Cover

Leseprobe

Never

expected

you

 

 

New Adult Romance

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

J. Moldenhauer



Für Mama und Oma Agnes.
Danke für die Abenteuer.

 

 

 

Never Expected You –

Playlist

 

 

 

Blow Your Mind (Mwah) – Dua Lipa

Strip – Jessie J

Boys – Charlie XCX

Looks like Sex – Mike Posner

Breathe – Jax Jones, Ina Wroldsen

Say Something – Justin Timberlake

Forget – Marina

Can’t Pin Me Down – Marina

I Said Hi – Amy Shark

Unpredictable – Olly Murs

1

 

Evelyn

 

 

Ich hasse Überraschungspartys.

Zumindest die, die man für mich gibt. Meine ganze Familie weiß das, und trotzdem sehe ich in dem Moment, als ich aus dem Auto steige, jemanden, der hastig vom Fenster zurückspringt. Nur um gleich darauf mit wedelnden Händen aus dem Blickfeld zu verschwinden.

Ein Seufzer entfährt mir und ich schlage die Tür hinter mir zu. Habe ich eine andere Wahl als in dieses Haus zu laufen und so zu tun, als würde ich mich überirdisch freuen?

Nein, ich denke nicht.

Ich schaue mir die vertraute Umgebung an und das Gebäude mit der roten Klinkerfassade, vor dem ich stehe. Es hat sich früher schon von der Masse abgehoben, aber nachdem ich einige Zeit nicht mehr zuhause gewesen bin, scheint es den Häusern in der Straße die Show zu stehlen. Lediglich der kahle Vorgarten kann nicht mit den anderen konkurrieren. Das mit dem grünen Daumen liegt eben nicht in unseren Genen. Der Himmel ist strahlend blau und ich schlinge die Arme um die Brust, um mich vor der Januarkälte zu bewahren. Im Wagen war es dank der Heizung angenehm warm, doch in dem dünnen Pulli fange ich hier draußen langsam an zu frieren.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie der Vorhang ein weiteres Mal verdächtig flattert.

Will ich wissen, wie viele da drin sind?

Nein, eher nicht.

Ich hätte nicht erst fünf Tage vor Semesterbeginn kommen dürfen. Dann wäre keine Zeit für die Planung gewesen. Aber es ist mir trotz allem schwergefallen, Mississippi zu verlassen, und ich habe es bis zur letzten Sekunde ausgekostet.

Jetzt hat sich das erledigt.

Ich beiße mir auf die Lippe und wische mir hastig den Mascara unter den Augen weg, den ich während der langen Fahrt verschmiert habe. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch setze ich mich in Bewegung und fummle ein wenig nervös den Hausschlüssel aus der Jackentasche, der mir seltsam fremd erscheint. Als ich über die Betonplatten laufe, die zur Haustür führen, schallen die Schritte gefühlt durch die gesamte Straße und holen alle neugierigen Nachbarn ans Fenster. Vielleicht versteckt sich niemand an den Gartenzäunen oder den Gardinen, doch es fühlt sich an, als würde ich eine Arena betreten. Dabei steht mir der eigentliche Kampf noch bevor und er liegt hinter der braunen Tür, die einige Gebrauchsspuren aufweist. Ich atme einmal tief durch, dann schließe ich die Tür auf und trete in einen viel zu bekannten Flur.

»Hallo! Ich bin da!«, rufe ich, als wäre ich ahnungslos.

Ich mache mir nicht die Mühe, die schwarzen Boots auszuziehen, werfe im Gehen einen Blick auf die Schuhe meiner Schwester, die voriges Mal ohne Absätze und deutlich kleiner waren. So kommt es mir zumindest vor. Am Treppengeländer hängen immer noch Taschen, doch die ganzen Zettel, die sonst am Spiegel kleben, sind weg.

Viel verdächtiger geht es in diesem Haus gar nicht.

»Hallo?«, sage ich ein weiteres Mal, ehe ich in das Wohnzimmer gehe, um die wartende Meute auf meine Ankunft vorzubereiten. Als ich dann mit dem Fuß die Schwelle überschreite, springen drei Personen aus den Ecken. Das laute Gekreische ist nicht so schlimm, wie ich es erwartet habe, und auch das Korkenknallen bleibt aus.

Keine Überraschungsparty?

Ehe ich die Frage ausarbeiten kann, fällt Mum mir um den Hals. Ich bekomme ihre lockigen, kinnlangen Haare ins Gesicht und sie versperren mir die Sicht.

»Es ist so schön, dich wiederzusehen!«, seufzt meine Mutter neben meinem Ohr und drückt mich so, dass mir der Atem wegbleibt. Ich klammere mich an ihr fest, drücke die Nase an die Schulter. Der vertraute Duft von Waschmittel und Kuchen, den ich oft vermisst habe, umgibt mich. Ein Stein im Magen löst sich durch die Berührung, dennoch klopfe ich ihr aus Atemnot auf den Rücken.

»Luft, Mum«, bringe ich zwischen den Zähnen hervor, weil meine Lungen absolut ausgereizt sind.

»Oh, Verzeihung.« Ruckartig lässt sie von mir ab, geht einen kleinen Schritt nach hinten und strahlt mich mit ihren braunen Augen an. Durch ihr breites Lächeln bilden sich Fältchen um ihre Nasenspitze. Ihre Locken, die ich zu meinem Leidwesen geerbt habe, hat sie heute sorgfältig zurechtgemacht und Skepsis überfällt mich. Um so eine Frisur hinzubekommen, hat sie bestimmt zwei Stunden im Bad verbracht. Das macht sie nur zu besonderen Anlässen. Ich beiße mir auf die Lippe und schlucke das ungute Gefühl herunter, während mir ihre gebügelte Bluse auffällt.

»Es ist so wunderbar dich zu sehen«, stößt Mum erleichtert aus und ihre verkrampfte Haltung entspannt sich, als ihr von der Seite ein Glas in die Hand gedrückt wird.

»Mach Platz, Lynn, auch die Großmutter hat ein Recht, ihre Enkelin zu begrüßen.« Eine alte Frau drängt sich bestimmend vor meine Mutter, die es augenverdrehend über sich ergehen lässt. Die Mundwinkel verziehen sich zu einem Grinsen, als ich das kurze, zottelige Haar sehe und das Gesicht, welches von Falten geziert wird. Ihr Mund ist kirschrot und sie hat sich sogar die Mühe gemacht, ein gestreiftes Kleid anzuziehen. Wenn ich nicht wüsste, dass sie auf die Siebzig zugehen würde, hätte ich sie auf maximal fünfzig geschätzt.

Ich hoffe, die Gene sind mit mir später genauso gnädig.

»Komm in meine Arme, Eve.«

»Hey Gran«, lache ich, als sie mich an sich zieht.

»Gott, bist du mager geworden«, murmelt sie schockiert, tastet mir in der Umarmung Rücken und Oberarme ab.

Ein Satz, den sie routiniert jedes Mal von sich gibt, wenn wir uns nach langer Zeit sehen.

»Da ich jetzt wieder da bin, kannst du mich mit Torten mästen.«

»Ich weiß nicht, ob ich so viele backen kann, wie viele du brauchst, um in Form zu kommen«, sagt sie und schiebt sich ein Stück von mir weg, um mich stirnrunzelnd von oben bis unten zu mustern.

»Dann tau doch die Tonnen Kuchen auf, die du eingefroren hast.« Die desinteressierte Stimme lässt mein Herz etwas höherschlagen und ich finde am Esstisch, der mit Speisen überladen ist, eine gelangweilte, aufgedonnerte Teenagerin vor. Sie hat das spitze Kinn auf die Hände gestützt und die Beine überschlagen. In der zerrissenen Jeans – weswegen sie garantiert eine Auseinandersetzung mit Gran hatte - und einer schwarz karierten Bluse wirft sie mir einen genervten Blick zu. Das Haar, das ich nie in diesem roten Farbton gesehen habe, passt sich perfekt dem aufwendigen Make-up an.

Hätte ich mich mit sechszehn so schminken können, hätte mir das einige grausame Erinnerungen erspart.

»Die Tonnen Kuchen sind für absolute Notfälle.« Gran schüttelt leicht den Kopf, als würde eine Verrückte mit ihr sprechen.

»Schau dir Eve an. Sie ist ein Notfall«, grinst meine kleine Schwester diabolisch.

»Deine roten Haare sind der Notfall«, gebe ich zurück, woraufhin ihre Augen schmal werden und sie mich böse anstiert. »Wann hast du das machen lassen? Als der Teufel dich aus der Hölle geschmissen hat?«

»Nein, nachdem Gran ihr aus Versehen Marmelade ins Haar geschmiert und ihr die Farbe gefallen hat«, vernehme ich meine Mum mit scharfem Ton von der Seite.

»Es war ein Versehen. Kann ja keiner ahnen, dass sie sich die direkt danach färbt«, grummelt Gran und drückt mir einen Teller mit Torte in die Hand.

»Glaub ihr kein Wort. Sie hat das mit dem Rot schon Wochen vorher vorgeschlagen«, flüstert Mum, worauf die drei sich in eine hitzige Diskussion stürzen. Erst jetzt habe ich die Möglichkeit, mich umzuschauen.

Kein neues Möbelstück ist in den letzten Monaten dazugekommen. Um den Esstisch stehen immer noch die zusammengewürfelten Stühle und die Macken an dem Holz fallen mir ins Auge wie eh und je. Der Fernseher steht auf dem alten Schrank, der aussieht, als würde er aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammen. Das Sofa und der Sessel, die um den gläsernen Wohnzimmertisch aufgestellt sind, haben diesen widerlichen Braunton, von dem mir schlecht wird. Unter meinen Füßen liegt der Perserteppich, den Gran von irgendeiner Freundin neunzehnhundertsiebzig bekommen hat. Nichts, wirklich gar nichts, hat sich hier verändert. Und ich hätte nicht gedacht, dass mich das so glücklich macht.

Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, während ich mit einem Ohr der Auseinandersetzung lausche und dabei den hübschen Tannenbaum betrachte.

Tannenbaum?

Ich muss einige Male blinzeln, um zu begreifen, dass die Geschenke, die unter dem Baum liegen, keine Halluzination sind. Auch die Tanne an sich scheint real zu sein.

»Da steht ein Tannenbaum«, stelle ich fest, was meine Liebsten aus dem Gespräch reißt. Stirnrunzelnd mustere ich die Wunderkerzen und das Feuerwerk, das sich direkt daneben befindet. »Habe ich mich mit dem Datum vertan oder habt ihr Weihnachten und Silvester verschlafen?« Verwirrt drehe ich mich um und sehe meine Schwester Amy, die hilflos mit den Schultern zuckt, als hätte sie ihr Bestes gegeben, um das Schlimmste zu verhindern.

»Na ja«, setzt Mum an und hakt sich bei Gran unter, die ein Grinsen nicht verbergen kann, »erst wollten wir eine Überraschungsparty schmeißen…«

»Wovon ich sie abhalten konnte«, wirft Amy ein und verschränkt selbstsicher die Arme, woraufhin sich ein hübscher Ausschnitt bildet, von dem viele Frauen nur träumen können.

Wann zum Teufel hat sie Brüste bekommen?!

»Ja, sie hat eingeworfen, dass es nach allem, was passiert ist, vielleicht nicht die beste Idee mit der Überraschung ist«, gesteht Mum und streicht sich eine Locke aus dem Gesicht. Ich ignoriere, dass mein Herz sich bei ihren Worten zusammenzieht, und verschränke hastig die Hände hinterm Rücken. »Stattdessen dachten wir, dass wir Weihnachten und Silvester mit dir nachfeiern.«

»Ein symbolischer Neuanfang«, fügt Gran hinzu und stellt sich ein wenig gerader hin.

»Ein symbolischer Neuanfang?«, wiederhole ich langsam, werfe einen kurzen Blick zu Amy, die den Kopf schüttelt und mir damit klarmacht, dass das hier kein Scherz ist.

»Aber…«

»Komm schon, Eve. Es war so doof, Weihnachten und Silvester ohne dich zu feiern. Das fühlte sich dieses Mal nicht richtig an«, erklärt Mum.

»Das ist doch nicht das erste Mal.«

»Aber diesmal wussten wir, dass wir dich bald wiedersehen, und natürlich können wir verstehen, dass du Silvester dort sein wolltest.«

»Als Abschluss«, ergänzt Gran.

»Aber wir wollen mit dir das Jahr angefangen.«

»Ich nicht. Von mir aus hätte alles so weiterlaufen können«, vernehme ich Amy, woraufhin Mum empört mit der Zunge schnalzt.

»Mensch, Amy, sei leise!«

»Ich weiß, dass ich in diesem Haus kein Stimmrecht habe.«

»Erst ab achtzehn, richtig.«

»Wenn‘s nach mir geht, erst wenn sie Sex, ihren ersten Kater und eine Sechs in der Schule hatte«, grummelt Gran und kassiert direkt ein wütendes Schnauben von Mum. »Schon gut. Ich habe verstanden, dass das hier eher eine Monarchie als eine Demokratie ist.« Großmutter hebt abwehrend die Hände und reckt selbstsicher das Kinn in die Luft, ignoriert den aufkommenden Wutanfall meiner Mutter.

»Eve, du hast keine Ahnung, wie froh ich bin, dass du wieder da bist«, seufzt Mum und schüttelt den Kopf, als wären die letzten Wochen knochenharte Arbeit gewesen.

»Stell dich nicht so an«, protestiert Amy, die sich bereits an der Torte bedient, die auf dem Tisch steht.

»Wer muss sich den ganzen Tag mit einer pubertierenden Nervensäge und einer schrulligen alten Frau rumschlagen?«

»Und wir müssen eine Krankenschwester in der Midlifecrisis ertragen. Ob das besser ist, ist die Frage«, gibt Gran zurück und zieht einen Stuhl heran, um darauf Platz zu nehmen.

»Ich habe keine Midlifecrisis. Ich bin zufrieden mit meinem Aussehen und meinem Leben.« Mum nimmt einen großen Schluck aus dem Glas, das Gran ihr zuvor in die Hand gedrückt hat, und ich bin mir sicher, dass der Inhalt einen hohen Alkoholanteil hat.

»Natürlich nicht.«

»Darum hast du neulich auch Botox gegoogelt«, ergänzt meine Schwester.

»Von einer Krankenschwester hätte ich erwartet, dass sie die Nebenwirkungen kennt.« Gran greift gelassen nach der Sahne.

»Es war ein einziges Mal«, knurrt Mum und setzt sich demonstrativ zwischen die beiden, die wissende Blicke tauschen.

»Los, Eve. Lass uns essen und wir erzählen dir noch ein wenig mehr von den Problemen deiner Mutter. Immerhin musst du sie jetzt auch pflegen.« Meine Großmutter klopft auf den Stuhl neben sich. Ich kann ein Grinsen nicht verkneifen.

»Ich bin kein Pflegefall!«

»Der bist du, seit du aus meinem Bauch raus bist«, seufzt Gran, während sie ein weiteres gigantisches Stück Torte auf den Teller vor mir legt, obwohl ich das erste noch gar nicht angerührt habe.

Hier hat sich wirklich nichts verändert. Sie sind alle genauso verrückt wie immer und das ist wunderschön.

Ich werde auf mein Zimmer geschickt.

Das ist mir nicht mehr passiert, seit ich fünfzehn war. Und jetzt, wo ich nach den doofen Geschenken frage, steht meine Mutter auf und sagt mir, dass ich die morgen früh öffnen darf. Dass es bereits nach Mitternacht ist, tut scheinbar nichts zur Sache. Der Vorschlag, kurz auf dem Sofa so zu tun, als hätte ich geschlafen, wird sogar einstimmig abgelehnt.

Amy könnte ich für das belustigte Grinsen den Hals umdrehen. Das kleine Biest, das die gleiche Abstammung hat wie ich, weiß nur zu gut, dass ich neugierig und ungeduldig bin. Sie genießt es, mich leiden zu sehen. Allerdings wird sie dafür von Gran zum Aufräumen verdonnert. Ein Job, den ich heute Abend gerne übernommen hätte, aber Amy und ich haben keine Chance gegen die zwei Sturköpfe.

Darum stampfe ich mit einer Sektflasche – die ich heimlich eingesteckt habe – die Treppen hoch. Ich werfe einen letzten Blick auf den Tannenbaum, dessen Kugeln bunt durch die Lichterkette schimmern, und halte inne. Diskussionen aus der Küche schallen durch das Haus und so böse die Stimmen manchmal auch klingen, so schön ist das Gelächter, das stets darauf folgt.

Mit der Hand umklammere ich das alte hölzerne Geländer und steige aus Gewohnheit über die knarrende Stufe, die mich mehr als einmal beim Rausschleichen verraten hat. Auf Zehenspitzen gehe ich unnötigerweise an den leeren Zimmern von Gran und meiner Mutter vorbei sowie an den Bildern, die an der Wand hängen. Lediglich das Licht der Straßenlaterne lässt vereinzelt Gesichter auf den Fotos erkennen. Wie früher taste ich mich durch die Dunkelheit an dem Geländer entlang, bis ich den Treppenabsatz zum Dachgeschoss finde.

Meine Mundwinkel zucken, als ich auch hier gekonnt die Stufe übergehe, die knarrt. Obwohl mein Herz noch halb in Mississippi hängt, spüre ich die Leichtigkeit, die es überkommt, als ich das oberste Geschoss erreiche. Ich sehe Kinderbilder und Zeichnungen von mir und Amy. Das Mondlicht schimmert sanft durch das Dachfenster.

Über ein Jahr ist es her, dass ich das letzte Mal hier oben war. Damals war es nur für wenige Wochen und zu Besuch. Diesmal bleibe ich und ich habe die ganze Hinfahrt überlegt, ob ich hier noch mal klarkommen werde. Jetzt, wo ich vor der Zimmertür stehe und mich das Gefühl von Sicherheit umgibt, denke ich, dass das gut funktionieren könnte. Vielleicht sogar besser als in jeder Vorstellung.

Langsam öffne ich die Tür und taste an der Wand neben mir nach dem Lichtschalter. Einen Moment verweilt meine Hand dort und ich lasse die Vertrautheit zu, die sich in meinem Magen ausbreitet. Obwohl der Raum fast leer ist und die meisten Möbel noch in dem Transporter sind, der an der Straße parkt, fühle ich mich komplett.

Ich schalte das Licht an, woraufhin ich einige Male blinzeln muss. Ein leises Summen geht von der Lampe aus, mischt sich mit dem Lachen, das das Haus belebt. Etwas einsam steht ein hölzernes Bett in der Ecke. Daneben befindet sich der kleine Nachttisch, den Gran mal vom Flohmarkt mitgebracht hat, und an den Tapeten hängt die orange Farbe, die dort schon ist, seit ich elf bin. Früher hat es mich gestört und ich habe mir immer wieder vorgenommen, zu streichen, aber in diesem Augenblick möchte ich nichts daran ändern.

Auf dem frisch gemachten Laken, das bestimmt Gran oder Mum hergerichtet hat, liegt eine dicke Jacke, die garantiert mal mir gehört hat. Als ich sie anziehe, finde ich unbekannten Lipgloss in den Taschen. Amy sagte, sie wüsste nicht von dem verschollenen Kleidungsstück. Was für eine Heuchlerin meine Schwester doch sein kann.

Trotzdem lächle ich, als ich zu dem Dachfenster gehe und es öffne. Wie in alten Zeiten steige ich auf den Rahmen des Bettes und klettere mit der Sektflasche in der Hand auf das Dach. Die kalten Ziegel berühren meine warme Haut, und sobald ich sitze, raffe ich den Parka enger an mich. Ich war nie besonders gut, wenn es darum ging, die Korken knallen zu lassen. Diesmal will ich es schaffen und den Gartenzwerg auf dem Nachbarsgrundstück treffen.

Mit geschlossenen Augen halte ich den Sekt von mir weg und ziehe den Verschluss ab. Es gibt einen leisen Plopp und im hohen Bogen fliegt das Geschoss durch die Nacht. Der Zwerg wird um ein paar Meter verfehlt, es landet stattdessen im Rosenbeet von Mr. Jenkins, der uns gerne die eine oder andere Standpauke gehalten hat. Auch heute hat er nicht gezögert, sich lautstark über das Feuerwerk zu beschweren. Ich grinse, als ich einen Schluck nehme und das Prickeln durch meine Kehle saust.

»Hättest du nicht woanders hinschießen können? Der alte Knacker hat mich erst vorgestern angemeckert und jetzt kriege ich bestimmt noch was von ihm zu hören.«

»Du kannst mich ja verpetzen«, schlage ich vor, während Amy durch ihr Dachfenster klettert. »Oder aber du vergisst, dass ich das war, und dafür hast du nie mit mir hier oben gesessen und ein bisschen Alkohol getrunken.« Mit hochgezogenen Augenbrauen und einem schiefen Lächeln, weil ich weiß, dass Amy nicht widerstehen kann, halte ich ihr die Flasche hin.

»Du bist durchtrieben«, stellt sie fest und greift mit einem anerkennenden Nicken nach dem Sekt.

»Liegt in der Familie.«

Amy setzt an und nimmt einen großen Schluck, wodurch ich Zeit habe, meine kleine Schwester heute Abend in Ruhe von der Seite zu mustern. Leider muss ich mir selber eingestehen, dass sie im letzten Jahr dem Erwachsensein sehr viel nähergekommen ist, und ich habe nicht das Gefühl, dass sich das nur auf das Aussehen bezieht.

»Und?«, reißt sie mich aus meinen Gedanken. »Wie ist es, wieder hier zu sein?«

Ich betrachte den wolkigen Himmel über uns, der die Sterne verschlingt.

»Seltsam«, gebe ich zu und beiße mir auf die Lippe.

»Meinst du, du kommst mit uns drei Verrückten klar?«

»Mach eine Vier aus der Drei und…« Ein lautes Poltern im Garten lässt mich im Satz stocken. Mein Herzschlag stoppt und ich halte die Luft an, während ein weiteres metallisches Klirren ertönt.

»Keine Sorge. Den Besuch kennst du.« Sanft greift Amy nach meiner Hand und schenkt mir ein beruhigendes Lächeln. Eine Sekunde später tauchen die Sprossen einer Leiter vor mir auf. Reflexartig weiche ich ein Stück zurück und bin kurz davor zu fragen, als Stimmen zu mir durchdringen.

»Ich habe gesagt, dass du andere Schuhe anziehen sollst.«

»Hör auf zu meckern und beweg deinen Hintern da hoch«, antwortet jemand.

»Ich gehe doch«, erwidert die Person leicht genervt. Knarrende Geräusche begleiten die Unterhaltung und ich kann nichts dagegen tun, als ich einen begeisterten Blick zu Amy werfe, die mal wieder mit den Achseln zuckt.

»Ich musste das mit dem verrückten Abend doch irgendwie gut machen.«

Meine Augen schnellen zur Dachkante, als plötzlich ein vertrautes Gesicht auftaucht. Die schwarzen Haare trägt sie jetzt als Bob und sie ist immer noch so verflixt dünn wie früher.

»Eve!«, kreischt Sophia leise und krabbelt in einer ungeheuren Geschwindigkeit über das Dach zu mir. Ich reiße die Arme auf, um meine älteste und beste Freundin zu empfangen. Sie lässt sich auf mich fallen und umschlingt mich. Im Augenwinkel erkenne ich einen weiteren Kopf, der sich in mein Sichtfeld schiebt. Eine aschblonde Mähne, die in einem unordentlichen Dutt steckt, verrät mir sofort, um wen es sich handelt. Auf dem schmalen Gesicht steht ein breites Grinsen und ich unterdrücke einen erneuten überraschten Aufschrei, als Zoe sich ebenfalls einfach auf mich schmeißt.

»Kinder«, vernehme ich Amy, während wir uns lachend umarmen.

»Gott, ist es schön, euch zu sehen!«, seufze ich, als sie sich langsam von mir lösen.

»Wir hatten schon Angst, dass du nach den dreißig Stunden Autofahrt völlig fertig bist und wir uns heimlich in dein Zimmer schleichen und dich wecken müssen.« Zoe nimmt Amy die Sektflasche aus der Hand. Ich ignoriere das erdrückende Gefühl, das sich bei ihren Worten um meine Lungen schnürt, und behalte das Lächeln bei.

»Ich bin zwei Tage lang um die fünfzehn Stunden gefahren, also ja. ich bin müde, aber es geht«, erkläre ich. »Und jetzt erzählt mir, wie der Streich lief.«

»Lief? Eve, der läuft noch immer und ich denke nicht, dass er in Zukunft aufhören wird.«

»Müssen wir darüber reden?«, seufzt Sophia.

»Was für ein Streich?«, will Amy verwirrt von der Seite wissen.


2

 

Ryan

 

 

»Scheiße, Nein! Ich liefere kein Bier und ich begleite niemanden! Das ist ein dämlicher Streich gewesen, ihr Idioten!«, knurre ich in das Handy, nur um gleich darauf aufzulegen und das Ding wütend auf den Tresen zu pfeffern. Es gibt einen dumpfen Knall, der durch den leeren Raum schallt und die leise Musik übertönt. Neben mir zählt Zac Geldscheine und lässt Münzen zurück in die Kasse fallen. Ein Schnauben entfährt mir, als ich seinen belustigten Blick von der Seite sehe.

»Immer noch?«, ist das Einzige, was er wissen will, fährt sich mit der Hand durch das hellbraune zerstrubbelte Haar.

»Scheinbar haben sie die blöden Flyer an ein paar mehr Orten aufgehängt, als wir gedacht haben.« Mit zusammengepressten Lippen greife ich nach dem Lappen, mit dem ich eben den Tisch abgewischt habe, und wringe ihn unsanft über der Spüle aus.

»Sei nicht so sauer«, lacht Zac und klopft mir im Vorbeigehen auf die Schulter. »Ich finde, du siehst gut darauf aus.«

»Danke für das Kompliment«, murmle ich sarkastisch und wünsche mir, dass die Cheerleaderin, die diese dämlichen Einfälle hat, der Stoff zwischen meinen Fingern wäre, den ich gerade zusammenknülle.

Leider habe ich weiterhin keine Idee, um wen es sich handeln könnte, und ich bin mir sehr sicher, dass es niemand ist, den ich kenne. Nein, die Quelle befindet sich außerhalb meiner Reichweite und das macht mich wahnsinnig. Ich schaue meinem Gegner lieber direkt ins Gesicht, anstatt so ein feiges Versteckspiel zu treiben.

»Sieh’s positiv: Die hätten auch ein hässliches Bild von dir nehmen können«, höre ich Zac, der immer noch gelassen das Geld zählt.

»Dann hätte ich wenigstens nicht so viele Anrufe bekommen.«

»Du wärst in deinem dummen Stolz aber verletzt gewesen.«

Muss der Idiot immer ins Schwarze treffen?

Ich presse die Lippen zusammen, als die Tür aufgeht und ein Windzug Zac beinah zwei Scheine wegweht. Als ich mit grimmiger Miene aufsehe, entdecke ich mein Spiegelbild und das absolute Gegenteil. Alex, ein breiter Typ mit dunkelblonden Haaren und unglücklichem Gesichtsausdruck stampft neben Scarlett in die Bar. Ihre schulterlangen hellblonden Strähnen wippen bei jedem Schritt mit und für das gigantische Lächeln würde ich sie heute gerne direkt aus der Bar verbannen. Doch seit sie und Zac ein Paar sind, muss ich die verfluchte gute Laune der beiden ertragen. Es ist definitiv besser als der Zoff, der vorher herrschte, doch jetzt brauche ich diese Grinsekatzen gerade gar nicht.

»Ich finde diese Flyer fantastisch«, ist das Erste, was ich von Scar höre, als Alex drei weitere Zettel auf den Tresen legt.

»Dean hat auch noch welche gefunden«, murmelt er genervt. Scarlett schnappt sich hastig einen und betrachtet in aller Ruhe das Papier, auf dem deutlich lesbar Bierlieferung und Escortservice geschrieben steht. Darunter ein Bild von mir und anderen Footballern, wie wir oberkörperfrei in einem Pool stehen und in die Kamera grinsen. Unterhalb eines kurzen Textes, in dem es um Lieferung frei Haus geht, zeigen Pfeile mit Telefonnummern zu jedem, der auf dem Plakat abgebildet ist.

»Hör auf, das Foto anzugaffen«, meldet Zac sich und bekommt wieder diesen leicht eifersüchtigen Blick.

»Genau«, stimme ich zu und ziehe ihr das Blatt aus der Hand. »Du hast einen Kerl, den du anstarren kannst.« Ich ignoriere ihren stummen Protest, schnappe mir den kleinen Stapel, der auf dem Tresen liegt, und zerreiße ihn voller Elan in Schnipsel, sodass keine Nummer mehr zu erkennen ist.

»Ich habe heute vier Anrufe bekommen«, knurrt Alex.

»Dean auch und Miles und ich sechs.«

»Scheiß Cheerleader«, erwidert der Linebacker genervt.

»Ich schwöre, ich werde Zoe morgen Abend auf der Party in Grund und Boden stampfen für diese beschissene Aktion.«

»Ich stampfe mit«, brummt der breite Typ vor mir.

»Ach kommt schon«, meldet Scarlett sich lachend von der Seite. »Gönnt den Cheerleadern mal einen Erfolg.«

»Einen?« Ich wirble herum und schaue sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Soll ich dich an die blauen Haare erinnern und daran, dass die Spieler des gegnerischen Teams uns ausgelacht und mir Blumen geschickt haben?!« Sie presst die Lippen zusammen, kann die Grübchen auf ihren Wangen jedoch nicht verbergen. In den Momenten, wenn sie für die Cheerleader Partei ergreift, kann ich sie nicht ausstehen.

»Der Strauß roter Rosen war doch sehr charmant.«

Ich muss scheinbar Zac und Scarlett umbringen. Oder ihnen die Freundschaft kündigen. Wenigstens für die nächsten Tage.

»Auf welcher Seite steht ihr eigentlich?«, will ich scharf wissen und greife nach meiner Jacke.

»Auf deiner, Ryan, aber manchmal tut es deinem Ego gut, einen auf den Deckel zu kriegen«, erklärt Scar achselzuckend, als Zac ihr einen Kuss auf die Stirn gibt.

»Vielen Dank«, antworte ich spitz, was Zac heiser auflachen lässt.

»Entspann dich, Ryan. Immerhin hast du so die eine oder andere hübsche Dame abbekommen, wenn ich mich nicht irre.« Zac sieht mich wissend an, während Scarlett überrascht der Mund offen bleibt.

»Du hast das ausgenutzt?!« Verdutzt starrt sie zu mir.

»Man muss immer das Beste aus der Situation machen«, gebe ich zurück und höre neben mir das Glucksen von Alex.

»Damit ist mein Mitleid für deine Situation auf ein Minimum geschrumpft«, verkündet sie und verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich ergreife Partei für die Cheerleader.«

»Verräterin«, spricht Alex das aus, was mir durch den Kopf schießt.

»Ich würde mich ja auf eure Seite schlagen, aber ich will heute Abend noch Sex haben.« Ich kann gar nicht so schnell gucken, wie er einen Ellenbogen in der Magengrube hat und die kleine Blondine ihn mit einem strengen Blick straft, der den so selbstbewussten Kerl in einen zahmen Welpen verwandelt. Genauso geht es zwischen Ethan, ihrem älteren Bruder und Besitzer der Bar, und Kayla, ihrer besten Freundin, ab. Schlussfolgerung? Verliebtsein ist Mist.

»Komm, Alex, das hier ertrage ich nicht länger«, seufze ich und ziehe mir die Lederjacke über.

»Echt ey. Viel zu viele Gefühle im Raum«, stimmt der Linebacker, mein Mitbewohner, zu.

»Sieh zu, dass du morgen nicht zu sehr feierst. Du musst am Samstag arbeiten.«

»Das bekomme ich auch mit Kater hin«, antworte ich Zac im Gehen.

»Ich habe nur keine Lust, dass du alle zehn Minuten verschwindest, um zu kotzen.«

»Das war nur einmal und schuld war Coopers Selbstgebrannter«, verteidige ich mich.

»Ich sag’s ja nur.« Abwehrend und mit einem fetten Grinsen im Gesicht hebt Zac die Hände, während Scarlett daneben sitzt und uns kopfschüttelnd betrachtet.

»Keine Angst, das wird nicht wieder passieren«, rufe ich, als Alex und ich die Bar verlassen. Kalte Luft empfängt uns und ich stoße einen leisen Fluch in die Nacht aus, weil ich wirklich nicht damit gerechnet habe, dass die Temperaturen derart sinken.

»Paxton?«, meldet der Linebacker sich zu Wort, nachdem die Tür hinter uns zugefallen ist.

»Ja?«

»Wenn ich mich nicht irre, hat Cooper von seinen Eltern Selbstgebrannten mitgebracht.«

Super.

Krafttraining um neun Uhr ist die reinste Folter. Ich bin stocknüchtern, und trotzdem fühlen meine Muskeln sich heute an, als wären sie von Alkohol durchtränkt. Erschöpft nehme ich einen Schluck Wasser aus der Flasche und wische mir den Schweiß von der Stirn.

Schwer atmend schaue ich zu Miles Cooper, der Liegenstütze macht, als gäbe es kein Morgen. Der Quarterback der Aztecs zählt leise mit, während ich seine rasierten Schädel betrachte, auf dem nur wenige Millimeter kurze blonde Haarstoppeln stehen. Im Trainingsraum riecht es nach Gummi und Turnhalle. Miles hat sein Handy an die Anlage angeschlossen, sodass Musik durch den Raum schallt und ihn noch mehr antreibt. Durch das Fenster sehe ich den klaren Himmel, der nicht erahnen lässt, dass draußen - für San Diego - eisige Temperaturen herrschen.

»Hast du schon schlappgemacht, Paxton?« Im Gehen wischt Dean Carter sich mit dem Handtuch über das Gesicht und bleibt neben mir stehen.

»Es ist anstrengend genug, Cooper bei seinem Wahnsinn zuzuschauen«, erkläre ich.

»Sieht aus, als wäre er ein Roboter.«

»Oder ein Mutant.«

»Vielleicht schluckt er irgendwelche Pillen.«

»Das Einzige, das er schluckt, ist Viagra.«

»Für meine Potenz brauche ich nichts schlucken!« Cooper stoppt mitten in der Bewegung.

»Zu emotional für eine Maschine«, sage ich zu Dean, der sich ein Lachen nicht verkneifen kann.

»Du hast heute eine ziemlich große Klappe, Paxton«, fährt er mich an und greift nach dem Handtuch, das vor ihm liegt.

»Ich übe nur für unsere hübschen Cheerleader.« Ein lautes Schnauben von Miles ertönt.

»Wegen diesen Ziegen habe ich um halb sechs wieder einen Anruf bekommen. Danach konnte ich nicht mehr schlafen.« Neben mir runzelt Dean die Stirn, während der Quarterback gierig Wasser trinkt.

»Warum schaltest du dein Handy nachts nicht einfach aus?«, will er wissen und steht auf.

»Um mir Gelegenheiten für Sex entgehen zu lassen? Nein, da ertrage ich lieber das Wachwerden.« Ich wechsle einen vielsagenden Blick mit Dean, der gar nicht aus dem Kopfschütteln kommt, und stehe ebenfalls auf. Ich behalte für mich, dass er nur am Rumplänkeln ist und darauf wartet, dass eine bestimmte Nummer aufblinkt.

»Du bist unmöglich«, stelle ich fest und zusammen verlassen wir den Trainingsraum.

»Nein, ich bin nur weise.«

»Und notgeil«, ergänzt Dean, woraufhin wir beide lachen müssen. Miles stößt einen kleinen Fluch darüber aus, dass er miserable Teamkollegen hat, als wir auf den Flur zur Umkleide gelangen. Ich höre eine bekannte Stimme und keine Sekunde später kommt Zoe – Team-Captain unserer nervigen Cheerleader - aus einem Raum. Wie immer trägt sie diese hübschen engen, kurzen Sporthosen und ein T-Shirt. Ihre blonden Haare hat sie zu einem hohen Zopf gebunden. Sie lacht laut und ich kann mir vorstellen, dass ihr Streich der Grund für die Freude ist.

»Wir müssen reden, Zoe!«, pfeffert Miles los, ehe Dean oder ich etwas sagen können. Überrascht wirbelt sie herum und das Grinsen auf ihrem Gesicht erstirbt. Im gleichen Moment tritt eine Person neben sie, die ich hier nie zuvor gesehen habe.

»Hallo Miles«, kommt es zuckersüß von der Cheerleaderin, während wir nähertreten und ich interessiert die Kleine betrachte, die sich zu Zoe stellt und uns neugierig mustert. Sie hat braune, lange Locken, die ihr bis auf die Schultern fallen. Eine hautenge Jeans sitzt an den schlanken Beinen und ein schwarzen Pulli gibt ein Stück ihres Schlüsselbeines frei.

»Wir werden heute Abend ein ernstes Gespräch führen müssen«, vernehme ich Miles neben mir, als ich den Kopf schief lege, um den Körper der hübschen Unbekannten zu begutachten, ehe ich mich dem Gesicht widme, das von fantastischen Lippen und einer Stupsnase geziert wird. Die helle Haut ist von feinen Sommersprossen überzogen und dann sind da die gigantischen Augen.

Die, die mich abfällig anschauen.

»Fertig mit Gaffen?«, will sie scharf wissen.

Fuck.

Eine heiße Fremde, die direkt die Krallen ausfährt. Gibt es etwas Schöneres?

»Ich würde gerne damit weitermachen. Vielleicht in der Umkleide, aus der du gekommen bist?«, schlage ich mit einem charmanten Lächeln vor.

»Scheiße«, murmelt sie und wendet sich an Zoe. »Welcher von den Idioten ist das?«

»Paxton«, antwortet die Cheerleaderin gelangweilt.

»Du weißt, wer ich bin? Wunderbar, dann können wir den Part mit dem Kennenlernen übergehen.«

»Klar, kommen wir zum Heiraten und dem Kinderkriegen«, schlägt sie vor.

»Lass uns das mit dem Kindermachen vorziehen und das mit dem Heiraten vertagen«, halte ich gegen und neben mir höre ich Dean ein Lachen unterdrücken.

»Weißt du, Paxton, mit einem Kerl wie dir würde ich nur Kinder adoptieren.« Sie schenkt mir einen entschuldigenden Blick, der vor Hohn nur so trieft, und greift nach Zoes Hand. Ihr Körper bebt vor Belustigung, als sie sich mitziehen lässt. Dean und Miles machen für die Damen Platz, die entspannt zur Turnhalle laufen. Ich schaue der Unbekannten hinterher, deren Arsch hinreißend aussieht, und beiße mir auf die Lippe.

Verflucht.

Die hat mir echt eine knallharte Abfuhr erteilt.

»Was zum Teufel war das?!« Ich bekomme einen Schlag gegen die Schulter und sehe nur noch im Augenwinkel, wie die beiden um die Ecke biegen.

»Was denn?«

»Du hast mir vorgeworfen, dass ich notgeil bin, aber was war das dann bitte? Ein Dreizehnjähriger, der das erste Mal in seinem Leben nackte Brüste anfasst und direkt abschießt? Dabei wollte ich Zoe zusammenscheißen«, sagt Miles kopfschüttelnd.

»Sie sieht heiß aus. Warum sollte ich mein Glück da nicht versuchen?«, protestiere ich.

»Weil sie mit Zoe unterwegs ist? Du hast doch an ihrem Blick gemerkt, dass sie keinen Bock auf dich hat.«

»Das lag bestimmt an euch.«

»Klar, darum haben auch wir diese eiskalte Abfuhr erhalten«, meldet Dean sich grinsend zu Wort.

»Die war wirklich knallhart«, lacht Miles. »Wenn eine Frau dir sagt, dass sie mit dir nie schlafen würde, hast du es echt verkackt.«

Herzlichen Dank, Unbekannte. Jetzt darf ich mir die nächsten Wochen anhören, wie du mich hast stehen lassen.

Aber glaub ja nicht, dass wir uns nicht wiedersehen.

Und dann kriege ich dich.


3

 

Evelyn

 

 

»Wie kann man nur so von sich überzeugt sein?!«, frage ich Zoe, als wir die Turnhalle betreten.

»Wenn man gut aussieht, beliebt ist und seine Position auf dem Spielfeld so perfekt beherrscht, dass einem die Leute zujubeln, denke ich.« Zoe zuckt mit den Achseln, wirft mir einen kurzen Blick von der Seite zu. »Und ich habe gehört, dass er super im Bett sein soll.«

Ich bleibe wie angewurzelt stehen und kann nicht verhindern, dass mir der Mund ein Stück aufklappt.

»Du hast mit dem Trottel geschlafen?!« Ein anklagender Unterton schwingt in meiner Stimme mit.

»Na ja«, murmelt sie und schaut auf ihre Schuhspitzen. »Ich glaube, so ziemlich jede hat sich an ihm probiert.«

»Du bist aber nicht jede!«, widerspreche ich ungläubig, während ich die neugierige Musterung der Cheerleader bemerke, die bereits in der Halle herumlungern.

»Falls es dich beruhigt: Ich war betrunken, er war charmant und es war im ersten Semester.«

»Tut mir leid, dass ich dir das sagen muss, aber dein Männergeschmack hat sich seit der Highschool kein bisschen gebessert.« Ich seufze, was sie nur die Augen verdrehen lässt.

»Ich bin seitdem auch nicht hübscher geworden, also warum sollte ich die Ansprüche hochschrauben?«

»Aber vom Runterschrauben war nie die Rede«, lache ich. Zoe hakt sich grinsend bei mir ein und zieht mich weiter.

»Da du ab jetzt anwesend bist, kannst du ja Eignungstests durchführen.«

»Darf ich Kandidaten direkt ablehnen?«

»Wenn sie stinken, ja«, erwidert sie kopfschüttelnd, während unsere Schritte leise durch die Halle schallen. Der Geruch von neuen Trainingsgeräten hängt in der Luft, mischt sich leicht mit Schweiß und Wärme. Ich erkenne einen großen Springfloor und eine Airtrackbahn. Als ich die Poms sehe, die auf dem Boden liegen, und die Cheerleader, von denen manche Schleifen im Haar haben, breitet sich eine Sehnsucht in meinem Magen aus, die bis in die Fingerspitzen reicht.

Dennoch werde ich hart bleiben müssen. Egal was passiert.

»Alle mal herhören!«, ruft Zoe laut zu den Leuten, die sich neugierig umdrehen. »Das ist Eve.« Mit einer ausgefallenen Handbewegung deutet sie zu mir, als wäre ich das Ausstellungsstück einer Auktion, und ich warte darauf, dass der Erste bietet. Es ist mir ein wenig unangenehm, so von den Fremden angestarrt zu werden. Doch ich kann nicht verhindern, dass meine Mundwinkel sich verziehen, als sie mich begrüßen, anlachen, teilweise applaudieren und jubeln.

»Ich weiß ja, dass du aufgehört hast, aber wir wollen uns bei dir trotzdem für die Hilfe in den letzten Monaten bedanken«, erklärt Zoe, woraufhin ihr eine dünne Cheerleaderin mit rotbraunen Haaren, die mich um mehr als einen Kopf überragt, ein Paket überreicht. »Danke, Emily.« Sie nickt der jungen Frau zu, die bestimmt ein Back Spot ist. Zumindest würde ich sie als einen solchen einteilen.

»Ich will nichts haben«, murmle ich, kann jedoch nichts tun, als Zoe mir eine Schachtel in die Hand drückt.

»Hör auf zu protestieren und mach auf.«

Ich kenne sie lange genug, um zu wissen, dass ich keine Chance habe. Daher kapituliere ich mit einem Seufzen und öffne das Geschenk.

Fehler. Brutaler Fehler.

Ein Dolch bohrt sich in meine Brust, als ich die rot-schwarze Uniform erkenne, die ordentlich gefaltet in der Box liegt.

Wie war das mit dem Hartbleiben noch mal?

»Ich weiß, dass du nicht mitmachen wirst, weil du dich auf das Studium konzentrieren willst, aber wir dachten uns, dass du so am besten weißt, dass du dazugehörst.«

Ich schlucke schwer, erzwinge ein Lächeln.

»Danke«, murmle ich leise, versuche das drückende Gefühl nicht überhandnehmen zu lassen. »Ich weiß, ehrlich nicht, was ich sagen soll.«

»Du musst nichts sagen.« Zoe strahlt mich an und registriert meine bröckelnde Standfestigkeit. Ich schlage eilig die Box zu und behalte das falsche Grinsen auf den Lippen. »Aber du kannst dir das mit dem Mitmachen überlegen«, fügt sie hinzu.

Ich bringe nur ein Nicken zustande. Ein einfaches, mechanisches Nicken. Jedes weitere Wort an dieser Stelle wäre unangebracht.

»Was steht ihr da rum?! Aufwärmen!«, feuert plötzlich jemand laut los und klatscht dabei in die Hände. Ich wirble herum, als die Leute wie ertappt loslaufen, und entdecke eine Dame um die vierzig mit hellbraunen Haaren, die in einem Zopf stecken. Mit festen Schritten marschiert die kleine, etwas stämmigere Frau durch die Halle – direkt auf mich zu.

Es kommt selten vor, dass mir eine Person Angst macht, aber die Entschlossenheit in ihrem Blick lässt mich nach einem Fluchtweg suchen. Der liegt natürlich hinter ihr. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich dem Löwen zu ergeben.

»Kenne ich dich?«, will sie wissen, baut sich dabei vor mir auf. Obwohl ich fast einen Kopf größer bin, fühle ich mich wie ein Kind, das von seiner Mutter beim Mistbauen erwischt worden ist.

»Ich habe Zoe herbegleitet«, erkläre ich und presse den Karton mit dem Kleid gegen die Brust. »Sie hat gesagt, dass ich zuschauen darf.«

Einen Moment überlegt das Raubtier, das eindeutig der Coach des Teams ist. Neben uns laufen die Cheerleader entlang, die das Spektakel neugierig betrachten. Mir kommt es wie eine Aufnahmeprüfung vor, oder als wäre ich die Neue in einer Klasse. Einfach grauenvoll.

»Evelyn, richtig?«, fragt sie nun netter, was dazu führt, dass meine Schultern erleichtert ein Stück nach unten sacken. Ich nicke und schenke der etwas grimmig dreinschauenden Frau ein schmales Lächeln. »Du warst in Mississippi?«

Zoe, diese alte Petze.

»Ja, aber ich habe aufgehört.« Es fühlt sich an wie ein schlechtes Geständnis, was meinen Hals trocken werden lässt. Ich räuspere mich unter den wachsamen Augen.

»Aufgehört?« Ihre Mundwinkel zucken. »Gut, ich bin Coach Kim. Schön, dass du zum Zuschauen hier bist. Allerdings solltest du wissen, dass ich ungern Besucher habe, also, wenn du öfter kommen willst, musst du dir Trainingssachen anziehen und mitmachen.«

»Heute ist nur eine Ausnahme«, antworte ich, woraufhin sie mich skeptisch mustert.

»Natürlich. Irgendwann wirst du wieder mit auf der Matte stehen. Cheerleader ist Cheerleader«, murmelt sie und ich kann nicht sagen, ob sie mich meint oder mit sich selber spricht. Denn sie wendet mir bereits den Rücken zu und steuert die Mitte der Halle an. Im Vorbeilaufen werfe ich Zoe einen bösen Blick zu. Hastig schaut sie weg und in Gedanken schmeiße ich ihr einen Schwall Flüche entgegen. Mit schweren Schritten bewege ich mich zu der Bank, die an der Seite steht, und lasse mich dort mit einem mulmigen Gefühl im Bauch nieder. Den Karton stelle ich vorsichtig ab und verschränke ruhelos die Arme vor der Brust.

Es ist das erste Mal seit Jahren, dass ich bei einem Training nur danebensitze, und es bricht mir jetzt schon das Herz. Ich werde Zoe nie wieder begleiten können.

Und dieses Kleid muss ich ihr auch zurückgeben.

Oder ganz tief im Kleiderschrank vergraben.

 

»Also, was genau ist das heute Abend für eine Party?«, will ich von Zoe wissen, die vor ihrem großen Spiegel steht und sich ein blaues Crop Top vorhält, ehe sie es im hohen Bogen auf den Berg Klamotten auf ihrem Bett schmeißt.

»Das ist die Semesterstartparty«, erklärt sie augenverdrehend, während ich mich gelangweilt auf dem Schreibtischstuhl drehe.

»Das weiß sogar ich«, murmelt Sophia und trägt gekonnt Lidschatten auf, wobei sie sich in einem schwarzen Bustier neben Zoe drängt.

»Und wir müssen dahin, weil…?«, lasse ich die Frage im Raum hängen und werde daraufhin so abrupt gestoppt, dass ich beinah Bekanntschaft mit dem Boden mache. Auch wenn Zoe Teppich in ihrem Zimmer liegen hat, bin ich nicht scharf auf die Erfahrung und kralle mich überschwänglich an der nicht besonders stabilen Stuhllehne fest.

»Weil es eine der besten Partys im Jahr ist und sie bei Paxton stattfindet. Feindliches Terrain betreten«, sagt sie energisch und lässt mich los. »Na ja, und natürlich müssen wir dich in das Studentenleben hier integrieren. Du bist ja ein völliger Neuling.«

»Das Leben ist hier auch so anders.« Ich verdrehe die Augen und lehne mich nach hinten.

»Hey Miss Mississippi«, meldet Sophia sich zu Wort. »In San Diego ist einiges anders.«

»Ja, zum Beispiel habt ihr Footballer, die echte Idioten sind«, brumme ich und schüttle leicht den Kopf, als ich mich an diesen Paxton erinnere. Der hatte eine ziemlich große Klappe und wahrscheinlich sind schon viele auf diese blöde Anmache hereingefallen. Schade für ihn, dass er jetzt lernen muss, dass er sich an mir die Zähne ausbeißt.

»Hör auf rumzumeckern und such dir was zum Anziehen raus.«

»Genau, Eve. So wie früher«, stimmt Sophia zu und klappt den Lidschatten in ihrer Hand geräuschvoll zu.

»Solange ihr mich nicht so schminkt und ich Klamotten tragen darf, die nicht aussehen, als wäre ich den Achtzigern entsprungen, könnten wir drüber verhandeln«, gestehe ich den beiden zu und bekomme sogleich ein Kleidungsstück entgegengeworfen.

»Wenn du dich nicht endlich benimmst, versetze ich dich zurück in die Siebziger«, ermahnt Zoe mich, wedelt dabei mit einem Lippenstift vor der Nase herum.

»Ich fände es einfach viel cooler, mit euch zusammen einen schönen Abend zu verbringen. Ihr könntet mich auf den neusten Stand bringen.«

Ja, ich klinge wie eine alte Frau, die mit zwei anderen Omis alleine an einem Freitag zuhause sitzen und reden möchte. Die Sache ist, dass es mir überhaupt nichts ausmacht und ich genug Gründe habe, nicht auf Partys zu gehen. Generell finde ich es sinnvoller, die Öffentlichkeit zu meiden. Allerdings wird das ein sehr schweres Unterfangen, das nicht umsetzbar ist.

»Ich gebe dir Bescheid, sobald ich so alt bin«, murmelt Zoe und wirft ihre Haare über die Schulter, damit sie den feuerroten Farbton auftragen kann. Ich unterdrücke ein Seufzen und werfe einen Blick zu Sophia, die mich ein wenig mitleidig anschaut. Meine Lippen verziehen sich zu einem falschen Grinsen, das sie traurig erwidert. So war es immer in dieser Runde. Sophia, die Stille, Zoe, die Partyqueen, und ich, die mitgekommen ist, aber meistens gezogen werden musste.

 

Ich weiß, dass es diesmal eine blöde Idee war, sich mitziehen zu lassen, als wir auf das Haus zugehen, in dessen Vorgarten ein paar Leute mit Bierflaschen stehen. Durch die halb offene Haustür drängt sich ein Bass, der durch die Straße hallt, und das Licht scheint viel zu grell zu sein für die Nacht. Wir drei haben nicht mal die Türschwelle überschritten, da wird Zoe schon von den ersten Menschen angesprochen. Ich beobachte, wie sie die leicht Angetrunkenen mit einem netten Lächeln abweist und uns weiterführt.

Eigentlich habe ich keinen Grund, nervös zu sein, und doch verspüre ich den Drang, die Hände in den Hosentaschen zu vergraben. Leider wurde ich von beiden zu einem Jeansrock genötigt und auch das weiße, etwas weitere T-Shirt bietet nicht die Möglichkeit, die Finger zu verstecken. Lediglich die Lederjacke hat zwei klitzekleine Taschen. Allerdings müsste ich meine Arme umständlich verbiegen, um überhaupt in die Nähe zu kommen. Es bleibt also nur die eine Option: Cool bleiben.

Wenn das nur so einfach wäre.

»Wollt ihr was trinken?«, fragt Zoe über die laute Musik, als wir durch einen schmalen Flur tapsen und ich gierige Blicke von dem einen oder anderen Typen spüre. Ich schlucke den Kloß im Hals herunter und versuche nicht so ängstlich auszusehen, wie ich mich fühle. Zumindest hoffe ich, dass es nicht so offensichtlich ist. Ansonsten wäre ich heute – trotz Unterstützung der Cheerleader – ein gefundenes Fressen für eine Menge bösartiger Menschen.

Vielleicht sollte ich einen kleinen Drink nehmen. Nur, um etwas lockerer zu werden.

»Ja«, rufe ich zu Zoe, als wir in das Wohnzimmer treten. Mitten im Raum stehen drei riesige Sofas, auf denen Leute wie auf einer Hühnerstange sitzen, während andere mit Drinks in der Hand neben den Boxen tanzen. Die Terrassentüren sind offen, lassen ein wenig Frischluft in das Innere, das nach einer Mischung aus Alkohol und Schweiß riecht.

Zoe biegt rechts um eine Ecke und wir landen vor einer Kücheninsel, auf der eine Glasschale ist. Daneben befinden sich ein paar Flaschen, die nicht aussehen, als hätte man sie gekauft. Eine Gruppe von fünf Personen steht nicht weit entfernt und lacht über irgendetwas, was der große Kerl mit dunkelblondem Haar gesagt hat. Ich werfe ihm einen abschätzigen Blick zu.

So wie die vier Damen ihn anhimmeln, gehört er garantiert zur Football-Fraktion.

»Bier oder Bowle? Die ballert allerdings ordentlich«, vernehme ich Zoe. Meine Augen schweifen durch die Menge, scannen sie nach bekannten Gesichtern.

»Bowle«, sage ich und stelle erleichtert fest, dass eine Vielzahl an Cheerleadern hier ist, mit denen Zoe und ich noch kurz nach dem Training gesprochen haben. »Du weißt doch, dass ich nicht so der Biertyp bin«, füge ich hinzu.

»Ich nehme auch einen Becher.« Sophia streicht sich eine Strähne aus der Stirn und schaut sich nervös um. Unruhig verschränkt sie die Finger ineinander und am liebsten würde ich sie wie früher umarmen und ihr versichern, dass alles in Ordnung ist. Bis zur Highschool ging das auf Partys ganz gut. Doch mit dem Wissen, dass wir in den heiligen Hallen der Idioten stehen, bin ich mir sicher, dass es keine fünf Sekunden dauern wird, bis jemand neben uns steht und fragt, ob wir einen Dreier schieben wollen.

Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, dass Männer mit dem Alter primitiver werden.

»Hört auf so traurig dreinzublicken.« Zoe drückt Sophia und mir die Plastikbecher in die Hand und ermahnt uns mit einem scharfen Blick. »Es ist eine Party und wir sind jung!«

»Meine Worte, liebste Zoe.« Ein trainierter Arm legt sich um ihre Schulter. Einer der Typen, denen wir vor den Umkleiden begegnet sind, schenkt ihr ein bittersüßes Lächeln. Ich betrachte die kurzgeschorenen blonden Haare und das dunkelblaue Jeanshemd, das eng um seine Brust spannt.

Wie war gleich sein Name?

Martin?

»Hallo Miles.« Zoe erwidert sein Grinsen, macht jedoch keine Anstalten, sich aus seinen Fängen zu befreien.

Miles. Das war es.

»Wir müssen heute Abend dringend ein paar Dinge besprechen.«

»Müssen wir?«

»Oh ja, Kleines«, sagt er gedehnt und nickt langsam. »Zum Beispiel, dass ihr endlich die restlichen Flyer einsammelt und aufhört mit den Streichen.«

»Hast du mir nicht damals erklärt, dass das mit dem Aufhören nicht geht, weil‘s Tradition ist?« Sie klimpert einige Male mit den Wimpern und ich sehe, wie Miles mit dem Kiefer mahlt. Ihm gefällt es ganz und gar nicht, dass er Kontra bekommt.

»Gut, dann wäre es vielleicht angebracht, wenn ihr uns euer kleines Ass präsentiert. Ihr wisst schließlich auch, wer bei uns mit im Boot sitzt.«

Ass? Klingt ganz gut.

Meine Mundwinkel zucken und ich nippe an dem Becher, um die Belustigung zu verbergen. Doch kaum hat das Getränk meine Kehle erreicht, fängt es erbarmungslos an zu brennen.

»Heilige Scheiße!«, fluche ich laut los, schüttle den Kopf, was die Umstehenden auf mich aufmerksam werden lässt. »Welcher unfähige Idiot fabriziert denn solche Mischungen?!«, beschwere ich mich und betrachte das rote Zeug im Cup, das äußerlich völlig harmlos wirkt.

»Ich war das«, meldet sich eine Stimme zu Wort, die mich die Augen verdrehen lässt. Ich habe den Kerl ein einziges Mal getroffen und könnte ihn schon jetzt erwürgen.

»Scheint so, als würde deiner Zukünftigen deine super Bowle nicht so zusagen«, grinst Miles von der Seite, behält den Arm immer um Zoes Schultern. Ich will sie gerade etwas intensiver in Augenschein nehmen, als sich der Typ vor mich schiebt.

»Ziemlich schade. Ich wollte das eigentlich als unseren Hochzeitdrink servieren.«

Da steht er.

Ryan Paxton baut sich mit einem schiefen Grinsen direkt vor mir auf. Die schwarzen kurzen Haare sehen leicht durcheinander aus, seine blauen Augen wirken glasig. Ich muss zu ihm aufschauen. Ich bin bestimmt zwei Köpfe kleiner als er und wünschte, ich hätte hohe Schuhe angezogen, um ansatzweise auf seiner Augenhöhe zu sein. Das weiße T-Shirt spannt über seine Arme und seine dunkelblaue Jeans sitzt tief auf den Hüften. Die Genugtuung, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen, werde ich ihm nicht gönnen.

»Ein Glück, dass es nie zu einer Hochzeit kommen wird«, gebe ich gelangweilt zurück. Hatte ich beim Betreten nicht Angst vor den Menschen gehabt, die sich auf einen stürzen, sobald man Furcht zeigt?

Ryan Paxton ist exakt so ein Typ.

»Du sagst unsere Hochzeit ab, noch bevor ich deinen Namen kenne? Wie unhöflich«, fordert er mich grinsend heraus.

»Gott, Paxton. Du bist manchmal wirklich peinlich«, stöhnt Miles.

» Klappe, Cooper. Ich flirte«, erwidert er, behält mich dabei im Blick.

»Flirten? Mit deinem Spiegelbild in der Glasscheibe hinter mir?«, will ich kopfschüttelnd wissen, höre ein leises Lachen von den Umstehenden, die das Schauspiel verfolgen. Sein Grinsen verspannt sich und ich sehe, dass er mit sich selber kämpfen muss.

»Du bist eine harte Nuss«, stellt er fest und beißt sich auf die Lippe. »Wenn du mir schon nicht deinen Namen verraten willst, dann vielleicht, warum wir uns noch nie begegnet sind?«

»Lass sie in Ruhe«, mischt Zoe sich ein.

»Ich glaube nicht, dass sie deine Hilfe braucht. So wie ich das in Erinnerung habe, hat sie einen Mund, aus dem böse Sachen kommen können«, gibt er zurück, ohne sich umzudrehen.

»Was denn? Habe ich dich so gekränkt?«, kann ich mir nicht verkneifen zu fragen.

»Du hast unsere Zukunftspläne zerstört. Natürlich kränkt mich so was«, antwortet er und ich bin ein wenig überrascht von der Ehrlichkeit, die scheinbar in seinen belustigten Worten mitschwingt. Vielleicht vertue ich mich auch nur. Nein, bestimmt sogar.

»Muss ich dich jetzt den ganzen Abend ertragen?«

»Vielleicht verschwinde ich, wenn du mir sagst, wie du heißt, und mir deine Nummer gibst.« Seine blauen Augen, die mich an das Meer erinnern, funkeln schelmisch.

Sosehr der Typ mir auch auf den Keks geht.

Es gibt zwei Dinge, die ich mir eingestehen muss.

Er ist wirklich hartnäckig und er sieht gut aus.

Letzteres sollte ich allerdings unbedingt für mich behalten und ausblenden.

»Okay«, seufzt Ryan, ehe ich was erwidern kann. »Eine Sache muss ich aber wissen: Gehörst du zu den Cheerleadern?«

»Sie ist meine beste Freundin. Natürlich gehört sie dazu«, kommt es prompt von Zoe, bevor ich protestieren oder ihr sagen kann, dass das die falsche Antwort gewesen ist. Schalk blitzt in seinen Augen auf und ich weiß, dass ich es gleich bereuen werde, mitgekommen zu sein.

»Gut zu wissen.«

In dem Moment, als er das ausspricht, spüre ich, wie meine Kleidung von hinten durchnässt wird. Zoe und eine Menge andere Cheerleader kreischen erschrocken auf, als die Footballer mit den Wasserpistolen auf uns schießen. Ich zucke zusammen, verbiete mir, auch nur einen Ton von mir zu geben, während lautes Gelächter ausbricht. Ich ertrage es und sehe dabei das siegessichere Grinsen auf dem Gesicht von Ryan Paxton vor mir.

»Draußen ist es schweinekalt«, presse ich hervor und unterdrücke die aufkommende Wut, als der Stoff des T-Shirts an meiner Haut klebt.

»Keine Angst«, winkt er lässig ab. »Wir haben Wechselklamotten für euch.«

»Paxton, das ist absolut mies«, feuert sogar Sophia neben mir los, doch er ignoriert sie.

»Allerdings müsst ihr euch die Sachen erspielen.«


4

 

Evelyn

 

 

Ryan Paxton sorgt dafür, dass ich meine Vorsätze über den Haufen werfe.

Nicht auffallen?

Was soll’s.

Still und leise verschwinden?

Garantiert nicht.

Ihm den Sieg gönnen?

Niemals.

Und das schon am zweiten Tag, den ich wieder zuhause bin.

Er steht vor mir. Mit dem arrogantesten Grinsen, das mir jemals untergekommen ist. Wie gern würde ich ihm ins Gesicht schreien, dass das Rache geben wird. Es ist nur Wasser, doch ich bin mir sicher, dass es nicht alles ist. Das hier ist nur ein klitzekleiner Vorwand und zusätzlich friere ich mir schon jetzt den Arsch ab, denn der Wind von draußen ist eisig. Es ist das erste Mal, dass ich direkt betroffen bin, obwohl er nichts von meiner Mittäterschaft weiß.

Mal im Ernst. Wer kommt auf die Idee, das Mädchen, das er auf billigste Art anbaggert, deren Namen er nicht kennt, auf einer Party mit Wasserpistolen abzuschießen? Es würde mich bestimmt nicht so stören, wenn wir uns kennen würden – wenigstens vom Sehen – oder wenn er wüsste, dass ich bei den Cheerleadern drinhänge. Aber mich wie ein Objekt zu behandeln und auf den BH zu starren, der durch das nasse weiße T-Shirt sichtbar ist, lässt mich innerlich langsam kochen.

Ich hasse es, wie ein Stück Fleisch behandelt zu werden. Das Gefühl vermittelt er mir in dieser Sekunde. Allerdings habe ich nicht vor, mir das gefallen zu lassen, und leider bin ich mir sehr sicher, dass das hier eine Retourkutsche für meinen Flyer-Einfall ist. Da das meine Idee war, kann ich es nicht zulassen, dass sich die Cheerleader hier blamieren.

»Gut«, sage ich und mache einen kleinen Schritt auf Paxton zu, der den Ausblick durch mein durchsichtiges Oberteil zu genießen scheint.

Widerling.

»Wir spielen Bierpong«, erklärt er schief grinsend.

»Bierpong? Kreativer wart ihr nicht?«

»Ich bin doch noch nicht fertig«, lacht er und das Bedürfnis, ihm den Hals umzudrehen, keimt auf. »Treffen wir einen Becher, müsst ihr die Aufgabe erledigen oder die Frage beantworten, die auf der Unterseite steht. Für Treffer, den ihr macht, erhaltet ihr ohne Gegenleistung ein Kleidungsstück.«

»Auf euren Bechern steht wahrscheinlich nichts, oder?«, will ich scharf wissen.

»Wir spendieren euch ja schon die Kleidung.« Ich presse die Lippen zusammen, um die Beschimpfungen, die mir auf der Zunge liegen, zurückzuhalten.

»Jede Cheerleaderin hat zwei Würfe, um einen Pullover und eine Hose zu erhalten. Das Spiel ist zu Ende, wenn ihr etwas nicht macht oder alle Klamotten habt.«

Ja, ich könnte es dabei belassen. Zweimal einen Ball in einen Cup auf der gegenüberliegenden Tischseite befördern und hoffen, dass ich gut davonkomme. In den letzten Monaten habe ich zu oft nur danebengesessen und alles geschehen lassen. Außerdem hat Ryan Paxton einen Tritt in den Arsch verdient. Zwar habe ich noch keine Ahnung, wie ich das anstellen soll, doch ich will ihn am Boden sehen.

Kriechend. Alle Viere von sich gestreckt.

»Wie viele Cheerleader sind hier?«, frage ich.

»Dreiundzwanzig. Wenn wir dich dazuzählen, sind es vierundzwanzig, aber keine Angst. Dir leihe ich sehr gerne ein paar von meinen Klamotten.«

Oh, dieses kleine Schwein. Wäre er wirklich eins, würde ich ihn ›Schnitzel‹ nennen und schlachten.

»Ändern wir die Regeln.« Ich verschränke die Arme vor der Brust, wohl wissend, dass er den BH mit Spitze sieht und ihn schon intensiv gemustert hat.

»Ändern?«, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen und ich höre die Belustigung in seiner Stimme. Wenn er denkt, dass das eine einfache Nummer für ihn wird, hat er sich geschnitten. Das Temperament meiner Großmutter meldet sich nämlich gerade lautstark und schreit nach Gerechtigkeit.

»Zoe und ich spielen gegen dich und Miles. Der Rest des Teams ist raus. Es gibt nur zwölf Becher und für jeden Treffer und jede erledigte Aufgabe oder Frage bekommen wir zwei Kleidungsstücke. Die restlichen zwölf Becher werden weggenommen, ohne auf die Unterseite zu schauen.«

Es ist still im Raum, in dem bis eben noch laute Musik gelaufen ist, und es wird mir erst jetzt richtig bewusst. Ich spüre die gebannten Blicke in meinem Rücken und sehe in Zoes Gesicht Verzweiflung und Panik. Ryan Paxton kämpft mit sich und ich weiß, dass er abschätzt, ob das hier für ihn ein noch besserer Deal ist.

»Einen Becher

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: J. Moldenhauer
Cover: Grit Bomhauer
Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2019
ISBN: 978-3-96714-000-2

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