Kapitel 2
Warten. Es gab Zeiten in meinem Leben, da bestand der eigentliche Sinn aus nichts anderem. Es war immer wieder merkwürdig festzustellen, auf was man alles warten konnte. Und vor allem wie.
Ich saß vor meinem Schminktisch und strich mit einer Haarbürste durch mein dichtes, langes, dunkelbraunes Haar, während ich mein Gesicht im Spiegel betrachtete. Ich sah meiner Mutter nicht wirklich ähnlich. Eigentlich war ich sogar das komplette Gegenteil. Sie hatte ein leicht rundliches Gesicht, meines war eher schmal. Ich hatte blaue Augen und eine viel zierlichere Statur als sie.
Meinen Vater kannte ich nicht. Vielleicht sah ich ihm ähnlich, aber diese Frage konnte mir nicht mal meine Mutter beantworten. Ich war ein Unfall, wenn man es so sagen wollte. Mama konnte sich nicht mal mehr wirklich an sein Aussehen erinnern. Jedes mal, wenn sie über ihn nachdachte, verschwammen die Bilder vor ihren Augen, eigentlich verschwamm so ziemlich ihre gesamte Kindheit und Jugend. Ein triftiger Grund, weshalb ich nie so viel Alkohol getrunken hatte, dass ich mein Handeln nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Früher, als ich klein war, hatte ich immer gewartet mit der festen Überzeugung, dass mein Vater kommen würde, um mich zu sehen. Ich beneidete die anderen Kinder um ihre Väter und schaute zu wie sie mit ihnen im Park spielten. Vielleicht bemerkte man manchmal, dass mir der väterliche Einfluss fehlte. Vielleicht war ich aber auch einfach nur enttäuscht.
Mein ich im Spiegel blinzelte mir entgegen und die großen Augen veranlassten mich zu einem Lächeln. Enttäuschungen konnten verletzend sein, dafür machten sie mich aber auch stärker. Ich war vielleicht nicht die Hübscheste, aber ich war definitiv auch nicht hässlich. Das einzige, das vielleicht etwas merkwürdig erschien, war meine Narbe am Nacken. Je nach Laune konnte ich darin etwas anderes erkennen. Meistens war es aber einfach nur ein kleines Kreuz. Sie war schwach, normalerweise erkannte man sie auf den ersten Blick gar nicht.
Ich hatte sie von einem Raben, der mich angefallen hatte, als ich mit fünf von zu Hause weg laufen wollte. Ein wirklich merkwürdiges Vieh. Ich hatte ihm doch nichts getan. Aber er war immer wieder da gewesen. Und jedes Mal, wenn ich ihn sah, überkam mich diese Gänsehaut. Genauso wie bei dem Blick des Unbekannten vom Tag zuvor. Eine Vorahnung. Mein Unterbewusstsein sagte mir immer ich würde mehr wissen; als ich selbst glaubte. So erklärte mir Mama das Gefühl. Ich wollte unbedingt wissen wer das war, aber darauf würde ich vermutlich keine Antwort bekommen.
Hinter mir tat es einen Schlag, so dass ich mich mit einem Ruck umwandte und dabei die Haarbürste beinahe gegen den Spiegel schmetterte.
Ein Foto war von der Wand gefallen. Misstrauisch blickte ich mich um, bevor ich zu dem auf den Boden liegendem Rahmen ging. Einfach so flog so etwas doch normalerweise nicht runter. Ich drehte das Bild um und erkannte mein Klassenfoto. Lisa und ich zogen rechts außen Grimassen, während die anderen sich strikt an das langweilige Lächeln hielten. Typische Diven eben. Mit einigen kam ich ganz gut zurecht. Andere hatten es ständig darauf abgesehen mich irgendwie zu sticheln. Nicht, dass sie ihr Ziel wirklich erreicht hatten, aber die eine oder andere feurige Diskussion kam dabei schon zu Stande.
Ich vermisste sie nicht. Vielleicht würde ich die Volleyballspiele im Sportunterricht vermissen, aber nicht die Personen. Obwohl ich mit den meisten mehr als sieben Jahre in einer Klasse war, fühlte ich mich nie wirklich so, als würde ich dazugehören. Ich war einfach irgendwie…anders. Genauso wie Lisa. Wir beide waren teilweise kindischer, aber teilweise auch vernünftiger. Je nachdem welchen Standpunkt man betrachtete. Ich wusste nicht was ich gemacht hätte, wenn Lisa damals nicht in unsere Klasse gekommen wäre. Damals hatte ich endgültig jeglichen näheren Kontakt zu meinen Klassenkameraden aufgegeben. Meine ehemalige beste Freundin mutierte zur größten Zicke der Schule und wurde zur Modeikone der Schule, obwohl sie zuvor nur ein Mauerblümchen war. Merkwürdig, nicht?
Ich legte das Bild in eine Schublade, statt es wieder aufzuhängen. Ich würde sie nie wieder sehen und das war auch gut so.
Warten. Ich wartete schon wieder. Dies Mal jedoch ungeduldiger als je zuvor. Es gab einfach so viele Fragen die geklärt werden mussten.
Würde die Schule mich annehmen?
Würde Lisa mitkommen können?
Wie würde meine Mutter zu Recht kommen?
Wie diese Schule wohl so sein würde?
Ein Blick auf die Uhr schenkte mir zumindest etwas Erleichterung. Diese scheiß Krankheit hatte mir einiges genommen, aber es gab Dinge auf die bestand ich, wie auf meine Luft zum Atmen und das war unter anderem mein Schwimmtraining.
Ich schulterte meine gepackte Tasche und trippelte ins Wohnzimmer, um meine Mutter mit einem Hundeblick zu fragen, ob sie mich nicht fahren könnte.
Sie schlief.
Scheinbar hatte sie wieder einen harten Tag hinter sich. Ich wollte sie nicht wecken, gerade wenn Mama schlief sah sie immer so friedlich und glücklich aus, als würde auf ihren Schultern nicht das kleinste Problem lasten. Bald würde sie noch mehr Stress haben. Sie hatte wirklich jede Sekunde ihres Schlafs verdient.
Leise schlich ich mich raus und achtete darauf, dass unsere Wohnungstür nicht zu laut zu schlug. Ich konnte wirklich von Glück sprechen, dass es meiner Trainerin gelungen war das Hallenbad so spät noch für mich geöffnet zu lassen. Es gab nur wenige Personen, die sich wirklich um mein kleines Tageslichtproblem scherten. Wenn der August endlich vorbei wäre und damit auch die schrecklich warmen Tage, dann könnte ich vielleicht wieder tagsüber raus. Das Sonnenlicht durfte nur meine Haut nicht berühren.
Ich lief die engen Straßen entlang. Es gab eine kleine Abkürzung mitten durch den ältesten Teil unseres Wohngebiets. Noch waren dort einige wenige Personen unterwegs, aber das würde sich bald ändern. Es wagten sich nicht viele in diesen Teil des Wohnviertels, vor allem nicht zu so später Stunde. Es gab zu viele Gerüchte von irgendwelchen Gangs, die meines Wissens nicht einmal existierten. Hätte ich gewusst, dass ich schon zu diesem Zeitpunkt beobachtet wurde, dann wäre ich vermutlich direkt wieder nach Hause gerannt.
~:.:~
Das Wasser war angenehm kühl und strich über meine Haut wie Seide. Ich hörte das leise Rauschen und meine eigene Bewegung unter Wasser. Mit gleichmäßig starkem Beinschlag schoss ich vorwärts und sah mit Enttäuschung, wie schnell die gegenüberliegende Wand schon näher kam.
Ich schlug ab, vollbrachte einen Purzelbaum und ließ mich als Kugel zusammengerollt auf den Grund absinken. Ich fand es schon immer faszinierend, wie sich alles unter Wasser anfühlte. Wie mein Haar mich am Rücken kitzelte und ich meinem eigenem Herzschlag lauschen konnte.
Als mir die Luft zu knapp wurde, stieß ich mich vom Boden ab und durchbrach die Wasseroberfläche.
„Du wirst immer besser! Die Zeit eben war ein neuer Rekord und ich glaube du hast auch noch nie so lange die Luft anhalten können, Tinúviel! Es ist eine Schande, dass du nicht an dem Turnier teilnehmen kannst! Du hättest gewinnen können!“
Ich stützte mich am Beckenrand ab und paddelte mit den Beinen, während ich Alexa schmunzelnd beobachtete. Meine Trainerin war schon immer sehr temperamentvoll gewesen und konnte nie verstehen, warum ich nicht an Wettbewerben teilnehmen wollte. Jetzt verbot es mir die Krankheit.
„Alexa, ich schwimme nicht, weil ich gewinnen will. Ich schwimme, weil es mir Spaß macht und das Becken hier ist definitiv zu klein.“
Langsam hob ich mich komplett aus dem Wasser und umhüllte mich mit meinem Handtuch.
„Und ich werde nie verstehen, warum du dein sportliches Talent so vergehen lässt.“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ganz einfach, ich bin faul. Und ich will kein Aufsehen, weil ich in etwas gut bin.“
Alexa holte Luft, um mich zum vermutlich hundertsten Mal aufzuklären, dass sportlicher Erfolg bei den Junioren, so wie sie ihn damals hatte, längst kein Aufsehen erregte, doch noch bevor ihr dies gelang, erklang plötzlich die Melodie von ihrem Handy. Sie schaute mich kurz entschuldigend an und drehte sich dann weg.
Ich kniete mich ans Wasser und strich mit dem Fingerkuppen über die seichte Oberfläche, als ich ein Klopfen an der Fensterscheibe unseres Hallenbads hörte.
Ich wünschte mir ich hätte nicht aufgeblickt, denn als ich den schwarzen Vogel sah, lief es mir eiskalt den Rücken hinab.
„Du schon wieder!“
Fast automatisch wanderte meine Hand zu meiner Narbe hinauf.
Er starrte mich an und mir blieb nichts anderes übrig, als zurück zu starren. Ich hatte wirklich noch nie erlebt, dass ein Tier einen solch intensiven Blick haben konnte.
„Tinúviel? Ist bei dir alles okay? Du siehst auf einmal so blass aus!“
Ich drehte meinen Kopf zu Alexa und rieb mir das Gesicht mit meinem Handtuch ab.
„Alles okay...ich glaube ich höre für heute auf. Treffen wir uns in zwei Tagen wieder?“
Alexa nickte und hielt mir die Türe mit einem besorgten Blick auf, um sich danach ins Badbüro zurückzuziehen, während ich mir das warme Wasser der Dusche über den Kopf rinnen ließ.
„Närrin! Du bist einfach viel zu abergläubisch! Wahrscheinlich ist es nicht mal der gleiche Rabe!“, redete ich mir selbst ein, als ich mich anzog und auf den Weg nach Hause machte, aber das merkwürdige Gefühl, das ich seit dem Erscheinen des Raben hatte, wollte einfach nicht verschwinden.
Meine Sinne schärften sich, ich glaubte Schritte in den menschenleeren Straßen zu hören. Ein spöttisches Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Ich wurde auch noch paranoid. Eine wirklich erstklassige Nacht. Das musste man schon sagen, dabei lachte ich immer alle anderen aus, die sich vor irgendwelchen Orten bei Nacht fürchteten. In diesem Moment hatte ich selbst Angst vor den dunkeln Gassen und hielt den Riemen meiner Schwimmtasche so fest, dass meine Knöchel weiß wurden.
Ein merkwürdiges Zischen ließ mich nach oben blicken und erstarren, während meine Augen immer größer wurden und meine Nachenhärchen sich aufstellten. In letzter Sekunde schrieen alle meine Muskeln: Spring! Mein Körper hechtete fast automatisch nach rechts. Ich rollte mich ab und blickte vor Schreck schwer atmend auf den zerschellten Blumentopf, der beinahe meinen Kopf getroffen hätte. Da war jemand. Ich konnte ihn nichts sehen, aber ich spürte ganz deutlich die Anwesendheit einer anderen Person. Ängstlich tastete ich um mich und fand mit der Hand ein altes Stahlrohr, das vor der Hauswand gelegen hatte.
„Wer ist da?! Komm sofort raus!“
Wieder hörte ich die Bewegung, bevor ich etwas sehen konnte. Habt ihr schon mal Alice im Wunderland oder Charlys Schokoladenfabrik gesehen? Der Mann der plötzlich mit einem merkwürdigen Grinsen, einem großen Hut und einem weiten Mantel aus dem Schatten trat, erinnerte mich an einem Misch aus dem verrückten Hutmacher und dem Fabrikbesitzer. Ich sagte doch es würde verrückt werden und wenn das nicht verrückt war…
„Keinen Schritt näher! Wer sind sie?“
Ich stand vorsichtig auf und hielt das Rohr schützend vor mich, als würde ich gleich zu schlagen wollen.
„Aber Miss Youngblood. Wir wollen doch nichts überstürzen. Ich bin Herold Fairfax und nur der Postzusteller, Mylady.“
Ich hob skeptisch eine Augenbraue. Wie bitte sprach denn der mit mir und was sollte dieser ganze Miss und Mylady Blödsinn. Aber viel wichtiger…woher zum Teufel kannte er mich?! Und warum sprach er Englisch und nicht Deutsch?! Nicht, dass das irgendeine Schwierigkeit darstellte, aber trotzdem!
„Der Postzusteller?! Und was sollte die Aktion mit dem Blumentopf?“
Er lächelte und schob die Reste des Blumentopfes auf Seite.
„Ein Reaktionstest. Hier bitte.“
Aus den Untiefen seines Mantels zog er einen kleinen dunkelblauen Umschlag hervor.
„Es ist mir eine Freude ihnen diesen überreichen zu dürfen.“
Ohne die Stahlstange auch nur für einen Moment loszulassen, nahm ich den Umschlag entgegen und studierte den Absender. Mein Mund hätte vermutlich ein überraschtes O geformt, wenn ich mir nicht auf die Lippen gebissen hätte.
„Wie..“
Ich blickte mich suchend um. Er war weg. Einfach so.
Der Absender des blauen Umschlags war die Stroker High, aber ich hatte meine Anmeldung doch erst einen Tag zuvor abgeschickt. Es war sogar für eine Absage eine viel zu frühe Antwort, wie also konnte das sein?
Pünktlich mit dem Aufschließen der Wohnungtstür kam meine Mutter auf mich zugestürmt, wie ein Raubtier, dass auf seine Beute losging.
„Wo bist du so lange gewesen?! Ich habe Alexa sogar schon angerufen!“
Ich zählte innerlich von drei runter.
„Oh mein Gott. Tinúviel! Du bist ja noch blasser als sonst! Was ist passiert? Hat jemand versucht dir etwas anzutun? Hattest du einen Schwächeanfall?“
Ich schüttelte den Kopf und hielt ihr den Brief unter die Nase, bevor ich mich auf die Couch fallen ließ.
„Mit mir ist eigentlich alles in Ordnung, ich fange nur an mich um meinen Verstand zu sorgen.“
Ich hörte, wie meine Mutter den Brief in der Küche mit einem Messer aufschnitt und konnte mir bildlich vorstellen, wie ihre Augen über die Zeilen huschten.
Mama las immer alles zwei Mal durch, um sicher zu gehen, dass es auch wirklich stimmte, was die Buchstaben ihr erzählten
„Du wurdest angenommen!!“, jubelte sie plötzlich laut.
Ich drehte mich überrascht um, irgendwie hatte ich fest mit einer Ablehnung gerechnet.
„Wirklich?“
Heftig nickend, irgendwie erinnerte sie mich in diesem Moment an Lisa, kam Mama ins Wohnzimmer geeilt und setzte sich neben mich.
„Sie freuen sich sehr über deine Anmeldung und möchten dir mitteilen, dass du schon in einer Woche erwartet wirst. Guck mal hier ist sogar dein Flugticket.“
Irgendwie ging mir das alles viel zu schnell. Ich meine, wie konnte das alles so schnell schon wieder hier sein und eigentlich wollte ich Mama auch nicht einfach alleine lassen.
„Und wie, beziehungsweise, wann kommst du dann nach?“
Mama kaute auf ihrer Unterlippe herum während sie einen Blick auf den Kalender warf.
„Ich mache morgen einen Termin mit dem Makler aus und dann werden wir sehen müssen, wie schnell das am Anfang alles von statten geht.“
Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn.
„Wir werden auch für eine kurze Zeit ohne einander auskommen. Willst du nicht Lisa bescheid geben?“
Ich schielte auf die Uhr und musste grinsen.
„Da wird sich aber jemand aufregen.“
Schnell stürmte ich in mein Zimmer und warf mich auf mein Bett. Gott sei Dank ermöglichte die Technik kabelloses Telefonieren. Ich hasste es, wenn ich nicht im Bett liegen konnte.
Als das Freizeichen unterbrochen wurde und ein völlig verschlafenes Brummeln im Hörer ertönte, grinste ich von einem bis zum anderen Ohr.
„Stell dir vor was passiert ist. Deine Schule hat mich angenommen!“
Auf Lisas Seite raschelte es heftig und eine Sekunde später klang meine liebe Freundin schon alles andere als verschlafen.
„Wirklich?! Das ist ja zu genial! Ich habs dir doch gesagt!! Ich hab meine Eltern noch nicht rum, aber ich glaube ja nicht, dass sie was dagegen haben werden… Früher oder später geben sie immer nach!“
Ich seufzte. Lisa wunderte es natürlich überhaupt nicht, dass die Antwort schon da war.
„Wenn überhaupt wirst du aber nachkommen müssen Bei mir geht’s in einer Woche schon los…“
Lisa schwieg einen Moment. Bestimmt passte ihr wieder irgendwas nichts ins Konzept und ihr Hirn musste erst einmal rattern.
„Hä, haben die keine Ferien? Wir hatten doch gestern auch den letzten Schultag!“
Ich kicherte und schüttelte leicht den Kopf, bis mir in den Sinn kam, dass sie mich ja gar nicht sehe konnte.
„Nicht mehr so lange und ich muss mich ja auch einleben und was weiß ich. Hilfst du mir beim packen?“
„Worauf du wetten kannst. Aber ein bisschen beleidigt bin ich schon! Ich bin um zehn bei dir auf der Matte!“
Ich erinnerte mich an ihrem letzten Besuch und rief ihr noch kurz zu, dass sie doch bitte meinen Bauch verschonen sollte, aber vermutlich hatte sie das schon nicht mehr gehört.
Ich legte mich also auf den Rücken und starrte lächelnd an die Decke. Irgendwie freute ich mich schon, mein Bauchgefühl sagte mir, dass es gut werden würde.
~:.:~
Als ich den Platz einnahm, den mir die Stewardess gezeigt hatte, holte ich tief Luft. Ein Fensterplatz war schon mal nicht schlecht, wenn man bedachte, dass dies mein erster Flug werden würde. Das Kribbeln im Bauch machte die Nervosität definitiv nicht ertragbarer. Meine letzte Woche in Deutschland war viel zu schnell vergangen. Mein komplettes Zimmer war in Kartons verpackt und Mama hatte tatsächlich schon einen Käufer für ihr Café gefunden. Auch wenn ich mir nicht so sicher war, ob sie wirklich glücklich war, als sie es verkaufte. Ihre Wohnung in San Francisco sollte erst im September frei werden. Lisa hatte ihren Eltern so lange die Ohren voll gejammert, bis sie ihr versichert hatten, dass sie, falls sie angenommen wurde, Ende November hinterher kommen dürfte. Also musste ich eigentlich wieder nur ein Weilchen warten. Schwerer war mir der Abschied von Alexa gefallen, denn sie würde mir nicht hinterher reisen.
Die Maschine fing an sich zu bewegen. Neben mir saß ein kleines Mädchen, das panisch anfing an den Fingernägeln zu knabbern. Ich hätte es ihr zu gern nachgemacht, aber mein Stolz schaffte es mir dies zu verbieten. Es war doch nur ein ganz normaler Flug.
Ich öffnete leicht den Mund, schloss meine Augen und fing an zu zählen. Langsam und gleichmäßig. Verdammt, ich fühlte mich wieder, wie die kleine Tinú, die ganz dringend eine Hand zum drücken brauchte.
Als sich mein Körper anfühlte, als würde er wieder gerade sitzen und nicht mehr nach hinten gekippt, wagte ich es die Augen zu öffnen und dachte erst ich würde träumen. Der Blick aus dem Fenster war die reinste Augenweide.
Der Sternenhimmel sah atemberaubend aus, der Mond leuchtete unglaublich schön und die Wolkendecke, die sich unter mir befand, gab dem ganzen einen paradiesischen Ausdruck. Ich wünschte ich könnte das irgendwie festhalten, doch meine Kamera wäre nie in der Lage gewesen dieses Bild einzufangen und Aquarellfarben hatte ich leider keine zur Verfügung. Plötzlich kam mir Janis in den Sinn. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, aber ich hatte auch nicht mehr an ihn gedacht, seit ich den Brief bekommen hatte. Vielleicht würde der Abstand mir gut tun, ich hatte ohnehin nie eine Chance bei ihm…Aber über eines war ich mir definitiv im Klaren, das konnte nur ein gutes Omen sein. Die Nervosität, die Angst, das war alles beiseite geschoben, der Mond hatte schon immer einen guten Einfluss auf mich gehabt.
Das kleine Mädchen neben mir zeigte auch immer wieder begeistert nach draußen, sie lachte und konnte kaum stillsitzen, was meine gute Laune noch verdoppelte. Als dann auch noch der Film anfing – Sex and the City2- war es einfach nur perfekt. Und um die Sonne musste ich mir auch keine Gedanken machen, denn diese musste mir erstmal hinterher kommen.
Wie der Film ausging wusste ich dann leider nicht mehr. Ich musste irgendwann eingeschlafen sein. Geweckt hatte mich die heftige Landung, zusätzlich zu dem Ziepen an meinem Ärmel.
„Wach auf! Wir sind da!“, flüsterte die Kleine mir ins Ohr und kitzelte mich dabei mit ihren Haaren.
Ich streckte mich ausgiebig.
„Danke, Süße. Ich bin schon wach.“
„Machst du auch Urlaub hier?“, fragte sie mich mit einem Zahnlückengrinsen. Während wir langsam ausstiegen und unser Gepäck abholten, erzählte ich der Kleinen auf was ich mich eingelassen hatte und so bemerkte ich den doch eigentlich sehr auffälligen Mr. Fairfax erst als er mir mit dem Finger auf die Schulter tippte.
„Miss Youngblood. Willkommen in den Staaten.“
Ich betrachtete ihn noch mal im Licht des Terminals. Ohne die ganzen Schatten, sah er zwar definitiv immer noch sehr merkwürdig, dafür aber weniger Angst einflössend aus. Ich glaubte sogar mich an ihn gewöhnen zu können, wenn er nicht wieder dieses merkwürdige Grinsen aufsetzen würde
„Mr. Fairfax? Ich dachte sie sind der Postbote?“, ich konnte nicht anders als zu lächeln.
„Das ist durchaus richtig, Miss, aber ich bin auch der Chauffeur.“
Zu diesem Zeitpunkt hoffte ich inständig, dass nicht alle Bewohner und Lehrer der Stroker High so komisch sein würden, wie Mr. Fairfax, der mir meine Koffer abgenommen hatte und mich zu einem schwarzen Auto führte.
Als ich auf der Rückbank Platz genommen hatte dauerte es nicht lange bis der Wagen sich in Bewegung setzte und ich anfing meine Hände zu kneten. Die Golden Gate Bridge sah wirklich so fenomenal aus, wie sie immer in Filmen rüber kam, als wir sie jedoch überquert hatten, verlor ich jeglichen Orientierungssinn. Ich dachte die Schule wäre in San Francisco, da hatte ich mich scheinbar geirrt. Mr Fairfax fuhr mit mir noch eine gute Stunde durch die Gegend. Was mich allerdings immer nervöser werden ließ, war die Tatsache, dass wir uns immer weiter von jeglicher Zivilisation entfernten.
Ein Wald versperrte mir die Sicht und so hörte ich irgendwann auf mich umzusehen, es hatte keinen Sinn die Schatten der vorbeiziehenden Bäume zu betrachten, also konzentrierte ich mich lieber auf die Musik, die aus dem Radio des Autos dudelte. Ich kannte das Lied war nicht, aber es war recht schön. Fast hätte es mich eingeschläfert.
„Miss Youngblood, zu ihrer Rechten werden sie gleich die Stroker High erblicken können.“
Ich hielt den Atem an, blickte aus dem Fenster und was ich sah löste in mir ein reines Glücksgefühl aus. Ein großer See grenzte an den Wald, und am Ufer der spiegelglatten Fläche leuchteten die Fenster eines rießiegen Gebäudes. Es war kein Schloss, aber es war auch kein Neubau. Das Haus war dunkel und es hatte etwas Altertümliches an sich. Jeglicher Versuch es genauer zu beschreiben würde scheitern. Man konnte es nicht beschreiben, denn in jedem Augenblick, in welchem man es betrachtete, schien es sich vor dem Auge zu verändern.
„Die Stroker High wurde von einigen sehr talentierten Architekten gebaut. Man wird sie nie betrachten können ohne etwas Neues zu entdecken, deswegen gibt es auch keine Bilder von ihr.“
Für kurze Zeit hatte ich völlig vergessen zu atmen. An diesem Ort, würde ich also die nächste Zeit wohnen.
„Die Direktorin erwartet sie bereits im Innenhof, Mylady.“
Texte: Das Titelbild gehört Vuelo auf www.deviantart.com
Die restlichen Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Kapitel widme ich Janine und Aleksandra, weil sie mir Bookrix erst gezeigt haben.