Cover

Prolog

Leben.

Was genau heißt das?

Um ehrlich zu sein, kann ich euch nichts darüber sagen, denn ich habe nie wirklich gelebt.

Zumindest kommt es mir so vor. Ich meine, woran merkt man, dass man gelebt hat? Machen die Exzesse das Leben aus oder ist es doch eher der Nervenkitzel? Sind es die kleinen Momente, die so schön sind, dass man sie nicht gehen lassen will? Oder ist es der Schmerz, der uns Leben spüren lässt?

Falls es der Schmerz ist, habe ich schon viel zu oft das Leben gespürt. Zu intensiv und zu lange.

Also meiner Meinung nach ist Leben etwas, das jeder für sich selber definieren muss und ich bin der festen Überzeugung, dass jeder schon mal gelebt hat. Auf seine eigene und besondere Weise.

Ich hatte nie gelebt.

Nie so, dass der Schmerz verschwand.

Bis zu dem Unfall.

Bis ich ihn traf.

Er war der Mensch, der mir das Leben zeigte.

Ohne ihn, wäre ich immer noch eine unter Milliarden und ohne Gesicht.

 

Ozeanblaue Augen

Claire


„Hier Spätzchen.“

Meine Oma stellte einen Teller mit einem Marmeladenbrot vor meine Nase. Ich lehnte mich ein Stück nach vorne und betrachtete kritisch die Marmelade. Ich schnupperte weiterhin skeptisch daran und nickte zufrieden.

„Riecht schon mal ziemlich gut“, gab ich zu und warf der alten Frau einen anerkennenden Blick zu. Nervös rieb sie ihre Hände ineinander und ließ mich nicht aus den Augen.

Ich nahm das Marmeladenbrot und bis herzhaft herein. Ich kaute ein paar Mal und betrachtete das Brot dabei mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Die ist dir gelungen“, sagte ich, nachdem ich das Brot heruntergeschluckt hatte.

Wie ein kleines Kind fing meine Oma an zu Grinsen und sich freudig auf der Stelle zu drehen. Dabei wackelte ihr grauer Dutt leicht hin und her, sodass ich nicht anders konnte als zu Grinsen.

„Du sollst deine alte Oma doch nicht auslachen!“, ermahnte sie mich und fuchtelte dabei mit einem Finger vor meinem Gesicht herum.

„Hab ich nicht getan“, schmunzelte ich und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Rasch griff ich nach meiner Schultasche und schmiss sie mir über die Schulter.

„Glaub ich dir nicht!“, rief sie mir hinter her, als ich aus der Küche stürmte um den Bus zu bekommen.

„Hab dich lieb“, rief ich noch, bevor ich die schwere Holztür schloss und den Bus in unsere Straße einbiegen sah. Mit einem großen Satz sprang ich über das Gartentor und sprintete zu der Bushaltestelle, die der Bus bereits erreicht hatte. Ich sah durch die Windschutzscheibe des Busses den alten, freundlichen Busfahrer lächeln. Jeden Morgen hielt er einen kleinen Moment länger, damit ich den Bus bekam.

Schwer atmend stieg ich in den Bus und erwiderte das Lächeln des alten Mannes am Steuer. Mit einem Zischen schlossen sich die Türen hinter mir und der Bus setzte sich in Bewegung. Ohne mein Ticket vorzuzeigen ging ich in die letzte Reihe an das Fenster. Ich ließ meine Tasche auf den Sitz neben mir fallen und atmete entspannt aus.

Ich saß seit zwei Jahren immer auf dem selben Platz im Bus. Immer alleine.

Mein Blick schweifte nach draußen, wo die Menschen sich durch die schon warmen Straßen quälten an einem Donnerstagmorgen. Die Sommerferien waren vorbei und auch ich war dem Ministerium dankbar, dass der erste Schultag an einem Donnerstag war, denn schon jetzt sehnte ich mich wieder nach meinem Bett.

Der Bus bremste und hielt an einer weiteren Haltestelle an der eine Herde kichernder Mädchen einstieg. Ich presste mich tiefer in meinen Sitz und mied die Blicke der Mädchen. Sie waren aus meinem Jahrgang, doch wir hatten nicht viel gemeinsam. Während sie zu der Kategorie der Beliebten hörte, war ich einer der Außenseiter. Der größte Unterschied zwischen uns war, dass ich mich nicht in den Mittelpunkt drängte und keine Freunde hatte.

Natürlich wurde ich dafür verurteilt, dass ich mich nicht auf Partys blicken ließ und mich betrank oder sonst was, doch ich hatte kein Interesse daran, dass tausende sich für mich interessierten. Es war mir lieb, dass ich Zeit für mich hatte und niemandem außer meiner Großmutter verpflichtet war. Manchmal wünschte ich mir jemanden zum Zuhören und Freunde mit denen ich lachen konnte, doch Freunde stellten oft zu viele Fragen.

Und viele dieser Fragen schmerzten mich zu sehr. Also blieb ich alleine, denn das war für mich einfacher und weniger schmerzvoll.


Adrian


Das nervige Geräusch der Türklingel riss mich aus meiner Traumwelt, in die ich vor kurzem erst wieder geglitten war. Zuerst hatte der laute Wecker mich aus dem Bett holen wollen und nun schien irgendjemand anderes dieses Ziel zu verfolgen.

Mit einem lauten Stöhnen quälte ich mich aus dem Bett und trottete in Jogginghose zur Tür, die ich mit einer grimmigen Miene öffnete. Ich erblickte die mir nur zu bekannten Augen von Jack, der mich verpennt musterte.

„Nicht in der Schule?“, fragte er, während ich ihm den Rücken zukehrte und mich auf den Weg in die Küche machte.

„Du doch auch nicht.“

Ich setzte mich auf den abgenutzten Stuhl an den Küchentisch und massierte mit meinen Fingern meine Stirn.

„Zuviel gesoffen gestern?“, fragte Jack mit einem höhnischen Grinsen auf den Lippen und schnappte sich ein altes Brötchen aus einer Papiertüte.

„Bisschen“, gab ich zu.

Er ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen und betrachtete die Küche genauer.

„Schon einen neuen Mitbewohner gefunden?“

„Nein. Es meldet sich einfach keiner auf die Anzeige.“

„Mit dir würde ich auch nicht zusammen ziehen wollen“, scherzte er und biss von dem Brötchen, woraufhin er angeekelt das Gesicht verzog.

„Wie alt ist das Teil?“

„Alt genug“, erwiderte ich lachend und stand auf. Ich schnappte mir eine Aspirin aus einer Schubblade und nahm mir ein Glas, das ich mit Wasser füllte. Schnell steckte ich mir die Tablette in den Mund und leerte in ein paar tiefen Zügen das Glas.

„Kommst du mit ins Studio? Hab keinen Bock auf Schule.“

„Und was sagt Jenna dazu?“, fragte ich und zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Er winkte ab und somit war das Thema für mich gegessen.

„Jaja. Ich hol nur schnell meine Sachen.“

Langsam trottete ich in den Flur und schnappte mir mein schwarzes T-Shirt von gestern vom Boden. Gähnend schlüpfte ich anschließend in meine Chucks und warf mir die Tasche über die Schulter.

„Na los“, sagte ich und schnappte mir den Hausschlüssel von der Kommode, die im Flur stand.

„Meinst du Marc ist auch da?“, fragte Jack, während er in das Treppenhaus ging und ich die Haustür abschloss.

„Denkst du echt der geht morgens um Acht zur Schule?“, fragte ich zurück, worauf ich nur ein Schulterzucken als Antwort bekam. Während wir die Treppen hinunter stiegen, zog ich eine Zigarettenschachtel aus meiner Sporttasche und hielt sie Jack hin, der sich eine nahm.

Wie ein altes Ritual nahm Jack das Benzinfeuerzeug aus seiner Tasche und gab mir Feuer. Ich zog einmal tief und spürte, wie der Qualm sich in meiner Lunge ausbreitete. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Jack sich seine ebenfalls anzündete und fast gleichzeitig atmeten wir den Rauch aus. Jack öffnete die Haustür und trat in die Wärme, die sich schon so früh in den Straßen sammelte. Früh war natürlich relativ gesehen. Für unsere Verhältnisse war Zehn Uhr morgens früh.


Claire


Ich konzentrierte mich auf den Zettel den ich in meiner Hand hielt und versuchte die große Masse an Menschen um mich herum zu ignorieren. Selbst in der letzten Reihe der Aula fühlte ich mich eingeengt und wollte so schnell wie möglich hier weg. Ich ließ mein blondes Haar in ein Gesicht fallen um die Illusion der Einsamkeit in diesem große Saal zu erhalten, doch die Stimmen der vielen Menschen zerstörte diese.

Schüchtern hob ich meinen Kopf ein Stück, sodass ich auf den Rücken eines Mädchens vor mir schauen konnte. Sie lachte herzlich auf und warf ihr Haar zurück, was einem Supermodel gleichkam, sodass ich mir noch hässlicher vorkam.

Ein leises Stöhnen entfuhr mir und ich konzentrierte mich erneut auf den Zettel in meiner Hand, der mein Stundenplan war. Zu meinem Bedauern lagen die Stunden teilweise weit auseinander und ich konnte nicht nach Hause in den Freistunden. Also würde ich wohl lange Nachmittage in der Schule verbringen.

„Sie können nun gehen“, ertönte es aus den Lautsprechern und es wirkte wie eine Zauberformel auf mich. Schnell sprang ich auf und stürmte regelrecht aus dem großen Saal. Schon jetzt hörte ich, wie die Masse sich in Bewegung setzte um die Schule zu verlassen. Den Blick starr auf den Boden gerichtet und meinen Stundenplan eng an mich gepresst, rannte ich förmlich die Treppen herunter. Ich sehnte mich nach dem Ende des Schultages und so atmete ich erleichtert aus, als ich an die warme Frischluft trat. Schon jetzt hatte ich genug von Schule und es war gerade mal der erste Schultag.

„Claire!“ Ich zuckte leicht zusammen und hob meinen Kopf um die Menge nach der Person abzusuchen, die meinen Namen rief. Eine alte Dame mit flotten Klamotten und Dutt winkte mir fröhlich zu. Sofort senkte ich wieder meinen Blick auf den Boden und drängelte mich durch die Schülermenge zu ihr.

„Was machst du hier?“, raunte ich ihr zu ohne ihr in die Augen zu blicken.

„Spätzchen du musst dich doch nicht so verstecken.“ Ich spürte, wie sie ihre Hand unter mein Kinn legte und mich zwang in ihre Augen zu blicken.

„Du bist so wunderschön.“

Ein bitteres Lächeln zog sich über meinen Mund und ich schaute leicht trotzig zur Seite.

„Na komm.“ Mit diesen Worten hakte sie sich bei mir unter und zog mich mit sich.

„Wo gehen wir hin?“, fragte ich irritiert und warf der Frau einen fragenden Blick zu.

„Hast du Zeitung gelesen in den letzten Wochen?“

„Nein. Wieso?“

„Es zieht eine Bande durch die Stadt, die alte Leute ausraubt, wenn sie abends alleine unterwegs sind. Und ich werde lernen mich zu wehren.“

Ich verdrehte die Augen und fragte mich was wohl diesmal auf mich zukommen würde. Wir redeten schließlich von MEINER Oma!


Adrian


Ich lehnte an der Wand und betrachtete die Jungs, wie sie auf die Sandsäcke eindroschen.

„Komm Marc das kannst du besser.“ Feuerte ich den rothaarigen Jungen an, der etwas aus der Puste war.

„Ach sei Ruhig Adrian“, motze er und schmiss seine Boxhandschuhe auf den Boden um sich anschließend neben mich zu stellen. Ich reichte ihm eine Flasche Wasser von der er in tiefen Zügen trank.

„Irgendwann wirst du mal soviel Ausdauer haben wie wir“, scherzte Jack und stellte sich vor uns. Ich sah wie Marc ausholte und ihn leicht gegen die Schulter boxte, jedoch waren wir alle nun am lachen.

„Entschuldigen die Herren?“

Wir drei wandten uns um und erblickten eine alte Dame mit Dutt die in Begleitung eines Mädchens war, das schüchtern zu Boden blickte.

„Hm?“, fragte ich, ließ das Mädchen jedoch nicht aus den Augen. Sie hatte blondes Haar, dass ihr bis zur Brust reichte. Allerdings war es glatt und schlicht, also nichts Besonderes. Ihre Statur war zierlich, sodass sie noch hilfloser wirkte.

„Ich wollte Fragen, ob sie Boxunterricht geben.“

Die interessierten Blicke der Frau irritierten mich. Ihre dunkelblauen Augen erinnerten mich an den Ozean und sie vermittelten den Eindruck einer taffen Frau.

„Für wen?“ fragte Jack und musterte das Mädchen nun ebenfalls.

„Na für mich.“ Sagte die Dame etwas empört.

Ich wendete meinen Blick den Jungs zu, die genauso überrascht schienen wie ich.

„Wir geben keinen Seniorenunterricht und kleine, hässliche Entlein können wir auch nicht zum Schwan machen“, versuchte Marc ernst zu sagen, brachte jedoch in schallendem Gelächter aus.

„Also jetzt hören Sie mal…“, fing die Dame an zu schimpfen, doch sie wurde von dem zierlichen Mädchen unterbrochen.

„Komm schon Oma, das sind Vollidioten. Lass uns gehen.“

Ich war vollkommen überrumpelt von der Stimme, die relativ kräftig und sicher Klang und so gar nicht ihrem Auftreten glich. Verwirrt schaute ich sie an und konnte nicht in das Gelächter meiner beiden Freunde einstimmen. Sie hob ihren Kopf und blickte mich mit Ozeanblauen Augen böse an. Die alte Dame warf uns auch noch einen bösen Blick zu und verließ, dann mit schnellen Schritten und wütendem Gezeter das Gebäude.

Mein Blick folgte dem Mädchen, das leicht von ihrer Großmutter genervt zu sein schien. Kurz bevor sie durch die Tür gingen, drehte sie sich noch einmal um und musterte mich kritisch mit ihren ozeanblauen Augen. Die Kleine schien gar nicht so hilflos und schüchtern zu sein, wie sie schien.

Truhe

Claire


Meine Großmutter meckerte den gesamten Heimweg über die unfreundlichen Jungen. Ich konnte das Ganze jedoch nur mit einem Kopfschütteln abtun. Schon als wir die Halle betreten hatte, hatte ich gewusst, dass das nach hinten losgehen würde. Und als ich dann registriert hatte, wen meine Oma ansprach, hätte ich mich am liebsten umgedreht und wäre weg gerannt. Ich konnte nicht mit solchen Jungen umgehen, die sich über meine Großmutter lustig machten.

Sie war die einzig lebende Angehörige die ich hatte. Das war vielleicht der Grund, wieso ich einen so starken Beschützer Instinkt bei ihr verspürte und den Vollidioten eins übergezogen hätte, wenn ich meine Oma nicht hätte zurück halten müssen.

Ich starrte aus dem Busfenster.

Sie war meine einzige Bezugsperson.

„Komm Spätzchen.“ Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als die alte Dame mich am Arm hinter sich herzog. Ich merkte ihr, ihren Unmut über den Verlauf des Gesprächs immer noch an. Also raffte ich mich af und schlenderte neben ihr her, doch irgendwie konnte ich mich nicht so ganz auf ihre Worte konzentrieren, sodass ich ab und zu nickte, womit sie sich zufrieden gab.

Ich betrachtete meine Füße und versuchte sie genau voreinander zu setzen. Ab und zu blickte ich kurz auf um sicher zu gehen, dass mir niemand entgegen kam und ich steckte meine Hände in meine ausgeleierten Hosentaschen.

„Geht es dir nicht gut Claire?“

Ich hob meinen Kopf und blickte in das Gesicht meiner Großmutter die mich mit ihren Augen durchbohrte.

„Nur etwas müde“, log ich und öffnete das quietschende Gartentor. Ich spürte ihren Blick noch kurz auf mir ruhen, jedoch schien sie zu verstehen, dass ich nicht drüber reden wollte. Sie ging zu der Haustür und schloss diese auf, blickte mich immer wieder an, was mich etwas nervte. Kaum betrat ich den mir bekannten Flur des Hauses, stieg ich die Treppen hoch in Richtung meines Zimmers.

„Willst du nichts essen?“, hörte ich die fragende Stimme meiner Oma.

„Keinen Hunger“, sagte ich so laut, dass sie es hörte und schloss anschließend meine Zimmertür.

Ich stöhnte und ließ meine Schultasche in die Ecke fallen. Meine Augen suchten mein spärlich eingerichtetes Zimmer nach der kleinen Holztruhe ab, die ich unter meinem Bett erblickte.

Es viel mir schwer sie zu nehmen und auf meinen kleinen Balkon zu gehen auf dem zwei alte Holzstühle und ein Tisch standen. Blumen ragten die Fassade hoch und hatten den Balkon erreicht, sodass sie sich um sein Geländer schlangen. Meine Großmutter hatte in einem Anfall ihrer Blumenliebe, Blumenkästen angebracht, sodass man von einem betörenden Duft empfangen wurde.

Mit zitternden Knien ließ ich mich auf einen der Stühle nieder und stellte die Truhe auf den Tisch. Mit nachdenklicher Miene öffnete ich die Truhe und erblickte eine Menge an Bildern, sowie Gegenständen. Sofort verspürte ich eine Wunde in meinem Herz aufreißen, die sogleich begann heftig zu bluten.

Ich griff das Foto, welches ganz oben lag und erblickte eine fröhliche Familie, die sich in den Armen lag. Der Vater hielt ein Mädchen auf dem Arm, welches sein braunes, weiches Haar zerstrubbelte und die Mutter gab ihr ein Kuss, während sie lachte. Ihr blondes, langes Haar und ihre ozeanblauen Augen strahlten das Mädchen an. Auch wenn das Bild, dies nicht zeigte, wusste ich, dass es so war. Neben dem Vater stand eine alte Dame, die dieselbe Augenfarbe der blonden Frau hatte.

Ich strich über die lachenden Gesichter meiner Eltern und rief mir das warme Gefühl ihrer Haut in Erinnerung. Ein kleines Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, als ich mich an den Sommerduft erinnerte, der damals in der Luft gelegen hatte.

Ein weiteres Bild erregte meine Aufmerksamkeit. Dieses lag an der Seite und wurde zum Teil von anderen Bildern verdeckt. Ich nahm das zweite Bild heraus und hielt es vor dem ersten.

Das Mädchen war nun älter und schielte auf ihre Nase, auf der ein Marienkäfer saß. Nun erkannte man deutlich, dass die blonde Frau ihre Mutter war, denn sie hatten das gleiche Haar. Ihre Mutter malte ihr mit einem knallroten Lippenstift rote Kreise auf die Wangen und der Vater stand hinter ihr und hielt ihre Haare hoch, sodass sie an eine Palme erinnerten.

Ich war sechzehn gewesen auf dem Bild. Das Bild wurde genau zwei Wochen vor dem Unfall aufgenommen, bei dem beide tödlich Verunglückten. Zurück blieben meine Großmutter und ich. Meine Eltern waren beide Einzelkinder und die Eltern meines Vaters waren früh verstorben. Ich konnte mich nur noch teilweise an diese schwarze Zeit erinnern in der ich einfach nur im Bett gelegen hatte. Meine Großmutter und ihre Freundinnen hatten alles versucht mich zum essen zu bewegen, doch ich konnte einfach nichts essen. Dazu schmerzte alles zu sehr. Ich war in ihr Haus gezogen und zu unser beidem Glück, kamen wir sehr gut miteinander aus. Natürlich gab es Differenzen, doch meine Großmutter tat alles für mich. Sie war meine zweite Mutter.

Dieses Chaos in meinem Leben war nun schon zwei Jahre her. Es kam mir vor, als wäre der Unfall gestern gewesen. Nach diesem Ereignis hatte ich mich zurückgezogen und den Kontakt zu meinen Freunden abgebrochen, denn sie fragten zuviel und machten sich zu viele Sorgen. Und das schmerzte viel mehr, als die Tatsache, dass meine Eltern tot waren. Ich hasste es, wenn mich jemand an den Unfall erinnerte.

„Sie lieben dich Spätzchen.“

Ein kleines Lächeln legte sich sanft auf meine Lippen und die Hände meiner Großmutter auf meinen Schultern, vertrieben den Schmerz so gut es ging.

„Ich weiß“, flüsterte ich drückte die Hand meiner Großmutter.

„Und ich bin mir sicher, dass sie auf dich aufpassen.“

Ein sanfter Windstoß umspielte meine Haare und ließ die Pflanzen tanzen. Es fühlte sich so an, als wollten meine Eltern den Worten meiner Mutter Nachdruck verleihen.

„Ich weiß, dass sie es tun. Doch es wäre mir lieber, wenn sie noch hier wären und ich sie in Arm nehmen könnte.“

„Mir wäre das auch lieber Kleines.“

Ich spürte, wie sich die heißen Tränen der Enttäuschung den Weg über meine Wangen baten. Es war wirklich mein größter Wunsch meine Eltern bei mir zu haben, doch ich wusste, dass dies nie geschehen würde. Mit einem sanften Druck bewegte meine Großmutter mich dazu aufzustehen, sodass sie mich in den Arm nehmen konnte.

Ich versuchte nicht die Tränen zu verbergen, denn meine Eltern hatten sie verdient. Und so stand ich auf dem Balkon auf dem mein Vater, meiner Mutter den Heiratsantrag gemacht hatte und weinte in den Armen meiner Großmutter.

Der Duft der vielen Blumen drang zu uns durch und der Wind streichelte zärtlich über meine Haut. Fast so, als wären es meine Eltern.


Adrian


Ich blies den Rauch der Zigarette langsam in den wolkenlosen Himmel, der sich um diese Zeit rot färbte. Die Dächer der Stadt wurden zu einem Farbenspiel und der Wind ließ die Bäume tanzen.

Ich schaute den Vögeln nach die ihre Kreise über der Stadt zogen und war froh, dass der Trubel der Stadt mich nicht erreicht. Das Klingeln von Jack und Marc hatte ich ignoriert und schon nach einer halben Stunde hatten sie es aufgegeben und waren gegangen. Manchmal brauchte ich Zeit für mich und die verbrachte ich auf dem Dach des alten Hauses in dem ich eine kleine Wohnung hatte.

Mein Telefon hatte ich abgestellt, denn mein Vater rief mich den ganzen Tag immer wieder an um zu fragen, wie es mir ging. Ich hatte keine Ahnung was ich auf so eine Frage antworten sollte. Sollte ich ihm etwas sagen, dass ich es toll finde, dass er sich von meiner Mutter trennte? Ein bitteres Lächeln schlich sich auf meine Lippen.

Ich glaubte nicht mehr an die wahre Liebe. Wenn diese existieren würde, hätte mein Vater sich nicht von meiner Mutter getrennt. Natürlich war es nicht toll, dass sie Alkoholikerin war, doch, wenn er zu ihr gehalten hätte, hätten sie es zusammen schaffen können. Stattdessen musste mein Vater sich lieber eine andere Barbiepuppe fürs Bett suchen.

Erneut zog ich tief an der Zigarette und ließ meinen Gedanken freien lauf.

Was wohl gewesen wäre, wenn er seiner Neuen nie über den Weg gelaufen wäre? Wären wir dann immer noch eine Familie? Wohl eher nicht. Ich kannte meinen Vater der ein hohes Tier war und eine vorzeige Familie brauchte. Jahrelang hatte ich mitgespielt. War zu Verleihungen und wichtigen Veranstaltungen mitgekommen und nun war alles für die Katz.

Irgendwie erleichterte es mich, doch nun schien mein Vater ein so schlechtes Gewissen zu haben, dass er mein bester Freund sein wollte. Er hatte keine großen Widerworte gegeben, als ich während eines Streites ihnen gesagt hatte, dass ich ausziehen wollte, weil ich das alles nicht mehr ertrug. Verdattert hatten sie mich angeschaut und versucht mich zu beruhigen, doch schließlich hatten sie nachgegeben. Seitdem bekam ich jeden Monat ein bestimmtes Budget zur Verfügung und ich hatte meinen Freiraum. Fast ein Jahr lebte ich nun schon alleine. Zumindest ohne Eltern. Stattdessen mit einem Mitbewohner, der zu meinem bedauern ausgezogen war. Als ich Achtzehn geworden bin, bin ich aus der Wohnung meiner Eltern geflohen und hatte die Einsamkeit und die Unabhängigkeit genossen. In ein paar Wochen wurde ich Neunzehn und ich hoffte, dass ich bis dahin einen neuen Mitbewohner gefunden hatte, der nichts gegen meine Freunde hatte, denn auch die hatten eine schwere Vergangenheit.

Ich wollte auf keinen Fall einen Eingebildeteten Schnösel in dieser Wohnung haben. Ich nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und blickte in den Himmel, der sich nun der Nacht zuneigte.

Wie es wohl bei dem kleinen Mädchen von heute aussah? Irgendwas an ihr zog mich an. Ich wusste nicht, ob es die Augen waren oder doch ihre Art, ihre Großmutter zu beschützen. Den ganzen Tag schon glitten meine Gedanken zu ihr zurück und ich versuchte hinter dieses Verhältnis zu kommen. Vielleicht hatte die Kleine Stress mit ihren Eltern und lebte deswegen bei ihrer Oma. Oder ihre Eltern waren auch geschieden und sie konnte sich nicht entscheiden zu wem sie wollte.

Ich schüttelte genervt den Kopf. Wieso dachte ich über so was nach? Es war doch nur irgendein Mädchen, das so gar nicht nach dem Aussah, was in ihr steckte. Vielleicht war es auch das was sie für mich interessant machte. Ich hatte sie nicht sofort durchschauen können und selbst jetzt glich sie einem Rätsel.

Marc und Jack hatten sich noch über sie lustig gemacht. Den ganzen Tag über. Irgendwann schienen sie bemerkt zu haben, dass es mich nervte, sodass sie aufhörten. Doch ein Satz von Jack hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt und ich hörte diesen Satz immer wieder, sobald ich das Bild dieses Mädchens vor Augen hatte.

„Die kleine ist ein echter Rohdiamant“, hatte Jack gesagt. Ich rief mir das Aussehen von ihr ins Gedächtnis und versuchte alles an ihr gedanklich zu rekonstruieren. Es war wahr, sie hatte ein schönes Gesicht, doch leider versteckte sie es hinter ihren Haaren. Und auch ihr Körperbau war akzeptabel. Sie konnte ihre Weiblichkeit ruhig mehr betonen. Denn die Sachen die sie trug, waren nicht eng oder sonst was, sie glichen viel mehr aussortierten Sachen.

Wenn sie kein Geld hatte, konnte ich das natürlich vollstes verstehen, doch ich konnte mir nicht denken, dass das der Grund für ihr Aussehen war. Viel mehr schien es mir, als würde sie keinen Grund finden sich hübsch zu machen oder mal aus sich raus zu kommen. Als würde sie etwas quälen, dass sie nicht hatte bewältigen können.


Claire


Ich legte den großen Blumenstrauß vor den weißen Grabstein und zündete eine Kerze an. Dabei versuchte ich nicht die frisch gepflanzten Blumen zu zertreten. Ich fuhr mit einem angefeuchteten Lappen über den Bilderrahmen und das Glas, dass durch den Regen etwas dreckig war. Mir strahlten die Gesichter meiner Eltern entgegen, die sich im Arm hielten.

Einen kurzen Moment hielt ich inne, unterdrückte aber den aufkommenden Schmerz und stellte das wunderschöne Bild, wieder an seinen Platz.

Anschließend stand ich auf und ging den kurzen Weg zurück zu meiner Großmutter, die vor dem Grab wartete und das Geschehen betrachtete. Ich nahm ihre Hand und drückte sie einmal fest.

„Es ist hübsch geworden“, stellte sie fest und lächelte mir ermutigend zu.

„Ja, aber die Mutter sollte nicht das Grab der Tochter pflegen“, sagte ich mit einem mitfühlenden Blick zu ihr. Ich wusste, dass ihr das alles genauso wehtat wie mir.

„Weißt du Spätzchen, deine Mutter würde mir dafür schon eins über die Finger geben, also dang du damit auch nicht noch an“, lachte sie, doch ich bemerkte den Schmerz in ihrer Stimme.

„Oma, du kannst ruhig weinen“, flüsterte ich und streichelte die faltigen Wangen der alten Frau. Ich sah das erste Schimmern in ihren Augen und nahm sie sanft in den Arm. Nun war ich es, die stark sein musste. Ich spürte, wie sich ihre Hände kraftlos um mich legten und ihre heißen Tränen meine Wange befeuchteten.

Auch jetzt wehte der Wind leicht und wieder fühlte es sich so an, als wären meine Eltern dort. Ich wusste, dass das Schwachsinn war und auch, wenn meine Großmutter regelmäßig in die Kirche ging, konnte ich den Glauben der Kirchen nie so ganz teilen. Immer wieder hatte ich etwas gefunden, dass ich nicht annehmen konnte.

„Sollen wir beten?“, fragte ich leise, woraufhin ich nur ein leichtes Nicken spürte.

Ich wusste, dass meine Großmutter das Gebet, dass Jesus persönlich zu uns brachte, am liebsten mochte und ihr oft half. Schon bei dem Tod meines Großvaters vor Jahren hatte ich gesehen, wie sie es immer wieder betete.

„Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe. Wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“ Beendete ich das Gebet leise und spürte, dass meine Großmutter aus diesen Worten Kraft sog.

Ihre Tränen flossen nicht mehr in Strömen meine Wange hinab und sie atmete nicht mehr so hektisch. Ich löste mich ein kleines Stück von ihr und zog ein Taschentuch aus meiner Hosentasche.

Wie bei einem kleinen Kind tupfte ich ihr die Tränen von den Wangen und reichte ihr ein Taschentuch, damit sie sich die Nase putzen konnte. Anschließend hauchte ich ihr einen Kuss auf die Wange und drückte sie einmal fest.

„Danke“, flüsterte sie und erwiderte die Umarmung herzhaft.

„Nichts zu danken“, sagte ich und nahm sie an die Hand um mich mit ihr auf den Heimweg zu machen.

„Ich glaube, dass sie wirklich hier sind“, ermutigte ich meine Großmutter, die einen letzten Blick auf das Grab warf.

„Der Herr wird sie bestimmt nicht davon abhalten zu sehen, wie ihre wundervolle Tochter aufwächst“, sagte sie und drückte meine Hand fest. Ich erwiderte den Händedruck und blickte auch zurück zu dem Grab.

„Tschüss Mama. Tschüss Papa“, flüsterte ich und winkte dem Bild zu, das einsam auf der Erde des Grabes stand. Umgeben von tausenden von Blumen und einer Kerze, die die ganze Nacht über leuchten würde. Nur für die beiden Menschen, die ich so sehr liebte. Auch wenn sie fort waren.






Fluch

Claire


Ich sprintete aus dem Haus um den Bus zu bekommen, den ich hoffentlich noch nicht verpasst hatte. Nachdem ich gestern mit meiner Großmutter so lange auf geblieben bin um zu reden, war ich immer noch müde und hatte fast verschlafen. Meine Oma war auf der Couch eingeschlafen. Ich hatte sie zugedeckt und den Wecker ausgestellt, damit sie schlafen konnte. Möglichst leise hatte ich mir was zu essen gemacht und war aus dem Haus gestürmt. In aller Eile hatte ich einen Zettel geschrieben, damit sie wusste, dass ich in der Schule war und sie sich keine Sorgen machen musste. Und nun war ich schneller als je zuvor in Richtung Bus unterwegs, der wie jeden Morgen von dem lieben, alten Busfahrer gefahren wurde. Der grauhaarige Mann lächelte mich freundlich an, als ich in den Bus stieg und schloss hinter mir die Türen. Außer Atem bahnte ich mir den Weg zu meinem Platz, der mir seit zwei Jahren gehörte.

Doch auf meinem Platz saß ein junger Mann, dessen schwarze Haare ihm leicht ins Gesicht fielen. Die grau-blauen Augen starrten aus dem Fenster, aus dem ich immer blickte. Ich kannte ihn. Diese Statur und dieses Gesicht. Ich hatte ihm gestern schlagen wollen, weil er meine Großmutter schlecht behandelt hatte. Und nun beschlagnahmte er auch noch meinen Platz. Ich buddelte mein kleines bisschen Selbstbewusstsein aus und ging mit erhobenem Kopf auf ihn zu. Ich stellte mich vor den durchtrainierten Jungen, der weiterhin aus dem Fenster blickte und räusperte mich einmal. Langsam wandte er seinen Blick zu mir und musterte mich von oben bis unten.

„Du bist doch die Kleine von gestern“, stellte er fest und fing an zu grinsen.

„Du sitzt auf meinem Platz.“ Ich überging seine Feststellung und blickte ihn mit starrer Miene an.

„Ich habe hier keinen Namen gesehen.“

„Könnte ich mich trotzdem dahin setzten?“, fragte ich angenervt, woraufhin er zu meinem verwundern zur Seite rutschte und Platz für mich machte.

„Danke.“

Ich machte mich dünn und quetschte mich an dem Jungen vorbei, der mich nicht aus den Augen ließ. Die Tasche eng an mich gepresst, ließ ich mich auf den Platz nieder und schaute aus dem Fenster.

„Wie heißt du?“

Ich verdrehte genervt die Augen und versuchte ihn zu ignorieren.

„Du scheinst nicht sonderlich gesprächig zu sein.“

„Ich rede nicht mit Vollidioten.“

„Bist wohl ein Morgenmuffel“, sagte er und unterdrückte ein kehliges Lachen. Ich wendete mich zu ihm und funkelte ihn mit wütenden Augen an.

„Hör zu. Ich halte dich für ein eingebildetes Arschloch, dass nichts in der Birne hat und am liebsten hätte ich dir und deinen Freunden gestern die Kehle rausgerissen. Also lass mich in Ruhe!“ Ich zischte die Wörter und sah seinen überraschenden Blick. Schnell schnappte ich mir meine Tasche und stürmte aus dem Bus. Morgenmuffel. Tränen sammelten sich in meinen Augen. So hatte mein Vater meine Mutter immer genannt. Dieser Idiot machte sich erst über meine Großmutter lustig, erinnerte mich dadurch an meine Eltern und rief einen Nervenzusammenbruch bei uns beiden hervor und nun wagte er es mich Morgenmuffel zu nennen. Natürlich konnte er nichts dafür. Woher sollte er das auch wissen. Doch das war mir vollkommen egal in diesem Moment. Ich war stocksauer auf diesen Idioten.


Adrian


Verdattert blickte ich dem schüchternen Mädchen nach, das mir gerade eben kein bisschen schüchtern vorgekommen war. Sie hatte mich als Vollidiot beschimpft und scheinbar fand sie es gar nicht lustig, dass wir uns gestern über ihre Großmutter amüsiert hatten. Immernoch etwas überrumpelt stieg ich langsam aus dem Bus aus und hing mir meine Tasche um.

Es war kurz vor Acht, sodass nur noch einzelne Schüler zur Schule stürmten. In aller Ruhe griff ich nach einer Zigarette und zündete sie mir an, während ich das hektische Treiben der Schüler beobachtete. Ich hatte keine Lust mich zu beeilen und der einzige Grund, wieso ich gerade beschloss morgen auch in die Schule zu gehen, war das Mädchen, dass mit schnellen Schritten die Schule betrat. Ich verstand die Kleine immer noch nicht und das machte sie irgendwie interessant für mich. Seit gestern grübelte ich immer wieder über sie. Ich merkte, dass mehr hinter diesem schüchternen Mädchen stecken musste und ich wollte herausfinden was das war.

Ich zog ein letztes Mal an der Zigarette und schnippte sie auf den Boden. Den Qualm blies ich entspannt aus und steckte meine Hände in die Hosentasche. Mein Blick wanderte über das verlassene Schulgelände. Das Gebäude war ziemlich modern von außen und von hier konnte ich schon das große Gelände sehen, dass die Kinder in der Pause nutzten. Das Gebäude war in weiß gestrichen und Vorsprünge waren mit Holz verkleidet, wodurch alles moderner wirkte. Ich betrat die Schule durch eine offene Glastür, sodass ich in eine große Halle gelangte. In einer Ecke waren Sitzbänke, die mit Stoff überzogen war.

„Adrian Hutton?“

Ich wirbelte herum und erblickte einen etwas pummeligen Mann mit einer Halbglatze.

„Schön Sie zu sehen. Mein Name ist Martin Müller und ich bin der Direktor.“ Er reichte mir die Hand und schüttelte sie kräftig.

„Guten Tag“, sagte ich höflich und lächelte freundlich.

„Sie waren gestern nicht in der Schule. Darf ich erfahren wieso?“

„Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit meinem Vater. Tut mir Leid, dass ich nicht da war.“

„Nagut, dann wollen wir das noch mal durchgehen lassen.“ Er zwinkerte einmal kurz und blickte, dann hinter mich.

„Claire? Würden Sie bitte einmal herkommen.“ Ich folgte dem Blick des Direktors und sah das schüchterne Mädchen, das auf einen Zettel schaute, der an eine Pinnwand gehängt war. Mit einem skeptischen Blick trat sie zu uns und schaute Herrn Müller fragend an.

„Wären Sie so nett und würden Herrn Hutton alles zeigen?“

„Ich müsste eigentlich…“, setzte sie an, doch Herr Müller winkte ab.

„Ich spreche mit ihren Lehrern. Machen Sie sich darum keine Sorgen. Hier haben Sie die Pläne von Herrn Hutton.“ Er nickte ihr freundlich zu schritt davon. Mit einem ziemlich unfreundlichen Gesichtsausdruck wandte sie sich zu mir und musterte mich.

„Claire also“, sagte ich und fing an zu grinsen.

„Komm einfach mit.“ Zischte sie und ging mit schnellen Schritten durch die verlassenen Gänge der Schule.

„Warte doch mal.“ Ich beeilte mich etwas und lief schließlich neben ihr.

„Wo gehen wir hin?“, fragte ich und versuchte ein Gespräch anzufangen, doch sie ließ meinen Versuch abprallen.

„Cafeteria“, sagte sie kurz angebunden und machte einen Schlenker nach links. Ich folgte ihr und wir betraten einen großen Saal, der voller Tische und Stühle war. Claire setzte sich an den ersten Tisch den wir erreichten und ließ ihre Tasche neben sich auf den Boden fallen.

„Also wo ist dein Stundenplan?“

Ich setzte mich ihr gegenüber und fummelte einen zerknüllten Zettel aus meiner Tasche. Angenervt griff sie nach diesem und warf einen Blick drauf.

„Okay, hör zu. Wir hatten keinen besonders guten Start. Wollen wir nicht noch mal von vorne anfangen?“

Sie hob ihren Kopf und schaute mich kritisch an, als wüsste sie nicht, ob ich sie nur verarschen wollte. Ich hielt ihr meine Hand hin, die sie erst irritiert anblickte. Nach einem langen Moment griff sie jedoch zaghaft danach.

„Adrian Hutton“, sagte ich freundlich und lächelte sie an.

„Claire Dupont“, sagte sie und lächelte nun auch ein bisschen.

„Also es tut mir Leid, dass wir gestern so mies zu dir und deiner Großmutter waren. Das war nicht böse gemeint.“

„Schon gut“, winkte sie ab und strich sich eine lange blonde Strähne hinters Ohr. Wieder kam mir der Satz von Jack in den Kopf und ich betrachtete ihr hübsches Gesicht genauer. Ihre blauen Augen zogen mich schon wieder in ihren Bann und die sanft geschwungenen Lippen ließen mich ihre Schönheit erahnen. Das Wissen, dass sich hinter der schüchternen Fassade eine selbstbewusste, junge Frau befand, machte mich stolz, denn ich war mir sicher, dass diese junge Frau nicht viele zu Gesicht bekamen.


Claire


Ich erklärte Adrian den Stundenplan und wo er welchen Raum fand. Der schwarzhaarige Junge hörte mir zu und schien wirklich daran interessiert zu sein, dass wir uns verstanden. Er wurde immer mysteriöser für mich, denn schon die Tatsache, dass er mit dem hässlichen Entlein einen Neustart wollte, war komisch. Bis jetzt mied mich nämlich jeder. Nach dem Tod meiner Eltern hatten sich alle um mich kümmern wollen, doch nach nicht allzu langer Zeit hatten sich alle von mir abgewandt. Und seitdem geisterte ich durch die Schule, denn viele Schüler kannten mich nicht mehr. Doch manche hatten mich zu meinem bedauern nicht vergessen.

„Warte kurz. Ich hol mir nur was zu essen“, sagte ich Adrian und stand auf um mich an die Theke des Kioskes zu stellen. Ich blickte über die Süßigkeiten, die auslagen und überlegte mir, was ich wollte, als mir jemand einen Arm um die Schulter legte. Ich atmete den mir bekannten Geruch ein und spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten.

„Na liebste Claire? Wie geht es dir?“

Panik stieg in mir auf und ließ mich unruhig werden. Die Stimme von Thomas war wie ein Fluch für mich.

„Lass das“, sagte ich und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, doch er war zu stark und drückte mich enger an sich.

„Stell dich nicht so an. Ich weiß doch, dass du darauf stehst.“

Schallendes Gelächter von seinen Gefolgschaften ertönte in das er einstimmte.

„Ich glaube sie will nicht, dass du ihr so auf die Pelle rückst.“

Ich wandte meinen Blick in die Richtung aus der die Stimme kam und erblickte die ernste und doch freundliche Miene von Adrian.

„Was bist du denn für ein Hansepeter?“, fragte Thomas verwundert und musterte Adrian. Dieser machte ein paar Schritte auf Thomas zu und fasste ihn an den Kragen.

„Lass sie los oder ich versohle dir und deinen Schoßhünchen den Arsch“, zischte er und ich sah durch sein T-Shirt seine Muskeln, die ziemlich bedrohlich wirkten. Der Arm von Thomas löste sich und er funkelte Adrian böse an.

„Die Runde geht an dich. Du solltest mir, aber nicht noch öfter in die Quere kommen. Das könnte schmerzhaft für dich enden.“

Adrian ließ den Kragen von Thomas los, der zurückwich und seine Jungs anwies zu gehen.

„Machen die das öfter?“, fragte er ohne den Blick von den Jungen zu wenden, die die Cafeteria verließen. In seinen Augen stand immer noch die Wut und seine Muskeln waren angespannt.

„Immer wenn sie eine Gelegenheit dazu finden“, sagte ich leise und senkte meinen Blick auf den Boden. Jetzt war mein Selbstbewusstsein wieder hinüber für die nächsten Tage.

„Du solltest dich nicht von solchen Idioten fertig machen lassen.“

„Ich weiß.“ Piepte ich regelrecht und ging zurück zu meinem Platz um meine Tasche aufzusammeln.

„Wissen deine Eltern davon?“

Ein Stich so grausam und schmerzhaft, wie nie zuvor durchbohrte mein Herz und ließ mir Tränen in die Augen steigen.

„Keiner“, sagte ich, stürmte davon und ließ den verdatterten Jungen zurück.

Wieder schmerzte es. Die Alltäglichen Momente die ich mit meinen Eltern gehabt hatte, fehlten mir unglaublich. Und die Tatsache, dass ich nicht mit ihnen reden konnte brannte sich wieder in mein Gehirn. Ich wollte weg hier. Weg aus der Schule, fort von dem jungen Mann, der mich dauernd an meine Eltern erinnerte. Alleine sein mit meinen Eltern, das war alles was ich wollte. Sie bei mir haben. Meinen Achtzehnten Geburtstag mit ihnen nachfeiern. Mit meiner Mutter shoppen gehen und von meinem Vater in den Arm gehalten werden, wenn er bemerkte, dass ich erwachsen wurde. Das alles waren unerreichbare Wünsche und Träume für mich. Und diese Träume waren der Grund wieso ich nicht Shoppen ging und mich auch sonst so ziemlich nie aus dem Haus wagte. Wie gestern liefen Tränen in Strömen über meine Wangen und tropften mein Kinn hinab. Ich hatte keine Freunde, weil sie genau wie Adrian zuviel sagten und fragten. Und ich hatte Angst zu leben, weil ich wusste, wie schnell man aus dem Leben gerissen werden konnte.

Anruf

Claire


Ich schloss leise die Tür hinter mir und wischte die letzten Tränen von meinen Wangen. Mein Herz schlug schnell und mein Atem ging schwer nachdem ich den ganzen Weg nach Hause gerannt war.

„Claire?“ Die Stimme meiner Großmutter drang aus der Küche zu mir. Rasch räusperte ich mich und versuchte meine Stimme kräftig klingen zu lassen.

„Ja“, antwortete ich und ließ meine Tasche neben die Tür fallen. Langsam schlenderte ich in die Küche, wo meine Oma schon wieder den Herd beschlagnahmte.

„Wieso bist du schon hier? Ist was ausgefallen?“ Ich setzte mich an den Küchentisch und beobachtete das hektische Treiben meiner Oma.

„Ist was ausgefallen“, sagte ich und schnappte mir ein Stück Schokolade aus der Schüssel, die wie immer auf dem Tisch stand.

„Ich bin gleich mit Renate verabredet.“

„Kaffee trinken?“, fragte ich und knabberte auf dem kleinen Stück Schokolade herum.

„Ja. Und anschließend gehen wir ins Theater.“ Sie lächelte mich über ihre Schulter an und goss die letzte Marmelade in ein Glas. Mit einem Deckel verschloss sie dieses und stellte es zu den anderen zwanzig, über welche sie ein Küchentuch legte.

„Jetzt zieh ich mich um und dann geht’s ab ins Theater.“

Voller Vorfreude hüpfte sie fast aus der Küche und pfiff fröhlich vor sich hin. Ihr Pfeifen beruhigte mich. Ich erhob mich und schlenderte in die Küche, wo ich Wasser aufsetzte und mir eine Kräutermischung meiner Großmutter nahm. Während das Wasser anfing zu kochen suchte ich mir die Tasse meiner Mutter aus dem Schrank und strich über die Worte, die meine Mutter selber darauf geschrieben hatte.

„Liebe das Leben, denn ohne Liebe kannst du nicht leben“, flüsterte ich den bekannten Satz und merkte, dass sich ein sanftes Lächeln auf meine Lippen schlich. Ich hörte das kochende Wasser, sodass ich meinen Blick von der Tasse löste und das heiße Wasser einfüllte. Gedankenverloren nahm ich den Teebeutel und tauchte ihn in die Tasse. Mit langsamen Schritten durchquerte ich die Küche zu der alten Terasse und ließ mich auf der Holzbank nieder, auf der Kissen lagen. Mein Blick wanderte über den Garten in dem meine Großmutter ihre Freizeit verbrachte.

Ich nahm vorsichtig einen Schluck von dem heißen Tee und genoss den bekannten Geschmack auf den Lippen. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, doch die Terrasse lag im angenehmen Schatten.

„Und was sagst du Claire?“

Ich wendete meinen Blick von dem Garten und betrachtete meine Oma, die freudestrahlend in einem schwarzen Kleid an der Terrassentür stand.

„Sieht gut aus“, sagte ich lächelnd und bekam dafür einen Kuss auf die Wange.

„Ich bin dann mal weg. Bis später Spätzchen.“

„Bis später“, sagte ich und winkte ihr nach. Als die Haustür zufiel lehnte ich mich entspannt zurück und fragte mich, wann sie heute nach Hause kommen würde. Vorher würde ich nämlich nicht ins Bett gehen. Ich passte auf sie auf und sie auf mich. Das war ein ungeschriebenes Gesetzt das wir nach dem Tod meiner Eltern beide befolgten.




Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinem Schlaf. Verschlafen rieb ich mir die Augen und blickte mich um. Ich war wohl auf der Couch eingenickt. Mit trägen Schritten lief ich zu dem Telefon und nahm ab.

„Claire Dupont“, sagte ich mit immer noch verschlafener Stimme.

„Guten Tag. Mein Name ist Karl Schmidt von dem Polizeipräsidium Hamburg. Ich würde gerne mit einer Angehörigen von Céline Dupont sprechen.“ Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus und ich bemerkte, wie ich meine Stirn in Falten legte.

„Ich bin eine Angehörige.“

„Wie alt sind Sie?“

„Achtzehn.“

„Und Céline Dupont ist ihre Großmutter?“

„Ja.“

Im Hintergrund hörte ich, wie er etwas notierte und sich dann wieder dem Telefonhörer zuwandte.

„Haben Sie ihre Großmutter heute schon gesehen?“

„Ja.“ Mir wurde immer unwohler und ich bemerkte, dass mein Herzschlag sich beschleunigte.

„Wissen Sie wo sie heute noch hin wollte?“ Immernoch stellte der Polizist klare Fragen auf die ich eine Antwort wusste, doch das ganze wurde mir immer unheimlicher.

„Sie wollte mit einer guten Freundin ins Theater und anschließend wollten die beiden noch etwas Essen gehen, glaube ich.“

„Und zwar wurden zwei ältere Damen von einer Bande Jugendlicher überfallen. Die Frauen waren nicht ansprechbar, hatten allerdings Ausweise bei sich.“ Ich ließ mich auf der Couch nieder und krallte mich an der Lehne fest. Ich wusste es, was es hieß, wenn jemand nicht ansprechbar war. Das war meist nichts Gutes.

„Wissen Sie was ihre Großmutter getragen hat?“

„Ein schwarzes Kleid“, flüsterte ich und spürte, dass das Adrenalin durch meine Adern schoss. Erneut wurde es Still am anderen Ende der Leitung, sodass ich einen kurzen Moment hatte um meine Gedanken zu strukturieren.

„Wo ist sie?“, fragte ich den Polizisten.

„Im städtischen Krankenhaus. Sie wird noch operiert“, teilte er mir mit, woraufhin wir beide schwiegen. In meinen Gedanken war das reinste Chaos.

„Könnten Sie mir die Telefonnummern ihrer Eltern geben?“, fragte er höflich, was mir allerdings noch einen Stich versetzte.

„Meine Eltern sind vor zwei Jahren verstorben. Ich bin die einzige Angehörige“, sagte ich mit fester Stimme, obwohl ich mich nicht so fühlte.

„Das tut mir Leid.“

„Schon gut.“

„Ich würde mich noch mal bei ihnen melden, falls weitere Fragen auftreten.“

„Ja. Tschüss“, Flüsterte ich mit gebrochener Stimme, realisierte jedoch noch nicht die Ausmaße seiner Worte.

„Tschüss“, erwiderte er und legte auf. Ich verharrte einen endlosen Moment mit dem Telefon an meinem Ohr und lauschte dem Piepton. Was zum Teufel war hier gerade passiert? Meine Großmutter war doch eben erst ins Theater gegangen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie im Krankenhaus war. Andererseits wusste ich, wie schnell so etwas Unvorhersehbares passieren konnte.

„Scheiße“, entfuhr es mir. Ich sprang auf und stürmte zur Haustür. Ich schaffte es an mein Portemonnaie und meinen Schlüssel zu denken. Und dann rannte ich einfach los Richtung Krankenhaus, während mir Tränen über die Wange liefen.


Adrian


Ich gähnte einmal herzhaft und schaute aus dem Busfenster. Ich hatte mich auf den hintersten Platz nach ganz außen gesetzt in der Hoffnung, dass ich sie noch mal sehen würde. Stattdessen hatte ich sie heute kein einziges Mal mehr erblickt. In aller Ruhe betrachtete ich das hektische Treiben auf den Straßen, dass um diese Uhrzeit noch herrschte.

Der einzige Ort an dem meist nicht so ein hektisches Treiben war, war das Krankenhaus, welches in der Stadt lag. Schon jetzt konnte ich die Umrisse des großen Krankenhauses erblicken und freute mich auf das andere Leben, das sich in dieser Stadt auftat. Hier gab es alles. Tod, Trauer, Freude, Liebe, Hoffnung. Und zwar nur hier, denn hier konnte alles geschehen. Ich betrachtete gerne die Menschen dort und fragte mich, was sie wohl für ein Schicksal hatten.

Mein Blick viel auf eine junge Frau mit blonden langen Haaren, dessen Gesicht tränen überströmt war. Ihre Miene war schmerzverzerrt, während sie in den Himmel blickte. Die Bank auf der sie saß, war schon abgenutzt. Ich kannte dieses Gesicht, doch nicht in so einem Zustand. Was war los mit ihr?

Ich merkte, wie der Bus hielt und bevor ich richtig nachgedacht hatte, war ich aus dem Bus ausgestiegen und überquerte die befahrene Straße. Meine Augen ruhten auf ihr und versuchten ihr Leid irgendwo einzuordnen, doch es gelang mir nicht. Meine schnellen Schritte verlangsamten sich etwas, sodass ich schließlich vor ihr zum stehen stand. Doch sie schien mich nicht zu bemerken.

„Darf ich mich setzten?“, fragte ich leise, woraufhin sie mich mit trauernden Augen anblickte. Erst dachte ich, dass sie mich wegschicken würde, doch stattdessen nickte sie leicht. Vorsichtig ließ ich meine Tasche neben die Bank fallen und suchte ein Taschentuch heraus, das ich ihr reichte. Mit zitternden Händen nahm sie es und putze sich die Nase.

„Willst du reden?“, fragte ich leise und legte meine Hand auf ihre.

„S-s-sie h-h-hat e-eine l-l-l-lebensgefä-ärliche V-V-Verletzung“, heulte das zierliche Mädchen und wieder strömten Tränen über ihre Wangen.

„Wer?“, fragte ich vorsichtig um nicht noch mehr Chaos anzurichten.

„O-O-Oma“, brachte sie hervor und wiegte sich wieder hin und her.

„Wissen deine Eltern schon Bescheid?“

Ein schmerzerfüllter Laut kam aus ihrer Kehle und weitere Schwalle von Tränen kamen aus ihren Augen.

„A-A-Alle T-T-Tod“, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und blickte erneut in den Himmel.

„Heute?“, fragte ich überrumpelt, woraufhin sie den Kopf schüttelte.

„Scheiße“, entfuhr es mir, als ich bemerkte in was für ein Fettnäpfchen ich heute Nachmittag getreten war. Kein Wunder, dass sie davon gerannt war. Sanft legte ich meine Arme um sie und drückte sie an mich. Ich spürte, wie sie sich an meiner Kleidung festkrallte und anfing heftig zu Schluchzen. Ich schloss die Augen und wiegte sie sanft in meinen Armen. Ich kannte sie nicht richtig und sie mich nicht, doch in diesem Moment war es scheißegal. Ich bekam immer mehr Mitleid mit dem zierlichen Mädchen. Ihre Eltern waren Tod. Sie wurde von diesen Vollidioten gemobbt und nun hatte ihre Großmutter eine lebensgefährliche Verletzung. Kein Wunder, dass sie so ausgetickt war, als wir uns über sie lustig gemacht hatten. Ihre Großmutter war ihre Bezugsperson und nun war sie alleine. Dabei war sie doch noch ein kleines Mädchen, das vielleicht gerade Achtzehn war. Wie sollte sie das alleine schaffen?


Claire


Ich wusste nicht wann er hier aufgelaufen war und auch nicht, wieso er hier war, doch er hatte sich einfach neben mich gesetzt. Der Schmerz war für mich ins unerträgliche gewachsen, als er gefragt hatte was passiert war. Und mir war erneut bewusst geworden, dass ich meine Familie verloren hatte.

Er hielt mich einfach in seinen Armen und sagte nichts, was unglaublich gut tat. Selbst seine Fragen zu Beginn waren angenehm, wenn ich drüber nachdachte, denn so langsam wurde der Schmerz erträglich und die Realität drang an mein Bewusstsein. Ich konnte nichts an dieser Situation ändern. Doch noch immer schwangen die Worte des Arztes in meinem Kopf, der mir mitteilte, dass meine Großmutter eine lebensgefährliche Verletzung hatte.

Das ganze kam mir im ersten Moment vor, wie ein Traum aus dem ich aufwachen würde, wenn meine Großmutter mich wecken würde, doch dann schwang alles in ein Déjà-Vu um. Damals hatte ich mit meiner Großmutter in dem Wartezimmer der Intensivstation gesessen, als die Nachricht kam, dass meine Eltern beide verstorben waren. Diesmal hatte ich dort jedoch alleine gesessen.

Ich erinnerte mich, dass der Arzt mir erklärte, was ein Schädel-Hirn-Trauma für Folgen haben könnte, doch schon dort war ich mit meinen Gedanken woanders. Fernab von den Worten des Arztes in der Vergangenheit bei meinen Eltern.

Adrian wiegte mich hin und her und schwieg weiterhin. Wahrscheinlich wollte er, dass ich mich beruhigte, doch ich wusste, dass das dauern würde. Die Operation meiner Großmutter würde bis heute Abend dauern und ich würde so lange hier bleiben, bis ich sie sehen konnte. Ich brauchte die Bestätigung, dass sie noch atmete und nicht fort war.

Das was mich im Moment jedoch am meisten verwunderte, war Adrian, der nicht von meiner Seite wich. Er schien immer noch nicht die Schnauze von mir voll zu haben, denn sonst wäre er längst gegangen. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er hier saß, um mehr Details zu erfahren oder mich am Ende damit aufzuziehen. Es kam mir eher so vor, als würde er mich wirklich trösten wollen. Als hätte er ein schlechtes Gewissen.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mein Leben den Bach runter ging. Ich war alleine. Einsam. Was sollte ich noch alles ertragen? Wollte mich das Leben auf eine Probe stellen? Wieso zum Teufel?! Ich verstand alles um mich herum nicht mehr. Es kam mir vor, wie ein riesiges Rätsel, dass ich nicht lösen konnte. Keine Ahnung, ob ich je wieder alles auf die Reihe bekommen würde.

Ich presste meine Lippen zusammen und unterdrückte ein weiteres Schluchzen. Wie viel Leid konnte ein Mensch ertragen? Wie viel Leid konnte ich ertragen?


Hilflos

Adrian


Ich setzte mich ihr gegenüber und schob den schwarzen Tee zu ihr herüber. Die erdrückende Stille der Krankenhaus Cafeteria war grauenvoll und zog Claire immer tiefer runter. Menschen schoben ihren Tropf durch die Gänge und wirkten nicht glücklich. Generell schien heute jeder in eine tiefe Depression gefallen zu sein.

Das zierliche Mädchen mir gegenüber rieb sich die Stirn und gähnte. Ihr Haar wirkte matt und auch ihre Haut schien immer mehr Farbe zu verlieren. Mit zitternden Händen umfasste sie die Tasse und ließ ihren Blick einmal durch den Saal gleiten.

„Ich muss die Versicherung anrufen“, murmelte sie vor sich hin.

„Das kannst du erst morgen machen. Es ist schon halb Zehn“, warf ich leise ein.

„Ich weiß, aber..es gibt so vieles was ich machen muss.“

„Sollen wir eine Liste machen?“, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ein kleines Nicken reichte mir als Antwort, sodass ich meinen College Block aus der Tasche zog und einen Kugelschreiber aus der Seitentasche nahm.

„Also, Versicherung anrufen. Was noch?“, fragend blickte ich sie an, nachdem ich den ersten Punkt notiert hatte.

„Ich muss den Vermieter anrufen und die Wohnung kündigen“, seufzte sie und starrte auf den Tee.

„Wieso?“

„Meine Großmutter zahlt immer in Bar. Ich kenne ihre Geheimnummer nicht, also kann ich nicht aufs Konto zugreifen. Ich bekomme jeden Monat zwar Hundertfünfzig Euro überwiesen, doch die inklusive mein Lohn reichen nicht aus für die Miete.“

„Wie viel Geld kannst du denn ausgeben?“, fragte ich zaghaft und starrte unschuldig auf den Block vor mir. In meinem Kopf setzte sich gegen meinen Willen eine Idee zusammen, die so aussah, dass Claire bei mir wohnen könnte. Sie war Achtzehn und brauchte eine kleine Wohnung, die ich zu bieten hatte. Und der Gedanke sie morgens am Frühstückstisch zu begrüßen war nicht der schlechteste. Schließlich kannte ich ganz andere Horrorgestalten, die daran Interesse hatten.

„Ich bekomme Zweihundertfünfzig Euro Lohn. Das plus die Hundertfünfzig von meiner Oma machen Vierhundert Euro die ich zur Verfügung habe. Also wären um die Hundertfünfzig drin. Aber dafür bekomme ich keine Wohnung“, seufzte sie und rieb sich mit den Händen das Gesicht.

„Ich habe eine Wohnung“, warf ich harmlos ein und versuchte meine Freude über einen eventuellen Mitbewohner zu verstecken. Schlagartig schoss ihr Kopf in die Höhe und sie blickte mich verdattert an.

„Du hast eine Wohnung?“, wiederholte sie ungläubig und starrte mich an.

„Ich weiß, dass wir uns nicht besonders gut kennen, aber mein Mitbewohner ist ausgezogen und ich suche schon länger jemanden neues. Bis jetzt hat sich allerdings niemand gemeldet und ich brauche zum Monatsanfang, also in drei Tagen, einen neuen Mitbewohner“, beendete ich meine Erklärung und biss mir auf die Lippen.

„Wie viel kostet die Wohnung denn?“

Ich kratze mich am Ohr und lehnte mich zurück um das Gesamtbild des zierlichen Mädchens noch einmal zu betrachten.

„Eigentlich Zweihundert, aber wenn du kochen kannst und ich gehe einfach mal davon aus, machen wir Hundertfünfzig draus.“

Ich tippte nervös mit meinem Fuß unterm Tisch und beobachtete das nachdenkliche Mienenspiel von Claire. Ihre Stirn hatte sie in Falten gelegt und sie rieb sich nervös die Hände.

„Sehe ich das Richtig? Ich koche und du übernimmst im Gegenzug die restlichen Kosten?“

„Du musst wissen, dass ich ein miserabler Koch bin“, erklärte ich und betete innerlich, dass sie zustimmte.

„Das würdest du tun?“

„Ja“, antwortete ich ohne zu zögern und ließ meine Augen auf ihr Ruhen. Einen Moment lang schwiegen wir, während sie in Gedanken das Szenario wahrscheinlich durchspielte.

„Okay“, sagte sie schließlich und zauberte mir ein Lächeln auf das Gesicht.

„Ich danke dir, du erlöst mich von Fast Food und angebranntem Essen“, scherzte ich und freute mich, als ich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen entdeckte.

„Wo arbeitest du eigentlich?“, fragte ich beiläufig. Sie nahm einen Schluck vom Tee, ehe sie antwortete.

„In einem kleinen Café als Kellnerin“, sagte sie und senkte schüchtern ihren Kopf.

„Ist doch cool“, erwiderte ich um sie etwas aufzumuntern.

„Es ist nur...“ sie schwieg einen Moment, als würde sie ihre Worte bedächtig wählen, ehe sie den Satz beendete. „Man denkt nicht, dass jemand wie ich in so einem Laden arbeitet.“

„Wieso das denn nicht?“ Nun war es an mir die Stirn zu runzeln.

„Schau mich bitte mal an“, antwortete sie spöttisch und verdrehte ihre Augen zur Decke.

„Also ich finde dich hübsch.“

„Du sollst mich nicht anlügen. Auch nicht, wenn du meine Vergangenheit kennst.“

„Das ist mein Ernst. Du hast eine Menge Potenzial. Nur, du nutzt es nicht.“

Ich bekam als Antwort einen abschätzigen Blick, der mir deutlich machte, dass ich spinnte.

„Okay, dann lassen wir das Thema vorerst“, sagte ich und schenkte ihr ein ebenfalls schüchternes Lächeln.

„Ich muss die Möbel irgendwo unterbringen. Bei einer Freundin oder so.“ Sie stützte ihren Kopf mit einer Hand und starrte auf das Papier, welches vor mir lag. Erneut setzte ich den Kugelschreiber an und schrieb ihre Worte nieder.

„Telefon kündigen. Freunden bescheid sagen. Zeitungsabo kündigen. Ihre Sachen fürs Krankenhaus packen. Hausarzt anrufen“, vollendete sie den Satz und unterdrückte ein erneutes Gähnen. Schnell notierte ich die weiteren Punkte, die sie aufgezählt hatte, wie eine Einkaufsliste.

„Frau Dupont?“ Ich sah, wie ihr Kopf herumflog und sie den Mann im weißen Kittel ängstlich anblickte.

„Sie können nun zu ihr“, beendete er den Satz und wartete darauf, dass sie ihm folgte.

Langsam erhob sie sich, wobei ich ihren Blick bemerkte, der von Schmerz und Trauer getränkt war. Ihre Hände schienen stärker zu zittern als eben, sodass ich mir noch mehr Sorgen um sie machte.

„Ich warte hier“, sagte ich und lächelte sie einen kurzen Moment an. Sie nickte und in ihren Augen blitzte für einen Moment Dankbarkeit auf. Schweigend verließ sie die Cafeteria und ließ mich nachdenklich zurück.

Ich wusste nicht, wieso ich ihr die Wohnung angeboten hatte oder weswegen ich auf sie wartete, obwohl es so spät war. Doch ich hatte das Gefühl ihr das schuldig zu sein und irgendwie wollte ich es auch, denn das Gefühl von jemandem gebraucht zu werden war neu für mich. Auch wenn dies vielleicht gar nicht der Fall war, war das Gefühl da. Irgendwas gefiel mir an ihr. Vielleicht war es ihre Vergangenheit, die schrecklich war, ebenso wie meine. Nur war ihre Vergangenheit und das daraus resultierende Leid, wesentlich größer als meines.


Claire


Mit zitternden Knien betrat ich das Zimmer in dem meine Großmutter lag und fühlte den stechenden Schmerz im Herzen als ich sie erblickte. Lauter Schläuche und Maschinen waren an sie angeschlossen, die ein nervtötendes Piepen von sich gaben. Ich wusste, dass diese Maschinen sie am leben hielten, denn sie war noch nicht in der Lage selbstständig zu atmen.

Ihre Haut war blass und ihr Arm, sowie ein Bein lagen in Gips. Platzwunden am Auge, sowie an der Lippe und wahrscheinlich zahlreiche Knochenbrüche im Gesicht, verschlimmerten den ersten Eindruck. Die hälfte ihrer Haare war abrasiert und man konnte die frisch vernähte Operationswunde unter einem großen Pflaster erahnen. Tränen stiegen mir in die Augen, als ich auch noch das angetrocknete Blut sah, welches an ihrer Haut klebte. Scheinbar hatten die Schwestern sich beeilt, damit ich sie noch vor Mitternacht sah.

Mit weichen Knien schritt ich zu dem Bett und blickte in das, für mich, entstellte Gesicht meiner über alles geliebten Großmutter. Ich unterdrückte die Tränen, die sich versuchten einen Weg aus meinen Augen zu bahnen, doch ich hatte mir geschworen nicht zu weinen. Also ließ ich die Tränen nicht fort.

Ich griff nach ihrer Hand die schlapp auf der Bettdecke lag. Zärtlich strich ich über ihre Falten und umschloss sie vollständig. In meinem Kopf traten Erinnerungen in den Vordergrund, die zeigten, wie meine Großmutter fröhlich gärtnerte und am Herd stand. Schon jetzt wusste ich, dass jeder Bissen eines Brotes, welches mit ihrer Marmelade geschmiert war, schmerzen würde.

„Man Omi. Was machst du nur?“, fragte ich leicht angesäuert, doch ließ meiner Stimme nicht die herabrollenden Tränen anmerken. Es hieß doch immer, dass Menschen die im Koma lagen alles mitbekamen.

„Wie stellst du dir das eigentlich vor mit deiner Marmelade? Ich kann doch keine drei Tonnen alleine essen“, warf ich ihr scherzhaft vor und küsste zärtlich ihre Hand. In meinem Kopf herrschte ein einziges Chaos und der Schmerz, welcher vorhin durch Adrian gemildert wurde, wurde nun wieder schlimmer. Ganz langsam fraß er sich von meinem Bauch zu meinem Herzen hervor und stich dort mit einem Messer zu. Das grauenvolle Gefühl der Hilflosigkeit brach über mich hinein und schien mich zu erdrücken, doch ich wollte noch nicht von ihrer Seite weichen. Es war schon spät, doch das Gefühl, dass ich bleiben musste trotz meiner Müdigkeit war in diesem Moment unberechenbar für mich.

Ich war einsam. Einsam in der großen weiten Welt, die mich drohte aufzufressen und die einzige Person, die mich seither davor bewart hatte, lag nun schwer Verletzt im Koma. Mit schweren Schritten und Augenliedern die mir fast zufielen, zog ich einen Stuhl an das Bett meiner Großmutter und ergriff erneut ihre Hand, welche ich sanft streichelte.

Vorsichtig hob ich ihr Hand an mein Gesicht, sodass ich das Gefühl von etwas Geborgenheit kam. So hatte sie es immer getan, wenn ich traurig war. Als meine Eltern gestorben waren, war sie nicht von meiner Seite gewichen und hatte mich als ihr Kind angesehen. Nicht nur einen Augenblick hatte sie gezögert, als sie gefragt wurde, ob sie das Sorgerecht übernehmen würde. Ich hatte sie manchmal als selbstverständlich angesehen. Doch nun wurde mir mehr als je zuvor bewusst, dass sie dies nicht war.

Ich legte meinen Kopf neben ihre Hand und betrachtete das verunstaltete Gesicht meiner Großmutter. Ich suchte vergeblich nach dem Blick in dem soviel Liebe lag, dass man sich darin hätte ertränken können. Stattdessen sah ich zwei geschlossene Augen, wovon eines dick und blau angeschwollen war. Leise rollten Tränen auf ihre Bettdecke, die sie jedoch nicht vernahm und spürte. Ich versuchte sie nur meine Liebe spüren zu lassen durch meinen Händedruck. Solange, bis mir die Augen zufielen.


Adrian


„Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich hoffe es ist in Ordnung, dass ich sie geholt habe. Und ich weiß, dass sie keine weiteren Angehörigen hat, doch sie sieht so einsam aus“, erklärte die Schwester mir, welche mich aus der Cafeteria mitgeschleppt hatte.

Mit zügigem Tempo schritt sie den Gang entlang, welcher nach Desinfektionsmittel roch.

„Schon gut“, antwortete ich und sah den entschuldigenden Blick, welchen die Frau mir über ihre Schulter zuwarf.

„Dort“, flüsterte sie und deutete mit der Hand in ein Zimmer, welches rechts von mir lag. Ich nickte ihr kurz zu und trat dann mit einem etwas mulmigen Bauchgefühl ein.

Sofort merkte ich, dass sich mein Blick mit Mitleid füllte und sich ein schreckliches Schuldgefühl in mir ausbreitete. Die alte Frau, über welche wir uns amüsiert hatten, war kaum wieder zu erkennen. Ihre Haut war blass und der taffe Gesichtsausdruck war verschwunden. Ich hielt mir leicht geschockt die Hand vor dem Mund und atmete tief durch. Getrocknetes Blut war auf ihrer Haut und die halbe Glatze verschlechterte den Eindruck massiv.

Dann jedoch fiel mein Blick auf die zierliche Gestalt, welche auf einem Stuhl neben dem Bett saß. Ihr Kopf lag neben der faltigen Hand der Frau und ein seliger Ausdruck der Ruhe lag auf ihrem Gesicht. Ihr blondes Haar fiel ihr Strähnenweise in das Gesicht und ich verspürte nicht das Bedürfnis sie zu wecken und somit in die Realität zu holen.

Ich konnte mir vorstellen, dass sie von einer Weltreise mit ihrer Großmutter träumte. Oder von einem Kochwettbewerb den die beiden gewannen. Von dem Schmerz und der Trauer war in diesem Moment nichts zu erkennen und doch verstand ich was die Schwester meinte. Claire lag hilflos und völlig einsam dort am Bette ihrer Großmutter, während tausend von Geräten an dieser angeschlossen waren.

Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr das Mädchen ihre Großmutter lieben musste. Leise schlich ich zu ihr und strich eine Strähne beiseite.

„Claire.“

Vorsichtig strich ich über ihre Wange und bemerkte, die roten Augen, welche eindeutig ein Zeichen für unendlich viele Tränen waren.

„Claire“, flüstere ich erneut, woraufhin ihre Augenlieder etwas zuckten.

„Komm schon. Es ist halb zwei.“

Ich hockte mich neben sie und betrachtete, wie sie langsam zu sich kam.

Verständnislos und verschlafen blickte sie mich an. Kurz darauf schienen sich ihre Erinnerungen jedoch zu sammeln und ich sah den Schmerz in ihren Augen aufsteigen. Sie drehte ihren Kopf und betrachtete einen kurzen Moment ihre Großmutter, ehe sie sich mir zuwandte.

„Ich kann nicht nach Hause“, flüsterte sie und blickte mich mit tränenden Augen an. Erneut fuhr ich über ihre Wange und sah sie wehmütig an.

„Bei ihr ist mein Zuhause.“

Ich sah, dass sie den Druck auf die Hand ihrer Großmutter verstärkte.

„Du kannst zu mir“, antwortete ich. Sie nickte kurz und dann sah ich, wie ihre Unterlippe anfing zu zittern. Ein Schwall von Tränen fing an zu fließen und ohne nachzudenken, schloss ich sie in meine Arme. Es war mir egal, wie nass mein T-Shirt seien würde, oder dass ich morgen kaum stehen könnte vor Müdigkeit.

Ich kannte sie kaum, doch diese Distanz des Fremdens schien zwischen uns nicht länger zu existieren. Zumindest im Moment nicht.

Mit ihren Händen krallte sie sich an meinem T-Shirt fest und begann heftig zu Schluchzen. Wie ein kleines Kind fing ich an sie hin und her zu wiegen. In meinem Innersten spürte ich eine tiefe Verbundenheit zu ihr, die sich verstärkte. Es war, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen.


Sonnenaufgang

Adrian


Ich steckte meinen Schlüssel in die Tür und drehte ihn. Ein leises Klicken machte mir deutlich, dass die Tür aufgeschlossen war. Unbemerkt warf ich einen Blick zu Claire, die benommen auf den Boden starrte. Ihre Augen hatten immernoch diesen leblosen Ausdruck, der mir ziemlich nah ging. Ich drückte die Tür auf und zog den Schlüssel aus dem Schloss.

„Komm“, flüsterte ich, als sie keine Regung zeigte. Langsam hob sie ihren Blick vom Boden und schaute zu der geöffneten Tür. Mit schweren Schritten, als würden Tonnen auf ihren Schultern liegen, schritt sie in die Wohnung.

„Hast du Hunger oder Durst?“, fragte ich, nachdem ich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, doch sie schüttelte nur den Kopf und blieb hilflos im Flur stehen.

Mittlerweile war es kurz nach zwei Uhr morgens und ich sah, dass sich dunkle Augenringe auf ihrem Gesicht abzeichneten. Ohne ein Wort ging ich an ihr vorbei in mein Schlafzimmer und schnappte mir das erst beste T-Shirt, das sauber war. Ich ging zu ihr zurück und drückte ihr das T-Shirt in die Hand. Zum ersten Mal, seit sie wach war, blickte sie auf und runzelte ihre Stirn, sodass sie nicht mehr so verloren aussah.

„Du kannst in meinem Bett schlafen“, sagte ich mit einem Kopfnicken in Richtung meiner Zimmertür. Ich bemerkte, wie sie ihren Mund öffnete um mir zu widersprechen, doch ich winkte ab und schob sie in die Richtung des Zimmers.

„Da hinten ist das Bad, falls noch was sein sollte“, erklärte ich mit einer lässigen Handbewegung und blieb erst etwas planlos vor ihr stehen.

„Also gute Nacht“, flüsterte ich und machte ein paar unbeholfene Schritte rückwärts, wobei ihre Augen auf mir ruhten.

„Nacht“, ertönte ihre zarte Stimme, als ich die Tür zuzog. Ich atmete entspannt aus und warf einen erneuten Blick auf die Uhr. Es war noch früh, doch ich würde Claire nicht alleine lassen morgen früh, geschweige denn aus dem Bett schmeißen und sie in die Schule zerren.

In aller Ruhe griff ich nach meiner Zigarettenschachtel, die sich in meiner Hosentasche verbarg und suchte in meiner Jackentasche nach einem Feuerzeug. Mit langsamen Schritten, ging ich in das Wohnzimmer und öffnete das Dachfenster. Ich brauchte heute Morgen dringend frische Luft und Zeit zum Nachdenken.

Der Geruch von Desinfektionsmitteln und das bedrückende Gefühl, das sich in mir ausbreitete, wenn ich Krankenhäuser betrat, waren noch nicht verschwunden. Mit Leichtigkeit kletterte ich auf das Dach und ließ mich nieder. Mein Blick glitt über die Dächer der Stadt. Ich mochte diese Aussicht nachts am liebsten, da kein Horizont zu erkennen war. Alles schien eins zu sein und ich hatte das Gefühl, ich könnte unendlich weit gucken.

Ich steckte mir meine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Augenblicklich entspannte ich mich etwas und dachte daran, was das mit Claire war. Wir kannten uns nicht und doch hatte ich ihr einfach so geholfen und sogar angeboten bei mir zu wohnen. Natürlich hatte ich dadurch einen Vorteil, doch ich wusste auch, dass mir der Gedanke Claire um mich herum zu haben nicht missfiel. Das gab ich allerdings nicht zu. Ich würde auch den Jungs erzählen, dass ich nur nett sein wollte. Allerdings sagte mir mein inneres schon jetzt, dass sie sich nicht lange damit abspeisen lassen würden.

Natürlich waren sie es nicht gewöhnt, dass ich so freundlich war und auch jetzt konnte ich mir diese Zuneigung, die ich für Claire empfand nicht richtig erklären. Doch ich konnte mir vorstellen, dass es daran lag, dass sie wie ich ein schlimmes Schicksal hatte. Und die Tatsache, dass ihr Leben schlimmer war, als meines, ließ mich irgendwie den Beschützer raushängen. Zum einen weil ich diesmal nicht der Schwache war, sondern jemand anderes und zum anderen, weil ich sie teilweise verstand und sie mich wahrscheinlich auch. Und dieser Gedanke, dass erste Mal in meinem Leben richtig verstanden zu werden, tat verdammt gut.


Claire


Ich drehte mich auf die andere Seite und betrachtete das Zimmer von Adrian erneut genauer. Seit einer gefühlten Ewigkeit tat ich das nun schon und ich entdeckte immer etwas neues was mich verwunderte. Natürlich lagen hier überall Boxhandschuhe rum und was weiß ich noch alles. Es war ein schlicht eingerichtetes Zimmer. Ich konnte mir vorstellen, dass er hier nie sonderlich viel Zeit verbrachte, denn hier war ein Bett, ein kleiner Schrank und ein moderner Ledersessel, der jedoch von den vielen Anziehsachen verdeckt wurde. An der Wand hingen einzelne Bilder, die ich nicht erkennen konnte in der Dunkelheit und zu meinem großen verwundern hatte ich einen Blumenstrauß auf der Fensterbank entdeckt.

Zuerst fragte ich mich, ob er eine Freundin hatte, der er ihn schenken könnte, doch Blumen erinnerten mich an meine Großmutter. Also starrte ich die Blumen an, die selbst bei Nacht in den verschiedensten Farben zu strahlen schienen. Sofort schossen Erinnerungen in meinen Kopf und bei jeder weiteren, verspürte ich einen grauenvollen Stich in meinem Herzen. Ich wollte weinen, doch meine Augen blieben trocken und so lag ich einfach dort und ließ den Schmerz über mich hereinbrechen. Zu meinem Leidwesen verglich ich den Unfall meiner Eltern mit dem meiner Großmutter. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich nicht wusste, was genau geschehen war. Also versuchte ich diese Frage in mein Hirn zu brennen und morgen früh direkt den Polizisten anzurufen.

Ich wusste, dass di nächsten Tage der reinste Horror für mich werden würden und so spürte ich schon jetzt dieses mulmige Gefühl im Bauch. Schlafen konnte ich nicht, dazu hatte ich zuviel Chaos in meinem Kopf. Selbst als ich gebetet hatte, hatte ich mich nicht besser gefühlt, obwohl meine Großmutter immer darauf schwor.

Langsam setzte ich mich auf und ließ meinen Blick erneut durch das Zimmer schweifen, ehe ich beschloss aufzustehen und nach einem Balkon oder ähnlichen in dieser Wohnung zu suchen. Ich schlüpfte in meine Schuhe und lief mit dem übergroßen T-Shirt von Adrian über den knarrenden Holzboden, der mich wieder an meine Großmutter erinnerte.

Rasch verdrängte ich diesen Gedanken und öffnete so leise es ging die Zimmertür. Ich warf einen Blick in den Flur und suchte nach einem Raum, aus dem Licht schien, doch es war alles dunkel. Also beschloss ich in das hinterste Zimmer zu gehen. Ich hoffte, dass ich Adrian nicht weckte und öffnete deswegen noch vorsichtiger die Tür, die nur leicht angelehnt war. Ich kam in einem Raum, der das Wohnzimmer zu sein schien. Das eine Dachfenster war sperrweit offen und ich spürte schon von der Tür aus den frischen Luftzug. Erleichtert atmete ich ein ging zu dem Fenster aus dem ich hinaussah. Zu meiner Überraschung erblickte ich auf dem Dach, neben dem Fenster, Adrian, der lässig eine Zigarette rauchte.

„Kannst du auch nicht schlafen?“, fragte er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen und blies den Rauch aus.

„Nicht wirklich“, erwiderte ich und kletterte ebenfalls auf das Dach um mich neben dem Jungen nieder zu lassen. Wortlos hielt er mir eine Zigarette hin, die ich mit einem Kopfschütteln abwies.

„Aufgehört?“

„Nie angefangen“, antwortete ich und ließ meinen Blick ebenfalls über die Dächer der Stadt schweifen. Es sah wunderschön aus, wie einzelne Lichter die Dunkelheit durchbrachen. Trotz des Sommers war die Nacht kalt, sodass sich eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitete. Schließlich saß ich nur im T-Shirt auf dem Dach.

„Hier.“

Adrian hing mir eine Jacke über die Schultern, welche ich enger an mich presste. Ich warf ihm ein dankbares Lächeln zu und atmete der Geruch von ihm ein, der von seiner Jacke ausging. Neben dem Geruch nach Zigaretten erkannte ich Orange.

„Danke noch mal“, flüsterte ich, doch ich wusste, dass er es gehört hatte.

„Nichts zu danken“, antwortete er und zog erneut an seiner Zigarette, die leicht aufglühte. Anschließend machte sich eine angenehme Stille um uns herum breit, die keiner von uns zu durchbrechen wagte. Meine Gedanken flogen zu meiner Großmutter und den Aufgaben, die mir bevorstanden. Mir war bewusst, dass dies keinesfalls einfach werden würde. Doch ich hatte das Gefühl, dass Adrian mich dabei unterstützen würde. Weswegen auch immer. Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er meine Oma ausgelacht hatte. Oder er war gar nicht der harte Boxer, den er nach außen hin zeigte. Im Grunde war es mir auch egal. Für den ersten Moment. Ich brauchte nur jemand, der mich nicht fallen ließ, denn das würde mir wahrscheinlich das Leben kosten. Nicht physisch sondern psychisch. Und davor fürchtete ich mich am meisten.

Ich erblickte die ersten Sonnenstrahlen, die die schwärze der Nacht durchbrachen und genoss dieses Schauspiel. Wie lange wir schon draußen saßen, wusste ich nicht, doch ich merkte, dass meine Augenlieder immer schwerer wurden. Irgendwann sank mein Kopf gegen die Schulter von Adrian, der sich darüber wahrscheinlich wunderte, doch bevor ich das mitbekam, war ich in einen traumlosen Schlaf geglitten.


Adrian


Ich betrachtete das hübsche Gesicht von Claire, während ihr Kopf an meiner Schulter lehnte. Ihre Augen waren ihr zugefallen. War auch kein Wunder, schließlich waren wir die ganze Nacht auf gewesen. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr und wusste auch nicht, ob wir Schule hatten oder nicht.

Vorsichtig strich ich mit meiner Hand über ihre Wange, die ziemlich kalt war. Sofort zog ich die Decke enger um sie und legte meinen Arm um sie. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihre Hände ebenso kühl waren. Zu meiner Überraschung hatte sie nicht angefangen zu zittern, sondern saß einfach da und schaute in den Sonnenaufgang. Nun jedoch waren ihre Augenlieder geschlossen und ihre Brust hob und senkte sich in einem ruhigen Rhythmus.

Ich konnte sie nicht länger hier draußen lassen und nahm sie auf meinen Arm um sie ins Bett zu bringen. Sie war federleicht, was ich schon vermutet hatte, doch nun konnte ich es mit Sicherheit sagen. So wie sie in meinen Armen lag, wirkte sie wie ein Stück Glas, dass bei der kleinsten Berührung zerbrach.

Behutsam stieg ich mit ihr in meinen Armen durch das Fenster und machte mich auf den Weg Richtung Schlafzimmer. Meine Schritte wurden von dem Knarren der Holzdielen begleitet und leichte, rote Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster. Mit meinem Fuß stieß ich die Tür auf und ging zu meinem Bett in das ich Claire legte. Ich breitete die Decke über ihr aus und hoffte das ihr warm werden würde. Ein letztes Mal strich ich über ihre Wange um mich zu versichern, dass sie nicht mehr so kalt war. Zu meiner Erleichterung wurde sie etwas wärmer und ich sah, dass sie sich in meine Decke kuschelte und ihr Gesicht in mein Kissen presste.

Ein kleines Schmunzeln glitt über meine Lippen. Sie sah wunderschön aus, wie sie dort so lag. Ich war mir sicher, dass ich es irgendwann schaffen würde aus ihr ein selbstbewusstes Mädchen zu machen. Wahrscheinlich musste ich dazu erst ihr Vertrauen gewinnen, doch ich hatte das Gefühl, dass ich den Grundstein dafür schon gelegt hatte.





Claire


Langsam schlug ich meine Augen auf und starrte auf einen mir unbekannten Schrank. Leichte falten bildeten sich auf meiner Stirn, während ich das ungewohnte Umfeld betrachtete. Die Bettdecke roch nicht nach mir, sondern nach jemand anderem. Der Geruch war nicht unangenehm, doch er verunsicherte mich. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ein großes T-Shirt trug, das mir definitiv nicht gehörte.

Ich strengte meinen Kopf an und versuchte mich zu erinnern. Doch ich wünschte ich hätte es gelassen, denn als meine Erinnerungen zurückkehrten, kehrte auch der Stein in meinem Magen zurück.

Müde fuhr ich mir mit meiner Hand über die Stirn und versuchte das neu entstandene Chaos in meinem Kopf zu ordnen.

„Morgen.“

Ich zuckte leicht zusammen und wendete mich der Tür zu, in der Adrian mit einem Tablett stand.

„Morgen“, antwortete ich leise und sah, wie er den Raum betrat und sich an mein Bett setzte.

„Ich wusste nicht, was du magst, also habe ich mal von allem etwas genommen.“

Er stellte das Tablett auf das Bett und schaute mich etwas schüchtern an.

„Ich muss erst die Polizei anrufen und fragen, was passiert ist. Und dann muss ich noch die Versicherung anrufen.“

„Hab ich schon gemacht“, sagte er und warf mir einen Blick zu, der entschuldigend wirkte. Ich schluckte einmal hart und schaute ihn möglichst neutral an.

„Und was hat die Polizei gesagt?“ fragte ich nach. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe und fuhr sich mit seiner Hand durch sein Haar.

„Eine Gruppe von Jugendlichen hat die Oma und ihre Freundin angegriffen. Bis jetzt hat die Polizei, aber keine Verdächtigen, weil die sie in einer kleinen Gasse angefangen haben.“

Ich blieb ruhig und schaute auf das Frühstück, welches wirklich liebevoll zubereitet worden war.

„Danke“, flüsterte ich und warf Adrian einen flüchtigen Blick zu.

„Nichts zu danken. Du wohnst schließlich hier. Und jetzt lang kräftig zu, damit wird gleich die Liste abarbeiten können“, sagte er freundlich und hielt einen Zettel hoch, auf dem eine Liste zu erkennen war. Doch der zweite Satz ging unter, denn in meinem Kopf blieb der erste Teil hängen. Ich wohnte hier. Das hatten wir gestern abgemacht und per Handschlag besiegelt. Zu meiner Verwunderung, schien er es ernst zu meinen. Und irgendwie musste ich zugeben, dass ich mich bei ihm wohl fühlte. Fast so, als wäre es schon mein Zuhause.









Abschied

Claire


Ich schritt ein letztes Mal durch das Haus meiner Großmutter und fuhr mit meiner Hand über die Wände, an denen vor kurzem noch Bilder hingen. Nun war das Haus leer und kalt. Das genau Gegenteil von vorher. Alles wirkte viel größer und nur noch ein schwacher Geruch von Blumen war vorhanden. Der süße Duft von selbst gemachter Marmelade war verschwunden, genau wie das Gefühl des Zuhauses.

In den Mauern des Hauses waren Erinnerungen verankert, die mich in die Verzweiflung trieben. Vielleicht war es gut, dass ich hier weg ging. Weniger Erinnerungen hießen gleich weniger Schmerzen.

„Claire?“

„Ich bin im Wohnzimmer“, erwiderte ich und ließ meinen Blick über den noch gepflegten Garten schweifen, doch ich wusste, dass sich das Unkraut bald ausbreiten würde. Wie Gift würde es die letzten Blumen zurückdrängen.

„Bist du fertig?“, ertönte die sanfte Stimme von Adrian.

Ich beantwortete seine Frage mit einem angedeuteten Nicken und betrachtete den alten Schlüssel, der sich in meiner Hand befand.

„Alles okay?“

„Ja, es ist nur…“, ich hielt inne und überlegte, wie ich meine Gefühle am besten formulierte.

„Es ist einfach ziemlich schwer. Hier sind so viele Erinnerungen und einerseits bin ich erleichtert, aber andererseits will ich sie nicht verlieren.“

Ich bemerkte, dass er sich neben mich gestellt hatte und meine Hand nahm, in der der Schlüssel war.

„Das schaffst du schon“, flüsterte er leise und blickte mir in die Augen. Ich schloss meine Augen und spürte die sanften Arme von Adrian, die sich um mich legten. Sofort umnebelte mich der vertraute Geruch von Rauch und Orangen. Seit ein paar Tagen kümmerte der mir fremde Junge sich nun so liebevoll um mich und unterstütze mich. Irgendwie hatte ich es mit ihm geschafft alles zu organisieren und den Anblick meiner Großmutter zu überstehen. Er war im Krankenhaus nicht von meiner Seite gewichen und hatte mich in den Arm genommen, als die Trauer mich überrannte.

Doch die Trauer war nichts im Vergleich zu der Wut die in mir schlummerte. Die Wut, die sich langsam in Hass verwandelte. Noch immer hatte die Polizei keine Anhaltspunkte von den Jugendlichen, die meine Großmutter ins Koma geprügelt hatten. Und auch ihre Freundin die dabei war, konnte nichts Genaues sagen. Doch ich war mir sicher, dass es die Bande von Jugendlichen war. Die Bande, wegen der meine Großmutter Selbstverteidigung lernen wollte. Auch wenn ich es nicht wahr haben wollte, bemerkte ich, dass sich in meinem Kopf immer weiter Rachepläne entwickelten.

Langsam löste sich Adrian von mir und blickte mich lächelnd an. Ich nahm einen letzten Atemzug und folgte Adrian hinaus aus dem Haus. Dem Haus in dem ich einen Schicksalsschlag nach dem Anderen erlebt hatte.


Adrian


Ich stellte den letzten Umzugskarton neben das Bett von Claire und betrachtete das zierliche Mädchen, dass im Schneidersitz zwischen einem Haufen Kartons saß.

„Soll ich dir helfen?“

Sie hob ihren Kopf, sodass eine blonde Strähne ihr ins Gesicht fiel.

„Gerne, aber ich muss jetzt zur Arbeit. Mein Chef bringt mich um, wenn ich zu spät komme. Und meinen Job muss ich behalten“, seufzte sie und erhob sich langsam.

„Dann machen wir das einfach heute Abend. Ich wollte gleich sowieso noch in die Halle. Ist’s okay für dich, wenn wir heute Abend Pizza bestellen und die Jungs hier rumlungern?“ fragte ich mit einem kleinen Grinsen auf dem Gesicht.

„Kein Problem“, winkte Claire ab und stellte sich vor ihren Spiegel. Sie löste ihren Zopf um ihre Haare anschließend erneut zusammen zu binden.

„Ich bin dann weg“, sagte sie, griff nach ihrer Tasche und huschte an mir vorbei. Ich schaute ihr nach und sah, wie sie an der Tür inne hielt und auf mich zukam. Sie drückte mir einen sanften Kuss auf die Wange, der mich voll überrumpelte.

„Danke für alles“, sagte sie leise und schenkte mir ein Lächeln.

Sie schloss die Tür hinter sich und ließ mich irritiert, lächelnd zurück.

„Nichts zu danken“, flüsterte ich in die Stille der Wohnung und bemerkte, das gute Gefühl, das sich in meinem Magen ausbreitete. Ich fing an es zu mögen, wenn sich jemand bei mir bedankte. Ein Lächeln umspielte meine Lippen und fröhlich pfeifend schritt ich in die Küche um mir einen Kaffee zu machen. Während die Kaffee Maschine vor sich hin ratterte und den Raum in eine angenehme und für mich vertraute Atmosphäre versetzte, schaute ich aus dem Fenster und sah das blonde, zierliche Mädchen die Straße entlang gehen. Mit schnellen Schritten bahnte sie sich den Weg durch die Menge. Jack und Marc kamen ihr entgegen, doch sie grüßte die beiden Jungs nicht. Wahrscheinlich hatte sie die beiden nicht erkannt. Marc und Jack jedoch verlangsamten ihre Schritte und blickten der blonden Schönheit hinterher.

Jack hatte vollkommen Recht gehabt. Mit jeder Sekunde die ich mit ihr verbrachte wurde mir bewusster, dass sie eine unglaublich junge, starke und intelligente Frau war. Sie war hübsch. Nur verbarg sie ihre Schönheit hinter einer Maske, die sie sich nicht runterriss – zum bedauern der Männerwelt. Mir war klar, dass sie jeden haben könnte, den sie wollte. Und ich nahm mir vor, ihr ein neues Leben zu zeigen. Ein Leben voller Freunde und Hoffnung.

Ein Klingeln riss mich kurz aus meinen Gedanken und wie in Trance schnappte ich mir meine Sporttasche und schritt zur Tür. Routinemäßig begrüßte ich die Jungs und antwortete nur kurz auf ihre Fragen. Sie schienen zu bemerken, dass ich woanders war mit meinen Gedanken und ließen schließlich von mir ab.

In meinem Kopf entstand gerade ein Plan, wie ich das Entlein Claire zu einem Schwan machen konnte, denn mir gefiel es nicht, dass sie so oft alleine war. Sie brauchte mehr Leute mit denen sie reden konnte. Ich wusste, dass sie das nicht wollte, doch ich war mir sicher, dass sie sich tief in ihrem Inneren nach Aufmerksamkeit sehnte.


Claire


Vorsichtig stellte ich den Cappuccino auf den Tisch und lächelte Jennifer, die Schulgöttin freundlich an.

„Danke Weisenkind“, sagte sie zuckersüß und lächelte mich mit ihren strahlend weißen Zähnen an. Mein freundlicher Gesichtsausdruck verschwand und eine ausdruckslose Maske legte sich auf mein Gesicht. Der Schmerz der aufkeimte war unerträglich und ich war nicht Selbstbewusst genug um ihr meine Meinung zu sagen. Und ich hatte eine Meinung über sie! Soviel hätte ich ihr gerne an den Kopf geworfen und am liebsten hätte ich ihr den Cappuccino aus versehen über das nagelneue Chanel Kleid geschüttet.

„Schau mal einer an. Waisenkind hat Schicht“, ertönte es hinter mir und ich verkrampfte mich. Die widerlichen Hände von Thomas streiften meinen Hintern und ich spürte seinen heißen Atem nah an meinem Hals.

„Ich bitte dich Thomas, was findest du an der?“, ertönte die glockenhelle Stimme von Jennifer in der Verachtung und Ungläubigkeit mitschwang.

„Ich stehe auf einsame Mädchen die sich nicht wehren können“, sagte er und ließ glücklicherweise von mir ab. Sein Spruch wurde mit einem grölen von seinen Freunden geehrt, sodass er sich wieder in seiner Beliebtheit wälzen konnte. Ich blieb wie versteinert stehen, während sich die Herde Eckelpacktete an mir vorbei quetschte.

„Ich will einen Kaffee Waisenkind. Das geht doch sicherlich aufs Haus?“, fragte er und grinste mich fies an.

„Wo warst du eigentlich die letzten zwei Wochen? Wir haben dich schrecklich vermisst“, säuselte Jennifer und die Zickenherde fing an zu kichern.

Natürlich wusste keiner von dem Unfall meiner Großmutter. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung was geschehen war. Und niemand wusste, dass ich diese extreme Wut in meinem Bauch hatte, die ich bis jetzt versteckt hielt. Die Wut auf die Vollidioten, die meine Großmutter ins Krankenhaus brachten.

„Nein“, brachte ich leise hervor und blickte in die verdatterten Gesichter.

„Wie bitte?“, hackte Jennifer nach und warf ihr schwarzes Haar nach hinten.

Ich schluckte einmal hart und ließ die Schultern hängen.

„Nichts“, flüsterte ich und starrte auf meine Fußspitzen. Langsam drehte ich mich um und ging hinter den Tresen, wo ich mich an meinen Kollegen vorbeidrängte und einen Kaffee nahm. Mit schweren Schritten und weichen Knien brachte ich Thomas den Kaffee. Ich wurde weiter verhöhnt und ausgelacht. Doch ich schwor mir, dass ich mich eines Tages an ihnen rächen würde. Und dann würde ich sie auslachen. Ganz ohne Gnade.




Es wurde schon langsam dunkel, als ich die schwere Ladentür hinter mir abschloss und die letzten Tränen von meiner Wange wischte. Die Bemerkungen hatten mir mehr zugesetzt als ich gedacht hatte. Vielleicht lag es daran, dass ich wusste, dass ich es niemanden erzählen konnte.

Ich drehte mich um und schaute in den Himmel, der sich violett verfärbt hatte und einzelne Sterne schon jetzt freigab. Gleich würde ich nach Hause kommen und mit Adrian und seinen Kumpels Pizza essen. Ich hoffte nur, dass sie nicht solche Vollidioten wie Thomas waren und mir nicht dauernd sagten, wie hässlich ich bin.

Geschafft von der Arbeit und den Überstunden die ich gemacht hatte, setzte ich mich langsam in Bewegung. Die Straßen waren leer und nur selten fuhr ein Auto hier entlang. Es war ein komisches Gefühl, dass mein Zuhause nicht mehr bei meiner Oma war, sondern bei einem Jungen in einer Altbauwohnung ohne Garten. Ich vermisste das Bild meiner Großmutter, wie sie zwischen den Blumen hockte und ihnen sagte wie wunderschön sie waren, jetzt schon.

„Heute alleine unterwegs Waisenkind?“

Mein Kopf schnellte hoch und ich erstarrte. Ich war scheinbar völlig in Gedanken vertieft und hatte Thomas, Jennifer und ihr Gefolge gar nicht bemerkt. Ein fetter Kloß bildete sich in meinem Hals, als Thomas sich auf mich zu bewegte und ich die fast leere Whiskey Flasche in seiner Hand sah. Jennifer und ihre Mädels teilten sich eine Sektflasche und betrachteten das Geschehen von weitem. Auf jedem der Gesichter konnte ich Spott und Belustigung erkennen.

„Was zitterst du, denn so?“, fragte Thomas und strich meine Haare hinter mein Ohr. Der Geruch von Alkohol kam mir entgegen und ich versuchte einen Fluchtweg zu finden. Thomas drängte mich jedoch immer weiter zurück. Als wäre es ein Spiel Katz und Maus Spiel an dem er gefallen gefunden hatte.

Es war Still geworden um uns herum und es ertönte nur einzelnes Gelächter von der Masse an Idioten. Meine Konzentration lag sowieso auf Thomas, wie er mich gierig betrachtete und mir immer näher kam. Immer weiter wich ich zurück und versuchte meinen Herzschlag und meinen Atem unter Kontrolle zu bringen, doch es war vergeblich. Ich hatte das Gefühl mein Herz würde mir aus der Brust springen.

Plötzlich stieß ich gegen etwas Hartes und ich brauchte nicht nachzugucken, was es war. Ich war mir sicher, dass es eine Hauswand war. Außerdem wollte ich ihn nicht aus den Augen lassen. Ich hatte zuviel Angst, dass er mir etwas antat.

Ich presste mich enger an die Wand, doch Thomas kam näher und stütze sich mit einer Hand lässig an der Wand ab, während er einen Schluck aus der Whiskey Flasche nahm und sie somit leerte.

Er schmiss sie weg und ich hörte, wie sie in tausend Einzelteile zersprang.

„Und nun zu dir“, flüsterte er und beugte sich vor. Seine nun freie Hand legte er auf meinen Hintern, während er seine Lippen an mein Ohr legte.

„Ich hatte heute das Gefühl, dass du mir widersprechen wolltest“, flüsterte er, sodass nur ich es vernahm. Doch ich konnte mich nicht bewegen, meine Muskeln schienen meinen Befehlen nicht mehr zu gehorchen.

„Weißt du Claire ich mag’s nicht wenn man mir widerspricht.“

Ich spürte, wie seine feuchte Zunge über meinen Hals glitt und ihm ein leises Stöhnen entwich.

„Ich finde für dieses Ungehorsam habe ich einen Kuss verdient.“ Er hob seinen Kopf und blickte mich an. Mir wurde schlecht, als der starke Alkoholgeruch immer näher kam und er seine Lippen auf meine pressen wollte. Ich drehte meinen Kopf weg und fing an mich gegen ihn zu wehren, doch er verstärkte seine Griffe und löste seine Hand von der Wand. Fest umschloss er mein Kinn und zwang mich ihn anzublicken. Ich hob meine Hände und legte ihn auf seine Brust, versuchte ihn mit aller Kraft von mir zu drücken, doch dadurch verstärkte er seinen Griff nur.

Ich war gefangen. Gefangen in einem Käfig aus Menschen, die mich immer weiter einengten und mich höhnisch betrachteten. Keiner von ihnen kam auf die Idee mir zu helfen. Sie standen einfach nur da und lachten, während Thomas seine Lippen auf meine drückte.

Erste Liebe

Claire


Widerlich feucht bewegten seine Lippen sich auf meinen und er drückte mich enger an sich. Seine Hände ertasteten meinen Körper und der Geschmack von Alkohol ließ mich würgen. In der Ferne nahm ich das höhnische Gelächter wahr und die fiesen Sprüche.

Plötzlich löste sich Thomas von mir, sodass ich geschockt meine Augenaufriss und nur noch sah, wie Thomas einen Kinnhacken bekam, ehe er zusammenbrach. Verwirrt blickte ich mich um und sah Adrian, der meinen Peiniger wutentbrannt anstarrte. In seinen Augen stand der pure Hass und ich wartete darauf, dass Rauch aus seinen Nasenlöchern kam.

Von hinten kamen zwei Jungs angerannt, die ich aus dem Boxstudio kannte. Der Junge mit den roten kurzen Haaren packte Adrian an die Schulter und sagte ihm etwas, woraufhin sein Blick zu mir flog.

„Dreckskerl“, schnauzte Adrian den ohnmächtigen Thomas an um den sich seine Gefolgschaft drängte. Mit großen Schritten und einem wehleidigen Blick kam er auf mich zu und musterte mich. Seine blau-grauen Augen suchten in meinem Gesicht nach Anzeichen für Verletzungen, doch ich hatte keine körperlichen. Es waren seelische.

„Alles ok?“, murmelte er und legte seine Hände auf meine Schultern.

„Mir ist schlecht“, flüsterte ich und unterdrückte einen Würgreiz.

„Hier“, ertönte es von der Seite und ich erblickte den rothaarigen Jungen, der mir eine Wasserflasche hinhielt. Mit zitternden Händen nahm ich diese entgegen und warf ihm einen dankbaren Blick zu. Ich versuchte mit aller Kraft den Deckel zu lösen, doch es war als wäre er fest geschweißt.

„Warte.“

Adrian nahm mir die Flasche aus der Hand und öffnete sie, während ich merkte, dass meine Beine langsam nachgaben. Doch einen kurzen Moment musste ich noch durchhalten.

„Hey du Vollidiot!“, schrie jemand hinter Adrian, der seinen Kopf drehte und in das wutverzerrte Gesicht von Thomas blickte. Von seiner Lippe tropfte Blut hinab und er schien noch nicht wieder ganz bei sich zu sein, denn seine Freunde stützten ihn.

„Beruhig dich Thomas“, lallte Jennifer, die sich an Thomas Arm festhielt.

„Der Arsch hat mir eine verpasst!“, erwiderte dieser und deutete auf Adrian.

„Ich verpass dir gleich noch eine!“, schrie Adrian nun wütend und legte seinen Arm um meine Hüfte um mich zu stützen. Nur noch verschwommen nahm ich wahr, wie das Getuschel einsetzte. Ich schnappte ein paar Mal meinen Namen auf, ehe eine laute Stimme die Versammlung durchbrach.

„Hört zu ihr Papageien. Solltet ihr sie auch nur noch einmal, wirklich nur einmal, anfassen, komme ich höchstpersönlich bei jedem von euch vorbei und katapultiere euch in die Hölle!“

Die letzten Worte hatte der Junge mit den schwarz-blauen Haaren nur noch geschrieen und somit eine Stille erzeugt, die sich drohend über alle legte.

„Und ich bin dann euer persönliches Fegefeuer“, fügte der andere Junge hinzu. Ich sah, dass sich beide ein verschmitztes Lächeln zuwarfen. Sie kehrten der Menge den Rücken und kamen zu mir und Adrian. Die drei Jungen warfen mir besorgte Blicke zu, sagten jedoch nichts, sondern gingen einfach los. Im Hintergrund vernahm ich das neu beginnende Gemurmel und riss mich zusammen. Ich biss meine Zähne zusammen und versuchte meine wackligen Beine etwas unter Kontrolle zu bringen, was mir jedoch nicht wirklich gelingen wollte.

„Nur ein kleines Stück noch“, flüsterte Adrian an meiner Seite. Mein Blick folgte den beiden Jungen vor uns, die sich immer wieder umblickten und schließlich in eine kleine Seitenstraße einbogen. Ich hatte dank des Schockes die Orientierung vollständig verloren und ließ mich durch die Gegend dirigieren.

Mit letzter Kraft schleppte ich mich um die Straßenecke. Kaum war ich aus der Sichtweite der Leute, gaben meine Knie – begleitet von einem Stöhnen meinerseits – nach. Ich machte jedoch keine Bekanntschaft mit dem Boden, sondern wurde von zwei starken Armen, die sich schon die ganze Zeit an meiner Seite befanden, aufgefangen. Adrian nahm mich auf seinen Arm und ließ sich auf einer Treppe nieder.

„Alles gut?“, fragte Adrian, während ich meine Augen wieder öffnete. Ich nickte stumm, damit meine zittrige und schwache Stimme nicht bemerkt wurde. Noch mehr Mitleid konnte ich nicht gebrauchen.

„Willst du was trinken?“, fragte mich der rothaarige Junge und hielt mir mit einem schwachen Lächeln eine geöffnete Wasserflasche vor die Nase.

„Danke“, brachte ich über meine Lippen und nahm einen großen Schluck, woraufhin sich eine angenehme Stille ausbreitete, die durch mein Zähneklappern und trinken immer wieder gebrochen wurde.

Nachdem ich die halbe Wasserflasche getrunken und den Geschmack von Alkohol aus meinen Mund gespült hatte, fühlte ich mich besser. Meine Knie fühlten sich nicht mehr so weich an und ich zitterte nicht mehr so sehr.

„Ich bin übrigends Marc“, stellte sich der rothaarige vor und lächelte mich freundlich an.

„Und ich bin Jack“, sagte der Junge mit den nachtblauen Haaren.

„Ich bin…“

„Claire. Wissen wir. Im Moment sind wir abgeschrieben bei Adrian, wenn du in der Nähe bist“, erklärte mir Marc, der Adrian gemein angrinste.

„Tut mir Leid“, sagte ich und senkte meinen Kopf, damit man nicht bemerkte, wie rot ich wurde.

„Dafür brauchst du dich nicht entschuldigen. Glaub mir wir können sehr gut mit dir leben. Weißt du…“, wollte Jack fortfahren, wurde jedoch von Adrian unterbrochen, der sich an mich wandte.

„Machen die sowas öfter?“

„Ab und zu“, gab ich zu und senkte meinen Blick erneut. Doch anstatt Belehrungen oder Ähnliches zu bekommen, seufzte Adrian einmal und ließ das Thema fallen.

„Hunger auf eine kleine Pizza?“, fragte er und lächelte mich dabei sanft an. Mit seinen Fingern strich er vorsichtig meine stummen Tränen von meinen Wangen und sagte nichts zu Marc und Jack. Er lächelte weiterhin und redete auf mich ein, was es für Pizzasorten gab, sodass ich Zeit hatte mich zu beruhigen. Ich ignorierte die beiden Anderen und konzentrierte mich so sehr ich konnte auf Adrian. Seine Art hatte etwas beruhigendes, die mich die schlimmen Sachen für einen Moment vergessen ließ.

„Ich nehme eine Pizza Hawaii“, sagte ich mit nun wieder fester Stimme, was mich gleich etwas erheiterte.

„Die Kleine hat Geschmack“, ertönte es von der Seite. Langsam ließ ich meinen Blick zu Marc wandern der mich mit einem breiten Lächeln anschaute.

„Hawaii?!“, ertönte es von Jack, der das Wort angewidert aussprach. Ich sah, wie Marc seine Augen verdrehte und sich zu Jack drehte, woraufhin eine hitzige Diskussion zwischen beiden Ausbrach.

„Mach dir keine Gedanken. Die beiden Spinnen manchmal“, flüsterte Adrian nah an meinem Ohr. Sein heißer Atem strich über mein Ohr, woraufhin meine Nackenhaare sich aufstellten.

„Kann ich mit leben“, flüsterte ich, wofür ich ein Lächeln von Adrian geschenkt bekam.


Adrian


Ich betrachtete die blonde Schönheit, wie sie sich die Pizza langsam im Mund schob. In ihren Augen erkannte ich, dass sie mit ihren Gedanken woanders war. Weit entfernt von dem hier und jetzt. Ihre zarten Finger strichen gedankenverloren über den Tisch, während eine lange blonde Strähne ihr ins Gesicht hing.

„Leute wir hauen mal ab“, hörte ich Marc sagen, der sich sogleich erhob.

Ohne meinen Blick von Claire zu wenden, nickte ich stumm und hob zum Abschied die Hand. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich die beide wissendn Blicke zuwarfen und mit leisem Gemurmel verschwanden.

Die Stille zwischen ihr und mir wurde durch die schwere Tür, die ins Schloss fiel nicht gebrochen. Ich konnte meinen Blick immer noch nicht von ihr wenden. Wir waren Grundverschieden. Sie hielt sich zurück, versuchte nicht aufzufallen und irgendwie ihr Leben zu leben. Ich hingegen ignorierte die Meinungen der anderen Leute, die mich nicht interessierten und zog mein Ding durch. Wenn mir etwas nicht passte, machte ich das jedem klar. Große Schnauze hatte ich schon immer gehabt. Claire müsste theoretisch gesehen Selbstbewusst sein. Schließlich sah sie gut aus, war intelligent und nicht auf den Mund gefallen. Nur zeigte sie nichts davon nach außen. Außer die Intelligenz, die sich in Klausuren zeigte.

Doch ich konnte ihr keine Vorwürfe machen. Wie sollte man einem Mädchen, das so ein Schicksal hinter und vor sich hatte, verurteilen? Konnte man jemanden wegen seinem Schicksal überhaupt verurteilen? Gequält von ihren Mitschülern, Eltern verstorben, keine Freunde und ihre einzige Bezugsperson lag im Koma. Wie konnte das Mädchen trotzdem weiter leben?

Nein, man konnte es nicht als leben bezeichnen. Es war eher ein dahin vegetieren. Ihre Pläne waren wahrscheinlich unter einer dicken Schicht Trauer und Kummer versteckt und wagten sich nicht an die Oberfläche.

„Ich war mal mit ihm zusammen.“

Ich blinzelte überrascht, als Claire die Stille plötzlich durchbrach.

„Was?“, fragte ich verwirrt und legte meine Stirn in Falten.

„Er war nett und freundlich. Hat mir Komplimente gemacht. Manchmal hat er mir Blumen mitgebracht oder mich zum Essen eingeladen. Ich war verliebt in ihn. Wirklich unglaublich verliebt. Ich hätte ihm mein Leben anvertraut. Ich hätte alles für ihn getan.“ Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie von ihrer vergangenen Liebe erzählte. Doch der liebevolle Gesichtsausdruck wich einer bitteren Maske.

„Nein, ich habe alles für ihn getan“, fügte sie hinzu.

„Was meinst du?“ fragte ich vorsichtig nach und versuchte ihr Mienenspiel zu deuten, das zwischen verunsichert und schmerzverzerrt wechselte.

„Es war im Sommer. Zwei Monate bevor meine Eltern starben. Wir lagen auf einer Wiese und haben den Sonnenuntergang betrachtet. Irgendwann fing er an mich zu streicheln und dann kam eins zu anderen. Erst wollte ich das alles nicht, doch er hat mich überredet. Und mittlerweile bereue ich meine Entscheidung zutiefst. Nach dem Tod meiner Eltern war ich abgeschrieben. Ich gehörte nicht mehr zu der ´normalen´ Gesellschaft laut ihm. Ein Kind ohne Eltern ist nicht normal, nicht menschlich hat er gesagt. Und dann ist er gegangen. Einfach so. Ohne mir zu sagen, dass es ihm Leid tut. Stattdessen hat er mir gesagt, dass Jennifer wesentlich besser ist. Für ihn und für die Gesellschaft.“

Verwirrt blickte ich sie an. Doch ihre Augen ruhten immer noch auf dem Tisch und ihre Finger strichen die Maserungen des Holzes nach. Was für ein Idiot konnte ihr so etwas antun? Sie war so schwach und verletzlich gewesen. Als hätte er auf diesen Moment gewartet um ihr eins reinzuwürgen.

„Wer?“, flüsterte ich, doch ich wusste, dass sie mich hörte. Der plötzliche Groll gegen diesen Jungen überrumpelte mich.

Ein bitteres Lächeln umspielte erneut ihre Lippen, ehe sie ihren Kopf hob und mich mit ihren blauen Augen anschaute in denen ich zu versinken drohte.

„Thomas“, flüsterte sie und eine Träne rollte ihre Wangen herab.


Claire


„Thomas?!“, brachte Adrian mühsam über seine Lippen, während er mich ansah als hätte ich den Weltfrieden erklärt. Ich zuckte unschlüssig mit den Schultern und wusste, dass Trauer und Bitterkeit in meinem Blick lag. Noch nie hatte ich jemand die Geschichte von Thomas erzählt, geschweige denn, wie er mit mir Schluss machte. Nur meine Großmutter wusste davon. Eigentlich hatte ich mir geschworen es niemanden zu erzählen, denn ich empfand es als Demütigung. Doch Adrian hatte es verdient die Wahrheit zu erfahren. Schließlich hatte er mich vor ihm beschützt, wofür ich ihm unendlich dankbar war.

„Dieser Vollidiot? Also versteh das nicht falsch, aber er ist weder ein Gentleman noch ein cooler Typ. Er ist einfach nur ein Riesenarschloch.“

Er sprach das aus, was ich schon die ganze Zeit wusste, jedoch nie hab hören wollen. Natürlich war er ein Mistkerl. Doch er hatte mich in seinen Bann gezogen. Umgarnt und verführt.

„Ich weiß“, flüsterte ich und strich mir eine Strähne hinters Ohr. Rasch senkte ich meinen Blick um meine Tränen und meine Röte zu verbergen. Zuerst dachte ich, dass er mich anmeckert oder rausschmeißt, aber es blieb Still für einen langen Moment. Dann bemerkte ich, dass sich jemand neben mich setzte. Sanft hoben seine Finger mein Kinn an, sodass ich ihn anblickte.

„Das war nicht böse gemeint. Es ist nur so, dass du jeden Typen haben könntest. Und du suchst dir ausgerechnet den aus.“

„Ich bin halt dumm“, murmelte ich und spürte erneut eine heiße Träne meine Wange hinunter gleiten.

„Vollkommener Schwachsinn. Du warst nur blind“, erwiderter Adrian mit einem sanften Lächeln.

„Adrian, ich bin ein hässliches Entlein. Es gibt im wirklichen Leben leider keine Happy Ends. Oder würdest du mein Leben als Happy bezeichnen? Meine Eltern sind tot. Meine Großmutter liegt im Koma. Ich habe kein Geld und ich werde gemobbt. Jetzt erklär mir was daran bitte positiv sein soll.“

Es tat unglaublich weh die Tatsachen auszusprechen. Wie ein schwerer Stein hatten sie sich auf mein Herz gelegt und verharrten nun da.

„Ich will dein bisheriges Leben kein bisschen als Happy bezeichnen, aber du kannst es ändern.“

Ein genervter Laut entfuhr mir und ich wandte mich. Er redete vollkommenen Stuss. Wie soll man die Vergangenheit ändern? Das ging nicht. Und wenn man die Vergangenheit nicht ändern konnte, konnte man die Gegenwart auch nicht ändern.

„Gib mir einen Tag. Einen einzigen Tag und ich zeig dir ein neues Leben. Nur einen Tag“, flüsterte Adrian und ich bemerkte, dass er leicht aufgeregt war.

„Was hast du vor?“, fragte ich und musterte ihn kritisch.

„Vertraust du mir?“

„Ja.“

„Gut. Dann freu dich einfach auf morgen und verabschiede dich schon mal von deinem alten Leben“, sagte er und stand auf. Wortlos ging er zum Telefon und wählte eine Nummer, während ich auf dem Sofa sitzen blieb und über seine Worte nachdachte.

Kokon

Adrian


Nervös strich ich mit meiner Hand durch meine Haare und blickte Claire aus dem Flur an. Sie hatte sich keinen Zentimeter bewegt seit ich aufgestanden war um zu telefonieren. Und ich musste mir eingestehen, dass ich vollkommen bekloppt war. Seit Monaten hatte ich das Gespräch mit dieser einen Person gemieden und nun stand ich hier und rief freiwillig an. Claire machte mich wirklich verrückt was mein Verhalten anging.

Das Freizeichen ertönte und ich spürte, wie meine Hände schwitzig wurden. Jeder weitere Piepton steigerte meine Nervosität und ich malte mir das Gespräch in meinen Gedanken schon aus.

„Elisabeth Hutton“, ertönte eine kühle, mir vertraute Stimme. Ich musste mich einmal räuspern ehe ich reden konnte.

„Hallo Großmutter“, sagte ich möglichst Selbstbewusst und konnte mir das verwirrte Gesicht am anderen Ende der Leitung gut vorstellen.

„Adrian?“, ertönte es leise und ziemlich ungläubig.

„Ja“, fügte ich hinzu, woraufhin ein langes Schweigen folgte. Ich wollte schon etwas sagen um diese unangenehme Stille zu durchbrechen, als ich die aufgeregte Stimme meiner Oma hörte.

„Wie geht es dir? Dein Vater sagte du kommst nur knapp über die Runden und lebst in einem kleinen dreckigen Haus mitten in der Stadt. Komm doch wieder zurück, ich vermisse dich schrecklich. Brauchst du Hilfe? Ich habe dir gesagt, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, wenn du etwas benötigst!“

„Ich brauche wirklich deine Hilfe“, unterbrach ich sie, bevor sie in einen weiteren Redeschwall verfiel.

„Was brauchst du mein Junge?“, fragte sie aufgeregt und ich warf einen kurzen Blick zu Claire, die weiterhin auf dem Sofa saß.

„Alessandro und Jamie“, sagte ich kurz angebunden.

„Wofür?“, fragte sie verwirrt nach.

Ich schloss meine Augen, zog scharf Luft ein und vergrub meine freie Hand in meinen Haaren. Wie zum Teufel konnte ich meiner Großmutter das ganze erklären ohne, dass sie etwas Falsches dachte?

„Also, es ist eine ziemlich komplizierte und lange Geschichte“, setzte ich an und hoffte innerlich, dass sie nicht weiter nachfragte. Doch ich würde nicht ungeschoren davonkommen.

„Ich habe Zeit“, erwiderte sie freundlich und ich hörte, wie sie sich es in ihrem Sessel gemütlich machte. Ein leiser Seufzer entfuhr mir und ich bereitete mich auf ein langes Gespräch vor während ich Claire betrachtete, wie sie auf das Dach kletterte.


Claire


Mein Blick schweifte über die schwarzen Dächer der Stadt bis zum Mond. Der Anblick versetzte mir einen schmerzvollen Stich. Vollmond. Und schon glitten meine Gedanken in meine Vergangenheit.



Das Ticken der Uhr war grauenvoll. Jede Sekunde fraß sich in mein Gedächtnis und ich wusste, dass ich diesen Tag nie vergessen würde. Jedes Detail würde sich verankern und mich an den Unfall erinnern. Egal wie es am Ende ausging.

Neben mir saß meine Großmutter, die sich nervös die Hände rieb und mir immer wieder kurze Blicke zuwarf. Ab und zu entwich ihr ein Fluch, der an die Uhr gerichtete war, doch schnell verfiel sie wieder ins Schweigen.

Die Wände des Wartezimmers der Intensivstation waren in warmen Tönen gehalten, doch mir kamen sie eiskalt vor. Die Stühle fühlten sich an wie Holz und das Licht der Neonlampen wirkte unfreundlich.

Ich saß still und versuchte mir in meinen Gedanken nicht das schlimmste auszumalen, doch immer wieder flammten grauenvolle Bilder vor meinen Augen auf. Und alle zeigten mir den Tod. Den Tod meiner Eltern.

Ich blickte starr auf den Boden vor mir und versuchte das ungute Gefühl in meinem Bauch zu verdrängen. Mir einzureden es würde gut ausgehen. In ein paar Wochen würden mich beide in den Armen halten. Doch das Gefühl verflog nicht. Es wurde mit jedem Ticken der Uhr schlimmer.

Seitdem meine Großmutter mir erzählt hatte, was geschehen war, schwieg ich. Kein Wort kam über meine Lippen. Hätte ich gesprochen, wäre ich wahrscheinlich in Tränen ausgebrochen, doch ich wusste, dass meine Eltern das nicht wollten. Sie würden wollen, dass ich stark blieb. Egal was geschah.

Die Tür des Wartezimmers ging auf und ein Arzt trat ein.

Es tut mir Leid“, sagte er voller Mitgefühl und sprach somit das aus, was ich vermutet hatte.

Zuerst starrte ich den Mann im weißen Kittel fassungslos an. Sein Mund bewegte sich, er sprach mit meiner Großmutter, doch ich hörte nichts. In meinen Ohren hörte ich nur dieses Rauschen, das nicht verschwinden wollte.

Dann spürte ich, wie mein Herz in tausend Teile zersprang. Ein schmerzerfüllter Schrei entfuhr mir, der wahrscheinlich im ganzen Krankenhaus zu hören war, doch es interessierte mich nicht, Ich wollte nur, dass dieser Schmerz verschwand. Und dann wurde mir schwarz vor Augen. Das letzte was ich sah, war der Vollmond der hoch am Firmament stand.





Ich krallte meine Hände in meine Haare und zog an ihnen. Der Schmerz tat gut und war erträglicher als der, der an dieser Erinnerung hing. Tränen rannten meine Wangen hinab und ich versuchte das Loch in meiner Brust zu schließen. Die Zeit der Trauer zu verdrängen und mich zusammen zu reißen. Nie hatten meine Eltern gewollt, dass ich litt.

Wenn es nach ihnen gegangen wäre, würde ich meinen Arsch bewegen und mich nicht mehr von Thomas und seinem idiotischen Gefolge mobben lassen. Nie hatten mich fiese Sprüche mitgenommen, bis meine Eltern weg waren. Und auch meine Großmutter hätte mich angemeckert, dass ich nun täglich an ihrem Krankenbett stand und ihr sinnloses Zeugs erzählte, anstatt zu Leben. Vorallem, weil sie noch im Koma lag, war das ganze ein sinnloses Unterfangen.

Leben.

Da war es schon wieder. Das Wort, das mich nun seit zwei Jahren immer wieder beschäftigte und nun wieder täglich in meinen Gedanken rumschwirrte. Doch bevor es erneut Fuß fassen konnte und mich somit nicht schlafen ließ, kletterte ich in das Wohnzimmer zurück und erblickte Adrian der immer noch am telefonieren war. Er wirkte leicht gestresst, lächelte mich jedoch glücklich an, als sich unsere Blicke trafen.

Ohne seinen Blick von mir zu wenden murmelte er noch etwas in das Telefon und beendete, dann hastig das Gespräch. Neugierig schaute ich ihn an, doch er blickte mich nur selbstsicher an, ohne ein Wort zu verlieren. Gerade, als ich etwas sagen wollte, brach er die Stille.

„Bereit für ein neues Leben?“ fragte er mich.

Ich öffnete meinen Mund, doch schloss ihn sofort wieder. Bereit sein für ein neues Leben. War ich das? Konnte ich meine Vergangenheit hinter mir lassen und von vorne anfangen? Einfach so alles vergessen.

Vergessen.

Das war es was ich wollte. Also hob ich meinen Kopf und nickte Adrian selbstbewusst zu.




Ich blickte verunsichert zu dem großen, edel aussehenden Geschäft, das sich vor mir auftat und auf das Adrian zusteuerte.

„Adrian das kann ich mir nicht leisten.“ Sagte ich und dachte an mein kleines Gehalt, das ich jeden Monat bekam.

„Habe ich gesagt, dass du zahlst?“, fragte er und zog eine Augenbraue nach oben.

„Was?“

„Zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen darüber“, erwiderte er lachend und zog mich durch eine Glastür, die von einem Türsteher geöffnet wurde in das Geschäft. Mir stockte der Atem, als ich die ganzen edel gekleideten Leute sah. Und sie waren nicht nur edel gekleidet, sondern erinnerten mich auch an Models.

Ich schluckte schwer und blickte an mir herunter. Mit meinen Chucks und meiner Röhrenjeans passte ich hier nicht wirklich rein. Mein Parka war auch nicht mehr der neuste, doch ich hatte nun mal kein Geld und ich fragte mich, woher Adrian soviel Geld hatte.

Nervös blickte ich mich um und stupste Adrian an, der sich nach jemanden umzusehen schien. Gerade, als ich ihn zum gehen überreden wollte, stürmte ein älterer Herr mit grauen Haaren auf uns zu. Ein breites Lächeln zierte sein Gesicht und er trug einen perfekt geschnittenen Anzug, was mich noch mehr einschüchterte.

„Adrian mein Casanova!“, begrüßte der Herr ihn und schüttelte ihm enthusiastisch die Hand.

„Wie es mich freut die wieder zu sehen! Und wie ich sehe, hast du Begleitung“, fügte er mit einem Blick auf mich hinzu. Ich merkte, wie ich rot anlief und senkte peinlich berührt meinen Kopf.

„Das ist Claire Dupont. Claire das ist Alessandro“, stellte er uns vor, sodass ich meinen Kopf heben musste und betete, dass ich nicht knallrot war.

„Bonjour Madmoiselle“, sagte er und gab mir einen Handkuss, was mir ein Lächeln entlockte.

„Bonjour Monsieur“, erwiderte ich auf Französisch mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen.

„Das ist also der Rohdiamant von dem du deiner Großmutter erzählt hast“, sagte er zu Adrian, ließ mich jedoch nicht aus den Augen. Ich hingegen warf einen fragenden Blick zu Adrian, der mich frech angrinste.

„Und was sagst du Alessandro?“, wandte sich Adrian nun an den Mann, der um mich herumging.

„Du hast vollkommen Recht. Sie ist ein wunderschöner Rohdiamant, den wir zu einem Schmuckstück machen.“

Und bevor ich protestieren oder nachfragen konnte, schnipste Alessandro einmal und drei wunderschöne Models kamen sofort angehetzt.

„Ich brauche etwas für die Dame. Eine vollkommene Grundausstattung. Größe vierunddreißig. Und jetzt hepp hepp,“ wies der Anzugträger an, woraufhin die Damen in alle Richtungen davon stürmten.

Alessandro fasste mich an der Hand und zog mich hinter sich her zu einer edlen Umkleide. Ich warf Adrian einen Hilfesuchenden Blick zu, doch er grinste mich nur frech an und trottete entspannt hinter uns her. Während ich ein Kleid in die Hand gedrückt bekam und in die Umkleidekabine geschoben wurde, ließ Adrian sich auf den Sessel nieder.

Völlig verwirrt stand ich in der Umkleide und betrachtete das teure Kleid, das ich hielt. Ich wusste wirklich nicht was los war, geschweige denn, wie Adrian das bezahlen konnte, doch ich wusste, dass ich keine Chance gegen Alessandro und Adrian in Kombination hatte. Als seufzte ich einmal und bereitete mich darauf vor, Modepüppchen zu spielen.




Es war gefühlt das tausendste Kleid indem ich aus der Kabine trat. Ich drehte mich einmal und konzentrierte mich nicht hinzufallen mit den hohen Pumps. Erwartungsvoll blickte ich Adrian an, der mich genau musterte.

„Das sieht gut aus. Einpacken.“ Sagte er mit einem Lächeln zu mir. Mein Blick glitt zu dem Haufen Klamotten, die Adrian alle hat einpacken lassen. Mittlerweile war das ganze spaßig geworden und jede Nervosität war von mir abgefallen. Ich fühlte mich wie eine kleine Prinzessin, die Modenschau spielte.

Gerade als ich wieder in die Kabine gehen wollte kam eine von den Frauen auf mich zugestürmt und drückte mir eine Tüte in die Hand. Sie zwinkerte mir zu, schob mich in die Kabine und zog den Vorhang zu. Ich warf einen Blick in die Tüte und hatte das Gefühl, dass meine Augen mir ausfielen.


Adrian


Ich lehnte mich entspannt zurück und grinste in mich herein. Die meisten Sachen, die Claire anprobiert hatte, hatten perfekt gepasst und sahen fantastisch aus.

„Sie ist wirklich wunderschön“, hörte ich Alessandro neben mir.

„Ist sie“, bestätigte ich und wartete auf das nächste Outfit, dass Alessandro in Auftrag gegeben hatte. Es musste etwas besonderes sein. Schließlich hatte die eine Dame Claire verschwörerisch zugezwinkert.

„Ähm. Ich weiß nicht, ob ich damit rauskommen soll“, hörte ich Claire verunsichert aus der Kabine sagen.

„Mit ihrem Körper können sie so was tragen!“, bekräftigte Alessandro sie und machte mich ziemlich neugierig.

„So schrecklich wird’s schon nicht sein“, fügte ich hinzu und lehnte mich entspannt zurück.

„Meint ihr wirklich?“, ertönte es erneut von Claire.

„Ja!“, antwortete ich lachend.

„Also gut.“

Der Vorhang wurde leicht zur Seite gezogen und ich erblickte Claire. Mir stockte der Atem, als ich das sah. Natürlich hatte ich Grundausstattung gesagt, aber mussten die das so wortwörtlich nehmen?!

Vorsichtig trat sie in High Heels aus der Kabine und drehte sie schüchtern. Ein schwarzer BH mit kleinen Verzierungen und eine Panty, die ebenfalls mit Spitze verziert war, bedeckten ihren Körper. Dazu trug sie Strapse. Der Rest war Haut.

Ich merkte, wie mein Blick erst an ihrer Oberweite und schließlich an ihrem Hintern hängen blieb. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich hatte gewusst, dass sie keinen grauenvollen Körper hatte, doch dass er so heiß war, hatte ich auch nicht gewusst.

Rasch wandte ich meinen Blick ab und nahm mein Handy aus meiner Hosentasche. Ich tat so als würde ich eine wichtige SMS bekommen, versuchte in Wirklichkeit jedoch die Bilder in meinem Kopf zu verdrängen. Für diese Aktion würde Alessandro noch einen Einlauf kassieren!




Seit einer Ewigkeit starrte ich auf mein Handy und blickte möglichst wenig zu Claire, die am laufenden Band neue Unterwäsche präsentierte. Und von mal zu Mal sah sie besser aus. Ich blickte sie immer nur kurz an, machte ihr ein Kompliment und ließ alles Einpacken. Zu mehr war ich nicht in der Lage. Meine Selbstbeherrschung war an ihren Grenzen angelangt und die Szenen, die sich in meinem Kopf abspielten waren nicht sonderlich hilfreich.

„Das wars.“

Der Umhang der Umkleide wurde aufgerissen und Claire trat - leider – in ihren normalen Klamotten vor.

Ich erhob mich und räusperte mich.

„Dann geht’s jetzt weiter“, sagte ich lächelnd, woraufhin sie mich geschockt anblickte.

„Keine Angst, so schlimm wird es nicht wieder“, tröstete ich sie, warf Alessandro aber einen bösen Blick zu. Dieser konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Okay“, flüsterte sie unsicher und ging ihre Tasche aus der Kabine holen. Ich nutze den kurzen Moment und drehte mich zu Alessandro.

„Die Sachen liefert ihr und ich warne dich. Mach so was nie wieder!“, fügte ich bedrohlich hinzu. Er verdrehte genervt die Augen, grinste mich dann jedoch wieder an.

„Vielleicht. Sie sah jedenfalls heiß aus.“

„Das ist ja mein Problem“, flüsterte ich eher zu mich selbst, als zu Alessandro, doch ich wusste, dass er es gehört hatte, denn er lachte einmal herzlich auf.

„Was lacht ihr so?“, ertönte es neben mir und als ich mich umwandte, blickte ich in diese ozeanblauen Augen und drohte erneut zu versinken.

Rasch drehte ich mich zu Alessandro und gab ihm die Hand. Wir verabschiedeten uns und Claire nahm er fest in den Arm. Er flüsterte Claire etwas zu, woraufhin sie errötete, doch sie wollte es mir anschließend nicht sagen. Und so verließen wir das Geschäft und machten und auf zu der nächsten Haltestelle.

Zu der Haltestelle, die Claire helfen sollte, aus dem Kokon auszubrechen und ein Schmetterling zu werden. Ich warf ihr einen kurzen Blick von der Seite zu und lauschte weiterhin ihren Erzählungen.

Doch in meinem Kopf war ich bei ihr und Thomas. Ob er je gemerkt hatte, was für ein wundervolles Mädchen sie war? Denn mir wurde das so langsam bewusst.

„Adrian?“

Ich zwinkerte ein paar Mal verwirrt und schaute sie fragend an.

„Was?“

Ein wunderschönes Lächeln umspielte ihre Lippen, während mich ihre Augen freundlich anstrahlten.

„Wo müssen wir lang?“

Ich blickte mich rasch um und orientierte mich. Mit einer Handbewegung deutete ich in die passende Richtung.

„Damit du nicht irgendwo gegen rennst. Du bist heute ziemlich verträumt weißt du.“

Mit diesen Worten, nahm sie meine Hand und zog mich hinter sich her. Überrascht ließ ich es geschehen und bemerkte, das komische Gefühl, das sich in meiner Magengegend ausbreitete. Wenn sie nur wüsste, dass ich mit meinen Gedanken bei ihr bin, dachte ich und plötzlich kam mir die Stadt viel freundlicher und heller vor.

Schmetterling

Claire


Ich war nervös und versuchte das ungewohnte Kribbeln auf meiner Haut zu ignorieren während Adrians Hand in meiner lag. Zum Glück hatte er sich nicht gewehrt, sondern mir seine Hand widerstandslos überlassen. Und nun zog ich ihn quer durch die Stadt. Die Leute, die an uns vorbeikamen mussten denken, dass wir ein Paar waren. Ich spürte, dass ich leicht rot wurde und schaute beschämt zu Boden.

„Wieso bist du so rot?“, fragte Adrian mich plötzlich. Rasch warf ich einen Blick nach hinten und sah seinen belustigten Gesichtsausdruck.

„Nichts“, flüsterte ich und ließ mir meine langen Haare ins Gesicht fallen.

Ich spürte, wie sich Hände um meine Taille legten und er mich festhielt, sodass ich mich nicht bewegen konnte.

„Jetzt aber raus mit der Sprache“, sagte er lachend und ich spürte seinen heißen Atem an meinem Ohr.

Mein Gesicht war mittlerweile am glühen und ich versuchte krampfhaft die Blicke der anderen Fußgänger zu ignorieren, was mir jedoch nicht gelang. In meinem Magen breitete sich dieses komische Kribbeln aus und ich fühlte mich ungewohnt geborgen in den Armen eins Jungen.

„Die denken wir sind ein Paar“, flüsterte ich und hoffte, dass er merkte, dass ich die Fußgänger meinte.

„Willst du etwa nicht mit mir zusammen sein?“, fragte er gespielt geschockt, woraufhin ich meine Augen genervt verdrehte. Dafür legte er überraschend seine Hand auf meinen Kopf und fing an meine Haare zu zerwuscheln.

„Adrian!“, kreischte ich, konnte ein Lachen aber nicht verbergen. Es brach eine kleine Rangelei zwischen uns aus die er natürlich gewann. Seine Arme lagen um meinen Bauch und hielten meine Hände fest.

„Willst du mich immer noch nicht?“, flüsterte er mir völlig außer Atem ins Ohr, was mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Doch bevor ich etwas erwidern konnte, kam ein blonder Mann aus einem Friseurladen, der sehr edel wirkte, gestürmt.

„Adrian!“, rief er freudig und begrüßte ihn mit einem lässigen Handschlag.

„Hi Jamie“, erwiderte dieser lässig und löste sich von mir. Der junge Mann namens Jamie blickte mich an und musterte mich in meinen neuen Klamotten. Ich war immer noch rot und dass ein hübscher junger Mann seine Augen so intensiv über meine Körper gleiten ließ, machte mich nicht weniger verlegen.

„Du musst Claire sein“, sagte er und gab mir wie Alessandro einen eleganten Handkuss.

„Adrian hat nicht untertrieben“, flüsterte er.

„Wie bitte?“, fragte ich verwundert und warf einen kurzen Blick zu Adrian, der Anstalten machte Jamie zu unterbrechen.

„Adrian hat dich als einen wunderschönen Schmetterling bezeichnet“, erklärte er mir ohne auf Adrian’s Proteste zu achten. Ich blickte zu Adrian, der auf seine Lippe biss und mich erwartungsvoll anschaute. Doch ich sagte nichts sondern versuchte den Ausdruck in seinen grau-blauen Augen zu deuten.

„Na dann komm mal mit Hübsche“, säuselte Jamie, nahm mich bei der Hand und zwinkerte mir zu. Überrumpelt ließ ich mich mitziehen in diesen teuren Friseursalon und blickte Adrian flehend an, doch er grinste nur.

„Lass dich einfach überraschen“, sagte Jamie und dirigierte mich in einen Stuhl während eine junge Frau den Spiegel mit einem Tuch verdeckt und mich verschwörerisch anschaute.

Was zur Hölle ging hier vor sich?! Adrian hatte mir eine Menge zu erklären!


Adrian


Ich ließ mich auf den Stuhl neben Claire nieder und betrachtete ihren scharfen Gesichtsausdruck.

„Schau mich nicht so böse an. Schließlich verunstaltete er dich und nicht ich.“ Ich deutete mit einer anschuldigenden Handbewegung auf Jamie, der sich seine Schere geschnappt hatte.

„Schwachsinn. Wenn ich mit dir fertig bin Claire, bist du das schönste Mädchen der Welt und jeder Junge wird dich haben wollen. Wie ich sehe hat Alessandro gute Arbeit geleistet“, fügte er grinsend hinzu.

„Ja er war mal wieder brilliant.“ Ich senkte meinen Blick und versuchte das Lächeln zu verbergen. Die Erinnerung, wie Claire halbnackt vor mir stand war ziemlich schön. Und auch verlockend, wenn ich daran dachte, dass sie in dem Zimmer neben mir schlief und ich keine Erwachsenen in der Wohnung hatte, vor denen ich angst haben müsste. Es wäre sogar ziemlich einfach. Ich könnte mich nachts in ihr Zimmer schleichen und sie sanft wach küssen.

Moment?! Ich schüttelte meinen Kopf leicht und verdrängte die verlockenden Bilder. Was zur Hölle ging mir da durch den Kopf? Das war Claire. Das schüchterne Mädchen. Meine Mitbewohnerin. Mit ihr konnte ich nichts anfangen, wir waren immerhin gut befreundet!

Ich hob meinen Kopf und sah, wie Claire herzhaft lachte und sich angeregt mit Jamie unterhielt, der sie scheinbar ins Herz geschlossen hatte. Mittlerweile hatte sie einen Pony und die langen, glatten Haare waren kürzer geschnitten worden. Ihre Haare bekamen einen Schnitt, der sie lebhafter aussehen ließ und die Sachen, die sie von Alessandro hatte, ließen sie verdammt heiß aussehen.

Während Claire die Haare geschnitten wurden und Jamie sich anschließend dem Schminken widmete, ihr sorgfältig alles erklärte, konnte ich meinen Blick nicht von ihr wenden. Etwas an ihr hatte sich verändert. In ihren Augen lag nicht mehr die Furcht und diese unendliche Trauer. Stattdessen war dort nun leben und Selbstbewusstsein, dass mich ein wenig verwirrte.

Und so saß ich da, hing meinen Gedanken nach und sah, wie die Raupe zu einem königlichen Schmetterling wurde.




Lachend stieg ich mit diesem vollkommenen neuen Mädchen die Treppen zu unserer Wohnung hoch. Immer wieder fragte sie mich, wie ich das alles bezahlen wollte, doch ich antwortete nicht und zuckte nur mit den Schultern, was sie in den Wahnsinn trieb.

„Was macht ihr denn hier?“, fragte ich verwirrt, als ich die mir bekannten Gesichter vor meiner Tür erblickte. Jack und Marc hatten sich vor meine Tür gesetzt und teilten sich eine Flasche Tequila. Scheinbar waren beide schon ziemlich gut gelaunt, doch noch nicht richtig betrunken.

„Auf dich warten und…“ Ich sah, wie Jacks Augen an mir vorbei glitten und an der Person hinter mir hängen blieben. Seine Augen weiteten sich einen Moment, ehe er die Schönheit mit seinen Augen abtastete.

„Wow“, entfuhr es den beiden Jungen fast gleichzeitig. Ich drehte mich um und sah, dass Claire errötete.

„Ich meine, wir wussten, dass du eine Schönheit bist, aber du siehst aus wie eine Göttin“, flüsterte Marc und erhob sich.

Genervt verdrehte ich die Augen. Ich konnte es nicht ab, dass meine beiden Freunde sie so anschmachteten. Irgendwie störte mich das ziemlich und ich verspürte den Wunsch Claire in den Arm zu nehmen um sie vor den Vollidioten der Welt zu beschützen.

„Danke“, sagte sie und lächelte die beiden Jungs selbstbewusst an.

„Ich geh jetzt erst noch ins Krankenhaus. Wir sehen uns später“, sagte sie zu mir und gab mir schnell einen Kuss auf die Wange.

„Danke noch mal.“

„Nichts zu danken. Hab ich gerne gemacht“, erwiderte ich und versuchte ein dämliches Grinsen zu unterdrücken. Dann stürmte sie die Treppen hinunter und ließ uns drei Typen verdattert zurück.

Einen langen Moment schwiegen wir und schauten aus dem gläsernen Treppenhaus der Göttin nach, die durch die Straßen lief.

„Verdammte Scheiße. Ich glaub ich hab einen Ständer“, entfuhr es Marc.

„Was für eine Granate“, fügte Jack hinzu und starrte immer noch Claire hinter her, die langsam in dem Gedränge der Menschen verschwunden war.

Ohne die dämlichen Kommentare der beiden betrunkenen Typen, die sich meine Freunde nannten zu kommentieren, schloss ich die Tür auf und betrat die Wohnung.

„Was hast du mit ihr gemacht?“, fragte Marc nun neugierig und schlenderte in das Wohnzimmer, während ich meine Jacke ablegte.

„Hab mit ihr Jamie und Alessandro besucht“, sagte ich kurz angebunden und gesellte mich zu den beiden Jungs.

„Kannst du dir das leisten?“

Ich blickte Jack mit einem leicht gequälten Gesichtsausdruck an. Er hatte den Punkt getroffen der nicht perfekt war in meinem Plan. Natürlich hatte ich mir das alleine nicht leisten können. Stumm schüttelte ich meinen Kopf und nahm die Tequila Flasche, die Marc mir hinhielt.

„Bei wem warst du schnorren?“, fragte Marc nun mit einem prüfenden Gesichtsausdruck.

„Grandma.“ Nuschelte ich und nahm einen tiefen Zug aus der Flasche um den Fragen und Gesichtsausdrücken nicht standhalten zu müssen.

„Wie bitte?!“

Jack holte tief Luft um einen seiner Vorträge zu halten, doch ich hob meine Hand, schluckte den Tequila, der herrlich in meinem Hals brannte und unterbrach ihn.

„Ja, ich weiß was jetzt von euch kommt. Und nein, ich habe keine Gehirnwäsche hinter mir. Ich hab das gemacht damit Claire eine Chance hat. Ihr habt doch gesehen, wie sie fertig gemacht wurde. Sie brauchte neues Selbstbewusstsein und das wollte ich ihr geben. Und lasst euch eins sagen, sie sieht verdammte heiß aus in Strapsen. Das ist Entschädigung genug für eine Abendessen mit meiner Oma.“

Ein verschmitzes Grinsen legte sich auf meine Lippen und ich nahm einen erneuten Zug aus der Flasche, denn in meinem Kopf tauchten wieder diese hammer heißen Bilder auf. Nicht dran denken, ermahnte ich mich selber und unterdrückte dieses Verlangen, dass sich schon bei den Gedanken zwischen meinen Beinen bemerkbar machte.

„Gehen wir noch eine Runde boxen?“, fragt Marc, obwohl er schon ziemlich angetrunken ist. Jack und ich schauen uns kurz an und nicken beide, doch so ganz höre ich den Gesprächen und den Fragen der Beiden nicht zu. In meinem Kopf war immer noch Claire.

Irgendwie brachte mich das Mädchen völlig aus dem Konzept. Und ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.


Claire


Vorsichtig strich ich über die faltige Hand meiner Großmutter, doch ich würde heute nicht weinen bei ihrem Anblick. Heute war ich wirklich stark.

„Hallo Oma“, flüstere ich und lasse meinen Blick über ihr immer noch zerschlagenes Gesicht gleiten. Es schmerzte meine geliebte Großmutter in diesem Zustand zu sehen, doch ich wusste, dass es bergauf geht und ich nicht alleine war. Adrian stand hinter mir.

„Du würdest mich nicht wieder erkennen“, sagte ich und schaue selbst einmal an mir herunter. Die teuren Designerklamotten sind wunderschön und ich bin immer noch am zweifeln, ob ich so was überhaupt verdient habe.

„Ich war bei so einem teuren Superfriseur und in einem Designerladen. Der Junge, Adrian, von dem ich dir schon öfters erzählt habe, hat alles bezahlt. Ich weiß zwar noch nicht wie, doch ich werde es noch raus finden. Du hättest einen Schock bekommen, wenn du die Preisschilder gesehen hättest“, lachte ich und starre auf das aufgequollene Gesicht meiner Großmutter.

Plötzlich verging mir mein Lachen und ich sah die grausame Realität vor meinen Augen. Sie hatte und würde es vielleicht nie sehen. Egal was ich ihr sagte, sie würde mir nicht antworten. Sie konnte es nicht. Und nur wegen einer Horde Durchgeknallter Jugendlicher.

Die Wut, die in meinem Magen aufstieg und meine Gedanken verseuchte, kam überraschend. Nie zuvor hatte ich so ein Bedürfnis verspürt, mich zu Rächen. Zur Rächen an den Menschen, die meiner Großmutter und mir soviel Schaden zugefügt hatten. Es war kein Unfall gewesen und ich wusste, dass es bald wieder Überfälle geben würde.

Ich ließ meinen Blick über die Geräte schweifen und schaute schließlich aus dem Fenster, aus dem ich den Himmel sehen konnte. Schwarze Gewitterwolken zogen sich über den Himmel zusammen und zerstörten die Sommerluft. Meine Hände krallten sich an dem Metallgitter des Krankenhaus Bettes fest und ich verdrängte das Gefühl der Rache nicht.

Ich ließ es geschehen. Ich ließ zu, dass es sich in meine Gedanken legte, denn ich hatte es lang genug verdrängt, doch nun konnte ich es nicht länger. Vielleicht lag es an Adrian, an der neuen Frisur, den Klamotten oder dem Wetter, doch ich wollte es den Idioten heimzahlen und mich nicht länger verstecken. Nicht länger zulassen, dass andere verletzt wurden. Ich wollte nicht länger verletzt werden.

Und so gab ich meiner Großmutter einen Kuss auf die Stirn, drückte ein letztes Mal ihre Hand und stürmte aus dem Krankenhaus. Die kleine, schüchterne Claire existierte nicht länger.

Kämpfer

Claire


Ich rannte durch die Stadt und es interessierte mich nicht, als es anfing zu regnen und meine teuren Klamotten durchnässte. In meinem Kopf war nur diese Sehnsucht nach Rache und Schutz. Wohin ich wollte war mir klar. Zuerst war ich unsicher gewesen, doch nun hatte ich ein festes Ziel.

Die Häuser und Menschen flogen an mir vorbei, während meine Lunge anfing zu brennen, doch ich erblickte schon die große Halle, in der ich das vorfinden würde, dass ich unbewusst gesucht hatte. Denn ich hatte mir seit Wochen den Kopf darüber zerbrochen, wie ich mich rächen konnte. Natürlich hatte ich diese Gedankengänge beiseite geschoben und mir eingeredet, dass ich es sowieso nicht könnte. Nun hatte der Anblick meiner Großmutter, die vielen Komplimente von Adrian, Jamie, Alessandro, Jack und Marc, meine Meinung verändert. Vielleicht war ich doch nicht, dass schwache, kleine Mädchen. Vielleicht war ich in der Lage mich zu wehren.

Ich öffnete die schwere Tür und trat in die große Halle, in der Sandsäcke, sowie zig andere Geräte standen, die zum Boxen benötigt wurden. Zielstrebig stürmte ich auf einen Sandsack zu und band mir meine Haare mit einem Zopfgummi zusammen. In einer Ecke sah ich Boxschuhe liegen. Ausdruckslos nahm ich ein Paar in meiner Größe und entledigte mich meiner teuren Ballerinas. Ich schnürte die Schuhe so fest zu, dass es fast wehtat und stellte mich vor den schweren Sandsack. Noch nie zuvor hatte ich mich mit jemandem geprügelt, geschweige denn einen Boxkampf gesehen. Meine Oma war ein großer Fan vom Boxen, doch ich hatte mich nie dafür begeistern können.

Ich hatte also keine Ahnung von der Technik, doch ich hatte diese Emotionen, die raus mussten. Also holte ich aus und schlug mit meiner Faust mit voller Wucht gegen den harten Sandsack. Den Schmerz der sich in meinen Fingern ausbreitete, ignorierte ich. Es tat verdammt gut, alles raus zu lassen.

Also schlug ich immer fester zu und ließ meiner Wut freien lauf. Dass ich schrie, bemerkte ich gar nicht.


Adrian


Marc donnerte die leere Tequila Flasche in einen Mülleimer und blickte in den Himmel. Erneut zogen sich schwarze Wolken zusammen. Den ersten großen Regenschauer hatten wir unter einem Vordach verbracht. Die schwüle Luft trieb mir Schweiß auf die Stirn und ich wusste, dass es den anderen Beiden nicht besser ging, denn sie stöhnte dauernd und beschwerten sich während wir auf dem Weg zur Halle waren.

„Wer ist denn noch da?“, hörte ich Marc fragen und folgte seinem Blick zur Halle, in der scheinbar Licht brannte. Jack zuckte mit den Schultern und wir bewegten uns Richtung Halle. Ich drückte die schwere Tür auf und hörte eine Person schreien, die auf einen Sandsack einschlug.

Gerade als ich die Person fragen wollte, was sie hier machte, hörte ich diese vertraute Stimme. Doch sie klang nicht so sanft und verletzlich, wie ich sie sonst kannte. Wütende Schreie entfuhren der zierlichen Person und umso näher ich kam umso mehr fielen mir ihre bloßen Hände auf. Diese waren bereits rot und ich hatte Angst, dass sie sich schwer verletzt hatte. Sie musste starke Schmerzen haben, doch ich sah keine Träne. Nur Wut stand in ihrem Gesicht.

„Claire“, flüsterte ich und bemerkte, dass Marc und Jack genauso verdattert dreinblickten wie ich.

„Claire!“, sagte ich nach einem kurzen Moment, in dem ich die Situation erfasst und verarbeitet hatte und stürmte auf sie zu. Doch sie reagierte nicht und wollte erneut zu schlagen, als ich nach ihrem Handgelenk griff.

Sie drehte sich um und traf mit ihrer flachen Hand auf meine Wange. Ein brennender Schmerz breitete sich dort aus, wo sie mir eine Ohrfeige verpasst hatte.

„Aua“, sagte ich und schaute sie irritiert an. Ihr Gesichtsausdruck wechselte schlagartig und anstelle der Wut trat eine überraschte Miene.

„Oh mein Gott Adrian. Es-Es tut mir Leid!“

Geschockt hielt sie ihre Hand vor ihren Mund und sah, wie ich mir an die Wange fasste, die nun rot glühte.

„Holla die Waldfee. Hast du einen Schlag drauf“, hörte ich Marc sagen, woraufhin die beiden anfingen zu lachen.

„Der ist echt Hammer hart“, fügte ich grinsend hinzu um die Spannung zu nehmen, doch sie blickte mich immer noch geschockt und peinlich berührt an.

„Adrian ich…“

Bevor sie weiter reden konnte, legte ich ihr einen Finger auf die Lippen und bedeute ihr so zu schweigen.

„Es ist alles gut. Erklär mir lieber wo du den Schlag her hast.“

Zuerst schien sie unschlüssig über meine Reaktion, doch dann breitete sich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen aus, was mich verzauberte. Ihre zarten Lippen krümmten sich und ihre weiche Haut weckt bei mir das Verlangen sie zu streicheln. Die blauen Augen zehrten mich fort, weg von dem hier und jetzt in eine andere Welt.

Die neue Frisur stand ihr ausgezeichnet und ich betrachtete ihr blondes, hübsches Haar, dass sie zu einem Zopf gebunden hatte. Die Schüchternheit schien gewichen zu sein, denn ein Lächeln, dass Selbstbewusstsein ausstrahlte zeigte sich auf ihren Lippen. Ich war völlig überrumpelt von diesem Aussehen und Auftreten. Von dieser Veränderung.


Claire


Unsicher blickte ich in diese grau-blauen Augen, die mich erwartungsvoll anblickten. Seine Lippen waren zu einem sanften Lächeln verzogen und ich musste mir auf meine Lippe beißen um ihm nicht zu sagen, wie gut er aussah.

„Sag schon Claire. Woher hast du diesen Schlag!“, mischte sich Marc ein und riss mich aus meinen Gedanken.

„Ich…also…“, fing ich an zu stottern, ermahnte mich jedoch selbst. Ich war nicht mehr die kleine, hilflose Claire die ihre Eltern verloren hatte und deren Großmutter im Koma lag. Nein, diese Claire war Geschichte. Ich war die selbstbewusste, neue Claire, die ich nicht unterkriegen ließ. Für meine Großmutter und meine Eltern. Also unterdrückte ich den Schmerz, der in mir aufstieg, als die Erinnerungen hoch kamen.

„Mein Dad hat mir als ich Zehn war Selbstverteidigung beigebracht“, sagte ich mit Stolz und stellte mich gerade hin. Genau das war es was ich sein sollte. Stolz auf das was meine Eltern aus mir gemacht haben. Stolz auf das Vertrauen meiner Oma. Und Adrian sollte ich unendlich dankbar sein.

Mein Blick huschte zu dem wundervollen Jungen, der mir einen neuen Anfang ermöglichte und ich erkannte einen kurzen Moment Überraschung in seinen Augen, ehe seine Lippen sich erneut zu einem schiefen Grinsen verzogen.

„Und darf ich erfahren wieso du hier bist und auf einen Sandsack einprügelst?“, hakte er nach und zog eine Augenbraue hoch.

„Ich will diese Typen kriegen Adrian. Sie werden weiter machen. Noch mehr Leute verprügeln und die werden am Ende in Krankenhaus liegen. Du musst mir beibringen, wie man Leute einschüchtert und sich wehrt. Ich werde diesen Idioten bereuen lassen, dass sie diese Dinge getan haben“, sagte ich und spürte, dass in meiner Stimme immer mehr Wut mitschwang.

„Rache ist nie eine gute Grundlage“, ertönte es von Marc nach einem Moment des Schweigens, in dem ich kritisch gemustert wurde.

Ich kniff meine Augen zusammen und blickte den Jungen mit den roten Haaren wütend an.

„Ich will aber Rache“, zischte ich.

„Claire du kannst nicht…“, setzte Jack an und versuchte mich zu beruhigen, doch ich wollte mich nicht beruhigen. Mich nicht schon wieder vor den Emotionen verschließen.

„Und ob ich kann!“, schrie ich die Jungs an, die mich nun verdattert anstarrten.

„Keiner von euch hat eine Ahnung wie es ist, wenn die Eltern plötzlich weg sind. Wie beschissen es sich anfühlt, wenn der Ex-Freund einen mobbt und wie schrecklich es ist, den einzig beständigen und lebenden Angehörigen im Krankenhaus besuchen zu müssen. Niemanden zum reden zu haben. Und ich habe keine Lust mehr auf diese kleine Claire, die sich nichts traut! Die sich einschüchtern lässt! MIR REICHT’S!“ Mit aller Kraft versetzte ich dem Sandsack einen Schlag, sodass dieser zur Seite schwang und Adrian ihn mit der Hand abfangen musste.

Ich war wütend. Meine Gedanken verseucht von dem Gedanken der Rache. Und nun standen diese drei Boxer vor mir und warfen sich unsichere Blicke zu. Nur Adrian ließ seine Augen auf mir ruhen. Durchbohrte mich mit seinem Blick und versuchte mich zu verstehen. Er kannte mich besser als die anderen Beiden und ich war mir sicher, dass er mich verstand.

Angespannt stand ich ihm gegenüber und erwiderte den Blick, legte Hoffnung und Vertrauen in meine Augen und versuchte ihm deutlich zu machen, dass ich ihn brauchte. Seine Ratschläge und seine Unterstützung.

Ein lauter Donner von draußen durchbrach die Stille, die zwischen uns allen herrschte. Regen prasselte gegen die großen Fenster der Halle und das grelle Licht der Blitze erhellte Adrians Gesicht, auf das ich mich vollkommen fixierte.

„Du machst die Scheiße nicht alleine“, tönte seine warme Stimme und ließ mich vor Verwunderung blinzeln. Natürlich hatte ich gehofft, dass er mir zustimmte, mir half, doch dass er sich dazu überreden ließ, überraschte mich.

Er fuhr sich mit einer Hand durch sein schwarzes Haar und starrte mich weiterhin an.

„Marc, Jack. Seit ihr dabei?“, fragte er die beiden ohne sie anzuschauen.

„Oh Man. Ich sollte mir dringend andere Freunde suchen. Scheiße ja. Wir sind dabei!“, kam es von Marc in dessen Stimm ein Hauch von Belustigung mitschwang.

„Und wehe du hörst nicht auf uns!“, warf Jack ein, der nur ungläubig den Kopf schüttelte und mir so ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Ich biss mir auf meine Lippen und schaute scheu zu Adrian, der mich immer noch anstarrte.

„Wehe, du machst eine Dummheit über die ich nicht informiert bin und der ich nicht zugestimmt habe“, mahnte er mich mit erhobenem Zeigefinger, konnte ein Grinsen aber nicht verstecken.

„Tausend Dank!“, rief ich und warf mich Adrian in die Arme, der meine stürmische Umarmung herzlich erwiderte. Ich hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, wurde darauf hin leicht rot und verdeckte mein Gesicht. Nun hatte ich ihn tatsächlich schon wieder geküsst! Ich musste mich dringend daran erinnern ihm ständig so meine Dankbarkeit zu zeigen. Am Ende würde er noch denken, dass ich in ihn verliebt wäre!

„Jetzt zeig uns noch mal deinen Schlag“, forderte mich die sanfte Stimme neben meinem Ohr auf und die starken Arme lösten sich sanft von mir, doch ich wollte nicht, dass diese Arme sich von mir lösten. Sie bedeuteten für mich Sicherheit, Vertrauen, Zuneigung und…

Ich blinzelte verwirrt. Was zum Teufel passierte mit mir?!

Kurz huschten meine Augen zu Adrian, dessen Augen weiterhin auf mir ruhten. Ich spürte, wie sich meine Körpertemperatur erhöhte, schob es jedoch darauf, dass ich mich erkältet hatte, als ich durch den Regen gerannt war. Ein weiteres Mal huschte mein Blick zu Adrian und ich versuchte das Glücksgefühl, dass mich bei seinem Anblick durchströmte zu verdrängen.

So schlecht sieht er gar nicht aus, schoss es mir durch den Kopf, woraufhin sich geschockt meine Augen weiteten. Was zur Hölle ging in meinem Kopf vor?!

Dusche

Claire


„Los aufstehen Schlafmütze!“, hörte ich Adrian rufen während er mir die Bettdecke wegzog.

„Noch fünf Minuten. Bitte!“, flehte ich und vergrub meinen Kopf unter dem flauschigen Kopfkissen.

„Das hast du mir vor fünf Minuten schon mal gesagt!“, lachte er und ich spürte, wie er an meinem Kopfkissen zerrte, dass ich mit aller Kraft festhielt. Doch ich hatte keine Chance. Hatte ich je eine gehabt?

Grummelnd drehte ich mich auf den Rücken und setzte mich auf, aber ich musste schützend eine Hand vor meine Augen halten, damit diese nicht verbrannten.

„Mach die Jalousien wieder runter!“ ermahnte ich ihn und vergrub meine Augen in meinen Händen. Es war viel zu früh zum aufstehen und auch viel zu hell!

„Das musst du schon selber machen“, erwiderte er, verließ jedoch noch nicht das Zimmer.

„Idiot“, murmelte ich.

„Das habe ich gehört!“

Ich warf ihm einen kurzen, bösen Blick zu und fluchte vor mich hin, dass es so hell war. Mit schweren Gliedern erhob ich mich, versuchte nicht über die noch nicht geöffneten Kartons zu steigen und das Fenster zu erreichen, doch jemand stellte sich vor mich, versperrte mir den Weg.

„Weg da Adrian“, zischte ich und suchte nach einer Möglichkeit um ihn herum zu gelangen.

„Du hast mich Idiot genannt und ich werde dich nicht wieder ins Bett lassen.“ Erwiderte er streng, doch ich bemerkte eine Spur von Belustigung in seiner samtweichen Stimme, die mich völlig aus dem Konzept brachte.

„Lass mich vorbei. Oder muss ich ungemütlich werden?!“, fragte ich ihn gespielt wütend und machte einen Schritt auf ihn zu.

„Ich lass es rauf ankommen“, flüsterte er und ich erkannte seine Herausforderung.

Da meine Augen sich schon einigermaßen ans Licht gewöhnt hatten, blickte ich ihn an und sah sein überlegenes Grinsen.

„Aber heul nicht, wenn du verlierst!“, warnte ich ihn und stürzte mich auf ihn. Er machte eine elegante Bewegung, die mich an einen Leoparden erinnerte und schmiss mich mit Leichtigkeit über seine Schulter.

„Adrian Hutton! Lass. Mich. Sofort. Runter!“, rief ich und hämmerte auf seinen stahlharten Rücken ein. Natürlich machte einem so durchtrainierten Boxer, wie ihm das nichts aus.

„Wenn du jemanden herausforderst, musst du mit dem Echo leben können“, belehrte er mich und ich hörte, wie er eine Tür aufstieß.

Mit mir als Handgepäck verließ er mein Zimmer und durchquerte den Flur, dessen Holzdielen unter unserem Gewicht knarrten, mit schnellen Schritten und ging Richtung Badezimmer.

Ich warf einen Blick über meine Schulter und sah, wie er die Dusche anfixierte.

Das würde er nicht wagen!

Oder doch?

Bevor ich richtig nachdenken konnte, krallte ich mich an dem Türrahmen fest und bemerkte, wie Adrian leicht das Gleichgewicht verlor. Er war überrascht, das wusste ich.

„Lass los Claire“, mahnte er, doch ich verstärkte meinen Griff und hoffte, dass das Holz heile blieb, wenn hier gleich ein Kampf ausbrach.

„Nein.“

„Dann eben mit Gewalt“, seufzte er und ich spürte, wie meine Füße den Boden berührten, als er mich runter ließ. Doch er hielt mich noch an der Taille fest, sodass ich nicht weglaufen konnte.

Ich hatte mir eindeutig den falschen Mitbewohner ausgesucht!

Er schlang einen Arm um meinen Bauch und presste mich enger an sich um meine Beweglichkeit einzuschränken. Im selben Moment wurde mein Griff schwache, denn ich konnte mich nur noch auf ihn konzentrieren. Wie er mich hielt und neben meinem Ohr atmete. Das ganze verwirrte mich. Er beugte sich nach vorne, sodass seine harten Bauchmuskeln über meinen Rücken streiften, der nur durch ein dünnes Top bedeckt wurde und griff nach einer meiner Hände, die sich immer noch an dem Türrahmen krallten.

Ich spürte seine Körperwärme und seine rauen Hände umfassten meine. Es kostete mich enorm viel Kraft meine Gedanken auf den Kampf zu lenken, anstatt auf den Jungen, der mich langsam aber sicher um den Verstand brachte.

„Lass los Dupont“, flüsterte in mein Ohr und ich war mir sicher, dass er wusste, was er für eine Wirkung auf Mädchen hatte. Aber ich war nicht ei einfaches Mädchen. So leicht würde ich nicht aufgeben.

„Vergiss es Hutton!“ sagte ich durch zusammengebissene Zähnen.

„Du lässt mir keine Wahl“, sagte er monoton und bevor ich realisiert hatte, was er vorhatte, waren meine Hände nicht länger an dem Türrahmen und ich stand in der Dusche.

Seine Hand schnellte zu dem Wasserhahn und er drehte ihn auf, worauf mir ein kleiner Schrei entfuhr.

„Adrian!“, rief ich aufgebracht und merkte, dass meine Sachen sich mit Wasser voll sogen.

Doch er stand vor der Dusche und lachte vor sich hin. Meine Augen verengten sich zu schlitzen, ich griff nach ihm und zog ihn in die Dusche. Das alles ging so schnell, dass er nicht in der Lage war sich zu wehren.

„Verdammt Claire“, meckerte er und ich sah, wie seine Frisur durch das Wasser ruiniert wurde. Nun war ich diejenige die am lachen war.

„Selbst Schuld!“, prustete ich und wuschelte ihm durch das nasse Haar. Er griff nach meinen Händen und zog sie runter, sodass ich einen Schritt nach vorne machte um nicht zu fallen.

Dann stand er mir plötzlich ganz nah gegenüber. Das Wasser prasselte auf seinen Rücken und einzelne Tropfen flossen über sein Gesicht, sodass seine markanten Wangenknochen noch deutlicher hervortraten. Seine grau-blauen Augen blickten mich leicht verwundert an und erforschten mein Gesicht.

In meiner Magengegend war der Teufel los und meine Knie wurden urplötzlich weich. Ich hatte das Gefühl, dass sie jeden Moment zusammenbrechen würden, doch ich stand weiterhin.

Ihm direkt gegenüber.

Ich spürte seinen Herzschlag und trotz des Wassers vernahm ich diesen leichten Geruch nach Orange und Rauch, der immer von ihm ausging und mich verwirrte. Doch jetzt war er mir plötzlich näher, als je zuvor. Unsere Lippen waren nur Zentimeter voneinander entfernt und ich sah, wie seine Augen für einen Moment hinunter huschten und meine Lippen betrachteten.

Wollte er mich küssen?

War ich für ihn vielleicht mehr als eine Freundin?

Was ging in seinem Kopf vor?

„Du solltest dich jetzt fertig machen“, sagte er und seine Stimme klang nicht so fest, wie sonst. Er machte einen Schritt zurück. Seine Augen wanderten zu seinen Händen und blieben dort für einen Moment hängen, ehe er mich los ließ.

Er räusperte sich, stieg aus der Dusche und griff nach einem weißen Handtuch, dass an einem Hacken hing. Ich blieb regungslos stehen und beobachtete, wie er sein nasses T-Shirt auszog. Rasch drehte ich ihm den Rücken zu.

„Warn mich doch vor, dass du dich ausziehst!“, sagte ich lachend und unterdrückte die Unsicherheit, sowie den Drang ihn dabei zuzusehen.

Was war bloß los mit mir?!

„Wieso? Damit du mir helfen kannst?“

Ich bemerkte an seiner Stimme, dass er am Grinsen war und das Bild, das er darbot musste göttlich aussehen.

„Nein, damit ich anfangen kann zu kotzen“, sagte ich ironisch und drehte mich um. Was ein fataler Fehler war, denn sein Anblick riss mich vom Hocker. Er hätte ein Model sein können, so wie er dort mit enger Jeans stand, die nass war und seinen feuchten Haare, die verwuschelt waren, vom abtrocknen mit dem Handtuch.

„So schlimm sehe ich doch gar nicht aus!“, protestierte er und sah mich leicht verletzt an.

„Doch nicht deswegen“, sagte ich und verdrehte meine Augen.

„Sondern?“, fragte er neugierig nach.

„Weil du zu perfekt aussiehst!“, fluchte ich.

Ein verwirrtes Lächeln umspielte seine Lippen während seine Augen mich schelmisch anfunkelten.

„Hast du mir gerade gesagt, dass du mich sexy findest?“, fragte er vorsichtig und legte seinen Kopf schief, was ihn noch umwerfender aussehen ließ.

Sofort schoss eine Hitze in mein Gesicht und ich wusste, dass ich jeden Moment knallrot werden würde.

„Raus!“, sagte ich stattdessen und stieg aus der Dusche, die immer noch lief, um ihn aus dem Bad zu dirigieren.

„Warte…“, setzte er an, doch ich hatte ihn schon aus dem Bad geschoben und die Tür hinter ihm geschlossen. Ich atmete tief durch und schleppte mich zum Spiegel um zu sehen, wie rot ich geworden war.

Meine blonden, langen Haare klebten an meinem Hals und sahen so aus, als würde ich sie nie wieder kämmen können. Die dunkel-blauen Augen huschten über mein Spiegelbild und betrachteten es kritisch. Gerade als ich gedacht hatte, dass alles in Ordnung war, bemerkte ich, dass mein Ausschnitt verrutscht war und ich jedem so einen Blick auf meinen BH ermöglichte.

Deswegen hatte Adrian so gegrinst!

Ich schlug meine Hand vor meine Augen und beschimpfte mich innerlich für meine eigene Dummheit.

Adrian.

Erneut spürte ich, wie meine Knie bei diesem Namen und diesen Gedanken an ihn weich wurden und mein Magen anfing zu Kribbeln. Wieso hatte ich einen Moment lang gedacht er würde mich küssen wollen? Und wieso fand ich diesen Gedanken nicht schlimm? Ganz im Gegenteil. Was war bloß los mit mir?!


Adrian


Ich ließ mich auf den hintersten Platz des Busses neben Claire nieder, die in Gedanken versunken war. Seit heute morgen. Nach der Aktion im Badezimmer. Dem kleinen Moment in dem ich den Drang verspürt hatte sie zu küssen.

„Alles okay?“, fragt ich vorsichtig.

Zu meiner Überraschung wendete sie ihren Blick von den Häusern an denen wir vorbei fuhren und blickte mich an. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, doch ich bemerkte, dass sie mit den Gedanken woanders war.

Einen kurzen Moment haftete mein Blick auf ihren sanft geschwungenen Lippen, die ich fast geküsst hätte.

„Was sollte los sein?“, stellte sie die Gegenfrage und brachte mich so zum Lächeln.

„Naja, vielleicht denkst du über deine Großmutter nach, deine Eltern, die Schule, Thomas, Jennifer?“, fragte ich vorsichtig, doch zu meinem verwundern veränderte sich ihr Gesichtsausdruck nicht.

„Ich überleg mir gerade, wie ich mich an meinem Mitbewohner Rächen kann“, sagte sie zuckersüß und lächelte mich dabei diabolisch an.

Automatisch zog ich meine Augenbrauen hoch und musterte sie kritisch.

„Was planst du?“

„Wenn ich es dir sagen würde, wäre es keine Überraschung mehr“, erwiderte sie mit einem Zwinkern.

„Mach keine Dummheiten Claire.“

„Oh, das mache ich nicht Adrian. Ich mache nur Dummheiten, deren Echo ich vertragen kann.“

Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr und in meinem Magen fing bei diesem Anblick irgendetwas an zu kribbeln. Mit einem gemeinen Grinsen wendete sie sich ab und schaute wieder au dem Fenster. Doch ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden. Sie zog mich an, wie ein Magnet und nun konnte ich meinen Blick nicht von ihr lassen. Heute Morgen hätte ich sie fast geküsst und das hätte alles verändert. Ich durfte nichts für sie empfinden. Sie war meine Mitbewohnerin, eine Freundin, so was wie meine Schwester.

Der Gedanke ohne sie in der Wohnung zu leben, schmerzte aus unerfindlichen Gründen und so unterdrückte ich dieses neue Gefühl, das ich nicht richtig deuten konnte. Jedoch wusste ich, dass es nicht hilfreich war.

Ich musste es einfach verdrängen, genauso wie den Wunsch sie zu küssen, der mich langsam aber sicher in den Wahnsinn trieb.

Denn umso näher ich ihr kam, umso unerreichbarer erschien sie mir. Und sie zu verlieren, wäre das Schlimmste, was mir m Moment passieren könnte.

Kalter Kakao

Claire


Ein Läuten ertönte und ich nahm rasch meine Bücher. Wortlos stopfte ich sie in meine Schultasche und ignorierte die neugierigen Blicke und das Getuschel meiner Mitschüler. Erhobenen Hauptes verließ ich den Klassenraum. Schon den ganzen Tag wurde ich von Blicken verfolgt und ich hatte das Gefühl, dass die gesamte Schule über mich redete.

Die kleine Unbekannte Claire Dupont war plötzlich nicht mehr unsichtbar.

Ich versuchte möglichst elegant über den Schulflur zu gleiten und hielt Ausschau nach Adrian, den ich seit der heute Morgen nicht mehr gesehen hatte. Es war große Pause und ich hatte mein Essen und Trinken bereits verspeist, sodass ich beschloss in die Cafeteria zu gehen und mir etwas für die letzten Stunden holen wollte.

So schlenderte ich also zu der überfüllten Cafeteria in der sich sowohl Unterstufen-, als auch Oberstufenschüler befanden.

Wie immer herrschte ein großes Gedränge durch das ich mich normalerweise regelrecht durchboxen musste. Doch heute war alles anders.

Meine Mitschüler zerrissen sich nicht nur das Maul über mich, sie sahen mich auch, sodass ich nur höflich Lächeln musste und die Leute machten mir Platz. Ich wusste nicht, ob das an meinem Aussehen, den teuren Klamotten oder meinem neuen Selbstbewusstsein lag. Meiner Meinung nach machte die Mischung es allerdings aus.

„Einen Kakao und eine Brezel“, sagte ich der gestresst aussehenden Verkäuferin, die rasch die Sachen zusammensuchte und mir auf den Tresen legte. Ich gab ihr das passende Geld und versuchte der Menge, die sich um den Tresen scharrte zu entkommen.

Ich wich den Ellenbogen und Füßen so gut es ging aus und stieß erleichtert Luft aus, als ich mich von der Masse etwas entfernt hatte.

„Hey Claire. Was hast du da denn leckeres?“, hörte ich eine vertraute, schleimige Stimme, die mir einen Schauer über den Rücken jagte.

Langsam hob ich meinen Kopf und erblickte Thomas, der sich mit einer Hand durch sein fettiges Haar fuhr, dass nur so fettig aussah, weil er zuviel Gel reinschmierte. Neben ihm stand die Bohnenstange Jennifer, die mich kritisch von oben bis oben musterte. Das Gefolge der beiden, stand dicht hinter ihnen.

„Wie ich sehe hast du ein Umstyling hinter dir. Das gefällt mir“, sagte er langsam und machte einen Schritt auf mich zu. Ich wich jedoch nicht zurück, sondern schaute ihn unsicher an. In seinen Augen schien für einen kurzen Moment pure Begierde aufzublitzen.

„Und da du auf mich stehst, hast du bestimmt kein Problem mir etwas von deinem Essen abzugeben“, flüsterte er und griff sogleich nach meiner Brezel. Er zwinkerte mir einmal kokett zu und drehte sich zum gehen um. Und da geschah es.

In mir explodierte etwas. Die Wut und Demütigung, die sich seit Jahren angestaut hatten drängten sich an die Oberfläche. Erinnerungen schossen in meinen Kopf. Ich sah, wie er mich wegen Jennifer abservierte. Mich anfasste und ich mich nicht wehren konnte. Mir niemand half. Ich ihm schutzlos ausgeliefert war. Ich erinnerte mich an die Gasse und wie Adrian mir zu Hilfe kam. Ich war nicht länger hilflos und schon gar nicht mehr schüchtern.

Er hatte meinen Wandel nicht bemerkt. Er wusste nicht, dass die kleine schüchterne Claire abgeschrieben war und ich mein Leben selbst in die Hand nahm. Die Phase des Selbstmitleids war vorbei und das würde ich ihm nun deutlich machen.

„Hey Thomas!“, rief ich. Überrascht hielt er innen, denn ich nannte ihn nur sehr selten bei Namen, da er mir immer Angst einjagte. Langsam drehte er sich um und schaute mich fragend an. Selbstbewusst machte ich ein paar Schritte auf ihn zu und schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

„Erstens: Du fasst mich nicht mehr an. Zweitens: Du lässt mich in Ruhe. Drittens: Ich habe es satt das kleine dumme Mädchen zu spielen. Viertens: Du bist ein widerliches Arschloch und ich wünsche dir alles Schlechte auf der Welt“, rasselte ich das herunter, was mich an ihm störte und ich hätte Stunden so weiter machen können, doch ich beließ es bei den wenigen Sachen.

„Wie bitte?“, fragte er verwirrt nach.

„Stimmt“, setzte ich nachdenklich an und tat so als würde ich nachdenken während ich meinen Kakao öffnete.

„Du brauchst dringend eine Reinigung, denn du stinkst nach Dummheit und billigem Aftershave“, fuhr ich zuckersüß fort und hielt ihm den Kakao über den Kopf. Lächelnd beobachtete ich, wie der Kakao über seine gegellten Haare floss, sich über seine Wangen schlängelte und sich in seine Designerklamotten sog.

„Das war nur gegen die Dummheit. Hier hast du was für’s Aftershave“, mischte sich jemand von der Seite ein. Leicht verwundert blickte ich zur Seite und erkannte Adrian, der mich angrinste.

„Danke“, sagte ich höflich, nahm den Kakao und ergoss ihn erneut über Thomas, der wie angewurzelt stehen blieb und sich nicht regte.

„Spinnst du?“, schrie er und schaute an sich herunter, ehe er mich mit funkelnden Augen anschaute. Doch ich stand nur da und betrachtete mein Werk und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Theatralisch beugte Adrian sich nach vorne und schnupperte an Thomas, der ihn ebenfalls wütend anstarrte.

„Jetzt stinkst du nur noch nach Arschloch“, sagte er zu Thomas, der die Zähne aufeinander biss und tief Luft holte.

„Was geht hier vor sich?“, ertönte eine strenge Stimme hinter mir. Mit einem breiten Lächeln drehte ich mich um und blickte in die strenge Miene von Frau Kraft.

„Ich habe Thomas nur von seinem Aftershave Geruch befreit“, erklärte ich sachlich.

Einen kurzen Moment sah ich, wie sich ihre Lippen, die zu einem schmalen Strich verzogen waren nach oben bogen und ein kleines Lächeln erzeugten. Doch es war nur ein kurzer Moment und schon war dort wieder die böse Lehrerin.

„Ab zum Direktor! Alle drei!“, zischte sie und es machte mir absolut nichts aus. Im Gegenteil ich bekam zum ersten Mal ärger und irgendwie fand ich das ziemlich aufregend.

„Müller hören sie auf zu diskutieren. Sie gehen auch! Aber ziehen sie sich vorher etwas anderes an“, hörte ich Frau Kraft sagen, als ich mich mit Adrian entfernte und fröhlich zum Büro des Direktors lief.

„Das war eine hammer geile Aktion“, flüsterte Adrian und ich blickte ihn verdutzt an.

„Danke“, sagte ich und wurde ein wenig rot, weil so etwas wie Stolz aus seinen Augen strahlte.

„Das hätte ich schon viel früher machen müssen“, fügte ich hinzu.

„Hättest du“, stimmte er mir zu.

„Aber besser spät, als nie“, warf er mit einem Zwinkern ein und ich wusste, dass es ihm nichts ausmachte ärger zu bekommen. Er machte das für mich, was mir ziemlich schmeichelte. Ich muss mich wirklich bei ihm bedanken, wenn wir das hinter uns hatten!

Doch meine Gedanken flogen von den verschiedenen Möglichkeiten des Dankbarseins zu Thomas, dem ich gesagt hatte, dass ich ihn für einen Idiot hielt und er mich in Ruhe lassen sollte. Er würde nicht weiter machen, da war ich mir sicher, denn ich hatte ihm zuviel Angst eingejagt. Und das Gefühl der Sicherheit fühlte sich unglaublich gut an! Vor allem das Wissen, dass ich dieses Gefühl selbst erreicht hatte, weil ich mich beschwert hatte, beflügelte mich, sodass mir die bevorstehenden Tadel des Direktors - umgangssprachlich Ausgedrückt - am Arsch vorbei gingen.


Adrian


„Das war absolut unakzeptabel Frau Dupont! Wie kommen Sie auf die Idee einfach einen ihrer Mitschüler Kakao über den Kopf zu kippen?! Ich habe Sie immer für eine erwachsene Frau gehalten, doch heute haben Sie mich bitter enttäuscht! Und auch Sie Herr Hutton. Sie sind neu und schon habe ich Ärger mit ihnen! Denken Sie, dass das ein gutes Licht auf ihre weitere Zukunft an dieser Schule wirft?!“

Wütend fuchtelte Herr Müller mit den Fingern vor meiner Nase herum und blickte mich strafend an.

„Ehrlich gesagt nein, wenn sie schon fragen. Und was Claire andenkt, denke ich sollten sie nicht so streng sein. Es ist ihr erstes Vergehen und ich finde man sollte niemanden bestrafen, weil er sich gewehrt hat“, erwiderte ich monoton und beobachtete, wie das Gesicht von dem Direktor noch röter wurde.

„Es ist mir egal, ob sie sich geweht hat oder nicht! So etwas macht man in ihrem Alter nicht mehr! Haben wir uns verstanden?!“, zischte er und stemmte sich mit seinen Händen auf dem Schreibtisch ab. Sein Blick wanderte zu mir und schließlich zu Claire, die immer noch vor sich hinlächelte und mich somit automatisch damit ansteckte.

„Und hören Sie endlich auf so zu Grinsen Frau Dupont!“, meckerte er, jedoch bemerkte ich ein kleines Lächeln, das über seine Lippen huschte.

„Sie können gehen Claire. Ich würde allerdings noch ein paar Worte mit Adrian wechseln.“

Er bedeutete Claire, das Zimmer zu verlassen, doch sie öffnete protestierend ihren Mund und zum ersten Mal, seit sie Thomas mit kaltem Kakao übergossen hatte, verschwand ihr Lächeln.

„Ich werde Adrian für nichts verantwortlich machen. Und nun gehen Sie“, sagte er, ehe sie anfangen konnte zu reden.

Ich warf ihr einen beruhigenden Blick zu, den sie mit einem Lächeln erwiderte.

„Ich warte draußen“, flüsterte sie, was ich mit einem stillen Nicken beantwortete.

Ich sah ihr nach, wie sie das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss. Dann wandte ich mich wieder an den Direktor, der tief durchatmete und anfing zu Lächeln, was mich völlig aus dem Konzept brachte.

„Wie kann ich ihnen je danken Adrian?“, fragte er und strahlte mich an.

„Wie bitte?“, fragte ich nach, denn ich war mir sicher mich verhört zu haben. Ich hätte erwartet, dass er mir sagte, ich hätte mich nicht einmischen sollen oder mich verwarnte. Stattdessen stand er freudestrahlend vor mir und ließ sich entspannt auf seinen Stuhl sinken.

„Claire bereitet mir seit zwei Jahren Sorgen und kein Psychologe und selbst ihre Großmutter konnte ihr nicht helfen. Nie hat sie den Tod ihrer Eltern verarbeitet und sich isoliert. Thomas Müller hat sie schikaniert, das wusste das gesamte Kollegium, doch sie hat alles abgestritten und auch sonst hat ihr niemand geholfen. Sie hatte keine Freunde. Als der Unfall mit ihrer Großmutter passierte, dachte ich, dass sie nun in einem Loch versinkt und dann, dann tauschen sie auf und sie fängt an sich zu wehren! Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mich das erfreut!“, erklärte er und lehnte sich erleichtert in seinem Ledersessel zurück.

Ich brachte kein Wort hervor, denn ich konnte den Direktor nur verwundert anstarren, der mich Stolz anblickte und mir so ein wenig Angst einjagte.

„Tun Sie mir nur einen Gefallen und kümmern Sie sich weiter so gut um Claire. Sie braucht das im Moment. Besser gesagt jemanden. Und ich glaube Sie sind im Moment ihr einziger Halt“, fügte er sanft hinzu und blickte mich durch seine Brille hindurch an.

„Ich würde sie nicht fallen lassen“, brachte ich hervor, was dem Direktor als Antwort zu genügen schien, denn er nickte und atmete tief durch.

„Sie können jetzt gehen Adrian. Ich wollte nur, dass sie wissen, wie erleichtert ich bin.“

Ich nickte kurz, erhob mich und schritt zur Tür.

„Ach und Adrian?“ Ich hielt inne und blickte Herrn Müller fragend an.

„Was in diesem Raum erzählt wird, bleibt in diesem Raum, ok?“, fragte er mit einem Zwinkern und ich merkte, wie sich ein Lächeln auf meine Lippen stahl.

„Natürlich“, sagte ich und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, stürmte Claire auf mich zu und blickte mich mit großen Augen an.

„Was hat er gesagt?! Hat er dich angemeckert, weil du mir geholfen hast? Wenn er…“, fing sie an sich in Rage zu reden, doch ich legte ihr einen Finger auf die Lippen und sie verstummte sofort.

„Er hat mich gelobt“, sagte ich und erntete dafür einen verwirrten Blick.

„Erkläre ich dir ein anderen Mal“, antwortete ich auf ihre unausgesprochene Frage.

Ich legte meinen Arm um ihre Taille und zog sie neben mir her, damit sie nicht ewig in dem Sekretariat stand führte sie in die leeren Flure. Es hatte schon lange geklingelt und so waren wir nun die einzigen, die durch die Schule wanderten. Einen langen Moment schwiegen wir, ehe sie die Stille durchbrach.

„Danke“, sagte sie ohne mich anzublicken.

Ich wusste, dass sie ihren Gedanken nach hing und nichts um sich herum wahrnahm. So erlaubte ich mir meinen Blick auf ihrem schönen Gesicht haften zu lassen und einen Moment in diesen ozeanblauen Augen zu versinken.

„Nichts zu danken“, erwiderte ich nach einer kurzen Pause und fragte mich, ob ich wirklich derjenige war, der sie veränderte.

„Hast du Durst?“, fragte ich und blickte auf die Stufen, die wir hinab stiegen.

„Ja.“

„Ich gebe dir einen Kakao aus“, sagte ich grinsend und hörte, wie sie in schallendem Gelächter ausbrach. Es hörte sich echt an und ich spürte, dass ich sie ein Stück weiter an mich ran ließ und in mein Herz schloss.

Das wird mir irgendwann noch zum Verhängnis, dachte ich und betrachtete Claire, wie sie sich krümmte vor Lachen.

War ich wirklich derjenige, der aus der kleinen Raupe einen Schmetterling machte?

Machte ich sie stark, oder machte sie sich selber stark? Hatte das immer schon in ihr gesteckt?

Einen Moment noch versank ich in ihren Augen, ehe ich sie mit zur Cafeteria schleifte um mit ihr einen kalten Kakao zu trinken.

Tränenschleier

Claire


„Du hast ihm wirklich deinen Kakao über den Kopf gekippt?“, fragte Jack noch mal nach, da er es nicht glauben konnte. Ich konnte das voll verstehen, denn ich selber hatte das auch noch nicht realisiert.

„Zwei Kakaos. Nicht nur einen“, verbesserte ich ihn grinsend, woraufhin Jack in einem Lachanfall versank.

„Ich hätte sein Gesicht zu gerne gesehen“, mischte sich Marc ein, der dem Gespräch lächelnd gefolgt war.

„Es war göttlich“, ertönte es von Adrian, der sich neben mir niederließ und mir eine kalte Flasche Wasser in die Hand drückte. Dankend nahm ich sie entgegen und trank gierig. Das Training war anstrengend und für Ende September war es wirklich heiß, sodass ich beim Aufwärmen schon zerflossen bin.

„Und du hast wirklich keine Verwarnung bekommen?“

Stumm schüttelte ich meinen Kopf. Natürlich hatte ich ärger bekommen, doch es war nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte. Neugierig blickte ich zu Adrian, der mir immer noch nicht erzählen wollte, was der Direktor zu ihm gesagt hatte.

„Hast du ein Schwein. Ich wäre von der Schule geflogen“, sagte Jack, der sich beruhigt hatte und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Sie ist heiß und hat was in der Birne. Kein Wunder, dass sie nicht fliegt“, lachte Marc, ehe er sich langsam erhob und mir die Hand anbot. Mit einem Seufzer griff ich danach und stand ebenfalls auf. Das Training ging weiter.

„Claire du kommst mit zu mir. Wir feilen jetzt mal an deiner Technik“, sagte Adrian mit einem Zwinkern.

Ich hasste Technik. Dabei musste man sich konzentrieren und konnte nicht seine Wut und den Frust abbauen. Trotzdem folgte ich ihm mit hängenden Schultern. Zusammen durchquerten wir die große Halle und betraten eine Matte, auf die er sich so stellte, dass wir uns gegenüberstanden.

„Muss das sein?“, fragte ich mit schlecht gelaunter Miene.

„Du hast gesagt, du machst das, was wir dir sagen. Und ich sage dir wir machen Technik, also…“

„Also mache ich Technik“, beendete ich den eintönigen Satz.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er bedeutete mir mit einer Handbewegung mich in Angriffsstellung zu stellen, doch sobald ich der Meinung war, dass ich gut stand, schüttelte er den Kopf.

„Claire. Du siehst aus wie ein Hund, der gerade Laufen lernt“, sagte er mit verschränkten Armen.

Empört öffnete ich meinen Mund, doch keine Beleidigung fand den Weg von meiner Zunge hinweg. So stand ich dort also, wie ein Hund der Laufen lernt mit offenem Mund und starrte Adrian an. Dieser kam langsam auf mich zu und blieb dicht vor mir stehen.

„Dein Gegner muss sich nicht mal anstrengen um dich zu Boden zu bringen.“ Meinte er streng.

Na das wollen wir doch mal sehen!, dachte ich und stieß meine geballte Faust nach vorn, doch Adrian wich gekonnt aus und riss meine Füße zur Seite, sodass ich fiel.

Kurz bevor ich auf den Boden knallte packte er mich am T-Shirt und hielt mich fest.

„Verstehst du jetzt was ich meine?“, fragte er leise. Sein heißer Atem strich über mein Gesicht und der Geruch von Orangen schwebte in der Luft, vernebelte meine Sinne. So nickte ich stumm, wendete meinen Blick nicht von seinen blauen Augen, die mir manchmal grau vorkamen.

Sanft löste er seinen festen Griff von meiner Kleidung und ließ mich auf den Boden, von dem ich mich rasch wieder erhob. Ich sah es nicht ein, dass ein Junge mich zum Fall brachte!

„Akzeptier einfach, dass du noch viel zu lernen hast. Du bist einfach kein Profi“, kam es von ihm überlegen, ehe er sich von mir abwandte. Natürlich sollte ich die Angriffsstellung selbstständig wiederholen. Stattdessen erinnerte ich mich an einen Trick den Marc mir gezeigt hatte.

Ich bückte mich und machte einen Kick, sodass Adrians Beine weggerissen wurden und er auf den Boden fiel. Lässig warf ich mein Haar zurück, blieb neben ihm stehen und schaute auf ihn hinab, so wie er es getan hatte. Nur das er näher war und meine Gedanken durcheinander brachte. Das konnte ich jetzt definitiv nicht gebrauchen.

„Akzeptier einfach, dass du noch viel zu lernen hast. Du bist einfach kein Profi“, wiederholte ich seine Worte arrogant.

Ungläubig starrte er mich an, doch ich wendete mich mit erhobenem Haupt ab und stolzierte in die Umkleide.


Adrian


Verdattert schaute ich Claire nach, die mit einem überheblichen Grinsen in der Umkleide verschwand. Das Ganze war definitiv nicht fair gewesen, schließlich hatte sie mich von hinten attackiert, sodass ich mich nicht wehren konnte! Trotzdem konnte ich ein kleines Lächeln nicht unterdrücken, als ich an ihre Worte dachte. Sie hatte mich mit meinen eigenen Waffen geschlagen.

„Ich liebe die Kleine!“, grölte Marc.

Meine Augen suchten meine beiden Freunde, die sich an Sandsäcke klammerten um sich aufrecht zu halten. Sie amüsierten sich prächtig über die Vorstellung die Claire geliefert hatte und selbst mir gefiel es, dass sie so Selbstbewusst war.

„Idioten“, nuschelte ich grinsend, als ich mich langsam wieder erhob.

Für heute hatte ich genug vom Training. Ich schlenderte in die Umkleide, dicht gefolgt von Marc und Jack, die noch Tränen in den Augen hatten. Erschöpft ließ ich mich auf einer Bank nieder und trank etwas, denn mein Mund war staubtrocken.

„Sie hat Talent“, stellte Marc fest, was ich schon gewusst hatte, sodass ich nur stumm nickte.

Ich hatte die kleine Claire gesehen und schon damals war mir bewusst gewesen, dass sie nicht so hilflos war, wie sie vorgab. Irgendetwas an ihr hatte mir gezeigt, dass sich mehr in ihr verborg, als ein hässliches Entlein. Das in diesem Mädchen ein Feuer brannte, das sich nur nicht nach außen traute. Vielleicht waren es ihre Augen gewesen, die jeden in den Bann zog, der sie sah. In ihnen lagen eine Menge Gefühle und schreckliche Schicksalsschläge. Das könnte auch einer der Gründe sein, wieso sie manchmal so Erwachsen und vernünftig wirkte. Sie hatte ihre Kindheit nie ausleben oder auskosten können. Nachdem ihre Eltern gestorben waren, war sie in ein Loch gefallen, soweit ich wusste. Sie hatte sich daraus gekämpft und ich hatte ihr dabei geholfen. Die letzten Wochen hatte sie mich hinter die Maske blicken lassen. Doch ich sah kein verängstigtes Mädchen. Auch keine kleine Lady, die sich zusammenriss. Ich sah eine junge Frau, die Kämpfen wollte. Der es reichte durch die Gegend geschubst zu werden. Thomas hatte sie schon gezeigt, dass die Zeiten der Unterdrückung und Demütigung vorbei waren.

Ich entledigte mich meiner Kleider und ging gedankenverloren in Richtung Dusche. Das heiße Wasser prasselte auf meine Haut und der seichte Nebel, der sich um mich herum bildete, ließ mich weiter in Gedanken versinken.

Weder Claire, noch ich hatten das angesprochen, was heute Morgen in der Dusche zwischen uns geschehen war. Es war ein schweigendes Einverständnis, dass nichts geschehen war. Doch ich konnte nicht leugnen, dass nichts geschehen war. Ihre Nähe hatte mich um den Verstand gebracht, meine Sinne vernebelt und mich fast eine Dummheit begehen lassen. Um ein Haar, hätten meine Lippen auf ihren gelegen und die gesamte Situation verändert. Nur wenige Zentimeter hatten gefehlt.

Und nun saß sie in meinem Kopf. In einer Ecke hatte sie sich eingenistet um mich jede Sekunde an sie zu erinnern. Mich daran zu erinnern, dass ich beinahe herausgefunden hätte, wie ihre Lippen sich auf meinen anfühlten.

Und jedes Mal wenn ich ihr nah war, vergaß ich alles um mich herum. Es kostete mich viel Mühe nicht in ihren Augen zu versinken und sie in meine Arme zu ziehen. Ihren Duft einzuatmen.

Energisch schüttelte ich meinen Kopf. Heißes Wasser und die Einsamkeit waren nicht gut für mich. Rasch stellte ich das Wasser ab. Mit einem Handtuch um die Hüfte gewickelt, kehrte ich zu Jack und Marc zurück, die sich immer noch lachend unterhielten.

Wortlos trocknete ich mich ab und suchte in meiner Tasche nach meiner Boxershorts. Ich war mir sicher, dass ich sie dort rein gepackt hatte. Doch das einzige was sich dort drin befand, war ein String Tanga, der mir bekannt vorkam.

Verwirrt kniff ich meine Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. Ich leerte meine Tasche, doch ich fand meine Boxershorts nicht. Das einzige was ich vorfand, war Shampoo, ein Handtuch und der Tange, der nicht mir gehörte.

Hatte ich die Taschen vertauscht. Das konnte nur nicht sein, da mein Shampoo sich in dieser Tasche befand.

„Ich bin dann mal weg!“, hörte ich Claire rufen.

Mit dem Handtuch um meine Hüfte rannte ich aus der Umkleide und erblickte Claire, wie sie mich grinsend anstarrte.

„Hast du zufällig meine Boxershorts eingepackt? Ich habe nämlich aus versehen deinen String eingepackt“, fragte ich sie, konnte mir eine leichte Röte im Gesicht jedoch nicht verkneifen.

„Das ist kein Zufall Adrian“, erwiderte sie zwinkernd und zog meine Boxershorts hinter ihrem Rücken hervor.

Gerade wollte ich mich bei ihr bedanken, als ich ihre Worte verstand.

„Gib sie mir zurück“, sagte ich und kniff meine Augen zusammen.

„No Chance. Das ist die Rache für die Dusche. Also viel Spaß aufm Heimweg. Ich hoffe sie kneift nicht zu sehr“, lachte sie.

Mit wehendem Haar drehte sie sich um und stürmte davon.

„Hey!“, brüllte ich ihr nach, doch ich vernahm nur ihr Lachen. Ohne zurück zu blicken, stieg sie in den Bus während ich an der Tür der Halle stand und ihr nachschaute.

Bevor der Bus um die Ecke bog, erblickte ich sie in der letzten Reihe. Sie streckte mir frech grinsend die Zunge heraus.

Ich starrte ihr verdattert nach, denn ehrlich gesagt war ich nicht sonderlich erpicht darauf in Damenunterwäsche nach Hause zu laufen. Scheinbar blieb mir nichts anderes übrig. Und so verschwand ich kopfschüttelnd in der Halle. Leise schloss ich die Tür und hoffte, dass ich Claire wenigstens für einen Moment aus meinem Kopf vertreiben konnte.


Claire


Mit dem gewöhnten unguten Gefühl saß ich auf den unbequemen Stühlen im Warteraum der Intensivstation. Ich hatte mich immer noch nicht an diese Räume gewöhnt und schon gar nicht an diese bedrückten Gesichter, die ich Tag für Tag erblickte, wenn ich her kam.

Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe. Die Krankenschwester wollte schon vor längerer Zeit kommen und mich holen um mich zu meiner Großmutter zu begleiten. Doch bis jetzt hatte sie sich nicht blicken lassen. Die Zeit schien zu verfliegen, sodass mir mittlerweile nur noch eine halbe Stunde blieb, ehe ich von der Station geschmissen wurde.

Schon öfters hatte ich beobachtet, wie andere Leute einfach zu ihren Verwandten gingen ohne Begleitung. Ich hatte bis jetzt immer gewartet, nur konnte ich nicht länger still sitzen, sodass ich beschloss selber zu gehen. Wenn gerade Visite war, würden sie mich aus dem Zimmer schmeißen.

Schnell desinfizierte ich meine Finger, verrieb die stinkende Flüssigkeit. Mit schweren Schritten durchquerte ich den gewohnten Weg zu dem bekannten Zimmer, blieb einen kurzen Moment jedoch davor stehen. Ich hatte Angst. Leugnen konnte ich es nicht. Erneut das geschundene Gesicht meiner Großmutter zu erblicken, versetzte mich in Angst. Tief holte ich Luft. Erst dann betrat ich alleine den Raum.

Die Geräte an die sie angeschlossen war, gaben die eintönigen Geräusche von sich, die mich mittlerweile beruhigten. Heute hatten sie meine Oma gedreht, sodass sie aus dem Fenster blicken konnte und ich von der Tür nur den Hinterkopf sah.

Ich stellte mich aufrecht hin und reckte mein Kinn in die Höhe. Ich war alleine, das stimmte. Doch ich war nicht schwach und ich würde keine Schwäche zeigen, bei ihrem Anblick. Oft hatte ich sie schon gesehen und konnte mir den Schaden, der langsam abnahm, ausmalen.

Mit leisen Schritten ging ich um das Bett herum, bereit den Anblick zu ertragen und der Realität ins Auge zu blicken. Ich wagte einen letzten Sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster, nahm letzte stärkende Sonnenstrahlen auf, dann drehte ich mich um und erstarrte.

Ozeanblaue Augen starrten mich neugierig an, eine Träne kullerte über die faltige Haut, als sie mich erblickte. Ich spiegelte mich in ihrer Iris und konnte mir vorstellen, was sie gerade sah.

Ihre Enkelin, die sie ungläubig anstarrte und nicht wusste, was sie tun sollte.

„Oma“, flüsterte ich mit brüchiger Stimme.

Sie hob ihre Hand ein Stück und streckte sie nach mir aus. Sofort griff ich danach und umklammerte sie fest. Sanft strich ich ihr eine Träne von der Wange. Innerlich flehte ich Gott an, dass sie mich erkannte.

„Claire“, vernahm ich ein leises flüstern, das eher nach einem röcheln klang. Doch ich verstand sie. Sie erkannte mich und bevor ich an mich halten konnte, flossen die Tränen.

„Ich liebe die Omi“, flüsterte ich, bemerkte, dass sie meine Hand drückte.

Liebevoll strich ich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Vorerst hatten wir die Rollen getauscht. Sie war das Kleine Mädchen, das Hilfe und Unterstützung brauchte. Ich war die starke Oma, die kämpfte.

„Ich habe dich unendlich vermisst“, brachte ich zwischen den Tränen hervor.

Meine Schminke war wahrscheinlich schon verflossen, doch es war mir egal.

Meine Großmutter war wach und sie erinnerte sich an mich. Das war mehr als ich mir hätte wünschen können. Ich stützte mich auf den Bettrand um nicht umzukippen, so überwältigt war ich von den bekannten Augen die mich anblickten.

Plötzlich vernahm ich eine Krankenschwester neben mir, die mir einen Stuhl anbot. Ohne den Blick von meiner Großmutter zu wenden und ohne sie loszulassen, setzte ich mich. Sie schob den Stuhl heran.

„Danke“, nuschelte ich und blickte sie kurz durch meinen Tränenschleier an.

Stumm nickte sie. Ich fragte mich, ob sie nichts sagte um mich nicht zu stören, doch dann schaute ich ihr in die Augen. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, doch ich war mir sicher Tränen in ihren Augen gesehen zu haben, ehe sie sich abwandte.

Mein Blick wanderte wieder zu meiner Großmutter und ich fing an zu erzählen was sie verpasst hatte. Auch wenn ich zwischen durch inne halten musste um mir die Nase zu schnauben.

Ehrlichkeit

Adrian


„Sie ist wach!“, schrie Claire.

Ich konnte mich gerade noch umdrehen, als sie auch schon um meinen Hals fiel.

„Wirklich?!“, fragte ich überrascht, doch das Lächeln auf meinen Lippen verriet mir, dass ich mich für sie freute.

„Ja! Ich konnte es selber kam glauben!“, lachte sie.

Ich bemerkte etwas Feuchtes an meiner Halsbeuge. Vorsichtig drückte ich sie ein Stück von mir weg um sie genauer betrachten zu können. Freudentränen rannten ihre Wangen hinab und ihre Lippen, waren zu einem seligen Lächeln verzogen. Sanft strich ich über ihre Wange um eine Träne weg zu wischen.

„Du solltest nicht weinen. Schließlich ist das doch was Schönes.“

„Ich weiß“, schniefte sie, bevor ein neuer Schwall Tränen kam.

Wortlos nahm ich sie in den Arm. Ich spürte, dass sie ihre Hände in mein graues T-Shirt krallte. Ein leises Wimmern kam aus ihrer Kehle, weswegen ich sie noch enger an mich presste. Das Gefühl, dass sich in meinem Magen bis zu meinen Fingerspitzen ausbreitete war unglaublich. Es fühlte sich an, als würde ich Achterbahn fahren. Dieses anhaltende Glücksgefühl weckte in mir den Wunsch, Claire nie wieder gehen zu lassen.

„Sie ist wach. Alles wird wieder gut“, flüsterte ich beruhigend in ihr Ohr.

Meine Hand strich zärtlich über ihr Haar. Ich streckte alle meine Sinne aus um sie vollkommen zu erfassen und so erfüllte mich zum ersten Mal dieser unglaubliche Geruch nach frischen Kirschen. Tief atmete ich ein, schloss die Augen, ergriff die Chance dieser Situation und legte meine Lippen auf ihr weiches Haar.

„Was geht denn hier ab?“, ertönte die vertraute Stimme von Jack.

Ich konnte mir ein genervtes Schnauben nicht verkneifen ehe ich mich umdrehte und in sein Gesicht schaute. Mit hochgezogenen Augenbrauen und kauend lehnte er lässig am Türrahmen. Das wissende Grinsen, das seine Lippen umspielte war mir nur zu bekannt und am liebsten hätte ich ihn angeschrieen, dass er seine dämlichen Gedanken für sich behalten solle. Zwischen mir und Claire lief nix und da würde auch nie etwas laufen. Das sollte endlich in seinen dummen Kopf rein.

„Meine Großmutter ist wach!“, schniefte Claire und lächelte Jack dabei an, der rasch das Stück Brot in seinem Mund runterschluckte.

„Was?!“, fragte er aufgeregt und schaute uns beide mit großen Augen an.

Claire nickte stumm, wischte sich Tränen aus dem Gesicht um klarerer sehen zu können.

„Ich würde sagen das ist ein Grund zum feiern“, mischte sich Marc ein, der aus dem Wohnzimmer angetrottet kam und scheinbar alles mitgehört hatte.

„Ganz deiner Meinung Kollege“, stimmte Jack grinsend zu.

„Bist du dabei Claire?“, fragte ich sie lächelnd.

Sie runzelte die Stirn und biss sich auf die Lippe. Unsicher schaute sie mich an.

„Naja, ich weiß nicht“, murmelte sie, sodass nur ich sie verstand.

„Wieso nicht?“, hakte ich nach und war nun derjenige, der verwundert war über ihr Verhalten.

Sie kratzte sich am Kopf und verschränkte anschließend nervös ihre Hände miteinander. Sie wich meinem Blick aus und ich erkannte einen Hauch von rot auf ihren Wangen. Ich betrachtete sie genau, sodass ich bemerkte, als sich ihre Lippen leicht öffneten und sie etwas nuschelte, was ich jedoch nicht verstand.

„Wie bitte?“, fragte ich höflich nach.

„Ich war noch nie in einer Disco“, murmelte sie und war plötzlich auf ihre schönen Schuhe fixiert.

„Du warst noch nie in einer Disco?“, wiederholte ich, als hätte ich die Worte nicht so ganz verstanden.

Stumm schüttelte sie den Kopf.

„Na ja. Dann gehst du heute halt das erste Mal“, sagte ich achselzuckend. Ganz kurz suchte ihr Blick den meinen und als sie sah, dass ich lächelte, konnte sie ein kleines Grinsen nicht verkneifen.

„Wir haben heute eine Jungfrau unter uns“, lachte ich und erntete dafür einen Schlag gegen die Schulter. Marc und Jack brachen in schallendem Gelächter aus und zum Glück schien Claire mir das ganze nicht so übel zu nehmen.

„Ich habe Jungfrau und feiern gehört?!“

Eine junge Frau mit aschblonden kurzen Haaren steckte ihren Kopf an Jack vorbei, der immer noch im Türrahmen lehnte. Ihre hellbraunen Augen huschten neugierig über Claires Outfit. Einen kurzen Moment trafen die hellbraunen Augen auf die ozeanblauen und ich wusste das sich jetzt entschied ob Jenna Claire mochte oder nicht. Zu meiner Erleichterung zierte ein Lächeln Jennas Lippen.

Mit ein paar schnellen Schritten schloss sie den Abstand zwischen ihr und Claire. Jenna hielt ihr die Hand hin, an dessen Handgelenk eine Menge bunter Armbänder hingen.

„Ich bin Jenna. Die Freundin von diesem Schwein da hinten“, sagte sie grinsend und nickte in Richtung Jack.

„Was meinst du bitte mit Schwein?!“, meckerte Jack, der mit vollem Mund sprach und damit Jennas Kommentar unterstrich. Manchmal fragte ich mich wirklich, ob er das extra machte.

„Ich bin Claire“, sagte das wunderschöne Mädchen mit den blauen Augen und reichte Jenna ihre Hand während ein schüchternes Lächeln ihre Lippen umspielte.

„Na gut Claire. Dann sollten wir uns mal fertig machen. Ansonsten meckern die Jungs noch, dass wir zu lange brauchen“, erwiderte Jenna und griff nach Claires Hand.

Etwas verdattert ließ sie das ganze geschehen, doch ich sah, dass sie mir einen Hilfesuchenden Blick zuwarf, den ich lachend abtat.

Ich hatte nämlich keine Chance gegen Jenna. Vor allem wenn sie in ihrem Kosmetikmodus war. Da musste Claire alleine durch. Doch ich war mir sicher, dass sie das irgendwie überleben würde. Das hoffte ich.


Claire


Jenna schlug die Tür hinter mir zu und dirigierte mich aufs Bett. Wortlos gehorchte ich und betrachtete unsicher, wie sie sich an meinen Schminkutensilien zu schaffen machte.

„Ich darf doch oder?“, fragte sie nach und schaute mir in die Augen.

Ich konnte nicht anders als stumm zu nicken. Mit einem Lächeln erwiderte sie mein stummes Einverständnis und sammelte verschiedene Sachen zusammen.

Ehrlich gesagt, wusste ich nicht, was ich von ihr halten sollte. Es schien so, als wären wir zwei vollkommen unterschiedliche Persönlichkeiten und doch hatte ich kein Problem mit ihr und sie scheinbar keines mit mir. Und das verwunderte mich, denn ich kannte nur die Version, bei der ein großer Krach entstand.

„Was ziehst du an?“, durchbrach die junge Frau die stille plötzlich und riss mich aus meinen Gedanken.

„Ähm. Keine Ahnung“, sagte ich Schulter zuckend.

Ich stand von meinem Bett auf und ging unter den strengen Blicken von Jenna zu meinem Schrank. Ich wühlte kurz drin herum, entschied mich dann für ein kleines Schwarzes, dass ich ihr hinhielt. Kritisch musterte sie das sündhaft teure Kleid.

Sie schaute auf und ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Das sieht wunderschön aus.“

Ich konnte nicht anders als zu Lächeln und bedankte mich.

„Was sagst du zu meinem Outfit?“, fragte sie mich und packte einen knallpinken Minirock, sowie ein schlichtes schwarz Top aus.

„Wow“, brachte ich tonlos hervor, denn ich fand es etwas zu krass. Doch es passte zu ihr und zu ihrer wilden Art.

„Also Claire“, begann Jenna, als wir uns stumm umgezogen hatten und sie sich an meinem Gesicht zu schaffen machte.

„Was läuft da zwischen dir und Adrian?“

„Was?“, fragte ich verwundert, worauf sie den Puderpinsel sinken ließ.

„Naja, ich höre von Jack und Marc dauernd, dass du gut aussiehst, was ich nur bestätigen kann. Und Adrian sieht auch nicht schlecht aus. Ich kenne ihn. Er ist jemand, der…“, sie hielt inne und ich wusste, dass sie ihre Worte behutsam wählte.

„Er ist jemand, der nicht auf der Suche nach der großen Liebe ist. Ich glaube er würde dir wehtun, wenn du dich auf ihn einließest. Und das hast du nicht verdient. Nicht nachdem was du durchgemacht hast. “

Ich schaute in das Gesicht des verrückten Mädchens, das einen mitleidigen Ausdruck angenommen hatte. Das kannte ich nur zu gut. Jeder der mich nicht kannte, sah mein Schicksal und empfand ein riesiges Mitleid. Doch das wollte ich nicht länger. Auch wenn ich das Mitleid der anderen verstehen konnte. Ich hatte schließlich genauso Mitleid mit anderen Menschen, die ebenfalls ein schweres Schicksal hatten.

„Danke Jenna, aber da ist nichts zwischen ihm und mir. Er hat mir nur geholfen, wofür ich ihm unendlich dankbar bin. Das ist alles.“

Ich erlaubte mir ein kleines Lächeln und hoffte, dass sich ihre Miene etwas aufhellte. Tatsächlich geschah dies fast sofort.

„Okay Claire. Dann erzähl mir mal auf was du stehst. Dann gehen wir heute auf Männerschau“, sagte sie zwinkernd zu mir. Wir brachen beide in Gelächter aus und ab diesem Moment war die Distanz zwischen uns gebrochen. Sie war nicht länger das verrückte Mädchen. Sie war Jenna, die Freundin von Jack, die ich verdammt gern hatte.


Adrian


„Ich finde wir sollten die Mädchen nicht alleine losziehen lassen“, brüllte ich Marc ins Ohr, damit er mich verstand. Die Musik in dieser Disco war definitiv zu laut.

Leicht sehnsüchtig schaute ich der Silhouette von Claire nach, die zwischen der Menschenmasse verschwand.

„Stell dich nicht so an Adrian. Die beiden machen schon keine Dummheiten. Und mach dir nicht so viele Sorgen Jack. Jenna wird nicht Fremdgehen.“ Schrie Marc zurück und stütze sich an der Theke ab. Er war derjenige von uns, der heute Abend am meisten getrunken hatte.

Ich warf Jack einen besorgten Blick zu, doch ich wusste, dass ich alleine war mit meiner Meinung. Denn Marc hatte vollkommen Recht. Jenna würde nicht Fremdgehen und Claire war Achtzehn. Sie konnte tun und lassen was sie wollte. Niemand musste auf sie aufpassen. Nur wollte ich auf sie aufpassen.

Besorgt fuhr ich mir mit meiner Hand durchs Haar und trank den Tequila aus. Mir gefiel es nicht, dass Claire alleine mit Jenna durch die Disco irrte. Und schon gar nicht, weil sie so verdammt gut aussah.

In meinen Gedanken sah ich, wie sie von schmierigen Typen angetanzt wurde und ihr das gefiel. Diese Gedanken trieben mich langsam in den Wahnsinn. Ich brauchte dringend eine Zigarette.

Ich tippte Marc und Jack an, die sie angeregt unterhielten und machte eine kleine Kopfbewegung in Richtung Balkon. Mit einem stummen Nicken stimmten sie mir zu und ich drängte mich an den vielen schweißnassen Körpern vorbei an die frische Luft.

Kaum betrat ich den Balkon, atmete ich tief ein und zog eine Zigarette aus meiner Hosentasche. Während ich mich an das Geländer lehnte und mir diese anzündete, bemerkte ich die kritischen Blicke von den Jungs.

Fragend zog ich meine Augenbraue nach oben.

„Was ist?“

„Ich glaube dir nicht, dass Claire ´nur` deine Mitbewohnerin ist“, sagte Jack und mir entfuhr ein genervtes Stöhnen.

„Leute, ich dachte wir hätten das Thema abgehackt. Sie ist die kleine Claire die ein bisschen Unterstützung braucht. Mehr nicht.“

„Verdammt Adrian dafür hast du schon zuviel für sie getan.“

„Ich lasse sie bei mir wohnen, damit ich die Wohnung bezahlen kann und habe ihr ein paar Klamotten von dem Geld meiner Großmutter gekauft. Das war’s.“

„Das war’s?! Du hasst deine Großmutter!“

„Vielleicht habe ich meine Meinung über sie geändert“, zischte ich wütend.

„Gut, dann sag uns mal, wann du das letzte Mal eine heiße Brünette im Bett hattest?“

Selbstsicher verschränkte Jack die Arme vor der Brust und blickte mich erwartungsvoll an. Er spielte auf meine Vorliebe für Frauen mit langen braunen Haaren an und ich musste mir selber eingestehen, dass ich schon lange keine mehr gehabt hatte. Um genau zu sein, seit Claire da war.

Wütend schnaubte ich und schaute mich um. Die beiden wollten, dass ich mit einer hübschen Brünetten davon zog? Bitte, das konnten sie haben!

Nicht weit von mir, entdeckte ich eine hübsche Junge Dame, die lange braune Haare hatte. Sie war schlank und relativ groß. Genau mein Typ. Eigentlich. Doch heute schien ich an jeder Frau Fehler zu entdecken. Allerdings fand ich keine die mich mehr ansprach.

Ich zog ein letztes Mal an meiner Zigarette, ehe ich diese auf den Boden warf und austrat. Ohne meine beiden Freunde zu beachten drängte ich mich durch den engen Gang, der sich zwischen der Masse auftat.

„Darf ich den Schönheiten einen Drink ausgeben?“, fragte ich in die Damenrunde, die große Augen machten bei meinem Anblick. Ich wusste, dass ich keine schlechte Wirkung auf Frauen hatte.

„Schlechte Anmache“, zickte eine Blonde, woraufhin mein Ziel, die Brünette anfing zu lachen. Genau wie der Rest.

„Eine schlechte Anmache wäre es gewesen, wenn ich gefragt hättet ob es wehgetan hat, als ihr vom Himmel gefallen seit“, konterte ich lässig, worauf die Blonde verstummte.

„Mir darfst du gerne einen Drink ausgeben“, mischte sich jetzt die hübsche Brünette ein.

Ihr Blick glitt an mir hinab und ich wusste, dass sie sich schon Sachen vorstellte, die nicht jugendfrei waren.

„Ich bin übrigens Adrian“, sagte ich in ihr Ohr und berührte ganz zufällig dabei mit meiner Hand ihre Taille.

„Marlene“, erwiderte sie und nahm es mir scheinbar nicht übel, dass ich Annäherungsversuche startete. Ich hatte also gewonnen. Heute Nacht würde ich nicht alleine im Bett liegen.


Claire


„Hör zu du Vollidiot, lass mich endlich in Ruhe“, zischte ich den Lackaffen an, der mir schon die ganze Zeit hinter her lief.

„Komm schon Schätzchen. Nur ein kleiner Kuss“, lallte er und versuchte eine Hand an meine Taille zu legen.

„Hast du sie nicht verstanden?! Du sollst sie in Ruhe lassen!“, schrie Jenna den betrunkenen Typen an, der sie ignorierte.

Erneut versuchte er mich anzufassen, doch ich wehrte ihn ab. So langsam wurde ich aggressiv. Jenna schubste den Typen weg, als er sich näherte, aber er ließ sich nicht abhalten. Ich musste gleich wohl Handgreiflich werden.

„Lass meine Freundin in Ruhe“, hörte ich eine vertraute Stimme, während jemand seinen Arm um meine Taille legte.

Reflexartig erwiderte ich die halbe Umarmung und war froh über diese Rettung. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Jack Jenna in den Arm nahm und ihr einen leidenschaftlichen Kuss gab. Wurde das etwa auch von mir erwartet?

Ich löste meinen Blick von Jenna und schaute den Lackaffen an, der abwehrend die Hände hoch hob und in der Menschenmasse verschwand.

„Danke“, sagte ich und blickte auf.

„Kein Problem“, erwiderte Marc lächelnd. Er zerstrubbelte mit einer Hand sein rotes Haar und führte mich an eine Bar.

Wortlos lief ich mit ihm mit. Marc gegenüber empfand ich in diesem Moment enorme Dankbarkeit. Er stellte sich mit mir an die Bar. Ich lehnte mich ein Stück vor und bemerkte zum ersten Mal diesen Piniengeruch, der von ihm ausging.

„Danke“, sagte ich laut und hoffte, dass er es verstand.

Vorsichtig legte er eine Hand auf meine Taille, was mich verwirrte. So nah, war er mir bisher nie gewesen. Niemand. Außer Adrian und Thomas.

„Kein Problem“, antwortete er ebenfalls laut.

„Wo sind Jenna und Marc?“, fragte ich nach, denn ich hatte beide aus den Augen verloren.

„Kannst du dir das nicht denken?“, erwiderte er frech grinsend. Ein leises ´Oh` entfuhr mir, was ihn zu Lachen brachte.

„Und Adrian?“

„Der ist mir einer Brünetten abgehauen“, beantwortete er meine Frage. Ein ungewohntes Gefühl stieg in mir auf, dass mir die Luft abschnürte. Ich ließ mir nichts anmerken, doch ich bemerkte den Blick von Marc auf mir. Immer noch ruhte seine Hand an meiner Taille.

„Wollen wir gehen?“, fragte er und lächelte mich freundlich an.

„Gerne. So langsam tun meine Füße höllisch weh.“

„Muss ich dich gleich tragen?“, fragte er belustigt nach, sodass ich ihm gegen die Schulter schlug. Ein paar Schmerzen hatte er definitiv verdient.

Er griff nach meiner Hand und führte mich an den Menschen vorbei hinaus an die kalte Nachtluft. Ich bemerkte nicht, dass er bezahlte, trotzdem brachte ich ein Danke über die Lippen. In meinem Kopf war ein Chaos.

Zum einen war dort Adrian mit der Brünetten. In mir drinnen schmerzte etwas, doch ich wusste nicht genau, was das war. Und dann war da noch Marc, der mir den Abend bezahlte, mich vor einem Lackaffen beschützt und nicht alleine gelassen hatte.

Er hielt immer noch meine Hand und ich fing an ihn zu mustern. Sein rotes Haar war kurz und wild zerstrubbelt, sodass es verspielt wirkte. Die braunen Augen wirkten im Gegensatz dazu vertraut und liebevoll. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man so jemandem nicht vertrauen konnte. Durch sein Shirt hindurch waren seine Muskeln zu erkennen. Ich hatte ihn auch schon ohne Shirt gesehen und wusste, dass er genauso durchtrainiert war, wie Adrian. Er war einer der Jungs, die bekamen welche sie wollten.

„Ist dir kalt?“

Seine raue Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Erst jetzt realisierte ich, dass wir vor der Disco standen und ich eine Gänsehaut hatte.

„Ein bisschen“, gab ich zu.

Ich beobachtete, wie Marc ohne zu zögern sein Hemd auszog und es mir umhing. Augenblicklich umhüllte mich dieser sanfte Piniengeruch.

„Besser?“ fragte er, während seine Hände auf meinen Schultern verweilten.

„Ja. Dankeschön.“

Ich drückte das Hemd an mich und folgte schweigend Marc, der ein Stück vorausging, dann aber auf mich wartete. Wir liefen nebeneinander her. Schweigend. Bis er sich räusperte und mir einen kurzen Blick zuwarf. Ich sah ihm an, dass er etwas loswerden wollte.

„Können wir ehrlich miteinander reden Claire?“

„Wieso sollten wir nicht?“, fragte ich verwirrt nach. Er hatte mich aus dem Konzept gebracht.

„Ich meine kannst du wirklich ehrlich sein?“

„Natürlich.“

Eine lange Pause folgte in der wir stumm weiterliefen. Nur unsere Schritte hallten durch die leeren Straßen. Einzelne Straßenlaternen erhellten unseren Weg und ich versuchte mir einzureden, dass Marc kein Interesse an mir hatte.

„Willst du was von Adrian?“

Die Frage überrumpelte mich. Ob Adrian mir was bedeutete?

„Denk ruhig drüber nach bevor du antwortest“, fügte er hinzu.

Mein Blick ruhte auf den rothaarigen Jungen, der meinen Blick nur eine Sekunde erwiderte.

Ich musste mir eingestehen, dass ich Adrian mochte. Dank ihm war ich selbstbewusster und hatte es geschafft eine Wohnung zu finden. Thomas hatte ich endlich gezeigt, dass ich nicht sein kleines Hobby war. Dann war da noch die Sache mit der Dusche und dieses Gefühl, das ich heute Abend gehabt hatte, als ich erfahren hatte, dass Adrian mit einer Brünetten weg gegangen war. Somit war der Verdacht, dass er was von mir wollen würde ausgeräumt. Mit anderen Worten wir waren nur Freunde. Vielleicht war es eine lächerliche Schwärmerei meinerseits für meinen Helden. Aber jetzt wusste ich, dass von seiner Seite aus nichts ging.

„Nein. Ich will nichts von ihm. Darf ich fragen, wieso du fragst?“

Ich bemerkte, dass er sich nervös auf die Lippe biss.

„Adrian ist jemand der…“ er runzelte seine Stirn „Der gerne ein Abenteuer hat. Nichts Ernstes. Nur was für eine Nacht.“

„Sowas in der Art hat Jenna mir auch schon erzählt.“

Ein bitteres Lächeln kroch über seine Lippen.

„Versteh das bitte nicht falsch. Wir mögen ihn alle, aber wir mögen dich auch. Und wir wollen nicht, dass er dir wehtut. Das hast du nicht verdient.“

„Keine Angst, das wird nicht passieren.“

„Ich hoffe es für ihn“, murmelte er doch ich hörte ihn. Ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen als mir bewusst wurde, wie viele Leute sich um mich sorgten.

Marc blieb stehen und ich merkte, dass wir vor dem Haus standen in dem ich wohnte.

Er steckte seine Hände in seine Hosentasche und kaute auf seiner Lippe herum.

„Also, da du nichts von Adrian willst. Da wollte ich dich fragen ob du mal mit mir ausgehen würdest.“

Ich hatte das Gefühl, dass mir jemand in den Magen schlägt. Seit Jahren hatte mich niemand gefragt, ob ich mit ihm ausgehen würde.

„Als Freunde?“, fragte ich vorsichtig nach und erkannte, das kleine Lächeln auf seinen schmalen Lippen.

„Eher nicht“, gab er zu.

„Okay“, brachte ich mühsam hervor, denn ich fühlte mich unglaublich geschmeichelt.

„Ich hol dich morgen um Acht ab“, sagte er.

Stumm lächelnd nickte ich und wollte schon sein Hemd ausziehen, als er seine Hände auf meine Schultern legte.

„Schon gut. Kannst es mir morgen wieder geben.“

Er stand ganz dicht bei mir und wieder bemerkte ich den leichten Piniengeruch. Ein Stück beugte er sich vor und gab mir einen Kuss auf die Wange.

„Gute Nacht Claire“, flüsterte er.

Sein heißer Atem streifte mein Gesicht und ich bemerkte zum ersten Mal winzige Sommersprossen auf seiner Nase. Langsam löste er sich von mir und machte sich auf den Heimweg. Regungslos blieb ich stehen und schaute ihm nach, wie ihn die Dunkelheit verschlang.

Falsche Hoffnungen

Adrian


Langsam öffnete ich meine Augen und streckte mich einmal. Ein unbekannter Geruch lag in der Luft. Mein Kopf brummte leicht und ich konnte mich nur schwer an letzte Nacht erinnern. Bilder von einer jungen braunhaarigen Frau in roter Spitzenunterwäsche blitze in meinem Kopf auf. Ein leises Stöhnen entfuhr mir als die Erinnerungen langsam zurück kamen und ich merkte, dass ich einen One-Night-Stand gehabt hatte.

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und erblickte eine hübsche Frau, die im Land der Träume verweilte. Braune lange Haare fielen in ihr Gesicht. Möglichst leise setzte ich mich auf und ließ mein Blick durch das Zimmer schweifen. Weiße, schwere Gardinen ließen nur wenig Sonnenlicht in das Zimmer und ein großer Kleiderschrank nahm den meisten Platz des Zimmers ein. Ich war also an ein Modepüppchen geraten.

Ein letztes Mal betrachtete ich die Schlafende neben mir, ehe ich mich langsam aus dem Bett bewegte. Suchend blickte ich mich um und entdeckte zum Glück meine Hose auf dem Boden. Keine zwei Meter weiter lag mein T-Shirt. Und auch mein Hemd fand ich in dem Zimmer. So schnell ich konnte zog ich mich an, denn ich wollte nicht da sein, wenn das Mädchen erwachte. One-Night-Stand hieß und blieb für mich das was es war. Eine Nacht lang ein Abenteuer und keine Sekunde länger.

Leise schlich ich mich aus dem Zimmer und atmete erleichtert auf, als ich meine Schuhe entdeckte. Der kleine Flur war im Gegensatz zu dem Schlafzimmer hell erleuchtet, sodass meine Augen sich an das Tageslicht gewöhnen mussten. Während ich in meine Schuhe schlüpfte betrachtete ich das überdimensionale Schuhregal, dass ich im Eifer des Gefechtes übersehen haben musste. Andererseits hätte ich mich nie auf diese Frau eingelassen.

Kopfschüttelnd über meine eigene Dummheit erhob ich mich, als ich eine weibliche Stimme hörte, die meinen Namen sagte. Mir blieb keine Zeit mehr mich über meine Unüberlegtheit zu wundern. Ich öffnete rasch die Tür, zog sie hinter mir möglichst leise zu und sprintete die Treppen hinunter. Innerlich hoffte ich, dass sie nicht aus dem Fenster schaute.

Als ich das Treppenhaus des modernen Hochhauses verließ, fragte ich mich wo ich war. Nicht weit von mir sah ich eine Bushaltestelle. Mit einem Griff in meine Hosentasche vergewisserte ich mich, dass ich ein Ticket hatte und mein Geld noch da war. Ohne zu zögern machte ich mich auf den Weg zu der Haltestelle.

Ich schlenderte entspannt an den großen Neubauten vorbei und betrachtete die Kinder, die lachend die Straßen entlang Richtung Spielplatz liefen. Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als ich einen kleinen jungen sah, der einem Mädchen ihr Kuscheltier zurückgab. Als Dankeschön bekam er einen feuchten Kuss auf die Wange, den er mit angewidertem Gesichtsausdruck wegwischte.

Während ich das junge Mädchen mit den blonden Locken betrachtete, schweiften meine Gedanken zu Claire, die ich seit gestern Nacht nicht mehr gesehen hatte. Geschockt blieb ich stehen. Wie war sie nach Haus gekommen?

Eilig kramte ich mein Handy aus meiner Hosentasche und wählte die Nummer von Jack. Endlos lange Pieptöne ertönten, die mich nur noch nervöser machten.

„Alter. Was willst du um die Uhrzeit von mir?“, gähnte Jack ins Telefon.

„Wie spät ist es denn?“ war das erste was ich erwidern konnte.

„Halb Drei.“

„Geht doch noch“, antwortete ich genervt.

„Also, was ist los und wo bist du diesmal gelandet?“

„Ich wollte fragen, wie Claire gestern nach Haue gekommen ist und wo ich bin. Das ist eine verdammt gute Frage.“

Ich ließ meinen Blick erneut über die großen bauten schweifen und kratze mich verwirr am Kopf.

„Leg dir endlich ein tragbares Navi zu. Dann findest du von deinen kleinen Abenteuer auch mal nach Hause.“

„Hör auf mich zu belehren. Sag mir lieber was mit Claire ist.“

„Keine Ahnung. Ich war mit Jenna beschäftigt.“

Ich hörte durch das Telefon sein verschmitzes Grinsen. Details wollte ich definitiv nicht wissen.

„Aber ich glaube Marc hat sie nach Hause gebracht. Jedenfalls hat er diesen Lackaffen für sie vertrieben.“

„Was für ein Lackaffe?“

Ich wurde hellhörig.

„So ein betrunkener Typ der sie angegraben hat. Nichts Besonderes.“

„Achso“, murmelte ich nachdenklich ins Telefon. Meine Gedanken fingen an fort zu gleiten.

„Wir sehen uns dann später.“

„Bis dann“, nuschelte ich und hielt das Handy weiterhin an mein Ohr, obwohl Jack bereits aufgelegt hatte.

Nervös fuhr ich mir durch die Haare und versuchte meine Gedanken zu ordnen, was mir jedoch nicht so gut gelang. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass ein Bus kam und an der Haltestelle keine Zehn Meter vor mir hielt.

Nachdenklich stieg ich in den Bus und stempelte mein Ticket ab. Hinter mir schlossen sich die Türen mit einem Zischen und ich ließ mich auf einen leeren Platz fallen. Der Bus war leer bis auf eine alte Frau, die weiter hinten saß. Ich blickte aus dem Fenster.

Marc hatte Claire nach Hause gebracht. Er hatte sie beschützt. Das was ich ursprünglich geplant hatte. Ich hatte gewusst, dass ihr Outfit zu gut war. Wer würde so eine Schönheit nicht ansprechen. Hätte ich Claire nicht gekannt, hätte ich es auch bei ihr versucht.

Ich hielt innen.

Was war mir durch den Kopf gegangen? Ich hätte es auch bei ihr versucht?

Nervös raufte ich mir meine Haare. Das war doch Schwachsinn! Sie war eine gute Freundin. Verdammt heiß und toll, aber verbotenes Gebiet. Ich durfte und konnte nichts von Claire wollen. Sie war Claire. Das kleine schüchterne Mädchen. Die hässliche Raupe, die ein grauenvolles Leben gehabt hatte. Ich war an jungen, hübschen Frauen interessiert, die leicht Rumzubekommen waren. Sie hingegen war kompliziert und gefährlich auf eine Art und Weise die ich selber noch nicht verstand. Doch irgendwie wusste ich, dass es nichts brachte sich einzureden, dass sie mir egal war. Das war sie nicht. Sie war mehr. Nur wusste ich nicht wie viel mehr. Und das ich so empfand, lag allein daran, dass ich gesehen hatte, wie die kleine hässliche Raupe zu einem wundervollen Schmetterling geworden war.


Claire


Summend betrachtete ich mich vor dem Spiegel und drehte mich hin und her. Seit ich wach war, war ich nervös gewesen und hatte es nicht erwarten können mir ein Outfit für heute Abend zu suchen. Zu meinem Leidwesen hatte ich bis jetzt nichts Passendes gefunden und Adrian war immer noch nicht aufgetaucht, sodass ich keinen Berater hatte. Denn Jenna war soweit ich wusste noch mit Jack beschäftigt.

Ich streifte mir das weiße Kleid vom Körper und schmiss es auf mein Bett. Unsicher kratze ich mich am Kopf, während mein Blick zu meinem Spiegelbild glitt.

Meine zierliche Statur wirkte in dem Sonnenlicht etwas mager und ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie meine Großmutter mir nahe legte mehr zu essen.

„Mach ich Oma“, sagte ich und dachte dabei an meine Verwandte, die sich weiterhin im Krankenhaus befand.

Als ich eben dort angerufen und gefragt hatte, ob sie wach sei, sagten die Schwestern, dass se den Vormittag wach war und nun tief und fest schlief. Deswegen hatte ich beschlossen sie heute nicht mehr zu besuchen und mich stattdessen um mein Date zu kümmern. Dann würde ich ihr wenigstens etwas erzählen können.

Ich hörte, dass die Haustür geöffnet wurde und stürmte zu meiner Zimmertür, die ich schnell einen Spalt öffnete um einen Blick auf die Person zu erhaschen auf die ich schon sehnsüchtig wartete.

„Adrian!“, rief ich und stürmte auf den verwirrten Jungen zu, der unschlüssig im Flur stand. Ich schloss ihn kurz in meine Arme und versuchte soviel Dankbarkeit wie nur möglich in diese Umarmung zu legen. Mir war klar, dass ich dank ihm dort war wo ich nun war und diejenige war die ich war. Nach einem langen Augenblick in dem Adrian die Umarmung zögerlich erwidert hatte, löste ich mich ein Stück von ihm.

„Du musst mir helfen“, sagte ich ernst und biss mir leicht auf die Unterlippe.

Ich sah, wie sein Blick an mir hinunter glitt, ehe er eine Augenbraue hochzog.

„Du bist nackt.“

„Ich trage Unterwäsche“, antwortete ich kühl.

„Hast du ein Problem damit, dass ich hier so rumlaufe?“, fragte ich ironisch und nahm seine Hand um ihn hinter mir her zu ziehen.

„Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich wüsste nur gerne den Anlass. Wenn du mich ins Bett bekommen wollen würdest, müsstest du nur ein Wort sagen.“

Abrupt blieb ich stehen und musterte Adrian, der sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen hatte. Er holte tief Luft und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar.

„Das war nicht so gemeint, wie es geklungen hat. Ich habe noch ein wenig Alkohol im Blut“, stellte er klar, was ich mit einem kritischen Nicken vernahm.

Ohne weiter auf seine Aussage einzugehen zog ich ihn in mein Zimmer und deutete auf den Stapel an Kleidung, der auf meinem Bett lag.

„Was soll ich anziehen?“

„Gibt es einen bestimmten Anlass?“, fragte er verwirrt und leicht belustigt nach.

Sein Blick ruhte auf mir und ich konnte nicht anders als zu Lächeln. Selbst das auf die Lippe beißen half nicht meine Vorfreude zu verbergen. Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete er mich.

„Ich habe heute Abend ein Date“, sagte ich und verschränkte nervös meine Hände.

„Mit Marc“, fügte ich hinzu, während Adrians Gesichtsausdruck sich zu einer verwirrten Maske entwickelte.

„Du hast ein Date mit Marc?“, fragte er langsam nach.

„Ja. Er hat mich gestern Nacht gefragt, als er mich nach Hause gebracht hat. Er hat mir sogar sein Hemd gegeben, damit ich nicht friere.“ Berichtete ich aufgeregt und begann erneut in meinem Schrank nach etwas tragbarem zu suchen.

„Und du hast einfach so zugesagt?“

„Ja. Wieso sollte ich auch nicht?“

Verwirrt drehte ich mich zu Adrian, der auf meinem Bett saß und die Stirn in Falten gelegt hatte.

„Heißt das du magst ihn?“

„Naja. Irgendwie schon“, murmelte ich. Und das stimmte. Ich mochte ihn. Nur war ich mir leider ziemlich sicher, dass ich ihn nicht so gerne hatte wie Adrian. Doch das konnte ich noch ändern.

„Irgendwie schon?“, lachte Adrian ungläubig und schaute mich wie ein kleines unwissendes Kind an.

„Was ist daran so lustig?“

„Claire, wenn du einen Typen nicht wirklich magst, dann geh auch nicht mit ihm aus. Sonst machst du ihm nur falsche Hoffnungen.“

Verdattert blickte ich Adrian an, der mir mit neutralem Gesichtsausdruck eine schwarze enge Jeans und einen lockeren, weißen Strickpullover reichte.

„Zieh dazu deine schwarzen Pumps an“, Fügte er nüchtern hinzu und verließ das Zimmer.

Ich hörte, wie die Tür leise in das Schloss fiel und merkte langsam Wut in mir aufsteigen. Hatte Adrian mir gerade wirklich Vorgeworfen Marc nur falsche Hoffnungen zu machen?!

Ohne groß nachzudenken riss ich meine Zimmertür aus und erblickte Adrian, der durch den Flur schlenderte.

„Ich mag Marc verdammt gerne und mache ihm keine falschen Hoffnungen!“, zischte ich ihn an.

Selbst aus der Ferne hörte ich das kehlige Lachen Adrians, während er sich langsam zu mir drehte und mich überheblich Ansah.

„Das glaubst du doch selber nicht.“

„Gut, dann beweise ich’s dir eben. Morgen früh wird Marc nackt neben mir aufwachen.“

Ich sah, wie er etwas Farbe verlor und ein ungläubiger Ausdruck sich auf seinem Gesicht breit machte.

„Claire..“, setzte er an, doch ich unterbrach ihn erneut, denn ich war auf Hundertachzig.

„Spar dir dein Claire. Ich zieh das durch und dann wirst du mir nicht mehr vorhalten Leuten falsche Hoffnungen zu machen!“

Mit diesen Worten schlug ich mit aller Kraft die Tür zu. Ich würde mit Marc ausgehen und wir würden einen fantastischen Abend haben. Und ich würde keinen einzigen Gedanken an das nervige schwarzhaarige Model namens Adrian verlieren. Zufrieden betrachtete ich mich im Spiegel und ignorierte die Tatsache, dass Adrian mir das Outfit ausgesucht hatte.

Marc

Adrian


Ich schlug mit aller Kraft gegen den Sandsack und spürte Schweißtropfen meine Schläfe herunter rennen. Die stickige Luft in der Halle machte mir nichts aus. Auch die offenen Fenster die die kühle Herbstluft herein ließen ignorierte ich. In meinem Kopf war nur das Bild von Claire, wie sie in Marcs Amen lag. Egal was ich tat, die Szene wollte nicht verschwinden. Wie er sie hielt, zärtlich ihre Lippen küsste, seine Hände ihren Körper erkundeten.

Erneut schlug ich auf den Sandsack ein, der so weit zurück geschleudert wurde, dass ich ausweichen musste, als er zurückkam. Ein wütender Laut entfuhr mir, als ich mit dem Fuß nach dem Sack trat, der mich plötzlich an Marc erinnerte. Doch es war nicht der freundliche, Durchgeknallte Marc. Es war der Marc, der mit Claire was anfing und sich über mich amüsierte.

„Was geht denn bei dir?“

Die Stimme von Jack riss mich aus meinen Gedanken. Etwas orientierungslos drehte ich mich um und hielt Ausschau nach dem jungen mit den schwarzen Haaren, die einen leichten Blaustich hatten.

Ich schnaubte wütend und pfefferte die Boxhandschuhe in die Ecke. Mit dem Fuß trat ich noch einmal gegen den Sandsack-Marc.

„Ist dir irgendeine Laus über die Leber gelaufen oder weswegen misshandelst du den Sandsack so?“

Jack blieb ein Stück von mir entfernt stehen und musterte mich verwirrt. Wortlos stampfte ich in die Ecke, wo meine Wasserflasche lag und ließ mich an der Wand hinunter gleiten. Ich vernahm ein genervtes Stöhnen von Jack der sich auf mich zu bewegte um sich neben mir niederzulassen.

„Hör endlich auf zu schweigen und sag mir was los ist.“

„Claire will Marc heute in die Kiste bekommen“, zischte ich, blickte Jack jedoch nicht an.

„Was?“, fragte dieser verwundert nach, doch ich nickte nur stur.

„Wieso in Gottes Namen!? Ich meine, dass Marc was von Claire will habe ich schon mitbekommen, aber ich dachte immer sie würde auf die stehen.“

„Marc wollte schon die ganze Zeit was von Claire?!“, brüllte ich meinen Freund fast an, der mich etwas eingeschüchtert anblickte.

„So ziemlich die ganze Zeit, ja.“

„Wieso sagt mir das keiner?!“

Zornig sprang ich auf. Ich konnte nicht hier Rumsitzen, während Claire Schweinereien mit Marc anstellte.

„Es ist doch kein Weltuntergang. Freu dich doch für die beiden“, lachte Jack.

Natürlich. Er konnte lachen.

„Claire will aber nur mit Marc ins Bett um mir zu beweisen, dass sie Marc wirklich mag.“

„Jetzt komme ich nicht mehr mit“, kapitulierte Jack und blickte mich neugierig an.

Müde raufte ich mir die Haare und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen.

„Heute Morgen, als ich nach Hause kam, kam Claire an und hat mir gesagt, dass ich ihr helfen muss ein Outfit zu finden. Als ich dann gefragt habe, ob es einen speziellen Anlass gibt, hat sie mir erzählt, dass Marc sie heute Nacht gefragt hat, ob sie mit ihm ausgeht. Sie hat natürlich ja gesagt. Und dann habe ich ihr gesagt, dass sie keinem Jungen zusagen sollte, wenn sie ihn nicht wirklich mag. Dann macht sie ihm nämlich nur falsche Hoffnungen. Und dann war sie der Meinung mir beweisen zu müssen, dass sie es ernst mit ihm meint, indem sie mit Marc schläft.“

Eine lange Pause entstand und ich vernahm neben dem Atem von Jack nur der Wind, der leise durch die Halle wehte.

„Adrian?“

„Ja?“

„Was läuft da wirklich zwischen euch?“

Ich hatte es gewusst. Natürlich merkte Jack es, wenn mir etwas an die Substanz ging. Und Claire war so etwas, dass mir ganz extrem an die Substanz ging. Sonst hätte ich ihr nicht geholfen. Nicht meine Großmutter für sie um Hilfe gebeten und würde mir nicht schon die ganze Zeit Vorwürfe machen, dass ich ihr gesagt habe, sie solle keinem falsche Hoffnungen machen. Vor allem wäre ich nicht so am Austicken.

„Ich weiß es doch selber nicht“, gab ich zu und blickte beschämt wie ein kleiner Junge, auf den Boden.

„Habt ihr euch schon geküsst oder sonst was? Ich meine, du sorgst die dauernd um sie und jetzt tickst du aus, weil dein Kumpel mit ihr ausgeht. Willst du mir immer noch verkaufen, dass sie nur eine Freundin ist?“

Ich konnte mir Jacks Blick vorstellen. Die Augenbrauen hochgezogen, mich strafend musternd.

„Nein, wir haben uns nie geküsst oder so was. Es ist nur … sie bringt mich durcheinander. Wenn sie da ist, ist der Rest nicht mehr so wichtig und ich habe absolut keine Ahnung was mit mir los ist. Ich weiß nicht mal, wieso ich gestern diese Brünette angegraben habe! Die ist potthässlich!“

„Wenn du mich fragst, würde ich sagen du bist in Claire verknallt.“

„Vollkommener Schwachsinn“, erwiderte ich leider viel zu schnell.

„Gut, dann sag mir bitte ganz ehrlich, was du fühlst, wenn sie bei dir ist.“

Ich schluckte hart. Was ich fühlte? Eine verdammte Menge, die ich leider nicht ordnen konnte. Ich war verwirrt und wusste nicht, ob geschweige denn wie wichtig ich ihr war. Sie hatte gerade ein Date mit einem guten Freund von mir. Da konnte ich ihr doch nicht sonderlich viel bedeuten oder? Wieso war ich damals nur ausgestiegen und hatte ihr zugehört? Wieso hatte ich sie so gut kennen lernen müssen? Ich hätte mich im Bus woanders hinsetzten können und wir wären uns nie so nahe gekommen.

„Ich habe absolut keine Ahnung“, gab ich zu und hörte, wie Jack aufseufzte.


Claire


Marc hielt nun schon die ganze Zeit meine Hand. Seit wir aus dem Kino gegangen waren. Er hatte während des Films seinen Arm um mich gelegt, ganz lässig und cool. Ich war sofort beeindruckt gewesen von diesem enormen Selbstvertrauen, das er ausstrahlte und auch die neidischen Blicke anderer Mädchen entgingen mir nicht. Ich lief neben dem großen Jungen her und versuchte ein normales Lächeln zustande zu bringen. Doch leider wollte mir das nicht so ganz gelingen.

„Jack habe ich auf einer Hoseparty kennen gelernt, als ich mir ein Bett zum Schlafen suchte. Ich habe auch ein Zimmer mit einem Bett gefunden, nu war das Bett leider besetzt mit Jack und einer heißen rothaarigen, die nur in Unterwäsche auf ihm saß. Als ich in das Zimmer kam, ist sie schreiend davon gerannt. Jack und ich haben uns verwirrt angeschaut und angefangen zu lachen. Dann haben wir uns ein Bier aufgemacht und uns über Mädels unterhalten“, erzählte Marc, während wir durch die dunklen Straßen gingen. Ich konnte schon von hier aus meine Wohnung erkennen und ich wusste, was ich gleich tun musste. Schließlich hatte ich vor Adrian zu beweisen, dass ich Marc mochte. Nur ließ mein Selbstvertrauen immer mehr nach. Ich hatte seit Jahren keinen Jungen mehr richtig geküsst und ich wusste nicht, ob man so etwas verlernen konnte. Doch ich hatte definitiv das Gefühl, dass ich es verlernt hatte.

„Claire?“

Ich zuckte kurz zusammen und schaute leicht irritiert zu Marc, der mich grinsend anschaute.

„Ja?“, krächzte ich leicht, da ich den gesamten Weg fast nichts gesagt hatte.

„Wir sind da“, sagte er und deutete auf die Haustür die sich direkt neben mir befand.

„Oh“, brachte ich nur stumpf hervor.

„Die Zeit ist schneller vergangen, als ich gedacht hatte“, fügte ich schüchtern lächelnd hinzu.

Jetzt war es soweit. Ich musste ihn küssen und fragen, ob er mit hochkommen wollte. Nervös knabberte ich auf meiner Lippe herum, während mir bewusst wurde, wie nah Marc mir bereits war. Es war doch nicht so schwer. Ich musste mich nur ein Stück vorlehnen und meine Lippen auf seine legen. Ganz langsam beugte ich mich ein Stück vor. Ich merkte, dass meine Hände schwitzig wurden vor Nervosität. Immer näher kam Marc, sodass ich schon seinen Piniengeruch wahrnahm. Ich schloss meine Augen und wartete darauf, dass seine Lippen auf meine trafen.

„Marc, Claire, schön euch zu sehen!“, hörte ich eine vertraute Stimme hinter mir.

Rasch wich ich zurück und wirbelte herum. Auch Marc schien überrascht zu sein von dem plötzlichen erscheinen Adrians, der scheinbar gute Laune hatte. Lässig gab er Marc einen Handschlag und begrüßte ihn.

„Schön dich zu sehen. Ich hoffe ihr hattet einen netten Abend“, sagte er grinsend zu Marc, der stumm nickte. Diese Situation schien auch ihn zu verwirren.

„Na gut. Ich nehme sie dir, dann mal ab“, fügte er mit einem Zwinkern hinzu und griff nach meiner Hand.

Ohne, dass ich mich wehren konnte, wurde ich in das Haus gezogen. Kein Laut verließ meine Kehle, während ich Marc entschuldigend anblickte, der mir freundlich winkte.

„Was soll das?“, zischte ich Adrian an, der mich weiterhin Richtung Wohnung zog.

„Ich bewahre dich vor einem schlimmen Fehler. Danken kannst du mir wann anders“, brachte er nüchtern hervor und nahm mir somit den Rest meiner Sprache.

Gekonnt schloss er mit einer Hand die Tür zur Wohnung auf, während er mit der anderen Hand meine zierlichen Finger festhielt. Nicht zu fest, doch stark genug, dass ich mich nicht lösen konnte.

Er zog mich durch die Tür in den Flur, so dass ich fast fiel auf meinen Pumps und schloss die Tür.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?!“, keifte ich ihn zornig an und versuchte an ihm vorbei zu kommen. Ich wollte wieder zu Marc.

Doch ich kam nicht weit, denn er schlang seine Arme um mich und hielt mich fest.

„Lass-mich-los!“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Erst wenn du endlich aufhörst mir etwas beweisen zu wollen!“ zischte er wütend zurück

Und zum ersten Mal seit ich ihn kannte, nahm ich diese unglaubliche Wut war. Er war angespannt und sein Atem ging schnell. Nun wusste ich, wieso man ihn nicht reizen sollte. Doch mir war das egal. Ich war stocksauer.

„Erst wenn du endlich aufhörst mich vor meinen Fehlern bewahren zu wollen!“

Ich spürte, dass sein Griff sich lockerte und er seine Arme wegzog, sodass ich ihm nun schnaubend gegenüber stand. Er war ebenfalls schwer am Atmen. Scheinbar war ich kein so leichter Gegner, wie ich gedacht hatte.

„Gut, dann geh wieder zu Marc und leg ihn flach“, zischte Adrian plötzlich und starrte mich mit glühenden Augen an.

Seine Worte trafen mich. Zu tief, als dass ich es hätte ahnen können. Stumme Tränen stiegen mir urplötzlich in die Augen, als mir bewusst wurde, wie Adrian mich gerade sah. Ich war das kleine Flittchen für ihn. Ich merkte, dass die Tränen meine Wangen herunterliefen und auf meinen Pullover tropften.

Die zornige Maske wich einem besorgten Gesichtsausdruck.

„Es tut mir Leid. Das war nicht…“

„Nein, es ist nicht deine Schuld. Es ist bloß…“, weiter kam ich nicht, denn ein heftiger Schluchzer entfuhr mir.

Wortlos schloss Adrian mich in seine Arme und hielt mich fest, als könnte ich jeden Moment zerbrechen. Zärtlich streichelte er mit einer Hand meinen Rücken und flüsterte mir beruhigende Worte zu. Ich krallte meine Hände in sein Shirt und genoss den Geruch on Orange und Rauch, der in meine Nase stieg. Es beruhigte mich und in Adrians Armen zu sein, fühlte sich nicht so komisch an, wie in den Armen von Marc zu liegen. Bei Adrian zu sein fühlte sich leider tausendmal besser an. Und das war ein guter Grund, erneut loszuflennen.


Adrian


„Hier“, sagte ich leise und legte eine Decke über Claire, damit sie nicht mehr fror.

Zum Glück weinte sie nicht mehr und nur ihre roten Augen zeugten von den salzigen Tränen.

„Es tut mir Leid“, flüsterte sie zum hundertsten Mal.

„Schon gt. Wir waren beide doof“, antwortete ich lächelnd und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht.

Ich ließ mich neben ihr auf die Couch fallen und schaltete den Fernseher ein. Stumm zappte ich durch die Sender und blieb schließlich bei Mr&Mrs. Smith hängen.

„Adrian?“

„Ja?“

Fragend schaute ich Claire an, die nervös auf ihrer Lippe kaute und leicht rot wurde.

„Kann man Küssen verlernen?“

Ungläubig schaute ich die blonde Schönheit neben mir an und versuchte ihre Worte in meinen Kopf zu bekommen.

„Ich denke nicht“, antwortete ich langsam, verstand jedoch nicht, wieso sie so was fragte.

„Wieso?“, hakte ich vorsichtig nach und ließ sie nicht aus den Augen. Sie strich sich eine lange Strähne hinter das Ohr und sah mich aus dem Augenwinkel an.

„Ich hatte Angst Marc zu küssen, weil mein letzter Kuss so lange her ist. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr weiß, wie das geht.“

Vorsichtig rückte ich näher, umfasste sanft ihr Kinn und zwang sie mir in die Augen zu schauen.

„Glaub mir, bei deinem Aussehen wird es keinen interessieren ob du küssen kannst.“

Damit konnte ich ihr ein kleines Lächeln entlocken, doch ich sah ihr an, dass es ihr noch nicht besser ging. Dabei wollte ich unbedingt, dass ihr es gut ging. Sie sollte keine Angst davor haben jemanden zu küssen, denn es stimmte. Selbst wenn sie eine schlechte Küsserin war, machte das nichts.

Nun war ich nervös, denn plötzlich erkannte ich die tiefe diese Situation. Ich hatte wahrscheinlich nur diese eine Chance um selber herauszufinden was sie mir bedeutete. Sie würde nicht mal den Gedanken hinter der Aktion verstehen. Sie würde nur denken, dass ich ihr helfen wollte. Also nahm ich allen Mut zusammen den ich hatte und sprach die Worte aus, die mir vielleicht zum Verhängnis werden würden.

„Küss mich.“


Kuss

Claire


„W-Was?“, stotterte ich und blickte Adrian mit offenem Mund an.

Hatte er mich gerade angewiesen ihn zu küssen oder hatte ich Halluzinationen?! Lächelnd betrachtete mich der hübsche schwarzhaarige Junge. Er verdrehte belustigt die Augen, als wäre das, was er mir anbot nicht so schlimm, wie es war.

„Komm schon Claire. Es ist nicht der Weltuntergang. Ein Kuss und du weißt, ob du’s noch drauf hast.“

Ich war absolut Sprachlos. Das ganze konnte doch nur ein mieser Scherz sein. Dachte Adrian wirklich, dass ich einfach so einen Jungen küsste? Natürlich war er nicht unattraktiv, im Gegenteil. Und ich konnte auch nicht behaupten, dass ich ihn nicht mochte. Nur war das Problem, dass ich ihn vielleicht zu sehr mochte. Mit anderen Worten: dieser Kuss würde meine Gefühle nur noch mehr durcheinander bringen.

Unsicher betrachtete ich Adrian, der mir plötzlich ziemlich nah war. Ich spürte seine Körperwärme und der verlockende Duft von Orangen und Rauch stieg mir in die Nase. Seine schwarzen, zerzausten Haare sahen auf einmal merkwürdig verrucht aus. Blaue Augen um deren Pupillen graue Sprenkel waren, schienen bis in mein Inneres zu blicken. Ich bemerkte seine markanten Gesichtszüge, die mir vorher noch nie so aufgefallen waren. Und dann fiel meine Aufmerksamkeit auf seine weichen, leicht geschwungenen Lippen, die eine magische Anziehungskraft auf mich hatten.

„Es ist nur ein Kuss“, flüsterte er, beugte sich leicht nach vorne.

Langsam hob er seine Hand und fuhr sie zu meiner Wange. Raue Finger strichen zärtlich über meine Haut und zeichneten meine Wangenknochen nach. Immer intensiver nahm ich seinen Geruch du seine Anwesenheit wahr.

„Ein Kuss Claire. Mehr nicht. Er wird keinem von uns etwas anhaben“, sprach er mit rauer Stimme weiter und jagte mir somit einen kalten Schauer über den Rücken.

„Nur ein Kuss?“, wiederholte ich leise und bewegte mich keinen Zentimeter, während Adrian näher kam. Seine Hand glitt langsam zu meinem Hals. Jeden Zentimeter den er berührte, wurde von tausenden von Stromschlägen heimgesucht und nahm mir so den Atem.

„Nur ein Kuss“, erwiderte er und legte vorsichtig seine Lippen auf meine.

Sie fühlten sich rau an und doch konnte ich in diesem Kuss so etwas wie Zuneigung spüren. Er lege seine Hand in meinen Nacken, presste meine Lippen sanft doller auf seine. Ich ließ es geschehen, genoss das Gefühl seiner Nähe. Sein Geruch benebelte meine Sinne, ließ mich langsam Unzurechnungsfähig werden.

Ein leiser Seufzer entfuhr mir, worauf er seinen Arm um meine Taille legte und mich enger an sich zog. Sein Kuss wurde langsam gieriger und er vergrub seine Hand in meinem Haar. In mir explodierte plötzlich alles. Ich hatte das Gefühl, dass Abermillionen von Schmetterlingen sich in meinem Bauch erhoben und bis in meine Fingerspitzen vordrangen. Ein unbeschreibliches Gefühl stieg in mir auf und verwirrte mich, doch es war egal.

Das einzige was zählte war Adrians Nähe.

Ich erwiderte den leidenschaftlichen Kuss, der mir den Atem raubte. Meine Finger krallten sich in sein Hemd und ich zog ihn näher zu mir. Doch er war nicht nah genug. Immer noch war zuviel Distanz zwischen uns. Ich bemerkte, dass seine Hand vorsichtig unter mein Shirt glitt und langsam über meinen Rücken fuhr. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, entfuhr mir ein leises Stöhnen, dass ihn nur noch mehr anzutreiben schien.

Mein Gehirn war ausgeschaltet und es gab nichts anderes mehr außer ihn und mich. Immer mehr verschmolzen wir zu einem. Unser Atem wurde schwerer und der Kuss immer leidenschaftlicher. Sein heißer Atem strich über meine Haut, erzeugte eine Gänsehaut bei mir. Seine Finger, die über meinen Rücken strichen, erweckten die Schmetterlinge zum Leben und brachten diese in Aufruhr.

Plötzlich ertönte ein lautes Klingeln. Doch wir konnten nicht sofort aufhören. Nur langsam lösten wir uns voneinander. Er entfernte sich von mir, zog seine Hände fort und blickte mir schwer atmend in die Augen.

Erneut ertönte das Geräusch der Türklingel. Mein Verstand setzte langsam wieder ein und mir wurde bewusste, was ich gerade getan hatte. Er schaute mich an. Mehr nicht. In seinem Blick erkannte ich so etwas wie Erkenntnis, doch er schien nicht sonderlich erfreut darüber, denn er legte seine Stirn in Falten.

Ein weiteres Mal klingelte es. Diesmal erhob sich Adrian fluchend und ging ohne mich weiter zu beachten zur Haustür. Ich blieb hingegen regungslos sitzen und starrte auf die Stelle, wo Adrian eben noch gesessen hatte.

Hatte ich ihn wirklich geküsst? Was war das für ein verrücktes Gefühl gewesen und wieso hatte mein Verstand ausgesetzte? War ich nun vollkommen verrückt?!

Oder…

Mir stockte der Atem.

War ich in Adrian verliebt?


Adrian


Ich war immer noch in Gedanken bei Claire, als ich die Tür öffnete und Jack eintrat. Er sagte etwas zu mir, doch ich hörte es nicht. Zu sehr war der Kuss noch in meinem Bewusstsein, als dass ich es einfach so hätte ignorieren können.

„Adrian?“

Gedankenverloren hob ich meinen Kopf, zwang mich, mich auf Jack zu konzentrieren der mich nachdenklich musterte.

„Was?“, fragte ich nach und versuchte die gegenwärtige Erinnerung von Claires Lippen zu verdrängen.

„Ich habe dich gefragt wieso du so lange gebraucht hast die Tür aufzumachen.“

„Ich ähm…“, setzte ich einen erbärmlichen Erklärungsversuch an und wunderte mich über mein ungewohntes Stottern.

Innerlich fing ich an eine Erklärung zusammen zu basteln, doch ehe ich eine plausible Ausrede finden konnte, sah ich, dass Jacks Blick an mir vorbei ging. Ich wandte mich um und erblickte Claire, die mit unordentlichen Haaren in der Tür zum Wohnzimmer stand und uns anschaute.

„Ich gehe ins Bett. Morgen ist Schule“, sagte sie leise, verschwand mit hochrotem, gesenktem Kopf in ihrem Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich, ohne dass ich reagieren konnte.

Ich schluckte schwer, drehte mich langsam zu Jack, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen anschaute. Natürlich würde er mich ausfragen. Er wusste schon, dass ich meine Gefühle für sie nicht zuordnen konnte und nun sah er deutlich, dass etwas passiert war, was mich aus der Bahn geworfen hatte.

Wortlos drehte ich mich um und ging Richtung Wohnzimmer. Doch dort würde ich nicht ungestört mit ihm reden können. Also öffnete ich das Fenster und kletterte auf das Dach. Kalter Wind blies mir durch die Haare, holte mich langsam wieder zurück in die Realität, sodass ich meine Gedanken langsam ordnen konnte. Auch wenn diese das reinste Chaos waren.

Ich winkelte meine Beine an und betrachtete die Dächer der Stadt. Kleine Lichter erhellten, die tiefschwarz Nacht und die Sterne verzierten den dunklen Himmel. Während ich meinen Blick über die Häuser gleiten ließ, hörte ich, wie Jack sich neben mich niederließ. Stumm hielt er mir eine Zigarette hin, die ich dankbar annahm. Ich brauchte jetzt dringend etwas um runter zu kommen. Er gab mir Feuer und ich merkte, wie die Zigarette sich entzündete. Mit einem tiefen Atemzug inhalierte ich den Qualm, der mich sofort beruhigte.

Einen langen Moment saßen wir nur nebeneinander und rauchten. Der kalte Wind ließ meine Muskeln versteifen, doch es war unwichtig.

„Willst du mir freiwillig erzählen was passiert ist oder muss ich dich verprügeln?“, durchbrach Jacks Stimme die Nacht, was mir ein kleines Lächeln auf die Lippen trieb.

„Ich habe sie geküsst“, antwortete ich, ehe ich es mir anders überlegen konnte.

„Wow“, brachte er nur hervor und zog an seiner Zigarette. Ich tat es ihm gleich.

„Wie war’s?“, fragte er nach kurzer Zeit.

„Ganz ehrlich?“

„Ganz ehrlich“, erwiderte er und ich wusste, dass er mich neugierig von der Seite musterte.

„Es war der absolute Hammer“, sagte ich lächelnd und spürte dieses unbekannte, wundervolle Gefühl in mir aufsteigen, wie ich es schon verspürt hatte, als ich Claire geküsst hatte.

„Also weißt du nun was du für sie fühlst?“

„Ja“, gab ich zu und wusste, dass es Konsequenzen haben würde.

„Und was?“, hakte Jack nach.

„Ich bin in sie verliebt“, flüsterte ich, denn die Worte klangen so unecht. Als wären sie nicht die Realität, denn ich hatte die Bedeutung dieser Worte noch nicht begriffen.


Claire


Ich lief schweigend neben Adrian her und lauschte seinen Worten. Seit gestern kam mir der Klang seiner Stimme vor wie ein Lied und ich brachte kein Laut heraus. Es war als würde mir ein Kloß im Hals stecken, wenn ich ihn sah. Jede kleinste, unbedeutende Berührung jagte mir einen Schauer den Rücken runter und ließ tausende von Schmetterlingen in meinem Bauch Rumfliegen.

„Ach Mist. Ich habe die Biologie Hausaufgaben nicht“, hörte ich ihn von der Seite fluchen.

Ich zwang mich ihn anzuschauen und nichts zu fühlen. Das Anschauen gelang mir auch, nur brach in meinem Inneren daraufhin eine Katastrophe aus. Erinnerungen, die sich in meinen Kopf gebrannt hatten, wurden wieder Allgegenwärtig und brachten mich aus dem Konzept.

„Du kannst von mir abschreiben“, sagte ich ihm und hoffte nicht wie ein verliebter Teenager auszusehen, was ziemlich schwer war, angesichts seiner Ausstrahlung.

„Wirklich? Du wärst damit meine Rettung Claire!“, freute er sich und schloss mich einen kurzen Moment in seine Arme.

„Nichts zu danken“, nuschelte ich, drückte ihm die Hausaufgaben in die Hand.

„Bis gleich“, verabschiedete er sich von mir und lief Richtung Informatikraum.

Kopfschüttelnd sah ich ihm nach und machte mich auf die Suche nach einem freien Klassenraum, da ich jetzt Freistunde hatte und diese dazu nutzen wollte meine Hausaufgaben zu erledigen.

Mit einem kurzen Blick in den erstbesten Raum den ich fand, versicherte ich mich, dass er leer war. Genervt von mir selber knallte ich meine Schultasche auf einen Tisch und ließ mich mit einem Seufzer auf einem kaputten Stuhl nieder.

Ich musste mich dringend zusammenreißen. Es war schrecklich, wenn ich in Arians Nähe war. Dann fühlte ich mich wie ein Fisch. Ich konnte nicht sprechen und starrte diesen Jungen, der schon fast ein göttliches Geschöpf war, dauernd an. Müde fuhr ich mir durch meine blonden, langen Haare und hielt einen Moment innen. Wieso konnte es nicht nur eine dämliche Schwärmerei sein?! Hätte ich ihn bloß nicht geküsst, wäre alles jetzt nicht so schrecklich. Ich fürchtete mich jetzt schon vor dem Training bei dem die Jungs häufig oben ohne trainierten. Wahrscheinlich würde ich mich sabbernd und verträumt an einem Sandsack stützen und Adrian angaffen.

Während ich in meinen Gedanken versunken war, hatte ich gar nicht bemerkt, dass jemand den Raum betreten hatte. Erst als ich hörte, wie der Stuhl neben mir zur Seite gezogen wurde, blickte ich auf.

„Oh bitte!“, sagte ich verächtlich, als ich erkannte um wen es sich handelte.

„Was für eine freundliche Begrüßung“, erwiderte Thomas mit einem schelmischen Grinsen.

„Hat man denn nirgendwo seine Ruhe?!“, schimpfte ich und machte mich dran, meine Sachen zusammen zu packen.

Doch als ich mein Buch nehmen wollte, dass ich Gedankenversunken ausgepackt hatte, griff Thomas nach meiner Hand und hielt sie fest umschlossen.

„Wie ich sehe ist dein Aufpasser heute nicht bei dir.“

„Ich brauche keinen Aufpasser“, zischte ich wütend und bemerkte, dass der Junge mit den braunen Locken sich bedrohlich näherte.

„Hat’s dir das letzte Mal nicht gereicht?!“

„Ich stehe auf Kratzbürstig“, antwortete er und beugte sich nach vorne.

„Und ich bin heute extrem schlecht gelaunt, also fordere mich nicht heraus!“, sagte ich mit unterdrückter Wut zu Thomas, dessen eine Hand sich schon auf meinem Oberschenkel befand.

„Du stehst doch drauf. Da bist du schon früher drauf abgefahren“, erwiderte er mit schleimiger Stimme, die einen Würgreiz bei mir hervorrief.

Er schien mir wirklich nicht zuzuhören, denn ich war wirklich schlecht gelaunt und es war für ihn nicht besonders sicher, sich in meinem derzeitigen Zustand, an mich ranzumachen. Wütend verpasste ich ihm eine Ohrfeige, als ich spürte, dass seine Hand immer höher glitt. Ein lautes Klatschen durchbrach die Stille des Raumes.

„Nimm deine Hand da weg“, forderte ich ihn freundlich auf.

Ungläubig starrte er mich an, doch dann erkannte ich einen Jagtinstinkt in seinen Augen und er zog mich ruckartig zu sich heran. Kurz bevor er seine Lippen auf meine pressen konnte, wurde Thomas von mir weggerissen.

Verwundert blickte ich mich nach meinem Unbekannten Helfer um, dem ich am liebsten eine Verpassen würde. Seit wann hatte eigentlich jeder das Bedürfnis mich zu Retten?!

„Hey!“, brüllte ich, als ich sah, wie Thomas und Adrian gegenseitig aufeinander einschlugen.

„Aufhören!“, kreischte ich wütend und zerrte Adrian von Thomas weg, der erneut zu einem Schlag ausholte. Mit einer schnellen Bewegung wehrte ich diesen ab und stieß Thomas ein Stück zurück.

„Verpiss dich Thomas!“, keifte ich den Jungen mit der aufgeplatzten Lippe an, der ziemlich zornig war.

Ich beobachtete Thomas solange, bis er den Raum verlassen hatte. Natürlich fielen die ein oder anderen Schimpfwörter und Drohungen, doch es machte mir nichts. Laut knallte er die Tür hinter sich zu. Ehe ich mich zu Adrian umdrehte, atmete ich einmal tief durch. Ich wusste, dass meine Gefühle gleich wieder Achterbahn fahren würden, doch zum Glück überwog noch die Wut.

Langsam drehte ich mich zu Adrian um und deutete ihm mit einer kleinen Handbewegung, sich auf einen Stuhl zu setzten, was er wortlos befolgte. Ich betrachtete sein Gesicht und konzentrierte mich auf seine Nase, aus der Blut lief. Das Kribbeln, wenn ich in seiner Nähe war, ignorierte ich.

„Du solltest ins Krankenhaus. Deine Nase könnte gebrochen sein“, bemerkte ich, als ich erkannte, dass sie angeschwollen und leicht krumm war.

Er öffnete seinen Mund und wollte widersprechen, doch das trieb mich nur noch mehr zur Weißglut.

„Halt deine verdammte Klappe! Wenn du schon wieder mein Retter spielen musst, dann wirst du gefälligst auf mich hören! Und misch dich nicht noch mal ein. Ich werde mit dem Vollidioten alleine fertig!“, zischte ich, nahm meine Tasche und ging voraus.

Adrian folgte mir und ich wusste, dass er verwirrt war. Ich wusste auch, dass es ungerecht war, aber ich hatte keine Lust mehr das Prinzesschen in Not zu sein. Hinzu kam, dass ich verwirrt war und nicht wusste, was ich mit meiner Gefühlswelt anstellen sollte. Dann waren da noch dieser Kuss und mein Teenanger Verhalten. Außerdem hätte ich Thomas am liebsten selber eine verpasst um mich abzureagieren, doch leider hatte Adrian mir das verwehrt. Und das alles, war die perfekte Kombination mich wütend zu machen.

Und das war ich definitiv.

Nur nicht auf Adrian oder die Welt.

Sondern auf mich ganz alleine.

Krankenhaus

Claire


„…und dann kam Adrian und hat sich mit Thomas geschlagen. Ich meine, denkt er, dass ich mich nicht selber wehren kann?! Ich bin doch kein kleines Kind!“, redete ich vor mich hin, während meine Großmutter mich von ihrem Krankenbett aus beobachtete.

Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen, welches die von mir geliebten Lachfalten zum Vorschein brachte. Sie sah besser aus, so frisch gewaschen und ohne die Schläuche, die in ihrem Mund steckten. Vielleicht war es nicht richtig, dass ich mich vor ihr über Adrian aufregte, doch sie hörte sich alles schweigend an und fragte das ein oder andere Mal nach. Ich glaube es tat ihr gut sich gebraucht zu fühlen. Zu merken, dass sie immer noch wichtig für mich war.

„Der Junge mag dich. Du solltest nicht so streng mit ihm sein“, sagte sie mit leiser Stimme.

Ein Seufzer entfuhr mir und ich setzte mich neben das Bett meiner Oma. Ich griff nach ihrer Hand und fuhr langsam über die knochigen Finger.

„Ich bin alt genug um auf mich selber aufzupassen.“

„Und er möchte dich nur beschützen. Egal wie alt du bist“, erwiderte sie und ich konnte mir ihre mahnenden Blicke nur zu gut vorstellen.

„Also sollte ich ihm das nicht so übel nehmen?“

„Nein. Er will dir nichts Böses. Im Gegenteil. Du solltest dich bei ihm entschuldigen und bedanken für seine Hilfe.“

„Du hast Recht“, gab ich zu, obwohl ich es immer noch nicht wahrhaben wollte.

„Magst du ihn?“, fragte meine Oma plötzlich und brachte mich damit völlig aus dem Konzept.

„Nein!“, protestierte ich sofort, was mich natürlich verriet.

Peinlich berührt über mein ungewolltes Geständnis, biss ich mir auf die Lippe und schaute schüchtern auf meine verschränkten Hände. Das sanfte Lachen meiner schwachen Großmutter brachte mich zum lächeln.

„Die Liebe der jungen Menschen ist schon etwas Wundervolles. Ich wünschte, ich könnte es auch noch einmal erleben“, sagte sie und strich mir dabei sanft über die Wange.

„Du solltest deinen Liebsten nicht zu lange alleine lassen unten in der Notaufnahme“, ermahnte sie mich mit einem wissenden Grinsen.

„Erstens: er ist nicht mein Liebster. Zweitens: wir sind nicht zusammen und drittens: er ist selbst Schuld. Wieso muss er sich auch aufführen, wie ein eingebildeter Gockel“, fluchte ich und griff nach meiner Schultasche.

„Hör auf die Ärzte und schlaf noch eine Runde. Ich komme morgen wieder vorbei“, sagte ich, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und verschwand möglichst schnell aus diesem Krankenzimmer.

Auch wenn ich den Anblick von ihr mittlerweile einigermaßen ertragen konnte, so war es immer noch nicht so erträglich, dass ich ewig bei ihr sitzen konnte. Die quälende Wut und Ungewissheit über die Täter schlich sich jedes Mal, wenn ich sie sah in meinem Kopf. Ich hatte mir geschworen sie zu finden und mich zu rächen. Das würde ich auch tun, nur leider hatte ich weder irgendwelche Hinweise noch die Zeit dazu und ein gewisser Adrian war dabei mir den Kopf zu verdrehen, was die ganze Sache nicht sonderlich erleichterte.

Ich stieß hart Luft aus und winkte einer Schwester, die mich freundlich anlächelte. Es war die, die mich gesehen hatte, als meine Großmutter aufgewacht war. Generell war das Krankenhaus teilweise so was wie mein zweites Zuhause. Die Ärzte und Schwestern kannten mich und sie ließen mich auch zwischen den Besuchszeiten zu meiner Großmutter, da ich öfter zu den Besuchszeiten Schule hatte und sonst maximal einmal meine Oma besuchen konnte. Ich hatte manchen von ihnen schon meine halbe Lebensgeschichte erzählt, weil sie nicht nachvollziehen konnten, wieso diese alte Dame mir so unendlich wichtig war. Danach konnten sie es jedoch ziemlich gut.

Mit schweren Schritten durchquerte ich die verwirrenden, schmalen Gänge des Krankenhauses. Leute in Rollstühlen oder Krücken kamen mir entgegen. Das machte mir nichts aus, doch jedes Mal, wenn ein abgemagerter Mensch, dessen Beine meine Handgelenkdicke hatten an mir vorbei kam, verspürte ich eine unendliche Menge an Mitleid. Diese Jugendlichen, manche sogar noch im Kindesalter, hungerten und fanden sich schön. Sie alle waren dem Tod bisher nur knapp entronnen. Trotzdem hungerten sie oftmals weiter oder übergaben sich.

Für mich war die Magersucht unbegreiflich und schrecklich. Man musste sich das mal vor Augen halten. Ein Mensch hungerte sich zu Tode, ignorierte das schmerzliche Hungergefühl und kämpft gegen seinen Überlebensinstinkt an. Nur um sich gegen seine Eltern zu behaupten oder um schöner zu werden. Diese Kranken waren die Schattenseite unserer so perfekten Gesellschaft.

Schönheitsideale und Familien, die eine Harmonie erzwingen und perfekt seien wollen, zerstören die Kindheit eines jeden Menschen und können ihn in den Tod treiben.

Mein Blick wanderte zu einem Mädchen, das um die Sechzehn sein musste. Ihr Haar sah glanzlos aus und ihre Gesichtsfarbe war kränklich weiß. In ihrer Hand hielt sie einen Apfel, den sie angewidert anblickte. Mit einem verabscheuenden Gesichtsausdruck pfefferte sie den Apfel in einen Mülleimer und setzte sich in eine Ecke.

Ohne Nachzudenken ging ich zu dem Mülleimer, nahm den Apfel heraus und ging zu dem spindeldürren Mädchen, das mich mit großen Augen abschätzig musterte.

„Auf der Welt hungern Millionen von Menschen und du schmeißt einen Apfel weg. Hungerst dich selber zu Tode, während andere ums Überleben kämpfen. Wie kannst du so was machen? Ich meine, deine Eltern können nicht so schrecklich sein und du bist doch wunderschön. Tu dir und deinen Eltern das nicht an. Sei froh, dass du Eltern hast. Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche“, sagte ich, drückte ihr den Apfel in die Hand und bedeutete ihr abzubeißen.

„Was fällt dir eigentlich ein?!“, zickte sie mich an und musterte mich überheblich von oben bis unten.

„Mir fällt ein, dass täglich Tausende an Hunger sterben. Mir fällt ein, dass du eine hübsche junge Frau bist, die es nicht nötig hat abzunehmen. Und mir fällt ein, wie wunderschön es ist eine Familie zu haben“, zischte ich zurück.

„Du hast doch keine Ahnung“, antwortete sie und senkte ihren Kopf ein Stück.

„Meine Eltern sind vor zwei Jahren gestorben. Ich habe nur noch meine Großmutter, die ebenfalls fast verstorben wäre. Ich bin alleine und ich beneide jeden, der eine Familie hat.“

Sie starrte mich mit traurigen Augen an.

„Das tut mir Leid. Ich wusste das nicht.“

„Schon gut“, erwiderte ich und winkte ab.

„Ich bin Johanna“, sagte das zierliche etwas vor mir und hielt mir eine knochige Hand hin.

„Ich heiße Claire“, antwortete ich und schüttelte ihr vorsichtig die Hand.

„Also bist du wegen deiner Großmutter hier?“, fragte sie freundlich nach und biss zu meiner großen Verwunderung mit einem Lächeln vom Apfel ab.

„Unter anderem. Ich muss jetzt auch weiter“, sagte ich und wandte mich ab zum gehen.

„Hey Claire?“

Ich blieb stehen und schaute die braunhaarige fragend an.

„Möchtest du mich und meine Freundinnen mal besuchen kommen?“

„Bei nächster Gelegenheit“, antwortete ich lachend, was sie mit einem hoffnungsvollen Lächeln wahrnahm.

Ich hob meine Hand und winkte diesem hübschen, mageren Mädchen, dass sich gerne an den Rande des Todes trieb, nur um schön zu sein und sich gegen ihre Eltern behaupten zu können.


Adrian


Neugierig beobachtete ich, wie Claire dem Magersüchtigen Mädchen winkte und in meine Richtung lief. Dieses Mädchen überraschte mich immer wieder und scheinbar wickelte sie nicht nur mich mit ihrem Charme ein, sondern auch andere.

Ein Engels Lächeln lag auf ihren Lippen und entfachte ein schreckliches Gefühl von Sehnsucht, wie ich es noch nie zuvor verspürt hatte. Ich presste mir den Kühlbeutel weiter auf meine geschwollene Nase und hoffte, dass mein verträumtes Lächeln nicht sonderlich auffiel. Doch lange konnte ich diesen Anblick von Claire nicht genießen, denn kaum erblickte sie mich, verschwand das selige Lächeln. Stattdessen starrte sie mich wütend an.

„Es tut mir Leid Claire“, sagte ich, als sie an mir vorbei rauschte Richtung Ausgang.

Mit einem Stöhnen folgte ich ihr aus dem nach Desinfektionsmittel riechendem Krankenhaus. Ich musste mich beeilen um mit ihr Schritt halten zu können und um nicht mit anderen Passanten zusammen zu stoßen. Claire jedoch achtete nicht auf mich, sondern sauste auf die leere Bushaltestelle zu.

Das kann ja nur ein wunderschöner Heimweg werden, dachte ich ironisch und stellte mich neben Claire.

„Du machst das nie wieder. Nie wieder schlägst du dich mit Thomas. Und schon gar nicht um mir zu helfen. Ich kann das alleine, ich bin nicht mehr klein Claire! Außerdem küsst du mich nie wieder, ohne dass ich dir meine ausdrückliche Zustimmung gebe!“, herrschte sie mich plötzlich von der Seite an.

Von dem plötzlichen Wutausbruch überrumpelt blieb ich wie angewurzelt stehen und beobachtete, wie ihre Stirn sich in Falten legte, wenn sie sauer war. Einen Finger hielt sie bedrohlich nah vor meine Nase und blickte mich mit ihren ozeanblauen Augen an. Gerade als ich in Versuchung war, in diesen zu versinken, senkte sie ihren erhobenen Finger, atmete tief durch und schloss für einen kurzen Moment ihre Augen.

„Und danke“, fügte sie leise hinzu, wobei sie mich zaghaft anlächelte.

„Nichts zu danken“, brachte ich völlig überrumpelt hervor und starrte die hübsche Frau vor mir verwirrt an.

Sie drehte sich weg, sodass ich ihr Profil betrachten konnte. Die gerade Nase, die sanft geschwungenen Lippen und das blonde, glänzende Haar. Nervös kaute sie auf ihrer Lippe herum, was wirklich süß aussah. Ihr Blick war auf ihre Schuhspitzen gerichtet.

„Kann ich’s denn wenigstens noch?“, fragte sie plötzlich und eine leichte Röte schoss in ihr Gesicht.

Ich blinzelte ein paar Mal und versuchte den Sinn dieser Frage zu verstehen, doch ich schien auf einem Schlauch zu stehen.

„Was?“, fragte ich verwundert nach.

„Ob ich noch küssen kann“, zischte sie und wurde ein wenig röter. Immer noch war ihr Blick auf ihre Schuhspitzen gerichtet und sie verschränkte ihre Finger ungeduldig miteinander.

„Oh“, brachte ich stumpf hervor, hätte mich dafür am liebsten Geohrfeigt.

„Also, soweit ich als Profi das beurteilen kann, warst du akzeptabel“, sagte ich monoton.

Langsam drehte sie ihren Kopf zu mir und schaute mich ungläubig an.

„Akzeptabel?!“, piepte sie aufgebracht, was mir ein Grinsen auf die Lippen zauberte.

„Ja, du musst noch ein wenig an deiner Spukeproduktion arbeiten.“ Scherzte ich weiter, während sich ihre Augen zu schlitzen verengten.

„Wenn ich so drüber nachdenke muss ich schon sagen: Du.Warst.Grottig.“

„Ich?!“, wiederholte ich empört, was ihr ein überhebliches Grinsen auf die Lippen trieb.

„Du weißt einfach nicht was eine Frau will“, konterte sie lässig.

„Komischerweise schien ich genau zu wissen was du wolltest“, flüsterte ich ihr hinterhältig ins Ohr. Langsam wandte sie ihren Kopf zu mir, blickte mich mit hochgezogener Augenbraue kritisch an.

„Schließlich warst du diejenige die angefangen hat zu stöhnen.“

Bevor ich reagieren konnte, bekam ich einen schmerzhaften Schlag gegen meine Schulter.

„Aua“, entfuhr es mir und ich schaute Claire verdattert an.

„Selbst Schuld du widerlicher Macho.“

Vorsichtig legte ich meinen Arm um ihre Schulter.

„Belassen wir’s einfach dabei, dass wir beide verdammt gut küssen können“, sagte ich und machte ihr damit ein freundliches Friedensangebot.

Und ich musste wirklich zugeben, dass Claire verdammt gut küssen könnte. Ihre Lippen waren so was wie ein Gottesgeschenk und wenn ich daran dachte, was sie mit diesen anstellen konnte, wurde mir ganz anders. Ich war schließlich auch nur ein armer Mann!

„Na gut, Angebot akzeptiert“, lachte sie und ließ mich sie berühren.

Dass mich das Gefühlsmäßig ins Chaos stieß, versuchte ich gekonnt zu ignorieren. Und dann fiel mir etwas ein, was ich ihr schon vor langer Zeit hatte mitteilen wollen. Nachdenklich kratzte ich mir den Kopf. Wie brachte ich ihr das ganze am sanftesten bei?

„Claire?“

„Ja?“

„Du..ähm.. hast doch mal gefragt woher ich das Geld für deine Klamotten hatte.“

Stumm nickte sie, während ihre Augen mich durchbohrten. Sie schien zu wissen, dass ihr etwas Unerfreuliches bevorstand.

„Also, das Geld hatte ich von meiner Großmutter. Und sie möchte dich kennen lernen“, ließ ich die Katze aus dem Sack.

„Deine Großmutter?!“, wiederholte sie lautstark.

„Ja. Wir sind Übermorgen zu einem Familienessen eingeladen.“

„Familienessen“, wiederholte sie monoton, starrte Tranceartig auf den Asphalt vor ihren Füßen.

„Und ich muss dir leider sagen, dass meine Familie nicht die freundlichste ist. Ums genau zu sagen: Meine Mutter ist eine Bestie, die alles zerfleischt, was in meine Nähe kommt.“

Familientreffen

Claire


Zweifeld musterte ich die Schönheit im weiß, die mir direkt gegenüberstand. Ihre blonden Haare fielen sanft über ihre Schultern und ihre großen blauen Augen bildeten einen großen Kontrast im Gegensatz zu dem weißen Kleid das sie trug. Es war schlicht und doch wunderschön. An der Taille wurde es mit einem ebenfalls weißen Band enger geschnürt, sodass es weich fiel. Der V-Ausschnitt betonte ihr Dekolleté genau so wie die silberne Kette, an deren Ende eine einzige weiße Perle hing. Nervös schaute die Frau auf ihre hohen weißen Schuhe. Sie kam sich wahrscheinlich so vor wie die Frau in der Raffaelo-Werbung und ehrlich gesagt, sah sie auch wirklich ein wenig so aus.

„Denkst du wirklich, dass das das passende ist für ein Familienessen?“, fragte ich René, der mich entzückt betrachtete.

„Es sieht fantastisch aus! Sie werden dich lieben!“, rief er begeistert aus und strahlte über das ganze Gesicht.

Ich wendete mich von meinem Spiegelbild ab und blickte den Designer ungläubig an.

„Sie werden mich nicht lieben, sie werden mich nach Raffaelo fragen!“, erwiderte ich aufgebracht.

„Rede meine Kleider nicht schlecht!“, mahnte er mich mit erhobenem Finger, worauf ich mich mit einem Seufzen umdrehte und mich erneut im Spiegel betrachtete.

Es war ungewohnt mit weißen Handschuhen und auch dieser elegante Hut verunsicherte mich. Doch ich nahm diese Hürde auf mich, weil Adrians Großmutter mir geholfen hatte. Und sie mochte Hüte, das hatte Adrian mir zumindest gesagt. Ich würde mir Mühe geben nichts falsch zu machen. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie man sich in gehobener Gesellschaft verhielt.

„Perfektes Timing Adrian!“, flötete René und holte mich damit aus meinen wirren Gedanken.

Durch den Spiegel hindurch betrachtete ich den schwarzhaarigen Jungen, der gerade den Raum betreten hatte und mich nun mit einem seligen Lächeln betrachtete.

„Du siehst wunderschön aus“, sagte er, was mich sofort erröten ließ.

„Du siehst auch nicht schlecht aus“, antwortete ich schüchtern und versuchte die Hitze in meinem Gesicht zu vertreiben.

Und er sah wirklich nicht schlecht aus. Göttlich war eine durchaus untertriebene Beschreibung für sein Aussehen. Denn er trug einen perfekt geschnittenen Anzug, der seine durchtrainierte Figur betonte. Darunter ein weißes Hemd mit einer schlichten, dünnen, schwarzen Krawatte. Bei dem Gedanken mit diesem Mann von Adonis zu einem Familienessen zu fahren, wurde mir ganz anders.

Langsam kam er auf mich zu, musterte mich dabei von oben bis unten. Als er dicht vor mir stand, verbeugte er sich und gab mir einen Handkuss. Sein Blick suchte jedoch die ganze Zeit meinen, sodass ich die Möglichkeit hatte mir jedes noch so kleine Detail, dieses Gesichtes einzuprägen.

Ein Kribbeln breitete sich in meinem Magen aus. Ich fühlte mich in diesem Moment, wie eine kleine Prinzessin, die von einem Prinzen zum Essen ausgeführt wurde. Leider war es kein Essen, sondern ein Familientreffen, das ich wahrscheinlich nicht überleben würde.

Langsam erhob er sich und lächelte mich dabei ungewollt verführerisch an.

„Genug geturtelt ihr beiden. Ihr müsst los, sonst kommt ihr zu spät!“, unterbrach René den schönen Augenblick.

„Schon gut“, sagte Adrian genervt und verdrehte die Augen.

Er machte eine kleine Handbewegung, dass ich voraus gehen sollte, was ich auch tat. So konnte er meine geröteten Wangen immerhin nicht sehen, denn es war mir wirklich peinlich, dass René mich so verträumt gesehen und uns als Turteltäubchen bezeichnet hatte.

Mit meinen weißen High Heels lief ich vorsichtig aus dem Designerladen, da es geregnet hatte. Bis ich die schwarze Limousine erblickte, fühlte ich mich noch soweit okay, dass ich sagen konnte, ich würde diesen Tag überleben. Doch dann stand plötzlich dieser Chauffeur vor mir und hielt mir freundlich lächelnd die Tür auf.

Und da rutschte mir mein Herz in die Hose.




„Ich fühl mich wirklich nicht gut Adrian“, sagte ich, als dieses Monster von Villa vor uns auftauchte.

Es war schon schlimm genug, dass ich diesen teuren Fummel trug und in einer Limousine herumgefahren wurde. Doch nun schien das alles seinen Höhepunkt zu erreichen, denn nach einer ellenlangen Auffahrt, kam dieses wunderschöne, alte Haus in Sicht. Fein gemachte Leute stiegen aus teuren Autos und stolzierten die Marmortreppen der Villa empor.

Ich schluckte schwer, als der Wagen vor eben dieser hielt.

„Das schaffst du schon“, ermutigte er mich, bevor die Türen geöffnet wurden.

Ich sah verzweifelt zu, wie er sich elegant aus dem Auto erhob. An ihn würde ich nie rankommen. Selbst wenn er im Kartoffelsack auflaufen würde. Ich stieß einmal hart Luft aus, ehe ich mich möglichst elegant aus dem Auto erhob.

Unsicher schaute ich die eleganten Leute an, die mich kritisch musterten. War mir denn so sehr anzusehen, dass ich nicht dazugehörte?

„Zeig denen bloß nicht, dass du Angst hast“, flüsterte Adrian mir zu und hielt mir seinen Arm hin, den ich dankbar annahm. Meine Handtasche hätte ich vor Aufregung wahrscheinlich zerrissen.

„Das sagst du so einfach“, zischte ich lächelnd zurück.

„Jahrelange Übung“, konterte er mit einem Zwinkern und führte mich diese unendlich lange Treppe hoch.

Ich ließ meinen Blick über die gigantischen, verzierten Säulen gleiten und ignorierte das Getuschel der Anwesenden. Diese Villa erinnerte mich wirklich an ein Märchenschloss. Als ich meinen Blick senkte, sah ich, dass Adrian einem Butler zunickte, der uns in ein Zimmer wies, dass wahrscheinlich der Salon war. Vorher nahm der Butler, aber meine schwarze Jacke ab und hing sie an die Garderobe.

Ich brachte keinen Ton hervor, als ich den Salon betrat, der mit antiken Möbeln eingerichtet war. Hinter uns wurde die Tür geschlossen, sodass eine unangenehme Stille sich breit machte. Dann erblickte ich sie. Die alte Dame trug ein weinrotes, knielanges Kleid. Ihre schwarzen Haare hatte sie hochgesteckt, was sie streng aussehen ließ.

Langsam erhob sich die Frau aus dem alten Ledersessel und musterte mich von oben bis unten, was mir ziemlich peinlich war.

„Hallo Elisabeth“, sagte Adrian kühl, wobei ich spürte, dass er sich verkrampfte.

„Ich habe die schon mehrmals gesagt, dass du mich Oma nennen kannst, Adrian“, erwiderte sie ebenso kühl.

Die Atmosphäre in diesem Raum erinnerte mich an die Antarktis.

„Ich will dich aber Elisabeth nennen“, antwortete er monoton, worauf sich die Lippen der Frau zu einem schmalen Strich verzogen.

„Na sieh einer an. Mein Sohn traut sich zum Familientreffen“, lallte eine hohe Frauenstimme hinter mir.

Rasch drehte ich mich um und erblickte eine etwas rundlichere Frau, die ein volles Weinglas in der Hand hielt und mich wütend anblickte.

„Komm wir gehen“, flüsterte Adrian mir zu und zog mich an der Hand hinaus aus dem Salon.

Während ich die beiden Frauen anschaute, die mich wütend musterten, bekam ich ein mulmiges Gefühl im Magen. Ich verstand nicht, wieso sie mich nicht leiden konnten, schließlich kannten sie mich nicht mal.

„Ich stelle dir lieber mal die netten Verwandten vor“, flüsterte Adrian, legte seinen Arm um meine Taille und führte mich in einen großen Wintergarten, der herbstlich Dekoriert war.

In diesem gigantischen Raum waren ebenfalls eine Menge an Menschen, die mich kritisch musterten und eifrig tuschelten. Ich schien so etwas wie eine Attraktion zu sein, was mich ziemlich verunsicherte.

„Sieh einer an. Unser Ausreißer Adrian Hutton!“, brüllte plötzlich jemand von hinten und fiel dem schwarzhaarigen Jungen um den Hals. Überrascht drehte ich mich ruckartig herum und sah, wie ein Junge mit dunkelbraunen Haaren, Adrian die Haare zerwuschelte.

„Verdammt Josh du ruinierst meine Frisur!“, lachte Adrian lauthals und rangelte sich mit dem Jungen.

„Das was du auf dem Kopf trägst kann man keine Frisur nennen!“, antwortete Josh lachend und boxte Adrian gegen die Schulter.

„Ach und diese Wollmütze, die du auf dem Kopf trägst kann man eher Frisur nennen?!“, empörte sich der Schwarzhaarige.

„Nichts gegen meine Wollmütze!“, schimpfte Josh, als sein Blick auf mich viel.

„Aber lass uns doch mal die Haare vergessen. Darf ich fragen, was das für ein Engel ist, in dessen Begleitung du heute erschienen bist“, schmeichelte er und machte eine tiefe Verbeugung, die schon lächerlich wirkte.

Adrian verdrehte genervt die Augen und schlug Josh auf den Hinterkopf.

„Benimm die gefälligst Josh!“

Dieser tat das mit einem lachen ab, beäugte mich jedoch weiterhin neugierig.

„Ich bin Claire“, brachte ich zu meinem verwundern ziemlich selbstbewusst hervor.

„Claire. Was für ein wunderschöner Name. Und diese zarte Stimme, engelsgleich“, flötete er.

„Schlag sie dir gleich wieder aus dem Kopf. Die ist eine Nummer zu groß für dich“, ermahnte ihn Adrian, was mir ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

„Ach und für dich nicht?!“ empörte Josh sich.

„Doch für mich auch“, fügte er mit einem kurzen Blick auf mich hinzu, was meinen Mund auf einmal trocken werden ließ.

„Ich bin beeindruckt. Dann scheinst du dir diesmal jemanden mit Niveau ausgesucht zu haben.“

„Diesmal?“, fragte ich leicht verwundert nach und warf Adrian einen fragenden Blick zu.

„Ouh. Der Herr hat gar nicht von seinen anderen Begleitungen erzählt?“

„Nein, das muss mir entgangen sein“, sagte ich scharf und konzentrierte mich auf Josh, das Adrian mir scheinbar nicht alles erzählen wollte.

Stattdessen stöhnte er genervt auf.

„Er hat bis jetzt immer eine von seinen Bettgeschichten mitgebracht. Strohdumme Hühner, die unsere Oma an den Rande des Wahnsinns getrieben haben“, lachte Josh, als er sich erinnerte. Im Gegensatz zu ihm, schien Adrian jedoch nicht so belustigt zu sein.

„Scheinbar bist du nicht so eine Bettgeschichte, wenn ich dich so betrachte“, fügte er nachdenklich hinzu und warf einen Blick auf Adrian.

„Scheinbar“, wiederholte ich und schaute Adrian streng an.

„Man Verlangt nach mir“, bemerkte Josh und schaute in die Richtung, aus der sein Name gerufen wurde.

„Ich hoffe wir sehen uns gleich wieder Engel“, sagte er, verneigte sich und zwinkerte mir zu, ehe er verschwand.

Ich sagte nichts, sondern starrte Adrian wütend an. Es erklärte so einiges, wenn er sonst immer billige Flittchen mitgebracht hatte. Deswegen wurde ich so kritisch gemustert und jeder tuschelte über mich. Sie hielten mich alle für eine seiner Bettgeschichten.

„Ich muss auf Toilette“, sagte ich kurz angebunden und drehte mich um.

Ich war wirklich wütend, dass er mir das nicht mitgeteilt hatte.

„Claire warte!“, sagte Adrian, lief hinter mir her und griff nach meiner Hand, die ich ihm jedoch schnell entzog.

„Lass mich los!“, zischte ich leise und funkelte ihn böse an.

Zu meinem verwundern, ließ er die Schultern leicht hängen. Ich glaubte so etwas wie Traurigkeit in seinen Augen aufblitzen zu sehen, als ich mich abwandte. Ich brauchte dringend Abstand, andernfalls würde ich ihn zusammenschlagen!

Ohne Vorwarnung knallte plötzlich jemand gegen mich und ich spürte, wie etwas feuchtes sich in den Stoff meines Kleides sog. Ich sog scharf Luft ein vor Schock und starrte überrascht das kleine brünette Mädchen, das mich mit großen Augen anschaute.

„Tut mir leid!“, stotterte die kleine Schönheit und ich sah, wie Tränen in ihre Augen aufstiegen.

„Schon gut“, sagte ich lächelnd und hoffte, dass sie nicht anfangen würde zu weinen.

„Es ist nur Wasser“, fügte ich freundlich hinzu.

„I-I-Ich w-wollte-e d-d-das n-nicht“, stotterte sie aufgebracht.

„Alles gut. Es ist nur Wasser. Das trocknet wieder.“

„Du bist nicht sauer?“, fragte sie vorsichtig und schaute mich argwöhnisch an.

„Kein bisschen. So was kann schließlich jedem Mal passieren. Vor allem solchen kleinen, hübschen Träumerinnen wie du“, sagte ich mit einem Zwinkern und erkannte ein schüchternes Lächeln auf den Lippen des kleinen Mädchens.

Ich nickte kurz zur Seite um ihr deutlich zu machen, dass sie spielen gehen sollte, was sie mit einem breiten Grinsen wahrnahm. Eine kleine Zahnlücke blitze dabei zwischen ihren Zähnen auf. Dann stürmte sie davon. Mit einem Lächeln schaute ich ihr nach, bevor ich mich an mein nasses Kleid erinnerte. Mit einem Seufzer betrachtete ich den großen nassen Fleck und machte mich auf der Suche nach dem Badezimmer.


Adrian


„Ich kann echt nicht glauben, dass du sie getestet hast!“, zischte ich wütend.

Meine Oma nippte an ihrem Champagner und beachtete mich nicht weiter. Ihre Augen waren auf das kleine Mädchen gerichtet, dass davonlief und meiner Großmutter zunickte.

„Wieso hätte ich es deiner Meinung nach nicht tun sollen?“

„Weil Claire anders ist!“

„Ist sie das?“, fragte meine Oma mich mit hochgezogenen Augenbrauen und blickte mich zum ersten Mal an.

„Oh ja, das ist sie. Also lass sie gefälligst in Ruhe!“

„Ich werde es mir überlegen“, sagte sie und machte sie fort in den Speisesaal.

Zornig folgte ich ihr. Am liebsten wäre ich ihr schon an die Gurgel gegangen und meiner Mutter, die das Spektakel neugierig beobachtete, ebenfalls. Das Sahnehäuptchen dieses Chaos bildete die Tatsache, dass Claire sauer auf mich war. Josh würde noch ärger mit mir bekommen für seinen Auftritt.

Ich stampfte in den Speisesaal und ließ mich neben Josh nieder, der mich durchdringend musterte.

„Was?!“, fauchte ich ihn an und passte auf, dass niemand außer Claire sich neben mich setzte.

„Du stehst echt auf die Kleine oder?“

„Sie ist nur eine Freundin.“

„Eine Freundin auf die du stehst“, erwiderte er und grinste mich schelmisch an.

„Halt deine Klappe“, zischte ich.

Wenn er mich weiter provozierte, würde ich ihn schlagen! Doch ehe ich mir diese brutale Szene im Kopf weiter ausmalen konnte, betrat Claire den Raum. Wortlos setzte sie sich neben mich.

„Claire, lass mich…“

Ihre Hand flog hoch, deutete mir, dass sie kein Wort von mir hören wollte. Ihr Blick unterstrich diese Geste, denn er schüchterte mich ziemlich ein. Also gehorchte ich und verstummte. Zugleich erhob sich meine Großmutter am Ende des Tisches, die das Essen, wie immer eröffnete.

„Ich freue mich euch alle bei dem diesjährigen Familientreffen begrüßen zu können. Wie vielen von euch aufgefallen ist, ist auch dieses Jahr eine Person unter uns, die nicht zur Familie zählt…“

Ich kochte innerlich vor Wut, als ihr Blick auf Claire fiel und sie kritisch musterte.

„Eine widerliche, kleine Made, die sich an das Familienerbe ranmachen will“, zischte meine Mutter laut.

Der gesamte Saal verstummte und die Aufmerksamkeit aller, lag auf Claire, die ein wenig geschockt aussah.

„Es reicht“, erwiderte ich wütend und verspürte den Drang meiner Mutter einen Teller über den Kopf zu ziehen.

„Es ist doch wahr! Schon wieder schleppst du eine kleine Prostituierte an, die nur aufs Geld aus ist!“, lallte sie wütend durch den stillen Saal.

Ich wollte mich erheben, meine Mutter anschreien, doch da spürte ich eine sanfte Berührung auf meiner Hand. Rasch blickte ich Claire an, die kaum merklich den Kopf schüttelte.

„Ich bin hier scheinbar nicht erwünscht. Wenn sie mich bitte entschuldigen“, sagte sie monoton und erhob sich.

Bevor ich handeln konnte, verließ sie mit erhobenem Haupt den Speisesaal. Stolz und selbstbewusst schien ihr niemand was anhaben zu können, was mich beeindruckte. Die schwere Tür fiel hinter ihr ins Schloss, doch niemand rührte sich. Es blieb totenstill. Ich erhob mich, wollte ihr nach, doch bevor ich mich auf dem Weg machen konnte, meldete meine Großmutter sich zu Wort.

„Setzt dich Adrian!“, sagte sie in strengem Ton, doch ich wollte nicht hören.

„Ich sagte du sollst dich setzten!“, schrie sie nun.

„Werde ich aber nicht!“, brüllte ich zurück.

„Doch wirst du!“

Sie erhob sich, kam auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Ich werde mich um sie kümmern“, flüsterte sie sanft und zum ersten Mal seit Ewigkeiten erkannte ich meine zärtliche Großmutter wieder.

Ihre Augen strahlten seit langem Wärme aus, was mich so durcheinander brachte, dass ich mich setzte. Ich sah ihr nach, wie sie den Saal verließ um Claire nachzulaufen. Dem Mädchen, das ich vergötterte.


Claire


Ich betrachtete das Blumenmeer, das sich um mich herum befand und langsam zu erkennen gab, dass der Herbst sich über das Land legte. Die Farben verblassten und die Blumen neigten ihren Kopf. Bunte Blätter spielten mit dem Wind und flogen wild umher.

Ich lehnte mich an das Geländer der weißen Gartenlaube, an deren Säulen Rosen dem Himmel entgegen ragten. Ein leichter Windstoß wirbelte meine Haare durcheinander, die ich nicht länger unter meinem Hut verbarg. Seufzend betrachtete ich diesen und meine weißen Handschuhe, die mir völlig falsch vorkamen. Nichts dieser Dinge erinnerte mich an mich selber. Ich kam mir vor wie in einem Märchen in das ich nicht reingehörte.

Zu meinem Bedauern hatte ich mich in den falschen Märchenprinzen verliebt, wie ich feststellen musste.

„Sie tragen ein schönes Kleid, Claire“, ertönte eine sanfte Stimme hinter mir.

Ich wirbelte überrascht herum und erblickte Adrians Großmutter in ihrem weinroten Kleid.

„Woher…“, setzte ich an und strich mir eine Strähne hinters Ohr.

„Ich habe es vermutet. Sie sind keine Frau die einfach verschwindet“, sagte sie mit einem breiten Lächeln, was mich verunsicherte. Hatte sie mich eben nicht noch verabscheut?

„Würden Sie sich zu mir setzten? Ich bin schon etwas älter und das stehen tut meinen schwachen Beinen nicht gut.“

Sie setzte sich auf die kleine Bank und ließ mir Platz, damit ich mich setzten konnte, was ich auch tat. Allerdings nachdenklich und äußerst vorsichtig. Ich musterte sie kritisch und versuchte das Spiel welches sie mit mir spielte zu verstehen.

„Ich muss gestehen, dass sie mich beeindrucken“, sagte die alte Dame nach einem Moment des Schweigens und betrachtete mich lächelnd.

„Sie sind so gar nicht die Art von Frau, die ich von Adrian gewöhnt bin“, fügte sie hinzu, nachdem ich weiterhin schwieg.

„Wissen Sie, Adrian ist mein liebster Enkel, doch er ist Eigensinnig. Er hat bis jetzt immer Frauen mitgebracht, die ihm nichts bedeutet haben. Meistens habe ich es geschafft sie innerhalb kürzester Zeit zu vertreiben“, lachte sie und blickte einen kurzen Moment auf den Boden, ehe sich ihr Blick wieder auf mich richtete.

„Doch Sie. Sie sind anders“, fügte sie nachdenklich hinzu.

„Sie weichen mir nicht aus.“

„Ich wüsste nicht wieso ich ihnen ausweichen sollte“, erwiderte ich leicht trotzig, was sie mit einem Lächeln abtat.

„Vielen Dank für die Kleidung“, sagte ich, denn mir war bewusst, dass sie alles bezahlt hatte.

„Es war mir ein Vergnügen. Vor allem da ich jetzt sehe, wem ich geholfen habe.“

Diesmal war es an mir zu lächeln.

„Ich hätte wirklich nicht damit gerechnet, dass Adrian je eine intelligente, hübsche, junge Dame mitbringt“, lachte sie.

„Aber nun würde ich gerne mehr über sie erfahren. Hätten sie Lust mir ihre Geschichte zu erzählen und wie sie Adrian trafen?“

„Wenn sie genug Zeit haben, gerne“, sagte ich freundlich, was sie mit einem Nicken bestätigte.

Und dann fing ich an ihr meine Lebensgeschichte zu erzählen. Die Geschichte die nur Adrian und meine Großmutter kannte.


Adrian


„Verdammt mir reicht’s“, fluchte ich und schob meinen Stuhl nach hinten.

„Wo willst du hin?“, fragte Josh mit vollem Mund und beobachtete, wie ich aufstand.

„Claire und Elisabeth suchen. Die sind schon seit zwei Stunden weg. Nicht das der Drache sie aufgefressen hat“, zischte ich und stürmte aus dem Speisesaal, während neugierige Augepaare mir folgten.

Ich hätte es wissen müssen. Natürlich war Claire die reinste Attraktion auf unserem Familientreffen. Die Attraktion, die für Unterhaltung und Skandale sorgen konnte. Doch was keiner wusste, war, dass sie mir wichtig war. Nie im Leben hätte ich ihr das angetan, wenn meine Großmutter nicht darauf bestanden hätte sie kennen zu lernen. Leider war ich es ihr schuldig, schließlich hatte sie ihre Kleidung bezahlt. Und Claire hatte ich natürlich nicht davon überzeugen können, sich das ganze gut zu überlegen. Sie hatte sofort zugestimmt.

Ich schnappte mir meine Jacke von der Garderobe und verließ das Haus. Kalter Wind pfiff mir um die Nase und ließ mich erzittern.

Suchend blickte ich mich um und hatte den Verdacht, dass sie sich bei dem Blumengarten befanden. Meine Großmutter war schließlich Hobbygärtnerin, wie Claires Oma.

Also machte ich mich auf den Weg und lief über das große Anwesen, wobei ich die „Rasen nicht betreten“-Schilder ignorierte. An so was hatte ich mich noch nie gehalten.

Und dann sah ich sie.

Meine Großmutter hatte sich bei Claire eingehackt und zusammen spazierten beide seelenruhig über das Anwesen. Sie lachten ein ehrliches Lachen und strahlten über beide Ohren.

Claire drehte ihren Kopf und erblickte mich. Sie hob ihre Hand und winkte mir. Verwirrt steuerte ich auf die beiden Frauen zu, die sich scheinbar blendend verstanden.

„Na gut meine Liebe. Wir sehen uns dann Sonntag“, hörte ich meine Großmutter zu Claire sagen, die die indirekte Frage mit einem Nicken beantwortete und meine Oma in die Arme schloss.

„Bis dann Elisabeth“, erwiderte Claire und gab ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange.

Ich betrachtete das Spektakel mit hochgezogenen Augenbrauen und starrte Claire verwirrt nach, als sie an mir vorbei lief. Irgendetwas lief hier meiner Ansicht nach total schief! Hatten die beiden sich für Sonntag verabredet?!

„Kommst du Adrian?“, riss mich Claire aus meinen Gedanken.

„Du solltest die Lady nicht so lange warten lassen mein Lieber“, lachte meine Großmutter und zwinkerte mir zu.

„Ja..ähm…tschüss“, brachte ich durcheinander hervor und folgte der fröhlichen Claire.



„Wir sind Sonntag bei ihr beim Brunch!?“, wiederholte ich ungläubig, während ich Claire in der Limousine gegenüber saß.

„Ja. Und du wirst da mit hinkommen. Das bist du mir schuldig!“, zischte sie wütend.

„Wieso bin ich dir das schuldig?!“, keifte ich sie an.

„Du hättest mir ruhig sagen können, dass du dort sonst nur mit deinen Bettgeschichten dort aufläufst! Denn deine gesamte Familie hält mich für eine Schlampe. Und das bin ich nicht!“

„Das bist du auch nicht! Ich verstehe nur nicht, wieso wir bei Elisabeth zum Brunch eingeladen sind!“

„Weil du froh sein kannst, dass du eine Großmutter hast! Du ziehst dich in dein Schneckenhaus zurück und vergisst deine liebe Oma, die nur das Beste für dich will“, sagte sie mit einem gequälten Gesichtsausdruck, der mich mitten ins Herz traf.

„Okay, wir gehen Sonntag dahin“, gab ich nach, woraufhin sich ein siegessicheres Lächeln auf Claires Gesicht bildete.

„Hey, bilde dir nichts drauf ein, dass ich nachgebe!“, sagte ich mit erhobenem Zeigefinger, doch bevor ich wütend werden konnte, schlang Claire ihre Arme um mich und brachte mich so zum verstummen.

Ich roch diesen verführerischen Kirschduft und fühlte ihr weiches Haar an meinem Hals.

„Danke“, flüsterte sie nah an meinem Ohr.

Ihr heißer Atem strich über mein Ohr, meinen Hals hinab, vernebelte mir die Sinne.

„Schon gut“, murmelte ich und erwiderte diese betörende Umarmung.


Schuldgefühle

Claire


„Guten Tag“, begrüßte ich die Krankenschwester mit braunem, langem, welligem Haar.

Ihre Augen blickten mich neugierig an.

„Guten Tag. Wie kann ich ihnen helfen?“, erwiderte sie.

„Ich suche nach einer Johanna. Sie hat einen braunen Bob und ist ungefähr so groß wie ich.“

„Zimmer 215“, sagte die Frau kurz angebunden, was ich mit einem Nicken abtat.

Also machte ich mich auf die Suche nach Johannas Zimmer. Ich hatte vor meine Großmutter gleich zu besuchen, wollte vorher jedoch noch mal Johanna treffen. Irgendetwas an ihr fand ich sympathisch. Vielleicht die Tatsache, dass sie keine wirklichen Eltern hatte, da sie ihre hasste. Oder es lag daran, dass sie im Gegensatz zu mir so verdammt Selbstbewusst war. Trotz ihrer Krankheit beeindruckte sie mich und ich verspürte den Drang ihr zu helfen.

Vorsichtig klopfte ich an die Zimmertür und wartete einen Moment bevor ich eintrat. Der Anblick der sich mir bot, schockte mich leicht. Denn in diesem Raum befand sich ein abgehungertes Mädchen, neben dem ich wie ein dickes Nilpferd wirkte. Als Johanna mich erblickte, fing sie an zu Lächeln und erhob sich.

„Claire!“, rief sie freudig aus.

„Hallo Johanna“, erwiderte ich grinsend.

Auf so eine freundliche Begrüßung hatte ich mich wirklich nicht eingestellt.

„Setzt dich! Ich freu mich, dass du wirklich mal vorbei schaust.“

Ich ließ mich auf einem Stuhl nieder und betrachtete, das kahle Zimmer. Es schmerzte mich zu sehen, dass jemand der soviel Leid ertragen hatte, nun in so einer lieblosen Umgebung hausen musste.

„Ich weiß, es ist nicht sonderlich wohnlich“, seufzte sie und erriet meine Gedanken.

„Schon gut. Ich weiß, dass du dich hier nicht wirklich häuslich einrichten darfst“, sagte ich mit einem Lächeln.

„Ich wollte mal sehen, wie es dir geht und ob du deine Äpfel isst“, lenkte ich zwinkernd ab, worauf sie zum Glück einging.

„Ich esse immer meine Äpfel! Nach so einer Standpauke kann ich gar nicht anders!“, lachte sie herzlich, was ich mit einem frechen grinsend abtat.

„Sag mal, darfst du ausgehen Johanna?“, fragte ich vorsichtig nach.

„Ja. Wieso fragst du?“

Verwundert blickte sie mich an. Scheinbar war ich für die gesamte Menschheit ein offenes Buch, denn selbst dieses zierliche Mädchen schien mich schon jetzt durchschaut zu haben.

„Ein Freund von mir feiert seinen Neunzehnten Geburtstag. Und ich wollte fragen, ob du Lust hast mitzukommen. Mal raus aus diesem Krankenhaus“, erklärte ich.

Sie starrte mich verwundert an. Dann senkte sie traurig ihren Kopf, was mich nachdenklich werden ließ. Hatte ich etwas falsch gemacht? Plötzlich fiel eine Träne auf ihre Bettdecke und mich überkamen Schuldgefühle.

„Johanna?“, fragte ich leise.

Ein leiser Schluchzer ertonte, dann hob sie ihren Kopf und schaute mich mit tränenden Augen an.

„Es ist okay. Aber…mich hat seit Monaten niemand gefragt, ob ich mit ihm aus diesem Krankenhaus kommen möchte. Alles nur, weil ich so dünn bin. Ich habe keine Freunde mehr“, schluchzte sie.

Vorsichtig legte ich ihr eine Hand auf den Rücken und blickte ihr sanft in die Augen.

„Dann sind wir ab jetzt Freunde“, stellte ich klar.

Sie schniefte einmal und griff nach einem Taschentuch um sich die Nase zu putzen.

„Wirklich?“

„Ja. Ich bin sowieso jeden Tag hier. Dann kann ich auch noch einen Abstecher zu meiner Freundin machen“, sagte ich mit einem Zwinkern, was ihr ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

„Also bist du dabei?“, fragte ich freundlich.

„Ich habe nichts zum anziehen.“

„Dann werden wir morgen wohl shoppen gehen müssen.“

Ich erhob mich langsam und bevor ich reagieren konnte, hatte sie mich in ihre Arme geschlossen.

„Danke Claire.“

„Schon gut“, murmelte ich und strich dem zierlichen etwas unbeholfen über das Haar.

Sie drückte mich einmal kräftig, bevor sie von mir abließ und mich ziehen ließ.

„Claire?“

Ich hatte gerade den Raum verlassen wollen, als sie meinen Namen nannte und mich auf der Lippe kauend anschaute.

„Ja?“, fragte ich nach und legte meinen Kopf leicht schief.

„Wieso hilfst du mir?“

„Weil ich denke, dass jeder eine Chance verdient hat Sachen in Ordnung zu bringen. Und weil ich weiß, wie es ist keine Freunde zu haben“, erwiderte ich und konnte ein trauriges Lächeln nicht verbergen. Sie nickte und ich verließ den Raum.

Gedankenverloren machte ich mich auf den Weg zu meiner Großmutter. Die Besucherzeit hatte vor einer Viertelstunde begonnen und diesmal hatte ich keine Schule zu der Zeit. Ich hatte ihr eine Menge zu erzählen. Zum einen war dort dieses Familienessen, das ziemlich chaotisch gewesen war und dann war da noch Adrians Geburtstagsfeier. Natürlich wusste ich nicht, was ich ihm schenken sollte, sodass ich morgen mit Johanna einen Wettlauf gegen die Zeit starten durfte. Außerdem hatte ich dieses nervige Gefühl, wenn ich in seiner Nähe war. Es brachte mich jedes Mal aus dem Konzept und so langsam konnte ich mich selber nicht mehr davon überzeugen, dass er nur eine kleine Schwärmerei war.

Während ich meinen Gedanken nachhing, betrat ich die Intensivstation und schlenderte zu dem Zimmer meiner Großmutter. Zuerst registrierte ich die Person, die dort saß gar nicht. Zweimal schaute ich hin um mich zu versichern, dass ich keine Halluzinationen hatte.

„Elisabeth?“, brachte ich überrascht heraus.

Freundlich kam die Großmutter von Adrian auf mich zugelaufen und schloss mich in ihre Arme. Ich war zu Perplex um eine Regung zu zeigen.

„Schön dich zusehen Claire“, begrüßte sie mich und führte mich, wie ein kleines Kind an das Bett meiner Großmutter, die ich fragend anschaute. Diese brachte jedoch nur ein Lächeln zustande und schaute dann erneut zu Elisabeth.

„Hallo Claire“, sagte meine Oma mit etwas festerer Stimme.

Ich gab ihr rasch einen Kuss auf die Wange.

„Also Claire. Ich möchte dir nicht deine Zeit mit deiner Großmutter stehlen. Deswegen mache ich es kurz“, setzte die alte Dame an und bedeutete mir mit einer Handbewegung mich zu setzten. Wortlos gehorchte ich.

„Da es deiner Großmutter besser geht, soll sie bald in eine Reha-Klinik eingewiesen werden. Diese befindet sich jedoch mehrere Hundert Kilometer von hier entfernt. Das heißt, du würdest deine Oma kaum sehen. Darum kam ich auf die Idee zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen“, fuhr sie fort und setzte sich nun an die andere Seite von dem Bett meiner Großmutter.

„Ich habe, wie du weißt, ein ziemlich großes Anwesen auf dem ich alleine lebe. Und wie deine Großmutter habe ich eine vorliebe für Blumen“, sie warf einen liebevollen Blick zu meiner Oma.

„Ich möchte dich fragen, was du von der Idee hältst, deine Großmutter bei mir unterzubringen. Es würde nichts kosten, ich wäre nicht mehr alleine, du könntest deine Oma jeden Tag besuchen und sie würde die beste ärztliche Betreuung bekommen, die ich finden kann.“

Kritisch beäugte ich die alte Frau mit den schwarzen Haaren und strengen Gesichtszügen. Zu meiner Verwunderung lag Liebe in ihren Augen und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass sie schlechte Absichten hatte. Kurz wanderte mein Blick zu meiner Oma, die mich ebenfalls lächelnd anschaute.

„Das ist dein Ernst?“, fragte ich vorsichtig nach.

„Ja“, antwortete sie.

„Ich habe sowieso nicht viel zu sagen. Das kommt ganz auf meine Großmutter an. Wenn sie damit einverstanden ist, dann bin ich es auch“, erklärte ich der reichen Großmutter und schaute meine Oma neugierig an.

„Ich bin damit einverstanden“, sagte sie schließlich, woraufhin sich die beiden alten Frauen anlächelten.


Adrian


„Adrian, wir müssen reden!“

Die Stimme von Claire ließ mich mitten in der Bewegung innehalten, sodass Marc mir einen Tritt versetzten konnte und ich fluchend zu Boden ging.

„Das hört sich nach einer Ehekrise an“, sagte Marc, als er mir aufhalf, wobei er ein Grinsen nur schwer unterdrücken konnte.

Wütend versetzte ich ihm einen Hieb in die Seite, was ihn schmerzlich aufstöhnen ließ, ehe er eine Reihe von Schimpfwörtern aufsagte.

„Was ist?“, fragte ich die Schönheit, die mit schnellem Schritt auf mich zusteuerte. Doch sie ignorierte meine Frage, griff nach meiner Hand und zog mich fort, Richtung Umkleide. Ich warf einen letzten, fragenden Blick zu den Jungs, die diesen Schulter zuckend erwiderten. Scheinbar waren sie genauso planlos, wie ich.

Ich wurde in die Herrenumkleide geschoben und die Tür hinter uns fiel ins Schloss.

„Wenn du mit mir rummachen willst musst du nur was sagen. Du musst mich nicht gleich entführen“, scherzte ich, wofür ich einen tötenden Blick zugeworfen bekam.

„Deine Oma hat beschlossen meine bei sich aufzunehmen“, platze es plötzlich aus ihr heraus und ein verzweifelter Gesichtsausdruck kam zum Vorschein.

„Wie?“, fragte ich Plump und realisierte das, was sie gesagt hatte noch nicht.

„Verdammt Adrian, nimm die Tomaten aus deinen Ohren!“, zischte sie plötzlich und ließ sich auf einer Bank nieder.

„Sie wollen zusammenziehen?“, fragte ich erneut und ließ mich neben ihr nieder. Obwohl ich mindestens einen halben Meter von ihr entfernt saß, fing mein Magen an zu explodieren und dieses Gefühl breitete sich ruckartig aus.

„Ja.“

„Und was ist daran so schlimm?“, fragte ich verwundert, woraufhin sie ihren Kopf hob und mich ungläubig anschaute.

„Was daran so schlimm ist?! Ich habe keine Ahnung, wie ich mich jemals bei deiner Großmutter für das alles bedanken soll!“, sagte sie aufgebracht und fuchtelte wild mit den Armen umher.

„Mach dir deswegen keine Gedanken. Ich bezweifle, dass sie will, dass du dich bedankst.“

„Und was soll ich stattdessen machen?“

Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute sie mich an. Natürlich wollte sie jetzt eine Antwort von mir haben und ich hatte auch eine, doch das wollte ich ihr nicht unter die Nase reiben. Eigentlich.

„Also…na ja..“, stotterte ich und spürte, dass ihr Blick immer bohrender wurde.

„Adrian“, hörte ich sie langsam und bedrohlich meinen Namen aussprechen.

„Es ist vielleicht möglich, dass sie möchte, dass du mir Schuldgefühle machst“, nuschelte ich, mied dabei ihren Blick.

„Ich soll dir Schuldgefühle machen? Wieso das?“

Mein Blick haftete auf meinen Schuhspitzen. Sollte ich ihr wirklich erklären, wieso sie meine Aufpasserin spielen sollte? Und wieso sie das schon längst war?

„Ich ähm..“, setzte ich an, doch ich stockte.

Plötzlich spürte ich, wie warme, weiche Hände meinen Kopf fassten und ihn drehten, sodass ich den blonden Engel anschauen musste. Ich schluckte schwer, denn das ganze brahcte mich noch mehr aus dem Konzept.

„Du sollst mir Schuldgefühle machen, weil ich früher viel scheiße gebaut habe“, seufzte ich und ein verwirrter Ausdruck stahl sich auf Claires Gesicht.

„Was für scheiße? Das mit den Begleiterinnen weiß ich doch schon.“

Zu meinem Bedauern lösten sich ihre Hände von meinem Gesicht.

„Das ist doch nur ein kleiner Teil, dessen was ich für scheiße gebaut habe.“

„Dann erklär“, forderte sie, lehnte sich zurück und ließ mich nicht aus den Augen.

Ich raufte mir nervös die Haare und stöhnte auf. Das konnte doch nicht wahr sein. Sollte ich ihr allen ernstes in dieser miefigen Umkleide meine Vergangenheit erzählen? Zumindest die schlechten Sachen?

„Ich war ein Schläger“, brachte ich mühsam hervor.

„Wie meinst du das?“

„Wie soll ich das schon meinen?! Ich bin auf der Straße Rumgelaufen und habe Leute zusammengeschlagen!“

„Wieso?“, fragte sie mit leiser Stimme nach.

„Weil es mir Spaß gemacht hat! Ich fand es cool stärker zu sein, als anderes. Und dann…“, ich brach ab.

„Und dann?“ wiederholte sie fragend.

Ich warf ihr einen schmerzlichen Blick zu.

„Dann ist jemand im Krankenhaus gelandet. Und nie mehr aufgewacht“, flüsterte ich und sah den entsetzten Gesichtsausdruck von Claire.

„Hör zu..“, setzte ich an, wollte mich rechtfertigen, damit sie nichts falsches dachte.

„Du hast jemanden umgebracht“, wiederholte sie leise und ich wusste, dass es keine Frage war, trotzdem nickte ich bestätigend.

„Wen?“, fragte sie scharf und ich merkte, dass sie wütender wurde.

Ich spürte einen Stich in meinem Herzen. Wieso hatte ich drauf gehofft, dass sie nicht weiter nachfragte? Mittlerweile kannte ich sie doch gut genug.

„Eine alte Frau“, flüsterte ich.

Ich konnte regelrecht sehen, wie in ihrem Kopf alles anfing zu rattern. Wie sie Vergleiche anstelle und Erinnerungen hochkamen. Ihr Blick wurde glasiger, ungläubig, bis sie mich schließlich angewidert anblickte. Bevor ich etwas sagen konnte, war sie aufgestanden und drängte sich an mir vorbei aus der Umkleide.

„Es war ein Unfall!“, schrie ich ihr verzweifelt nach, während sie auf die Tür zulief.

„Erzähl mir nicht so eine Kacke! Du bist nicht doof und wusstest genau, was passieren kann! Ich frage mich nur, wieso solche Dreckskerle, wie du nicht im Knast sitzen!“, schrie sie und ich sah Tränen der Wut ihre Wangen herunter laufen.

Sie schaute mich mit tränenden Augen an, schüttelte ihren Kopf und verschwand. Meine Kehle war, wie zugeschnürt. Ich brachte kein Laut heraus. Mein Magen tobte und mein Herz raste, während es schmerzte.

Wieso hatte ich ihr es erzählt? Wieso hatte ich nicht etwas gewartet? Es war meine Vergangenheit, die ich hinter mir gelassen hatte und nun schien sie mich einzuholen. Verjagte das Mädchen, das mir soviel bedeutet. Und ich war mir sicher, dass sie mir das nie verzeihen würde.


Motive

Claire


„Er war also ein Schläger?“, fragte Johanna nachdenklich nach, während sie ihren Espresso umrührte.

Ich nickte stumm. Immer noch machte es mir zu schaffen, dass Adrian jemanden getötet hatte. Es hätte meine Großmutter sein können. Er war so gewesen, wie die Schläger, die meine Oma ins Krankenhaus gebracht hatten. Und wussten diese nicht auch genau was sie taten? Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es ein Unfall war.

„Hast du ihn mal die ganze Geschichte erzählen lassen nachdem du weggerannt bist?“

Ich schüttelte kaum merklich meinen Kopf und starrte auf meinen Latte Machiato. Wieso hätte ich ihm auch zuhören sollen? Was gab es noch zu sagen?

„Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass er das ganze wirklich bereut und es ihm schwer gefallen ist, dir das zu erzählen?“

„Wieso sollte ihm das schwer gefallen seien?!“

Ich hörte mich an, als spräche ich über etwas, dass mich anwiderte. Es widerte mich wirklich an darüber nachzudenken, dass ich ihn mochte und dass er Gefühle haben könnte. Denn meiner Meinung nach hatten solche Menschen keinerlei Gewissen.

„Weil er genau wusste, wie du reagieren würdest?!“, sagte Johanna und blickte mich durchdringend an.

Sie hatte Recht. Natürlich hatte sie Recht und das wussten wir beide. Doch ich wollte es nicht wahrhaben. Nicht einsehen, dass er seine Taten bereute. Was hatte er wohl damals gedacht, als er meine Geschichte gehört hatte? Hatte er es verdrängt oder sich schlecht gefühlt?

„Ich sollte ihm also nicht böse sein?“, flüsterte ich und starrte weiterhin auf den Löffel, den ich in der Hand hielt.

„Nein. Du solltest eher froh sein, dass er so ehrlich zu dir war. Er hätte dir das auch alles verheimlichen können. Und so wie ich das von dir alles gehört habe, ist er gar kein schlechter Kerl.“

Langsam nickte ich, ließ ihre Wort im Raum hängen und dachte darüber nach. Sie hatte Recht. Adrian war kein schlechter Typ gewesen und auch sonst hatte er mir nie gezeigt, dass er ein schlechter Mensch war. Im Gegenteil.

„Du feierst heute Abend aber trotzdem mit oder?“, fragte sie und schaute mich hoffnungsvoll an.

Würde ich mitfeiern? Ich wollte das gerne, doch ich konnte ihm noch nicht in die Augen schauen. Außerdem hatte ich ihn den ganzen Morgen gemieden und war heimlich still und leise verschwunden. Geredet hatten wir auch nicht mehr und wahrscheinlich war er ziemlich sauer auf mich.

„Ich denke schon“, nuschelte ich, konzentrierte mich auf mein Getränk.

„Gut. Alleine bekomme ich das sonst glaub ich nicht auf die Reihe“, sagte Johanna schüchtern lächelnd.

„Ach das bekommst du schon hin“, winkte ich ab.

„Bleibt trotzdem die Frage, was wir ihm schenken“, seufzte die Magersüchtige.

Ich seufzte ebenfalls, denn wir zerbrachen uns schon eine halbe Ewigkeit den Kopf darüber. Nachdenklich glitt mein Blick durch die Fußgängerzone, die ich von meinem Sitzplatz aus gut überblicken konnte. Menschen unterschiedlichster Kulturen hetzten durch den Alltag. Andere schlenderten gemütlich umher und lachten. Kleidungsgeschäft, Schuhgeschäfte und Drogeriemärkte wurden von den Passanten angesteuert. Nur ein kleines Laden an einer Ecke wurde von vielen gemieden. Neugierig betrachtete ich die Zeichnungen und Fotos, die im Schaufenster ausgestellt waren.

Es war ein Tatoostudio.

Tatoo.

„Wir schenken ihm ein Tatoogutschein!“, platze es aus mir heraus.

„Wie kommst du auf die Idee?“, fragte Johanna verdutzt.

„Ich glaube ihm würde das gefallen“, murmelte ich.

„Dann sollten wir einen Gutschein kaufen. Aber ich muss zurück ins Krankenhaus und mich noch mal melden. Kannst du das alleine machen?“, fragte sie entschuldigend.

„Natürlich. Kein Problem“, erwiderte ich und trank den letzten Schluck aus meiner Tasse.

Gleichzeitig standen Johanna und ich auf und wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung.

„Bis nachher.“

„Bis gleich“, antwortete ich und winkte ihr, als sie zu der Bushaltestelle lief.




Ich war nervös, als ich dieses kleine Tatoostudio betrat. Normalerweise war das ganze nicht meine Welt und tätowierte Leute jagten mir des Öfteren Angst ein. Doch diesmal musste ich meinen beschissenen Schweinehund überwinden. Schließlich ging es um ein Geschenk für Adrian!

Neugierig ließ ich meinen Blick durch den Raum wandern, der nur spärlich beleuchtet wurde. Die Luft war stickig und die Wände waren mit Zeichnungen tapeziert. Langsam betrachtete ich die Motive, die von grauenhaften Monstern bis wunderschönen Frauen reichten.

„Kann ich ihnen helfen?“

Geschockt wirbelte ich herum und erblickte einen älteren Mann, der mich lüstern von oben bis unten betrachtete.

„Ich würde gerne einen Gutschein kaufen“, murmelte ich und beschloss das nächste Mal nicht so enge Kleidung anzuziehen.

„Klar. Komm mit“, wies er mich an und führte mich zu einem Tresen, der mit Kram voll gestellt war.

„Was für einen Betrag?“

„Fünfzig Euro“, sagte ich und beschloss den grossteil dieses Geschenkes zu übernehmen.

Der Herr nickte und machte einen Gutschein fertig. So lange betrachtete ich noch die unterschiedlichen und interessanten Motive dieses Ladens bis mein Blick auf eines viel, dass von anderen verdeckt wurde.

„Zahlen Sie Bar?“

Ich nickte stumm. Meine Neugierde war geweckt, sodass ich dem Mann rasch einen fünfziger in die Hand drückte.

Mit einem kleinen Lächeln nahm ich den Gutschein entgegen und schlenderte zu diesem Bild. Vorsichtig hob ich de drüber geklebten Motive an und betrachtete die wunderschöne Zeichnung.

„Gefälltes Ihnen?“, hörte ich die freundliche Stimme des Verkäufer hinter mir.

„Es ist wunderschön“, murmelte ich und prägte mir die Einzelheiten ein.

„Möchten Sie es haben? Es würde ihnen bestimmt stehen.“

Stirnrunzelnd betrachtete ich den Mann und wendete mich noch einmal dem Motiv zu, das mich wirklich faszinierte. Es erinnerte mich an Adrian und wie er mir geholfen hatte. Ich war niemand, der Tatoos toll fand. Meistens amüsierte ich mich über die Menschen, die welche hatten. Doch plötzlich verstand ich die Leute. Sie wollten ihre Vergangenheit in Erinnerung behalten und ich wollte es auch. Ich wollte nicht den Jungen vergessen, der mir geholfen hatte. Der mich verändert hatte.

„Ja“, sagte ich selbstsicher zu dem alten Mann, der anfing zu lächeln.

„Aber sie müssen einen Namen einarbeiten. Und ich brauche das Tatoo sofort.“

„Ich habe Zeit. Der Laden ist leer. Also wird das wohl kein Problem darstellen“, erwiderte er zwinkernd und wirkte nicht mehr so schmierig, wie vorhin.

„Wie lautet denn der Name?“, fragte er nach.

„Adrian“, antwortete ich und hoffte, dass ich meine Entscheidung nicht bereuen würde.


Adrian


„Sie wird schon kommen“, hörte ich Jack sagen, der mir schon den ganzen Tag gut zuredete.

Leider war ich anderer Überzeugung, schließlich hatte sie mich heute Morgen gemieden und war Hals über Kopf verschwunden. Jetzt saßen wir im Garten von Marc, der diesen zur Verfügung gestellt hatte um meinen Neunzehnten zu feiern. Das Lagerfeuer brannte schon und ich sah, wie Jenna die Marshmallows hungrig betrachtete. Ich zog meine Beine näher an meinen Körper und ignorierte die Unterhaltung zwischen meinen Freunden, die sich über das gute Wetter und die milde Temperatur unterhielten.

Ich betrachtete, wie das Holz langsam verrußte und sich die Flammen ausbreiteten. Hitze ging von dem nicht weit entfernten Lagerfeuer aus.

Ein schlechtes Gewissen plagte mich schon die Ganze Zeit und so langsam hatte ich das Gefühl innerlich zu verbluten. Sobald ich an sie dachte, spürte ich eine Million schmerzhafter Stiche in meinem Herzen und das grauenvolle Gefühl der leere breitete sich in meinem Magen aus.

Wieso hatte ich ihr erzählt, dass ich so ein Idiot war? Ich hätte es ihr später erzählen sollen. Sie nicht ins kalte Wasser schmeißen sollen. Doch nun hatte ich dieses Chaos erzeugt.

Ich stieß einen wütenden Laut aus und raufte mir energisch die Haare. Am liebsten hätte ich mir selber den Arsch versohlt.

„Mach dir nicht solche Gedanken“, kam es von Jenna.

„Ich hätte meine Klappe halten sollen“, seufzte ich und ließ meine Schultern hängen.

„Du wolltest nur ehrlich sein.“

Verzweifelt schaute ich Jenna an, die meinen Blick liebevoll erwiderte. Natürlich war auch ihr nicht entgangen, dass Claire mir wichtig war. Und Marc und Jack hatten ihr alles erzählt, sodass Jenna mich mit ihrer weiblichen Intuition, wie meine Freunde es nannten, zur Seite stehen konnte.

„Ich wollte ehrlich sein und habe sie dazu gebracht mich zu verabscheuen.“

„Das glaube ich nicht. Sonst würde sie gerade nicht durchs Gartentor spazieren.“

Mein Kopf schoss in die Höhe und meine Augen suchten nach Claire, die mit einem kleinen Lächeln den Garten betrat, gefolgt von einer Magersüchtigen namens Johanna, die ich schon im Krankenhaus gesehen hatte. Sofort sprang ich auf und lief auf die beiden Frauen zu, die näher kamen. Mein Herz raste, während ich Claire näher betrachtete.

Ihre Haare hatte sie locker Hochgesteckt. Eine enge Jeans und eine Lederjacke mit den dazu passenden Steifeletten. Sie war kaum Geschminkt und doch sah sie wie immer perfekt aus.

Ich sah, dass Johanna Claire durchdringend anblickte, ehe sie mich umarmte.

„Alles Gute zum Geburtstag. Und danke für die Einladung“, sagte die junge Frau, bei der ich Angst hatte die Umarmung zu erwidern, denn sie wirkte so zierlich.

„Danke“, murmelte ich, dabei suchte mein Blick jedoch den von Claire.

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Johanna erst mich und dann Claire anschaute, ehe sie zu meinen Freunden verschwand. Weder die hübsche Blonde, noch ich beachteten die Magersüchtige, die grinsend und kopfschüttelnd ging.

Ich räusperte mich, hielt meinen Blick gesenkt und machte einen kleinen Schritt auf Claire zu, die ebenfalls auf den Boden schaute.

„Du bist gekommen“, stellte ich nüchtern fest, wagte es ihr Gesicht zu betrachten.

„Ich bin gekommen“, wiederholte sie, wich meinem Blick jedoch weiterhin aus.

„Das freut mich“, sagte ich ehrlich, woraufhin sie ihren Kopf hob und mich anschaute.

„Es tut mir Leid. Das was ich gesagt habe war nicht sonderlich freundlich“, entschuldigte sie sich und schaute mich mit traurigen Augen an.

„Schon gut. Ich kann dich verstehen“, winkte ich ab, versank in diesen ozeanblauen Augen, die mich anstarrten.

Um mich herum verschwamm die Wirklichkeit. Sie war das einzig wahre, das was immer Richtig für mich sein würde. Das Einzige auf der Welt, das mich interessierte, um das ich mich sorgte. Es war ein krasses Gefühl und ich fing an, wie ein verliebter Idiot zu Lächeln, was sie erwiderte. Innerlich veranstaltete ich eine riesen Feier und ich hatte das Gefühl Luftsprünge machen zu können, doch gleichzeitig, zog mich alles zu ihr und hielt mich auf den Boden.

„Also, alles Gute“, grinste sie, ehe sie mich in eine Umarmung schloss, die ich sofort erwiderte.

Es war keine freundschaftliche Umarmung, so kam es mir zumindest vor. Sie dauerte zu lange und wir hielten einander zu sehr fest. Ich presste mein Gesicht in ihre Haare und atmete diesen betörenden Duft ein. Langsam ließ ich meine Hand über ihren Rücken zu ihrer Schulter gleiten, malte mir gedanklich aus, wie sie auf einen Kuss reagieren würde.

„Aua!“, schrie sie auf, als ich ihre Schulter berührte.

Ruckartig löste sie sich von mir und ich sah zu meinem Verwundern ein schmerzverrzertes Gesicht.

„Was..?“, fragte ich, doch sie deutete auf Marc, der mit Marshmallows winkte.

„Nachher“, sagte sie, nahm mich an die Hand und zog mich zum Lagerfeuer.

Doch ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden. Was hatte sie mit ihrer Schulter angestellt?

Leidenschaft

Claire


„Das ist nicht fair! Du hast viel größere Hände, als ich!“, schimpfte ich mit Adrian, der schon wieder das Daumencatchen gewonnen hatte.

„Dann musst du halt mehr essen“, scherzte er und hielt mir einen Marshmallow unter die Nase.

Grinsend schaute ich ihn an und pustete vorsichtig, da er noch ziemlich heiß war. Der Duft von Caramel stieg mir in die Nase und ließ mich wohlig aufseufzen. Ich raffte meine Lederjacke enger an mich, da es langsam kühler wurde. Langsam öffnete ich meinen Mund und biss den Marshmallow vom Holzspieß, an dem er steckte.

„Heiß!“, murmelte ich mit offenem Mund und fächelte mir Luft zu.

„Weichei!“, sagte Adrian und schüttelte mit gespielter, überheblicher Miene seinen Kopf.

„Wie war das?“, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen nach.

„Nix“, winkte er ab, doch ich fixierte ihn weiterhin.

Er schaute unbeteiligt in Lagerfeuer, als ich mich auf ihn stürzte und ihm die Haare zerwuschelten. Wir fielen in das feuchte Gras und er versuchte seine Hände schützend über seinen Kopf zu halten, doch diese waren damit beschäftigt mich von ihm zu drücken. Allerdings war ich zu zäh, sodass er es aufgab und nach meinen Händen griff, die ich immer wieder gekonnt entzog.

„Wie hast du mich genannt?!“, fragte ich böse und zog meine Hand schnell zur Seite, damit er sie nicht bekam.

„Ich habe dich Schatz genannt!“, log er mich eiskalt an.

„Du sollst doch nicht lügen“, ermahnte ich ihn und piekte ihn in die Seite, was ihn zusammen zucken ließ.

„Ist ja gut! Ich ergebe mich!“, lachte er laut, erhob seine Hände um mir seine Unterlegenheit zu demonstrieren.

„Geht doch“, grinste ich und krabbelte von ihm herunter.

„Das war eine ganz gemeine Aktion von dir.“

„Immer wieder gerne“, sagte ich mit einem Augenzwinkern, wofür er mir einmal kurz meine Haare verwuschelte.

Dabei fiel mein Blick auf Jenna und Jack, die einander umschlangen und sich gegenseitig abschlabberten. Marc hatte Johanna schon vor einer halben Stunde zum Krankenhaus zurück begleitet, sodass nur noch wir vier hier waren. Ich war jedoch davon überzeugt, dass Jenna und Jack anderes im Sinn hatten, als sich zu unterhalten. Mit einem kleinen Nicken in die Richtung des verliebten Pärchens machte ich Adrian klar, dass wir uns langsam verabschieden sollten. Sein Blick flog kurz zu den beiden und er nickte stumm.

„Wir hauen dann mal ab“, sagte Adrian und erhob sich, doch die Knutschenden ignorierten ihn.

Mit einem verwirrten Ausdruck schaute er mich an, hielt mir die Hand hin und half mir auf. Ich zuckte mit den Schultern.

„Lass sie“, murmelte ich und wir schlenderten durch den Garten, wobei wir noch einmal zurück blickten.

Wir schlossen das quietschende Gartentor hinter uns und traten auf die verlassene Straße. Zu meinem eigenen Bedauern merkte ich, dass ich ziemlich angetrunken war. Zwar war ich noch bei vollem Bewusstsein, doch ich war ziemlich mutig. Ohne große Bedenken hatte ich angefangen mich mit Adrian zu unterhalten und auch er schien das Geschehene vergessen zu haben. Selbst die Schmerzen des Tatoos spürte ich nicht mehr so extrem, wie vorher. Auch die Schmetterlinge in meinem Magen hatten den Abend bis jetzt überstanden. Kein einziges Mal war ich rot angelaufen oder war Adrian ausgewichen.

„Ich hätte dir das nicht in der Kabine sagen sollen“, hörte ich den schwarzhaarigen Jungen neben mir entschuldigend sagen.

„Ich hätte auch nicht so ausrasten sollen“, erwiderte ich.

„Nein, ich kann verstehen, dass du so ausgerastet bist. Ich meine, da steht der Typ mit dem du Wochenlang zusammen wohnst vor dir und erzählt dir, dass er jemanden umgebracht hat. Ich glaube jeder andere wäre auch ausgerastet.“

Seine Worte trieben mir ungewollt ein Lächeln auf die Lippen. Er hatte Recht. Wir wohnten schon Wochen zusammen und ich musste gestehen, dass ich ihm nicht vorhalten konnte, dass er ein Schläger war. Vielleicht lag es an dem Alkohol oder an den Gefühlen die ich für ihn hatte, doch es war mittlerweile etwas Belangloses.

„Wie bist du überhaupt zum Schläger geworden?“, platze es ungewollt aus mir heraus, doch der Alkohol schaltete mein Verstand aus.

„Meine Mutter ist, wie du weißt, Alkoholikerin. Und mein Vater war dauernd Unterwegs. Wenn er mal da war, gab es nur Streitereien. Irgendwann bin ich einmal aus der Wohnung geflüchtet, weil ich diese Beschuldigungen nicht mehr ausgehalten habe. Auf der Straße hat mich dann ein Typ angepöbelt. So geladen, wie ich war, habe ich ihn zusammengeschlagen. Dabei hat mich ein anderer Typ beobachtet. Und als der Junge am Boden lag, hat er mich gelobt. Dieses Lob hat mich ungewollt stolz gemacht. Ich war von Zuhause schließlich nur Streitereien und Wut gewöhnt. Und dann war da dieser nette Junge, der das was ich tat lobte“, erzählte er, während ich neugierig lauschte.

„Das heißt, weil dieser Typ dir Beachtung geschenkt hat, bist du zu einem Schläger geworden?“

„Ja. Meinen Eltern war ich egal und meine Familie interessierte sich auch mehr für Geld, als für alles andere.“

„Krass“, murmelte ich und versuchte zu verstehen, wie man sich fühlen musste, wenn man keinerlei Zuneigung erfahren hatte.

„Wenn ich dich damals getroffen hätte, wäre ich nie zum Schläger geworden“, unterbrach Adrian meinen Gedankengang und ließ mich aufhorchen.

„Wie meinst du das?“

Er schloss die Wohnungstür auf, die wir bereits erreicht hatten, da es nicht weit war von Marc und musterte mich.

„Wenn du damals da gewesen wärst und mich zusammen geschissen hättest, wäre ich sprachlos gewesen. Ich meine du bist Schlagfertig, Intelligent und verdammt sexy. Da kommt nicht die beste Schlägerei des Jahrhunderts ran“, erklärte er mir mit einem schiefen Lächeln und ließ meine Knie so zu Wackelpudding werden.

Schüchtern lächelte ich ihn an und betrat die Wohnung, während er mir die Tür aufhielt. Ich hörte, wie er die Tür schloss und das Licht anschaltete.

„Und jetzt will ich endlich wissen, was du mit deiner Schulter gemacht hast.“

Ich wirbelte herum und schaute in die betörend schönen Augen, die mich musterten, woraufhin ich schwer Schlucken musste.


Adrian


„Ich zeig’s dir morgen“, winkte Claire rasch ab und drehte sich um.

„Keine Chance!“, sagte ich, griff nach ihrer Hand und hinderte sie so an der Flucht.

„Komm schon Adrian, es wird dich nicht umbringen es erst morgen zu sehen.“

„Was zu sehen?“, fragte ich neugierig und sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Scheinbar hatte sie sich verplappert.

„Nix?“, murmelte sie fragend und wich langsam zurück.

„Was hast du angestellt Claire?“, hörte ich mich mit drohendem Unterton sagen.

„Versprich mir, dass du nicht sauer bist!“, bat sie flehend.

Ich seufzte auf. Was auch immer sie angestellt hatte. Wie kam sie auf die Idee, dass ich saue rauf sie sein könnte? Ich war ihr ohnehin verfallen. Und der Alkohol den ich intus hatte, hinderte mich nicht auf abstand zu gehen, im Gegenteil ich war verrückt nach ihrer Nähe.

„Ich werde nicht sauer sein“, versprach ich und hielt ihrem abschätzenden Blick stand.

Plötzlich machte sie ihre Jacke auf, ließ sie auf den Boden fallen und betrachtete mich immer noch, während sie ihr Shirt auszog und nur noch in rotem Spitzen BH vor mir stand.

Und zu meinem Bedauern stand er ihr ausgezeichnet, sodass ich spürte, wie sie etwas zwischen meinen Beinen regte. Ich schluckte hart und versuchte mir eine alte Frau vorzustellen, was nicht besonders einfach war.

Langsam drehte sie sich um und wandte mir den Rücken zu. Überrascht betrachtete ich das Tatoo, was sie auf ihrer Schulter trug. Ich legte meine Hand auf ihre Schulter und musterte das Werk genauer. Es war ein wunderschöner kleiner Schmetterling, dessen Flügel von wunderschönen Mustern verziert wurde. Und zwischen all den schönen Mustern erkannte ich einen Namen.

Meinen Namen.

„Du hast dir meinen Namen tätowieren lassen“, murmelte ich verdattert und versuchte das was ich sah, zu realisieren.

Sie wirbelte herum und bis sich auf die Lippen, während sie mich entschuldigend anblickte.

„Ich weiß, dass es wahrscheinlich das dämlichste ist, was ich je getan habe, aber ich wollte dich immer bei mir haben. Du hast mir so geholfen, dass ich es nur richtig fand mich ewig an dich zu erinnern“, rechtfertigte sie sich, doch ich verstand nur die Hälfte.

„Du hast dir meinen Namen tätowieren lassen“, wiederholte ich ungläubig.

Stumm nickte sie und dann merkte ich es. Diesen Drang ihr zu zeigen, dass ich es das schönste Geschenk fand, was sie mir hätte machen können. Auch wenn es nicht das Richtige Geschenk war. Doch es kam mir vor, wie das eigentliche Geschenk.

Ohne Vorwarnung presste ich meine Lippen auf ihre und versuchte soviel Gefühl, wie Möglich in diese Kuss zu legen. Völlig überrumpelt ließ sie es geschehen und ich wusste, dass ich sie ohne den Alkohol im Blut nie geküsst hätte. Denn ich hatte viel zuviel Angst vor ihrer Reaktion.

Als mir bewusst wurde, was ich tat, zog ich mich zurück und schaute sie an. Ich musste dringend an meiner Selbstbeherrschung arbeiten.

„Sorry“, flüsterte ich und spürte, wie die Tausend Schmetterlinge in meinen Hals stiegen, sodass ich kein Wort mehr hervorbringen konnte.

Nun war es an ihr, eine Reaktion zu zeigen. Halbnackt und verdattert schaute sie mich an, als ich beschloss in mein Zimmer zu gehen und mein Kopf gegen meinen Schrank zu schlagen für meine absolute Dummheit.

Ich wollte mich umdrehen, als sie ihre Lippen auf meine drückte und mich damit vollkommen verwirrte. Regungslos registrierte ich, wie ihre Hände sich in meinen Nacken legten und sich in meinem Haar vergruben. Reflexartig legte ich meine Hände an ihre Hüfte, zog sie enger an mich und fing an diesen Kuss leidenschaftlich zu erwidern.

Heißer Atem strich über meine Lippen, bahnte sich den Weg in meinen Mund, vernebelte mir die Sinne. Ich wollte mehr, sie enger bei mir spüren und, dass sie in BH vor mir stand, milderte diesen Drang nicht besonders. Langsam glitt meine Hand über ihren Rücken, bedacht darauf nicht ihre Schulter zu berühren auf der mein Name stand.

Ein leises Stöhnen entwich ich, was mir die Möglichkeit verschaffte mit meiner Zunge zärtlich ihre zu berühren. Ihre Hände verkrampften sich, als unsere Zungen einander sanft umkreisten. Mein Bauch explodierte und ich spürte ein unbeschreibliches Glücksgefühl, das langsam in Lust umschlug.

Ich zog mir meine Jacke aus, schmiss sie auf den Boden, während meine Lippen die ihren suchten. Drängend half sie mir mein Hemd auszuziehen, ehe ihre Hände unter mein Shirt glitten und mir ein leises Stöhnen entlockten. Rasch zog ich es mir über den Kopf um sie gleich darauf wieder in meine Arme zu ziehen. Ich hatte nicht bemerkt, dass wir uns bewegt hatten, doch auf einmal stieß sie an einen Gegenstand, der mich dazu veranlasste, sie hoch zu heben. Sie schlang ihre Beine um meine Hüften und presste sich enger an mich. Ich umfasste sie mit meinem Arm und öffnete mit der freien Hand die Tür zu meinem Schlafzimmer.

Immer mehr schaltete mein Verstand aus, denn ihre Küsse wurden immer fordernder. Ich wollte ihr alles geben, was sie wollte.

Vorsichtig legte ich sie auf mein Bett und stütze meine Hände neben ihren Kopf ab. Langsam löste ich meine Lippen von ihren, küsste ihre Wangen, ihre Hals. Immer weiter glitt ich hinab, bis ich zu ihren Brüsten kam. Ein leises Stöhnen entwich ihr, trieb mich an nicht aufzuhören.

Die Alarmglocken in meinem Kopf ignorierte ich, denn in diesem Moment zählten nur die Schmetterlinge.

Verdammte Scheiße, was machst du hier eigentlich?!, schoss es mir durch den Kopf, als ich meine Zunge über ihren Hals gleiten ließ.

Doch ich konnte und wollte nicht aufhören. Sie hatte mich voll unter Kontrolle und ihr schien das Ganze zu gefallen. Ich küsste ihre Halsbeuge, als sie anfing meine Hose zu öffnen. Und ab da war der Rest meines Verstandes ausgeschaltet.

Scherbenmeer

Claire


Ich spürte das weiche Kissen unter meinem Kopf und sog diesen betörenden Duft ein. Nur langsam kamen die Erinnerungen zurück, trieben mir ein Lächeln auf die Lippen. Diese Nacht war fantastisch gewesen, voller Liebe und Zuneigung.

Ich rollte mich zur Seite und seufzte wohlig auf. Das Bett war warm, weich, kuschelig und roch nach ihm.

Mein Lächeln wurde breiter, als mir bewusst wurde, dass ich diejenige war, die ihn gestern Abend verführt hatte. Der Alkohol im Blut und sein Kuss hatten dazu beigetragen, dass ich mehr Mut aufbringen konnte. Doch immerhin konnte ich behaupten, dass ich ihn verführt hatte und er nicht mich.

Seinen Worten von letzter Nacht nach zu urteilen schien ich außerdem einen guten „Job“ gemacht zu haben.

Mein Problem bei diesem „Job“ waren allerdings diese verrückten Gefühle die mich durchströmten. Dieses Kribbeln in meinem Magen, sobald er meinen Namen sagte, die Gänsehaut, die sich ausbreitete, wenn er mich berührte. Sollte ich nach letzter Nacht urteilen, musste ich mir eingestehen, dass ich mich Hals über Kopf in ihn verknallt hatte. Und ich hatte das Gefühl, dass es ihm genauso ging. Diese Ahnung verursachte dieses Gefühl der tausend Schmetterlinge in meinem Magen.

Verschlafen öffnete ich meine Augen, musste diese jedoch leicht zusammenkneifen, als mir die Sonne direkt ins Gesicht schien. Ich drehte mich um und erblickte zu meinem verwundern eine leere Bettseite.

Meine Augenbrauen zogen sich verwundert zusammen und ich setzte mich auf. Leer. Das Bett war leer. Ich war alleine in diesem Zimmer.

War er Frühstück machen?

Leise stand ich auf und zog mir schnell meine Sachen über. Adrians Sachen lagen zu meiner Überraschung nicht mehr hier. Dabei war ich mir sicher, dass sie dort zu Boden gefallen waren.

Barfuss schlich ich zur Zimmertür und spähte in den Flur.

„Adrian?“, fragte ich leise, doch es antwortete nur bedrückende Stille.

„Adrian?“, sagte ich laut, doch es kam keine Antwort.

Mit gerunzelter Stirn fing ich an in der Wohnung nach ihm zu suchen. Doch er war nirgends zu entdecken. Er konnte auch keine Brötchen holen sein, denn der Bäcker war direkt gegenüber. Irgendetwas stimmte hier nicht und ganz langsam bemerkte ich dieses ungute Gefühl in meiner Magengegend.

Wenn er nicht Brötchen holen war und auch sonst unauffindbar war, wenn seine Sachen weg waren und keine Nachricht irgendwo lag, dann konnte es nur eine einzige Bedeutung haben.

„Ich war eine billige Nummer“, nuschelte ich verdattert, spürte, wie die Realität auf mich eindrückte.

Die Tatsachen flogen mir um die Ohren, wie Bomben und vernebelten mir meine Sinne. Ich wusste das ich Recht hatte. Er war einfach gegangen. Sie hatten mich alle vor ihm gewarnt und ich hatte nicht drauf gehört. Wie war ich bloß auf die Idee gekommen, dass zwischen ihm und mir was war?!

Er hatte mir jetzt zumindest deutlich gemacht, das da absolut nichts zwischen uns war.

Wie bei seinen ganzen anderen kleinen Flittchen war er einfach abgehauen. Keine Nachricht, nichts dagelassen, damit sie ihn ja nicht erreichen konnte. Denn sie nervten ihn.

Ich nervte ihn.

Da spürte ich es, diese aufsteigenden Tränen, die mir die Kehle zuschnürten. Die Erkenntnis, dass ich nichts Besonderes war, war wie ein Schlag in die Magengrube.

Ich war in ihn verknallt und er behandelte mich wie eine seiner One-Night-Stands.

Tränen rannten mir über die Wange. Die Abweisung, die er mir indirekt entgegenbrachte schmerzte unheimlich und ich wollte mir am liebsten das Herz rausreißen. Stattdessen fing ich an zu Schluchzen, wie ein Baby und brach weinend auf dem Boden zusammen.


Adrian


Ich klingelte immer wieder. Dieser Idiot sollte endlich die Tür aufmachen! Ich musste mit jemandem reden und ich brauchte Alkohol. Eine gewaltige Menge an Alkohol.

Die Haustür vor der ich ungeduldig wartete, wurde langsam geöffnet und ich erkannte das Gesicht von Jenna. Scheinbar hatte ich Jack und sie geweckt, doch es war mir ehrlich gesagt scheißegal.

Ohne ein Wort zu sagen, drängelte ich mich an Jenna vorbei und stürmte in das Wohnzimmer. Hier hatte er seinen harten Alkohol versteckt das wusste ich ganz genau. Und genau diesen brauchte ich um einen klaren Kopf zu bekommen. Oder um zu vergessen was für ein Idiot ich war.

Ich riss die alte Schranktür aus dem letzten Jahrhundert auf und erblickte eine Reihe an Flaschen. Ich griff nach der, die ganz vorne stand. Hastig setzte ich mich und lehnte mich an den Schrank. Mit einer schnellen Bewegung hatte ich die Flasche geöffnet und setzte sie an meine Lippen an.

Die Flüssigkeit benetzte meine Lippen, als der mir bekannte Geruch in meine Nase stieg. Kaum hatte ich registriert, dass es Tequila war, rannte der starke Alkohol schon meinen Hals herunter und löste ein schmerzendes Brennen aus.

Gierig trank ich, hoffte das zu vergessen was gesehen war. Zu vergessen was ich angestellt hatte.

„Was soll das?!“, hörte ich die Stimme von Jack, bevor mir die Flasche entzogen wurde.

„Gib sie mir wieder zurück!“, schnauzte ich ihn an.

„Adrian ist alles okay?“, mischte sich Jenna ein.

„Natürlich ist alles okay!“, zischte ich, stand auf und griff mir die Flasche die in Jacks Hand war.

Bevor er einen Ton über die Lippen brachte hatte ich erneut angesetzt zum trinken.

„Erklär mir erst was los ist!“, meckerte Jack und nahm mir erneut den Alkohol weg.

„Ich brauch das jetzt Jack, also tu mir den Gefallen und gib sie mir“, bat ich ihn, unterdrückte meine Wut.

„Sag mir doch erstmal was passiert ist. Danach entscheide ich, ob es Grund genug ist sich zu betrinken“, murmelte er und ließ sich auf den schwarzen Ledersessel fallen.

Mutlos setzte ich mich auf die Couch und legte meinen Kopf in meine Hände, während Jenna sich an den Türrahmen lehnte und mich neugierig beobachtete.

„Ich habe mit Claire geschlafen“, seufzte ich.

„Du hast was?“, fragte Jack ungläubig nach.

„Du hast mich richtig verstanden, als hör mit diesem bescheuerten Frage-Antwort-Spiel auf!“, regte ich mich auf.

Ich lehnte mich gegen die Rückenlehne des Sofas und fuhr mir unruhig durchs Haar.

„Ach. Du. Meine. Kacke“, sprach Jack das aus, was ich die ganze Zeit dachte.

Eine lange Pause folgte in der meine Gedanken zu Claire und zur letzten Nacht zurück glitten. Leider konnte ich die Schuld nicht auf den Alkohol schieben. Nein, ich alleine hatte dieses Chaos herbeigeführt. Hätte ich sie nicht geküsst, wäre es nie soweit gekommen. Ich wäre nicht verdattert und völlig planlos neben ihr aufgewacht. Ich hätte nicht diese Hilflosigkeit verspürt und wäre auch nicht vor Verzweiflung zu Jack gerannt. Und diese ganze Katastrophe nur wegen meinen beschissenen Empfindungen, die ich für sie hatte.

„Was zum Teufel machst du dann hier?!“, hörte ich Jenna aufgebracht sagen.

„Was?“, murmelte ich verwirrt.

„Du bist mit ihr in die Kiste gestiegen. Was meinst du was passiert, wenn sie aufwacht und du nicht da bist.“

Ich schluckte schwer. Natürlich wusste ich was passieren würde. Sie würde denken, dass sie nur eine Nummer für mich gewesen war. Nur war sie das nicht. Und genau das verunsicherte mich so.

„Beweg deinen Arsch zu ihr!“, meckerte sie, in dem Moment klingelte ihr Handy.

Verwundert nahm sie es, schaute auf den Display und warf mir einen wissenden Blick zu.

„Hallo Claire“, hörte ich sie sagen.

Dann lauschte sie einen Moment.

„Er ist eben hier aufgelaufen.“

Erneute Stille, die ich nicht aushielt. Ich machte eine Handbewegung und deutete ihr mit Claire sprechen zu wollen. Ich hatte zwar keine Ahnung was ich ihr sagen würde, doch ich musste mit ihr reden.

„Adrian will mit dir…“, sie verstummte im Satz, warf mir einen wehleidigen Blick zu.

„Ich richte es ihm aus. Tschüss“, murmelte sie und legte auf.

„Was sollst du mir ausrichten?“ fragte ich neugierig nach.

„Ich soll dir ausrichten, dass du morgen früh bei deiner Großmutter auflaufen sollst. Wegen dem Brunch.“

Ich schluckte schwer und starrte Jenna ungläubig an.

„Mehr hat sie nicht gesagt? Keine Beleidigungen, Beschimpfungen?!“, fragte ich nach, konnte nicht glauben was sie mir sagte.

„Kein einziges Wort“, bestätigte sie kopfschüttelnd.

„Dann nimmt sie dir das ganze echt übel“, murmelte Jack und schaute mich mitleidig an, während ich versuchte diese Nachricht zu verdauen.

„Du hast sie echt verletzt Adrian“, fügte Jenna hinzu.

Kraftlos fuhr ich mir durchs Haar. Das hatte ich anscheinend wirklich. Und ich konnte ihr nicht unter die Augen treten. Diese verachtenden Blicke ihrerseits würde ich nicht ertragen.

„Scheiße“, fluchte ich und hörte, wie Jenna das Zimmer verließ.

„Hier.“

Ich schaute auf und versuchte den Schmerz in meinen Gesichtszügen zu verdrängen. Jack hielt mir den Tequila hin und setzte sich neben mich. Wortlos nahm ich die Flasche entgegen und öffnete sie.

„Wie war’s denn?“, fragte er, nachdem ich weitere tiefe Züge aus der Flasche genommen hatte.

Ich richtete meinen Blick auf die Flasche und drehte sie leicht hin und her. Wie es gewesen war? Bilder blitzen vor meinem Auge auf, brachten diesen unbeschreiblichen Schmerz zurück.

„Wundervoll“, murmelte ich und trank erneut.

Dieser Schmerz sollte nun aufhören. Die Gewissheit, dass sie wütend auf mich war, setzte mir zu. Ich alleine war Schuld. Wäre ich geblieben, wären wir jetzt vielleicht ein Paar, schoss es mir durch den Kopf. Den darauf folgenden Stich in meinem Herzen vertrieb ich mit einem weitern Schluck.

„Du liebst sie echt, oder?“, fragte Jack, was ich mit einem stummen Nicken beantwortete.

Ja, ich liebte sie wirklich und der Gedanke, dass ich sie mit meiner Aktion verletzt und vielleicht für immer verloren hatte, ließ mich unendlich traurig werden. Das Bild von Claire, weinend, alleine verursachte ein schmerzhaftes zusammenziehen meines Magens.


Claire


Natürlich. Wie hätte es anders sein können?!

Ich stand vor den Scherben des Tellers auf dem sich mein Abendessen befunden hatte. Dieses lag jedoch in der Küche auf dem Boden. Heute war definitiv nicht mein Tag. Alleine schon wegen Adrian. Der Name verursachte ein Stechen in meinem Herzen.

Seufzend drehte ich mich um und wollte einen Besen aus der Ecke nehmen um das Chaos zu beseitigen, als ich die Wohnungstür hörte, die geöffnet wurde.

„Pass auf“, murmelte jemand.

„Verdammt halt dich nicht an meiner Hose fest“, meckerte eine zweite Person.

„Lasst mich“, zischte eine vertraute Stimme. Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich blieb regungslos stehen.

Immer näher kamen die Schritte der drei Männer, bis sie schließlich an der Küche vorbei kamen und mich verdattert anschauten. Ebenso verwirrt erwiderte ich den Blick von Adrian, der Worte zu suchen schien.

„Claire…“, setzte er an.

„Raus“, flüsterte ich.

„Hör mir doch zu“, versuchte er es erneut, machte einen wackeligen Schritt auf mich zu.

Scheinbar hatte er getrunken.

„Raus“, wiederholte ich lauter.

Ich fixierte Adrian und ignorierte Marc und Jack die etwas verzweifelt die Situation beobachteten.

„Lass mich erklären“, bat er flehend.

„RAUS!“, brüllte ich und griff nach einem Teller, den ich wütend in Adrians Richtung pfefferte. Dieser wich im letzten Moment aus und sah mich ungläubig an, während der Teller hinter ihm an der Wand zerschellte und Millionen von Splittern zu Boden fielen.

„Verschwinde!“, hörte ich mich erneut schreien.

Wieder griff ich zu einem Teller, der Adrian verfehlte, denn Marc und Jack zogen ihn weg.

Der zweite Teller zerbrach mit klirrenden Geräuschen und ich hörte, dass die Haustür ins Schloss fiel.

Eine drückende Stille breitete sich aus, die mir das Herz zerriss. Ich hatte eben erst aufgehört zu weinen und nun liefen salzige Tränen erneut mein Kinn hinab, tropften auf das Scherbenmeer, das sich vor mir befand.

Freunde

Adrian


Ich konnte immer noch nicht fassen, dass ich wirklich vor dem Haus meiner Großmutter stand. Scheinbar schaltete dieses Gefühl, was alle Liebe nannten, meinen gesamten Verstand aus. Nie im Leben wäre ich von alleine auf die Idee gekommen zu meiner Großmutter zu gehen! Vor allem nicht zum Brunch! Und schon gar nicht freiwillig.

Und nun stand ich tatsächlich miesepetrig vor der großen Einganstür und klingelte. Nachdenklich starrte ich auf den Boden, während ich versuchte mir ein reales Aufeinandertreffen mit Claire vorzustellen.

Das letzte Treffen war nicht sonderlich freundlich verlaufen. Ich verzog meine Mundwinkel zu einem bitteren Grinsen. Teller. Sie hatte mit Tellern nach mir geschmissen. Was sie wohl diesmal nehmen würde? Gläser oder Messer?

Die Tür wurde geöffnet, riss mich aus meinen wirren Gedanken.

„Hallo Adrian, mein Engel“, säuselte meine Großmutter liebevoll mit einem dicken Lächeln auf den Lippen und schloss mich in ihre Arme.

Ich ließ diese herzliche Begrüßung über mich ergehen und war schon jetzt von dieser Frau genervt. Wie konnte man um diese Uhrzeit am Wochenende so verdammt gut gelaunt sein?! Naja, wahrscheinlich hatte sie im Gegensatz zu mir keinen Liebeskummer.

„Morgen“, murmelte ich, wich dabei ihrem Blick aus.

Sie schien es nicht zu bemerken, trat stattdessen einen Schritt zur Seite und lud mich somit ins Haus ein. Stumm entledigte ich mich meiner Jacke, die ich dem Butler reichte, ehe ich meiner Oma folgte, die den Weg in Richtung des Wintergartens einschlug.

Schon jetzt verfluchte ich mich innerlich dafür, dass ich wirklich hier aufgetaucht war. Es wäre sinnvoller gewesen Claire in Ruhe zu lassen. Ihr Zeit zu geben und mich dann bei ihr zu entschuldigen.

Mit einem Seufzer betrat ich den großen Wintergarten und blickte auf.

Sie saß neben ihrer Großmutter und lachte fröhlich. Ihr Haar fiel wie Seide, hüllte ihr Gesicht ein. Die blauen Augen stachen hervor, trafen mich mitten ins Herz.

Plötzlich wendete sie ihren Blick von ihrer Großmutter, schaute mich an. Das hinreißende Lächeln erstarb, die Stimme verklang.

Ich schluckte schwer und setzte eine gleichgültige Miene auf. Ich wollte nicht, dass sie sah, wie sehr ich meinen Fehler bereute.

„Morgen“, brummte ich und ließ mich auf den freien Platz gegenüber Claire fallen.

Sie musterte mich, runzelte dabei ihre Stirn und kräuselte ihre Nase. Verdammt war sie süß!

Ich knirschte mit meinen Zähnen. Es war ein fataler Fehler gewesen hier aufzulaufen.

„Einen wunderschönen guten Morgen Adrian“, lachte die Großmutter von Claire freundlich, doch ich starrte auf die blaue Tischdecke, die mit weißen Mustern verziert war.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die beiden alten Damen verwunderte Blicke tauschten.

„Ist alles okay Adrian?“, fragte meine Großmutter vorsichtig.

„Ja“, gab ich genervt von mir, wurde jedoch halb von einem Schnauben von Claire unterbrochen.

Ich blickte auf und sah, dass Claire wütend die Augen zusammen gekniffen hatte.

„Claire?“, hörte ich nun ihre Großmutter verwundert fragen.

„Ich bin beeindruckt, dass du hier auftauchst“, zischte sie.

Verdattert schaute ich sie an.

„Ich bin nur deiner Bitte nachgekommen. Oder hast du Jenna etwa nicht gesagt, dass sie mich an heute erinnern soll?“, fragte ich bissig.

„Oh doch das habe ich. Allerdings hätte ich dir nicht zugetraut, das du auftauchst.“

„Ach, und wieso nicht?!“, fragte ich zähneknirschend, versuchte die plötzlich aufsteigende Wut zu unterdrücken.

„Du bist gestern Morgen schließlich auch einfach abgehauen, weil du zuviel Schiss hattest“, herrschte sie mich an.

Ungläubig schaute ich die blonde Schönheit an, die mich an eine Rachegöttin erinnerte.

„Du denkst allen ernstes, dass ich Schiss hatte neben dir aufzuwachen?!“, gab ich verwundert vor mir.

„Weswegen warst du denn sonst weg? Brötchen oder doch Kaffee holen?“, dachte sie ironisch, laut nach.

„Denkst du wirklich, dass ich keinen Arsch in der Hose habe?! Und nur weil wir zusammen in der Kiste waren, heißt das nicht, dass ich dir zu irgendetwas verpflichtet bin!“, sagte ich aufgebracht, erhob mich, sodass der Stuhl umfiel und knallte meine Hände auf den Tisch.

Meine Oma sog scharf Luft ein, als sie die Bedeutung hinter meinen Worten verstand.

„Adrian!“, rief sie empört aus.

Bevor ich etwas antworten konnte, war Claire ebenfalls aufgesprungen und stürmte entzürnt davon.

„Nicht jetzt Oma!“, schrie ich, sah Claire nach, die davon stolzierte und setzte mich in Bewegung.


Claire


„Bleib gefälligst stehen! Wir werden das jetzt ausdiskutieren!“, hörte ich ihn schreien, ehe ich die Küchentür hinter mir zuknallte.

Wie dieser Junge mich in den Wahnsinn trieb! Ich hörte, wie die Tür aufgerissen wurde und wirbelte herum. Ein wütender Adrian blickte mich zähneknirschend an.

„Was gibt es da bitte zu diskutieren?!“, zischte ich und erwiderte den bösen Blick.

„Wir sollten drüber reden. Wegzurennen oder Teller nach mir zu werfen sind keine Lösung“, erwiderte er und machte einen Schritt auf mich zu.

„Du hast es erfasst. Wegrennen ist keine Lösung!“, warf ich wütend dazwischen.

„Verflucht! Claire ich bin nicht weggerannt!“ brüllte er mich an.

„Hör auf zu lügen Adrian Hutton!“ zischte ich, spürte die Wunde in mir aufbrechen.

„Ich lüge nicht!“

„Du bist weggerannt, weil ich eine verdammte kleine Nummer für dich war!“ sagte ich, blickte ihm dabei in die Augen und stich ihm mit ihrem Zeigefinger auf die Brust.

„Schwachsinn!“, warf er ein, wollte sich endlich rechtfertigen.

„Halt endlich deine Klappe Adrian!“, brüllte ich ihn an.

„Was willst du diesmal machen, wenn ich’s nicht tue?! Mit Messern nach mir werfen?!“, keifte er aufgebracht zurück.

„Keine schlechte Idee“, antwortete ich ironisch, beugte mich näher zu ihm.

Bevor ich etwas machen konnte, hatte er seine Lippen auf meine gelegt. Sein heißer Atem, streichelte meine Lippen, vernebelte meinen Verstand. Ich war wütend auf ihn und doch wollte ich meine Hände in seinen Haaren vergraben. Das durfte ich aber nicht. Diesmal durfte ich nicht nachgeben.

Mein Verstand gewann für einen Moment die Oberhand, sodass ich Adrian aufgebracht von mir stieß.

Wie konnte er es wagen mich einfach zu küssen?! Hatte er mich nicht schon genug verletzt?! Ich sah, wie er seine Augen öffnete, mich verträumt anblickte. Reflexartig hob ich meine flache Hand und verpasste ihm eine Ohrfeige. Das laute Klatschen dieser Ohrfeige durchbrach die nun eingekehrte Stille der Küche.

Ich konnte ihn nicht anschauen. Stumm stürmte ich an ihn vorbei, wollte endlich Distanz zwischen uns bringen. Ich war unendlich wütend. Auf mich. Auf ihn und auf die gesamte Welt.

Ich spürte, die heißen Tränen, die meine Wange hinab liefen, doch ich wollte nicht weinen. Nicht vor ihm!

„Ich wünschte ich hätte mir dieses Tatoo nie gestochen und dich nie getroffen! Fahr doch zur Hölle!“, schrie ich und knallte die Tür hinter mir zu.

Dann ließ ich den Tränen und dem Schmerz freien Lauf.



Ich weiß nicht, wie ich bis zu Johanna gekommen war. Doch nun saß ich heulend auf ihrem Bett und klagte ihr mein Leid. Ich fühlte mich um es vorsichtig zu beschreiben, absolut beschissen.

„Ich meine, wie kann er es wagen mich einfach zu küssen?!“, schniefte ich und nahm nur verschwommen den mitleidigen Blick von Johanna wahr.

„Kann er nicht einfach wieder in das Loch kriechen, aus dem er gekommen ist?!“, fragte ich rhetorisch und wurde immer verzweifelter.

„Ich hätte mir das Tatoo nie stechen lassen sollen! Das war der größte Fehler meines Lebens“, klagte ich, als es an der Zimmertür klopfte.

Rasch wischte ich mir die Tränen weg und putze mir die Nase. Johanna stand von dem Bett auf, auf dem ich mit angewinkelten Beinen saß, und öffnete die Tür, an dem mir bekannte Gesichter entgegen blickten.

„Oh Claire!“, hörte ich Jenna aufseufzen, ehe sie sich an Johanna vorbei drängte und mich in die Arme schloss.

Erneut brach ich in Tränen aus, konnte diese Enttäuschung nicht verkraften. Wie war ich nur auf den Gedanken gekommen, dass Adrian mich mochte? Ich war nichts weiter als seine gut bezahlte Putzfrau mit der er mal ins Bett gehüpft war.

„Was hat er angestellt?“, hörte ich Jack angesäuert fragen, was mich noch mehr weinen ließ.

Ich war es nicht gewohnt, dass man sich um mich kümmerte. Einzig und alleine meine Großmutter hatte sich die letzten zwei Jahre um mich gesorgt. Und nun standen drei Leute in dem Krankenzimmer von Johanna und sorgten sich um mich.

„Erst haben sich beide gestritten und dann hat er sie plötzlich geküsst“, fasste Johanna die Ereignisse seufzend zusammen.

„Er hat darauf bestanden alles mit mir auszudiskutieren! Wieso küsst er mich dann plötzlich?! Er ist schließlich auch nicht da gewesen, als ich aufgewacht bin!“, brachte ich mit zittriger Stimme hervor.

Die Matratze senkte sich und Jenna löste sich von mir. Eine raue Hand fasste unter mein Kinn, drehte meinen Kopf herum. Ich erblickte die grauen, verständnisvollen Augen von Jack. Er hatte seine Stirn in Falten gelegt und strich mir zärtlich über die Wange.

„Wegen so einem Idioten solltest du nicht weinen“, flüsterte er, strich mir eine Träne vom Gesicht.

„Der Typ ist es echt nicht wert“, warf Johanna ein.

„Er ist ein Arschloch“, meldete sich nun auch Jenna.

Ich sah, wie Jack Jenna einen bösen Blick zuwarf.

„Er ist immer noch mein bester Freund“, sagte er mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Und er verletzt Claire“, sagte sie nachdrücklich.

„Ich weiß“, gab er mit einem Seufzen nach, widmete sich wider mir.

„Er ist wirklich ein Volltrottel. Ich verspreche dir, dass ich ihn für diese Aktion verkloppe“, murmelte er und zog mich in seine Arme.

Ich merkte, wie sich weitere Arme um mich schlangen und drei Leute mir gut zuredeten. Sie sprachen mir Mut zu und versprachen mir ihre Unterstützung. Trotzdem hörte ich nicht auf zu weinen. Sie wurden immer verzweifelter, doch sie wussten nicht, dass sie es waren die mich zum weinen brachten. Ich war soviel Sorge und Liebe einfach nicht gewohnt.

Und so berührten neben Adrian, diese drei Menschen mein Herz.


Adrian


„Adrian Hutton!“, hörte ich Jack brüllen.

Natürlich. Er war wütend. Wie immer, wenn ich etwas versaute.

„Ich bin im Wohnzimmer. Womit willst du mich umbringen?“, fragte ich tonlos starrte weiterhin an die weiße Decke.

„Am liebsten würde ich dich erwürgen, aber das würde Claire leider nicht gutheißen“, zischte er.

Eine weitere Person, die auf mich wütend war. Vielleicht sollte ich Strichliste darüber führen, wen ich in kürzester Zeit zur Weißglut trieb.

„Beruhig dich Jack“, hörte ich die beruhigende Stimme von Jenna.

Ich setzte mich auf, sodass ich sah, wie Jenna, ihn eindringlich anblickte und ihm sanft die Hand auf die Schulter legte.

„Wie schlimm war es?“, fragte ich schmerzlich, wollte die Wahrheit nicht hören.

Mit einem Seufzer setzte sich Jenna neben mich auf die Couch.

„Sie sah grässlich aus.“

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, spürte ich, wie mein Herz zerriss. Ich biss meine Zähne zusammen und wendete den Blick auf den Boden.

„Sie sieht nie grässlich aus. Sie ist wunderschön. Immer“, murmelte ich.

Sie war immer schön. Egal ob sie weinte, wütend war oder lachte. Wunderschön, das war sie wirklich.

„Scheiße, trägst du eine rosarote Brille. So wunderschön finde ich Jenna nicht mal“, hörte ich Jack nachdenklich sagen.

„Überleg dir genau, was du noch sagst Jack. Sonst schläfst du auf der Couch“, zischte Jenna, doch ich wusste, dass sie es nur halb so ernst meinte, wie es sich anhörte.

„Verzeih mir“, hörte ich ihn sagen, ehe er sie leidenschaftlich küsste.

„Ihr beide seit nicht zu ertragen“, sagte ich und stand auf.

Beide warfen mir einen entschuldigenden Blick zu, als ich mich umdrehte und die Wohnung verließ.

Ich musste weg von diesen Liebespärchen. Wenn man Liebeskummer hatte, war das nicht zu ertragen. Mutlos versuchte ich die Bilder von Claire zu verdängen. Ihre Tränen, die sich wegen mir den Weg ihre Wangen herunter bahnten. Doch ich konnte es nicht ungeschehen machen. Ebenso konnte sie ihre Worte nicht zurück nehmen. Es schmerzte zu wissen, dass ich sie so sehr verletzt hatte.

Dabei liebte ich sie doch. Vielleicht war ich einfach nicht geschaffen für die Liebe.

Ich stieß hart Luft aus, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel und die kalte Herbstluft sich um mich legte, wie eine zweite Haut.

„Du bist ein trotteliges Arschloch, Adrian.“ Sagte ich zu mir selbst und machte mich auf den Weg zu einem noch unbekannten Ziel.

Der Rabenschwarze

Adrian


Ich atmete tief ein und starrte auf Grabstein, der sich vor mir befand. Der Name, der eingraviert war, versetzte mir einen Stich, denn ich war an ihrem Tod beteiligt gewesen.

Der Friedhof war der perfekte Ort um nicht an Claire und Liebespaare zu denken. Keine nervigen Verliebten liefen hier rum. An diesem Ort des Todes fand ich Trauer und Schmerz. Nicht die angenehmsten Empfindungen, doch sie waren tausendmal besser als an sie zu denken.

Seufzend betrachtete ich die verwelkten Blumen und legte einen frischen Blumenstrauß auf das Grab. Mein Beileid immer wieder zu beteuern war das mindeste was ich tun konnte.

„Was tust du denn hier Adrian?“

Ich wirbelte herum und erblickte das Gesicht einer etwas älteren Dame, denn kleine Fältchen zierten ihre Stirn. Räuspernd blickte ich zu Boden und schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln.

„Ich wollte einen frischen Blumenstrauß vorbei bringen“, erklärte ich mich.

Sie seufzte lächelnd auf und blickte mich mitfühlend an.

„Du hast dich lange und oft genug entschuldigt, Adrian. Du brauchst keine Schuldgefühle mehr haben“, sagte sie, suchte dabei meinen Blick.

Ich öffnete meinen Mund um zu protestieren, doch sie hob gebieterisch die Hand, was mich sofort verstummen ließ.

„Wie oft soll ich es dir noch sagen? Meine Mutter wäre stolz, wenn sie sehen würde, wie ihr Tod dich verändert hat. Nie im Leben würde sie dir etwas vorwerfen.“

Schweigend blickte ich die Tochter der Frau an, die ich umgebracht hatte.

„Du hast im Grunde nur eine alte Frau vom Leid erlöst.“

Ich habe sie aber umgebracht. Nicht der Krebs“, murmelte ich und versuchte die grauenvollen Bilder von Claires Oma zu ignorieren.

„Du weißt ganz genau, dass der Krebs sie innerhalb zwei Monate umgebracht hätte“, ermahnte sie mich, worauf ich nichts sagen konnte.

„Tu ihr und mir einen gefallen und mach das Beste aus deinem Leben und deinen Erfahrungen. Hilf Menschen, dass so etwas nicht mehr passiert.“

Ich nickte und hob zum Abschied kurz die Hand. Wortlos erwiderte sie diese Geste. Die Gespräche mit dieser Frau, waren das schlimmste was es für mich gab. Soviel Güte hatte ich definitiv nicht verdient. Ich steckte meine Hände in meine Hosentasche und schlenderte die ausgestorbenen Wege über den Friedhof entlang und hing meinen Gedanken nach.

„Hey Mum, Dad“, hörte ich die zärtliche Stimme, die mich aus meinen Gedanken riss.

Wie angewurzelt blieb ich stehen, starrte auf den blonden Engel, der sich vor ein Grab gesetzt hatte und eine Kerze entzündete.

„Oma ist jetzt umgezogen“, murmelte sie leise, sodass ich sie kaum verstand.

Ich ging ein paar Schritte vor und versteckte mich hinter einem Busch um zu sehen, was sie tat. Sie bewundern zu können, ohne dass ich möglicherweise entdeckt wurde.

„Und Adrian geht mir auf den Keks“, fügte sie grummelnd hinzu, versetzte mir somit ein Stich ins Herz.

„Ich meine, wie kommt der Idiot auf die Idee erst mit mir zu schlafen, dann zu verschwinden und mich anschließend noch zu küssen?! Der hat doch nicht mehr alle Taschen im Schrank! Oh ich wäre seinem Vorschlag, ihn mit Messern zu bewerfen nur zu gerne nachgekommen!“, zischte sie wütend.

Dann wurde sie still. Ich sah, dass die wütende Maske langsam verschwand.

„Ich glaube ich habe deine Vorliebe für Idioten echt geerbt, Mum“, flüsterte sie und ließ mich aufhorchen. Ich spürte, wie mein Puls beschleunigte.

Bist du in mich verliebt?, schrie ich ihr gedanklich entgegen, wollte sofort eine Antwort.

Doch die Frage, die auf meiner Seele lastete, wurde nicht beantwortet, stattdessen schwieg sie, nahm eine Rose und pflückte die Blätter langsam ab um sie anschließend auf dem Grab zu verteilen.

„Ich glaub ich hab mich in ihn verliebt“, sagte sie so leise, dass wenn der Wind nicht in meine Richtung geweht hätte, ich die Worte nicht verstanden hätte.

Ich fühlte mich, wie vom Trecker überfahren. Sie hatte das ausgesprochen, was ich mir so sehr wünschte. Regungslos beobachtete ich, wie sie sich erhob und fort ging. Mein Herz raste, ein gewaltiges Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, ließ mich bescheuert aussehen. Ich konnte keinen Muskel bewegen, zu sehr war ich überwältigt von ihren Worten. Dann hatte ihr die Nacht sehr wohl was bedeutet und auch der Kuss! Sie war in mich verliebt!

„Scheiße“, murmelte ich überglücklich und sprintete los.

Ich musste mit ihr reden. Sofort!


Claire


Schweren Herzens verließ ich den Friedhof um nach Hause zu gehen. Was mich dort erwarten würde war mir sehr wohl bewusst. Und zu meinem Bedauern hatte ich keine Ahnung, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte.

Mit gesenktem Kopf lief ich den Bürgersteig entlang, wurde von einer Gruppe Jungs angerempelt.

„Passt doch auf!“, zischte ich, denn ich war immer noch wütend auf Adrian.

Ein großer, muskulöser Junge mit pechschwarzen Haaren und ebenso dunklen Augen musterte mich.

„Du hast eine ziemlich große Klappe, Kleine“, hörte ich einen der Anderen Jungs sagen, doch ich ignorierte sie.

Meine Aufmerksamkeit galt dem, der vor mir stand. Und er machte mir Angst.

„Claire!“, ertönte eine mir bekannte Stimme, ließ mich den Blickkontakt mit dem Rabenschwarzen unterbrechen.

Ich schaute zur Seite, erblickte Adrian, der auf mich zugestürmt kam. Innerlich stöhnte ich auf, weil ich genau wusste, dass diese Schmetterlinge in meinem Magen gleich wieder auftauchen würden. Andererseits war ich erleichtert ihn zu sehen, denn diese Typen waren mir nicht ganz geheuer.

„Sie einer an, wen haben wir denn da?“, ertönte es plötzlich von dem Typen, als Adrian fast bei mir war.

Ich sah, wie Adrian ihn kritisch musterte ehe er zu mir kam und sich leicht vor mir stellte. Das alleine reichte aus um mich auf Wolke sieben zu katapultieren.

„Kevin“, nuschelte Adrian nicht sonderlich begeistert.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich treffe. Eigentlich solltest du im Knast sitzen oder?“, lachte der schwarzhaarige Typ, durchbohrte Adrian mit seinen düsteren Augen.

„Du theoretisch auch“, erwiderte er kühl, was selbst mir Angst einjagte.

Diese Situation gefiel mir ganz und gar nicht.

„Wer ist das?“, flüsterte ich Adrian ins Ohr.

Er drehte seinen Kopf zu mir, zog die Augenbrauen hoch und symbolisierte mir, dass ich ihn kannte, dass er mir von ihm erzählt hatte. Adrian wandte sich wieder dem Typen zu, während ich versuchte zu begreifen, was das für ein Junge war und woher ich ihn kannte. Er musste mir von ihm erzählt haben und er schien keine guten Erinnerungen mit ihm zu verbinden, sonst würde er nicht so abfällig mit ihm reden. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

„Du bist der Typ, der ihm zum Schläger gemacht hat“, murmelte ich ungläubig und musterte das Monster, das vor mir stand.

„Ist das deine Freundin oder darf ich mit der Kleinen Spaß haben?“, hörte ich diesen Jungen namens Kevin, Adrian fragen.

Er hatte meine Aussage einfach übergangen.

„Glaub mir, du würdest mit ihr keinen Spaß haben“, antwortete Adrian monoton, doch ich spürte, wie er sich ein Stück weiter vor mich schob.

„Dabei bin ich doch so berühmt!“, lachte Kevin, fuhr sich gewollt sexy mit einer Hand durch sein Haar.

„Wie meinst du das?“, fragte Adrian und ich erkannte Anspannung in seiner Stimme.

„Komm schon Adrian. Du liest doch Zeitung oder?“

„Ja, aber ich habe nichts von dir gelesen“, erwiderte er zögerlich.

„Ich stand in der Zeitung, nur kennt man meinen Namen nicht. Aber du solltest doch meine Handschrift erkennen“, sagte er mit einem verschwörerischen Zwinkern.

Mein Blick wanderte zu meinem Beschützer, in dessen Kopf ein Puzzlespiel stattzufinden schien. Er legte seine Stirn in Falten und ich konnte förmlich sehen, wie er in Gedanken die Artikel von Zeitungen durchsuchte. Plötzlich wandelte sich die Maske des Nachdenkens in Ungläubigkeit.

„Du bist der Schläger“, hörte ich ihn sagen, begriff die Bedeutung dieser Worte jedoch noch nicht, denn dass er ein Schläger war wusste ich.

„Ich wusste doch, dass du nicht auf den Kopf gefallen bist!“, lachte der Rabenschwarze und schlug Adrian anerkennend auf die Schulter.

„Vor drei Monaten hab ich sogar eine ganze Seite gewidmet gekommen. Du weißt schon, als ich diese Oma ins Koma gebracht habe. Die, die mit ihren beiden Freundinnen unterwegs war. Das war echt eine kleine Zicke. Die hat sich doch tatsächlich gewehrt“, erzählte er stolz.

Und dann, ganz langsam, begann mein Gehirn zu arbeiten. In Zeitlupe sog ich die Informationen auf, die der Schläger von sich gegeben hatte und verglich sie mit meiner Großmutter. Ich starrte ihn an, versuchte zu begreifen, dass der Mensch vor mir stand, den ich seit Monaten suchte. An dem ich mich rächen wollte.

„Du hast sie zusammen geschlagen“, flüsterte ich, sah den schwarzhaarigen, überheblichen Kerl genau an.

Doch keine Reue zeichnete sich auf sein Gesicht ab. Stolz spiegelte sich in den Augen wieder und er schien zu denken, dass ich ihn bewunderte.

„Was denn? Willst du jetzt mit mir in die Kiste?“, scherzte er weiter, doch Adrian schien bemerkt zu haben, dass ich verstand. Das ich wusste, dass dieser Mann mich und meine Großmutter fast zerstört hätte.

„Du hast sie zusammengeschlagen“, wiederholte ich laut.

Verwirrt schaute er mich an, nickte jedoch bestätigend.

„Du widerliches, kleines, dreckiges, abartiges, unterbelichtetes Arschloch hast meine Großmutter zusammengeschlagen!“, schrie ich ihn an.

„Kein Grund so auszuticken“, sagte er, blickte mich abschätzig von oben bis unten an.

Ich drängte mich an Adrian vorbei, der nur halbherzig versuchte mich zurück zu halten. Er war scheinbar genauso überrumpelt, wie ich. Nur hatte ich mich schneller gefangen.

„Kein Grund so auszuticken?“, fragte ich ironisch und trat bedrohlich nah an ihn heran.

„Was denn? Willst du mich jetzt zusammenschlagen?“, machte er sich über mich lustig.

Natürlich wusste er nicht, dass ich trainiert hatte, dass ich auf diesen einen Moment hingearbeitet hatte und das ich unglaublich wütend war. Er hatte keine Ahnung mit wem er es zutun hatte. Und in diesem Moment liebte ich das Schicksal.

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich auf diesen Moment gewartet habe“, zischte ich und bevor er etwas erwidert konnte, landete meine Faust auf seiner Nase. Diese gab ein Ekelerregendes Knacken von sich und Blut lief.

Seine Kumpels brüllten überrascht auf, doch ich ignorierte es. Meine Aufmerksamkeit galt auch nicht Adrian, der die anderen davon abhielt auf mich loszugehen. Es gab nur mich und den Rabenschwarzen.

„Spinnst du?!“, näselte er aufgebracht, hielt sich die Nase und erblickte das Blut.

Kein weiteres Wort kam über seine Lippen, nur ein Schmerzenschrei, als ich mein Knie fest in seine Weichteile rammte.

„Du blöde Schlampe!“, schimpfte er, rappelte sich hoch und verpasste mir mit der Faust einen Kinnhacken.

Mein Kopf wurde zur Seite geschleudert und bevor ich mich wieder richtig gefangen hatte, war Adrian auf ihn losgegangen. Voller Wucht schlug er ihm ihn die Magengrube um ihm gleich darauf ebenfalls einen Kinnhacken zu verpassen. Er zog ihn am Kragen hoch, sodass ihre Nasenspitzen sich fast berührt hätten.

„Fass sie noch einmal an und ich schicke dich in die Hölle“, knurrte Adrian bedrohlich.

Die Freunde von Rabenschwarz standen geschockt Drumherum, konnten nicht begreifen, dass ihr Anführer am Boden lag.

„Geht weg ihr Arschgeigen!“, hörte ich Marc fluchen.

Er drängte sich, dicht gefolgt von Johanna, Jenna und Jack, an den Kumpels von Kevin vorbei. Sprachlos starrten meine Freunde das Häufchen Elend an, das sich dort am Boden befand. Verachtend blickte Adrian ihn an, ließ ihn los, sodass er fast hart auf dem Boden aufknallte.

Ich spürte Johanna und Jennas Hände auf meinen Schultern, die ich jedoch abwarf um zu dem Jungen zu gehen, der mir und meiner Großmutter die Hölle bereitete hatte.

Ich hockte mich neben ihn, betrachtete die geschwollene, blutende Nase.

„Du hast meine Großmutter, meinen einzig lebenden Verwandten ins Krankenhaus geschlagen. Hast du auch nur im Ansatz eine Ahnung davon, was ich durchgemacht habe? Was andere Leute durchmachen? Ich schwöre dir eins, sollte ich noch irgendwo von einer Schlägerei hören oder sehen, dann stehe ich bei dir vor der Tür und erledige dich. Glaub ja nicht, dass du im Krankenhaus mit polizeilichem Schutz vor mir in Sicherheit bist. Denn die Ärzte und Schwestern dort, kennen mich und mein Großmutter und sie werden auf meiner Seite sein“, redete ich bedrohlich auf ihn ein.

Ich erkannte mich in diesem Moment selber nicht, doch es tat gut endlich den Menschen gefunden zu haben, der mich in einen Abgrund gestürzt hatte. Kevin schluckte hart, betrachtete mich mit Schreckgeweiteten Augen.

Das war meine Rache gewesen

Meine Rache an dem Menschen, der viele Familien zerstört, in Verzweiflung getrieben hatte. Und auch wenn es Selbstjustiz war, muss ich gestehen, dass es sich gut anfühlte zu wissen, dass ich mich gewehrt hatte gegen das Unrecht.

Langsam erhob ich mich, stellte mich zu Johanna und Jenna und gemeinsam betrachteten wir den am Boden liegenden, weinenden, rabenschwarzen Schläger. Dann ertönten Polizeisirenen.

Wahrheit

Adrian


„Es ist nicht akzeptabel! Das Ganze war eine sinnlose Racheaktion. Selbstjustiz!“, schimpfte Elisabeth und schritt vor uns hin und her.

„Ich weiß, dass es dir schwer gefallen ist Claire, aber deswegen musst du nicht auf einen Jungen einschlagen! Ich hoffe du bereust deine Tat?!“, fügte sie hinzu, hielt inne um Claire, die neben mir saß zu fixieren und eine Bestätigung zu bekommen.

Ich wandte meinen Blick zu Claire, die langsam ihren Kopf hob und unsere Großmütter anblickte.

„Ich bereue rein gar nichts davon“, sagte sie langsam und verschränkte trotzig ihre Arme vor der Brust.

„Claire, du hättest diesen Jungen wirklich nicht zusammenschlagen müssen. Du bist jetzt keinen Deut besser als er“, hörte ich ihre Großmutter sanft sagen.

Sie verschränkte ihre Hände auf ihrem Schoss und blickte Claire mitleidig an.

„Ich bin sehr wohl besser als er, denn ich habe keine alte Frau zusammen geschlagen und mir reichen diese Sprüche! Ja, es war scheiße! Bereue ich es: Nein! Wieso? Weil ich mich mal nicht an die ganzen Gesellschaftsregeln gehalten habe! Und wisst ihr was: Es tut verdammt gut mal nicht das zu machen, was alle von einem erwarten“, zischte sie.

Erschöpft ließ sich Elisabeth neben ihrer Großmutter nieder.

„Wir sind stolz auf euch beide“, sagte Céline nach einiger Zeit der Stille.

Verwirrt blickten wir die beiden alten Damen an.

„Wir sollten es nicht sein, doch wir sind es.“

Mein Blick suchte den von Claire, die genauso irritiert war, wie ich.

„Und jetzt sprecht ihr beiden euch endlich aus. Es nervt gewaltig, dass ihr euch die ganze Zeit in die Haare bekommt“, wies Céline uns an.

„Gehen wir Kaffee trinken? Der Wintergarten ist um diese Zeit in ein wunderschönes Licht getaucht“, fügte sie an meine Großmutter gewandt hinzu, was diese mit einem erfreuten Nicken erwiderte.

Verdattert blickte ich den beiden alten Damen nach, wie sie das Wohnzimmer verließen und die Tür hinter sich schlossen. Eine bedrückende Stille breitete sich zwischen uns aus. Ich starrte auf den alten Holztisch, suchte nach passenden Worten. Immer noch waren die Erinnerungen an den Friedhof und die Nacht mit ihr allgegenwärtig, zwangen mich langsam in die Knie.

„Danke“, flüsterte Claire in die Stille des großen Raumes.

Ich wendete mich ihr zu, betrachtete ihr Profil.

„Wofür?“, fragte ich das Mädchen, das meinem Blick gekonnt auswich.

„Dafür, dass du mich nicht zurück gehalten hast und mich beschützen wolltest. Und für den ganzen Rest ebenfalls vielen Dank.“

Die letzten Worte murmelte sie nur noch, sodass ich sie kaum verstand.

„Du brauchst dich nicht dauernd zu bedanken“, gab ich ein wenig eingeschüchtert zurück.

Sie hatte, also tatsächlich gemerkt, dass ich sie beschützen wollte. Verdammte Instinkte!

„Na dann wäre ja alles geklärt“, hörte ich sie sagen, doch mir entging dieser gequälte Unterton nicht.

Ich sah, wie sie aufstand und mir kurz zunickte, während sie sich auf die Lippe biss. Sie durfte nicht gehen! Ich wollte sie endlich haben!

„Ich habe das auf dem Friedhof gehört“, spielte ich meinen Trumpf aus.


Claire


Ich erstarrte. Konnte keinen Schritt mehr tun. Mein Herz hämmerte in meiner Brust und mein Magen zog sich schmerzlich zusammen. Er durfte es nicht gehört haben! Wenn er es wirklich gehört hatte, war unsere Freundschaft bestimmt gegessen. Er war nicht doof. Mit anderen Worten: Er wusste, dass mir die Nacht mit ihm keineswegs egal war.

„Du hast was gehört?“, fragte ich gespielt verwirrt und drehte mich zu ihm um.

Die grau-blauen Augen durchbohrten mich, wussten, dass ich log. Ich schluckte schwer und ignorierte die Röte, die sich unter seinem Blick in meinem Gesicht ansammelte. Er seufzte auf, erhob sich und stellte sich vor mich.

„Ich habe gehört, dass du gesagt hast, dass du dich in mich verliebt hast.“

„Da musst du was falsch verstanden haben“, winkte ich schnell ab, sah in seinem Blick jedoch, dass er mir nicht glaubte.

„Verdammt Claire, können wir endlich die Karten offen auf den Tisch legen?“, fragte er und fuhr sich nervös mit seiner Hand durchs Haar.

Betreten schaute ich zu Boden. Diese Worte waren mir Antwort genug. Er hatte es gehört und war sich sicher, dass ich in ihn verliebt war. Was leider wirklich der Fall war.

„Okay. Was willst du hören?“, fragte ich leicht trotzig und blickte ihn mit zusammengekniffenen Lippen an.

„Die Wahrheit?“, brachte er schulterzuckend über die Lippen.

„Die Wahrheit?“, wiederholte ich rhetorisch.

„Ja!“, bestätigte er, war dabei seine Arme in die Luft.

„Die Wahrheit ist, dass mir diese eine Nacht mehr bedeutet hat genauso wie dieser scheiß Kuss!“, brüllte ich ihn an, merkte, dass ich den Tränen nah war.

Wütend starrte ich ihn an, merkte, wie ein erleichterter Ausdruck sich auf seinem Gesicht breit machte. Ein Seufzer entfuhr ihm und dann fing er an mich schief anzugrinsen.

„Was?!“, keifte ich wütend, konnte seine Belustigung über meine Gefühle nicht ertragen.

Ohne Vorwarnung kam er auf mich zu, trat dicht an mich heran und nahm mein Gesicht in seine Hände. Ich wollte und konnte mich nicht mehr wehren. Der Tag hatte Kraft gekostet und die Aussichten, dass er mich küsste, waren nicht schlecht. Leider wusste ich, dass ich danach innerlich zerreißen würde, was ich aber gekonnt beiseite schob.

„Die Wahrheit ist, dass du mir seit Monaten nicht aus den Kopf gehst und dass ich nur abgehauen bin, weil ich Angst vor diesen Gefühlen hatte, die ich für dich habe. Die Wahrheit ist, dass ich dich danach geküsst habe, weil ich dir nicht widerstehen konnte. Die Wahrheit ist, dass ich mich in dich verliebt habe“, flüsterte er, sodass nur ich es verstand.

Mit geweiteten Augen starrte ich ihn an, sah das selige lächeln auf seinen Lippen, ehe sie sich auf meine legten. Sein Atem strich über meine Haut und sein Geruch vernebelte mir die Sinne. Zärtlich presste er seine Lippen auf meine, ließ die Schmetterlinge in meinem Magen zu Hubschraubern werden und meine Knie weich werden.

Ganz langsam löste er sich von mir, nur um seine Stirn gegen meine zu legen und mich in seine Arme zu ziehen. Ich konnte nicht anders, als dieses Lächeln zu erwidern. Daran waren auch die Hubschrauber im Magen beteiligt.

Sanft strich er mir eine Strähne aus dem Gesicht.

„Ich liebe dich“, murmelte er, drückte mir einen Kuss ins Haar.

„Ich dich auch“, brachte ich ohne zu stottern über die Lippen.

Epilog

Claire


„Nasch gefälligst nicht soviel! Das ist schließlich das Weihnachtsessen!“, schimpfte ich mit Adrian, der sich an dem Dessert begnügte.

„Ich habe nicht genascht!“, protestierte er, wusste aber nicht, dass ich die Schokolade, die in seinem Mundwinkel klebte, bereits entdeckt hatte.

Ich trat an ihn heran und betrachtete ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Du sollst doch nicht lügen“, ermahnte ich ihn und strich mit meinem Finger die Schokolade aus seinem Gesicht.

Enttäuscht ließ er die Schultern hängen.

„Hättest du das nicht anders weg machen können?“, fragte er eingeschnappt.

„Ach. Und wie?“, fragte ich irritiert.

Er zog mich in seine Arme und presste seine Lippen auf meine. Wieder einmal explodierte mein Magen. Zärtlich knabberte er an meinen Lippen, strich mit seiner Zunge über meine Lippen. Atemlos ließ ich es geschehen, versuchte meine Sinne auf etwas anderes als ihn zu konzentrieren, was mir leider nicht gelingen wollte.

Viel zu schnell löste er sich von mir und schaute mich frech grinsend an.

„So hättest du es machen sollen“, belehrte er mich.

„Ich merke es mir fürs nächste mal“, flüsterte ich atemlos, unterdrückte den Drang ihn erneut zu küssen.

„Kommt ihr beiden? Sonst wird das Essen kalt“, hörte ich die vertraute Stimme meiner Großmutter.

„Später“, nuschelte er in mein Ohr, als könnte er meine Gedanken lesen.

Ertappt errötete ich, betrat das Esszimmer in dem meine Großmutter, Elisabeth, Johanna, Marc, Jack und Jenna saßen.

Impressum

Texte: © by J. Moldenhauer
Cover: © by J. Moldenhauer
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2012

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