Zeit, dass Lars mal in Bewegung kam. Finn hatte schon gewunken. Und auch seine Ablösung schaute ihn verwundert an. Und Wurzeln wollte er hier am Rettungsschwimmerhäuschen auch nicht schlagen. Also schnappte Lars sich sein Zeug, atmete noch einmal tief durch und machte sich auf den kurzen Weg, der heute irgendwie viel länger wirkte. Obwohl es ja nur 34 Schritte bis zu Finns Decke waren.

Er hatte die halbe Strecke überwunden, als Finns Begleitung sich erhob. Etwas umständlich faltete sie ihr Handtuch zusammen, während ihr Blick immer wieder zwischen Finn und ihm selbst hin und her wanderte.

Sie war gerade damit fertig, ihr Handtuch noch umständlicher in ihrer Tasche zu verstauen, als Lars genau einen halben Schritt neben ihr stehen blieb.

Finn war inzwischen auch aufgestanden und strahlte Lars an. Verdammt sah der scheisse glücklich aus. Als ob er frisch verliebt wäre. Und irgendwie hatte Lars das Gefühl, dass Finn erwartete, er würde dieses Glück teilen.

Nur DAS war etwas, was er Finn, bei aller neuen Freundschaft, nicht würde geben können.
Unter den Umständen wäre das wohl eher das letzte Mal, dass er Zeit mit dem Mathe-Wuschelkopf verbrachte.

Scheisse, noch nicht richtig angefangen, schon vorbei. Lars hasste dieses Gefühl.

Er wurde von einer ausgestreckten Hand aus seinen Gedanken gerissen.

„Hi. Ich bin Lia.“

Sie drehte fragend ihren Kopf, so dass ihr die schwarzen Locken über die Schulter fielen. Dabei lächelte sie immer noch fröhlich, während ihre Augen frech blitzten.

Irgendwie überforderte das alles hier Lars doch ein ganzes Stück.

„ Hi ... Lars ...“

Kurz schüttelte er ihre Hand, da hatte sie sich schon wieder zu Finn umgedreht. Drückte ihm einen Kuss auf den Mund und lächelte.

„Bye Schatz. Du rufst an?“
„Klar. Weisst du doch.“

Damit war die dunkelhaarige Schönheit, die ja nun mal nur Finns Freundin sein konnte, verschwunden.

Endlich endlich endlich… Finn wusste gar nicht, zu welchen Göttern er in der letzten halben Stunde alles gebetet hatte, damit Lia endlich gehen würde.
Aber so wie sie nun einmal war, eben auch neugierig bis in die Haarspitzen, hatte sie darauf gewartet, den Typen zu sehen, wegen dem ihr kleiner Bruder anscheinend so durch den Wind war.

Und das Telefonat morgen zum Frühstück… oh Mann, auf das konnte Finn auch verzichten. Die Reihenfolge der Fragen kannte er ja jetzt schon … Aber erst mal eins nach dem anderen. Noch gab es ja nicht viel zu erzählen.

Aber er hatte ja vor, das heute zu ändern!

Lars stand immer noch an der gleichen Stelle, an der Lia ihn zurückgelassen hatte. Und blickte ihr sogar nach. Finn wollte schon ansetzen, etwas zu sagen, da drehte Lars sich zu ihm um, liess seinen Rucksack fallen und meinte nur, dass er erst mal eine Runde schwimmen müsste.

Damit war er auch schon auf dem Weg zum Wasser. Finn musste sich ganz schön ranhalten, um den Rettungsschwimmer wieder einzuholen.

Erst auf den Pontons machte Lars halt. Shit, führte er sich hier gerade wirklich auf, wie ein eifersüchtiger Teenager? Finn hatte ihm doch nichts versprochen. Der musste ihn doch jetzt für total durchgeknallt halten.

Sofort, als Finn neben ihn getreten war und auch auf das Wasser schaute, beschleunigte Lars Herzschlag sich. Wieder einmal.

„Wer als erster auf der anderen Seite ist?“

Finns Antwort wartete Lars gar nicht erst ab, sondern sprang einfach. Und schwamm los. Bis drüber würde er seine Gedanken hoffentlich endlich mal sortiert und seine Gefühle unter Kontrolle bekommen haben.

Verwundert schaute Finn Lars nach. So einsilbig hatte er ihn noch nie erlebt. Er verstand auch nicht so wirklich, wieso dieser heute so drauf war. Aber vielleicht war das Labor anstrengend gewesen. Und dazu die Frühschicht. Sicher brauchte der Rettungsschwimmer nur ein bisschen Zeit, um runterzukommen.
Und wieder beeilte Finn sich, Lars nicht zu weit davon ziehen zu lassen. Dass dieser den See schneller überqueren würde, davon ging Finn einfach mal aus. Als Wettkampfschwimmer und auch sonst.

Die ganze Zeit über schaute Finn Lars nach, der mit kräftigen Armzügen das Wasser durchpflügte. Der Anblick liess ihn lächeln. Wobei Finn sich aber auch Sorgen machte. Was Lars nur die Laune verdorben hatte? Naja, am Ufer drüben würde er das schon rausbekommen.

Der Vorsprung, den Lars sich heraus geschwommen hatte, war schon beachtlich. So hatte er Zeit, wieder zu Atem zu kommen. Sein Kopf war durch die Anstrengung etwas klarer geworden.
Nur seine Augen konnte er nicht von Finn abwenden, der das letzte Stück auf ihn zuschwamm.

Als dieser dann auch noch wie ein griechischer Wassergott ans Ufer trat, musste Lars schon wieder schlucken. Scheisse.

Finn liess Lars Augen nicht los. Der hatte doch was. Und das musste er jetzt rauskriegen. Schliesslich ging es hier um seinen Rettungsschwimmer. Der sollte nicht so traurig schauen.

Ohne Lars Blick loszulassen, kniete Finn sich vor ihn. Schaute ihn einfach fragend an. Wusste gerade nicht, ob er nun Lars Blick festhielt, oder ob er sich einfach nicht aus diesen grünen Augen befreien konnte.

Und dann war es zu spät. Obwohl er wirklich gewollt hatte, konnte Finn nicht mehr fragen. Konnte nicht mehr denken. Nur noch handeln.

Kurz bevor Lars seinen Blick doch noch lösen konnte, drückte Finn sich ein kleines Stückchen vor. Gerade soweit, dass er Lars Lippen erreichen konnte. Küsste ihn.

Ein Mal. Kurz. Schüchtern. Nur ein Hauch von einem Kuss.

Und doch brachte ihn dieser kurze, gehauchte Kuss aus dem Gleichgewicht. Im wörtlichen Sinn. Er hatte sich ein kleines Stückchen zu weit vorgelehnt. Und schaffte es nicht mehr zurück auf seine Fersen.

Eine Hand schnellte auf Lars Brust, seine andere stütze sich in den Sand, als er Lars mit sich umriss. Der überraschte Blick aus Lars Augen gab Finn den Rest. Jetzt war es eh zu spät. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wollte er ja auch gar nicht mehr. Genug gedacht für heute.

Diesmal kam Lars ihm sogar entgegen. Zog Finn ein ganzes Stück näher an sich und gab ihn aus ihrem Kuss auch nicht wieder frei.

Aufklärungsunterricht für Fortgeschrittene


Gesetzt den Fall, Finn hätte in diesem Augenblick irgendwelche Kapazitäten im Kopf für denkende Funktionen seines Hirns frei gehabt - hatte er natürlich nicht, da ja alles damit beschäftigt war, Lars zu küssen, - hätte er sich wohl ernsthaft Sorgen machen müssen.

Sein Herz konnte oder wollte sich nicht, wer weiss das schon immer so genau, wenn da nichts zum Denken oder Analysieren frei war, entscheiden, ob es jetzt mit deutlich gefährlich erhöhter Frequenz, oder lieber gar nicht schlagen sollte.

Das einzige, was Finn gerade bewusst tun konnte, war Lars zu küssen. Und dessen Hände in seinem Nacken, auf seinem Rücken zu spüren.

Er wollte gerade den Kuss vertiefen und liess seine Zungenspitze über Lars Lippen streichen, als dieser ihn ein kleines Stückchen von sich drückte.

Finns verwirrter Blick traf Lars genauso verwirrten Blick. Kurz blinzelte er, eher Finn seinen Kopf wieder senkte, um erneut nach Lars Mund zu suchen. Doch kaum hatten seine Lippen die des Rettungsschwimmers gestreift, entzog jener sich ihm wieder.

„Nicht...“ Lars Atmung ging deutlich schneller und ein klein wenig abgehackt, wie Finn zufrieden feststellte. Zumindest bis zu der Sekunde, die sein Hirn brauchte, um Lars Wort aufzunehmen und zu verarbeiten.

„Wieso nicht? Ich dachte...“

„Lia...“

„Lia?“

Jetzt war Finn wirklich verwirrt. Was hatte denn seine Schwester damit zu tun, dass er Lars nicht weiter küssen durfte. Die würde vor Freude quietschen, wenn sie hiervon wüsste. Und das würden sie auch noch hier am anderen Ufer hören können und sehr wahrscheinlich auch noch Ohrenschmerzen davon bekommen.

„Lia! Deine Freundin, schon vergessen?“

Lars bekam das alles gerade nicht wirklich klar. Finns Kuss hatte ihn überrascht. Erst der kurze, der gehauchte. Der, der fast kein Kuss gewesen war. Und der dann doch dermaßen umwerfend gewesen war, dass sie kurze Zeit später knutschend am Strand gelegen hatten.
Als ob irgendwas da oben, wo normalerweise sein Hirn heimisch war, seine Macht abgegeben hätte, hatte er Finn einfach nur an sich gezogen. Hatte genossen, was es zu geniessen gab.

Vehement hatte er versucht, seine Hände davon abzuhalten, sich erst automatisch stützend, dann schützend und schliesslich eben ziehend in Finns Nacken zu legen. Ein Ort, wo sie eigentlich schon lange nicht mehr sein sollten, wenn es nach Lars gegangen wäre. Aber seine Hände, die Verräter, hatten augenscheinlich mit seinem Unterbewusstsein paktiert und waren streichelnd über neuerobertes Gebiet gewandert. Hatten sich in Finns verwuschelte Haare verirrt, leicht fahrig über dessen Rücken gestrichen.

Erst als Finns Zunge über Lars Lippen geleckt hatte, hatte dies irgendwo in Lars Kopf einen klitzekleinen Schalter in Richtung Denkprozess umgelegt. Mit einem Mal war ihm das dunkel gelockte Mädchen durch den Kopf gehuscht. Und die Tatsache, dass sie Finns Freundin war. Dass Finn also gar nicht schwul war. Und das letzte, was Lars wollte, war, in irgendwas reinzugrätschen, besonders unter diesen Umständen.

Also hatte er sich Finns erneutem Versuch, ihn zu küssen, entzogen. So schwer es auch war, es war das einzig richtige. Nun musste er nur noch seine Hände irgendwie vom Körper seines Wuschelkopfs lösen, etwas Abstand zwischen sie bringen.

Doch dafür musste er sich zuallererst mal aus Finns Blick lösen, der ihn schon wieder gefangen hielt. In dem eine gehörige Portion Verwirrung lag.

Hatte Lars es doch gewusst. Ganz toll gemacht, Herr Bär. Ne Hete ins tiefste Gefühlschaos gestürzt. Das konnte auch nur ihm passieren.

„Aber Lia … sie ist nicht… also sie… wie kommst du denn jetzt auf Lia?“

Lars konnte sich nicht dagegen wehren, dass er Finns verwirrtes Gestammel nicht nur ein klein wenig, sonder sogar ziemlich süss fand.
„Sie ist doch nur meine Schwester…“

Okay… Finn hatte was gesagt… während Lars wieder überlegt hatte, wie er, möglichst elegant, aus der Situation hier herauskommen könnte. Nur langsam, sehr langsam kamen Finns Worte bei ihm an. Drehten Runden in seinem Hirn auf wilder Suche nach dem Ort, an dem sie vollständig verarbeitet werden konnten und letztendlich auch wurden.

„Schwester…??“
„Schwester…!!“

Nun war es an Lars, Finn zu einem stürmischen Kuss zu sich zu ziehen. Auch hielt er sich nicht lange mit zarten Küssen auf, sondern eroberte auf direktem Weg Finns Mund.

Nur dass diesmal er nicht weit kam, weil Finn sich von ihm wegdrückte. Und ihn mit blitzenden Augen anschaute.

„Du hast gedacht..?“
„Naja… sie hat dich geküsst… und Schatz?!?“

Weiter kam Lars nicht. Er hatte schon wieder zu tun, dass Finn ihm nicht das letzte bisschen Verstand, mit dem er sich nicht dämlich fühlte, ohne Umwege ins Nirvana küsste.

So gerne er sich nämlich an eben jenem gelobten Ort küssen liess, ganz besonders von diesem verrückten, liebvollen Chaoten hier, so sehr musste er das geklärt wissen. Auch auf die Gefahr hin, sich doch wieder äusserst schulmädchenhaft anzustellen.

„Dann bist du also keine Hete…“
„Nie gewesen…“

Damit war dann doch erst mal alles klar. Sofort verstärkte sich Lars Griff in Finns Nacken, sein Streichen über Finns Rücken wurde drängender. Und auch das Wandern seiner Finger in deutlich tiefere Gefilde konnte er nur mit sehr viel Mühe unterdrücken.

Plötzlich löste sich Finn ruckartig von ihm. Löste auch seine Hände von Lars Brust. Schaute diesen nun fiebrig an. Atmete schwer.

„Lass uns gehen…“
„Besser ist das…“

Mit wenigen, leicht verschämten Bewegungen waren sie im Wasser. Fühlten sich wieder einigermaßen sicher vor Blicken, die es hier am abgelegenen Ufer sowieso nicht gab. Die Zeit, die sie brauchten, um genüsslich schweigend über den See zu schwimmen, wurde von ihren Blicken, die sich immer wieder trafen und eine ziemlich eindeutige Sprache sprachen, verkürzt.

Mit wenigen Handgriffen waren Finns Badesachen verstaut, Lars hatte seine ja nicht mal ausgepackt, sondern seinen Rucksack nur bei Finns Handtuch abgestellt.

Die kurze Radstrecke zu Lars Wohnung gestaltete sich genauso genüsslich schweigend in stiller Vorfreude auf das, was dort unweigerlich folgen würde. Schon im Fahrradschuppen konnten sie ihre Finger kaum bei sich behalten.

Lars hatte Finn vor sich her in den Treppenaufgang geschoben, küsste ihn die Treppe hoch. Hektisch und mit fahrigen Fingern suchte Lars seinen Hausschlüssel.

„Bär?“ strich Finn über das Namensschild. Er hatte damals am Telefon schon schmunzeln müssen. Doch irgendwie hatte er das ziemlich schnell wieder vergessen. Da waren andere Dinge wichtiger gewesen.

„Sag nichts!“

„Würde ich nie tun!“

Leise summend und schmunzelnd drückte Finn sich an Lars. Der hatte es endlich geschafft, die Tür zu öffnen. Um Finn zum Schweigen zu bringen, schnappte er sich seinen Mathe-Studi am Kragen, zog diesen nahe an sich. Mindestens genauso leidenschaftlich kam Finn ihm entgegen.

Das Lied in seinem Kopf war vergessen, die Welt um sie herum auch. Mit einem Krachen fiel die Tür ins Schloss und sie waren endlich allein. Konnten dort weitermachen, wo sie am See aufgehört hatten.

Später in der Nacht summte Lia’s Handy. Nur im Halbschlaf nahm sie die SMS wahr.

-Frühstück fällt aus! Gruß Finn –


Epilog eines Sommers



Zum wievielten Mal in diesem langen, fast schon einmaligen Sommer warf Finn jetzt eigentlich seinen Rucksack über die Schultern? Zum wievielten Mal konnte er es kaum erwarten, an den See zu kommen?

Vollkommen egal. Heute würde es das letzte Mal sein. Der letzte schöne Tag, morgen würde damit Schluss sein.

Schluss mit Sommer, Schluss mit See, Schluss mit Ferien.

Nur eins nicht.

Definitiv nicht Schluss mit Lars.

Um Gottes Willen, nein. Das würde dann erst so richtig los gehen. Na ja, eigentlich waren sie ja mittendrin. Und es fühlte sich verdammt gut an.

Aber wenn Lars heute Feierabend machen würde, dann eben komplett für diesen Sommer, für diese Rettungsschwimmersaison. Und dann würden sie sich ein paar ganz ruhige, sehr gemeinsame Tage gönnen. Die vielleicht letzten, ehe das neue Semester wieder losging.

Und sie dann beide wieder eingespannter würden.

Noch so ein Grund, warum Finn seit jenem Tag nun wirklich die meiste Zeit am See verbracht hatte. Immerhin brauchte Lars das Geld, damit er sein Studium finanzieren konnte. Finn hatte es durch sein Bafög da ja etwas besser.

Nur die Woche, in der er mit den Pfadfindern unterwegs war, die hatte er wohl oder übel seinen Rettungsschwimmer alleine lassen müssen. Das hatte er nicht mehr absagen können. Und ehrlicherweise auch nicht wollen. Obwohl er doch sehr froh und auch ein klein bisschen Stolz gewesen war, als Lars ihn am Busbahnhof abgeholt hatte, als er endlich, nach der schier unendlich langen Woche, wieder da gewesen war.

Wie jeden Tag, den er zum See fuhr, beschleunigte er die letzten Meter unbewusst. Als ob er es immer noch kaum erwarten könnte, wieder in diese grünen Augen zu sehen, wieder diese tollen Lippen lächeln zu sehen. Und die starken Hände um seine Hüfte zu spüren.

Öhm... naja... konnte er ja auch nicht so wirklich erwarten. Und bei diesem Gedanken trat Finn gleich nochmal fester in die Pedale. Immerhin war heute ihr Abend, ihre Nacht. Und zu der wollte er alles, aber nicht zu spät kommen.

Immerhin wurde er ja auch erwartet.

Wie jeden Tag, den Finn ihn abholen würde, schaute Lars auch heute wieder öfter als sonst zu der freien Stelle, an welcher sein Lieblingsbadegast liegen würde. Das braune Handtuch im grünen Gras. Und durch die viele Zeit in der Sonne, der tolle, gebrannte Körper auf eben jenem Handtuch.

Ein Anblick, bei dem es Lars jedes Mal aufs neue in die Lenden fuhr. Glücklicherweise war es bisher noch nie wirklich peinlich geworden. Aber er musste doch aufpassen, dass er sich diesen Anblick nicht zu oft und nicht zu lange vor Augen träumte.
Musste er ja eigentlich auch gar nicht mehr.

Immerhin durfte er diesen Anblick ja oft genug ganz exklusiv geniessen. Nur eben dann ohne braunes Handtuch, ohne grünes Gras. Aber wer wollte das schon sehen. Viel wichtiger war der tolle Kerl, der mit und ohne diese beiden Dinge einfach nur zum Anfassen aussah, zum Abknutschen einlud und bei dem kein Weg am Ausdauerstreicheln vorbei ging.

Mit einem verschmitzten Lächeln schüttelte Lars seinen Kopf, klimperte mit seinen Fingerspitzen gegen sein Rettungsschwimmerhäuschen.

Genoss das Gefühl welches er auch nach diesem Sommer mit Finn immer noch spürte. Und von welchem er einfach nicht genug bekam.

Er freute sich schon auf die kommenden Tage, an denen sie beide nichts ausser sich vorhatten. Und vielleicht hin und wieder ein Frühstück mit Lia.

Lia.

Wie erwartet hatte diese bald nicht mehr aufgehört zu quietschen, als sie das mit ihnen beiden erfahren hatte. Und das war schneller gewesen, als ihnen beiden lieb gewesen war. Denn Finns Chaotenschwester hatte nämlich gar nicht eingesehen, alleine zu frühstücken. Und sie beide nach einer durchliebten ersten Nacht, pünktlich aus dem Bett telefoniert. Hatte sich nicht abwimmeln lassen, bis Finn alles erzählt hatte. Was irgendwie auch ziemlich lange gedauert hatte, da der Mathe-Chaot doch von seinem Rettungsschwimmer des Öfteren ziemlich effektiv abgelenkt worden war. Und auch mehrmals genötigt worden war, das Gespräch mit seiner Schwester zu unterbrechen. Betätigung des roten Handy-Knopfs inklusive.

Doch Lia hatte sich immer nur zeitweise hinhalten lassen, ehe sie wieder angerufen hatte. Natürlich nur um zu hören, ob es ihrem Bruder auch wirklich gut ging und nicht, um ihre weibliche Neugier zu befriedigen.

Inzwischen hatte Lars die dunkelhaarige, etwas verrückte Schwester seines Freundes auch sehr ins Herz geschlossen. Genau wie diese ihn.

Zweimal hatte er versucht, ihr zu entkommen. Zweimal hatte Finn ihn ausgelacht, als er es nicht geschafft hatte. Und ihre Lippen auf seinen gespürt hatte. Sie hatte darauf bestanden, ihn so zu begrüssen. Wenn ihr Bruder das durfte, dann sie auch.
Nur das mit dem 'Schatz', dem hatte Lars direkt einen Riegel vorgeschoben. Das durfte nicht mal Finn. Auch nicht, wenn sie alleine waren.

Wobei der erstaunlich oft ein leises Bärchen auf den Lippen hatte. Das wiederum nur, wenn sie wirklich alleine waren. Und sie beide mehr als zufrieden und wohlig erschöpft waren.

Und schon wieder schob sich ein ebenso süffisantes, wie vorfreudiges Grinsen ins Gesicht des Rettungsschwimmers. Ein letzter Blick in die Runde der wenigen Schwimmschäfchen, die er heute, am letzten Tag, an dem die Rettungsschwimmerstation besetzt sein würde, zu beaufsichtigen hatte. Und der schweifende Blick dauerte nicht lange, immerhin konnte er gut an einer Hand abzählen, dass noch alle Badeenten, äh Badegäste, mit dem Kopf oben schwammen. Und auch die würden bald verschwunden sein. Immerhin war es schon fast sieben Uhr.

Fehlte nur noch sein Mathe-Chaot. Und dann würden sie gemeinsam ihren eigenen Sommer-See-Abschluss feiern.
Die Decke, das Bier und eine Kerze - ein bisschen kitschig, aber doch so schön romantisch, hatte er heute morgen noch gedacht - nur hoffentlich würde Finn das auch so sehen, hatte er schon im Rucksack. Ein paar Kleinigkeiten zum Knabbern würde Finn mitbringen.

Ob sie die ganze Nacht am See verbringen würden? Wohl eher nicht. Immerhin wollten sie die nächsten Tage ja nicht gemeinsam krank im Bett liegen. Also im Bett liegen schon, auch gerne gemeinsam. Nur eben nicht krank.

Ein klein bisschen Sorgen machte Lars sich schon, wie es werden würde, wenn das Semester wieder anfangen würde. Immerhin hätten sie dann sehr viel weniger Zeit füreinander. Doch als er das Finn gegenüber erwähnt hatte, hatte dieser ihn nur angeschaut. Ein bisschen nachdenklich, ein bisschen ernst. Und doch so ganz ohne Zweifel in der Stimme oder den Augen geantwortet.

Sie würden das schon schaffen. Immerhin hätte Finn nicht vorgehabt, ihn so schnell wieder ziehen zu lassen. Und mit diesen Worten ein sehr glückliches Strahlen in Lars Gesicht gezaubert.

JA, sie würden auch die Zeit nach ihrem Sommer überstehen, sie würden zusammen sein. Nichts würde sie so schnell trennen können.

Und während Lars noch völlig in Gedanken war, gerade zwar auf den See gestarrt, seine Schäfchen auch gesehen, aber nicht wirklich wahrgenommen hatte, wie auch sonst nichts um sich herum, legten sich plötzlich zwei warme Hände auf seine Augen, zwei warme Lippen auf seinen Mund.

Nun war es also Zeit. Zeit für den Epilog ihres Sommers!
Der gleichzeitig ein Prolog für so viel mehr sein würde.

Zwei grüne Augen strahlten in ihr geliebtes Gegenpaar. Dicht gefolgt von Finns Lippen, die ihn wieder küssten. Und nun endgültig vom Denken abhielten. Nur noch Raum für das Hier und Jetzt und ihre gemeinsame Zukunft liessen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.02.2013

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