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Kapitel 1

Langsam öffne ich die Augen, doch sehe nichts. Um mich rum ist alles duster. Ich liege auf dem Rücken, der Schmerz zerreißt mich fast. Meine Zunge fährt über meine Zähne, tastet mein Zahnfleisch ab. Ich schmecke mein eigenes Blut, fahre mit der Zunge über abgebrochene Stummel, die einmal meine Zähne waren, und offene Wunden im Zahnfleisch. Ein Husten schüttelt mich, jede Bewegung löst eine Lawine an Schmerzen aus, die auf mich niedersaust. Langsam versuche ich aufzustehen, festzustellen, was mit mir geschehen ist, doch ich dringe einfach nicht durch den Nebel. Wie lange war ich bewusstlos? Mühsam schaffe ich es eine sitzende Haltung einzunehmen. „Aua", entfährt es mir. Welch lapidare Äußerung in Anbetracht meiner Lage. Fassungslos schüttle ich meinen Kopf, der mich fast umbringt. Ich habe riesigen Druck im Kopf, jede kleine Bewegung meiner Augen verstärkt dieses Gefühl. Mein Hirn kreist um die Frage, warum ich noch nicht tot bin, da es sich so anfühlt, als wäre dieser nicht mehr weit entfernt. Vorsichtig betaste ich meine Stirn und Schläfe, versuche das blutverklebte Haar von der Wunde an meiner Schläfe zu entfernen. Ein Stöhnen vor Schmerzen entfährt mir und ich spüre eine Übelkeit noch unbekannten Ausmaßes in mir aufsteigen. Plötzlich regt sich mein geschundener Verstand, mein Handy, ich kann Hilfe rufen. Für einen kurzen Moment legt sich die Panik und Hoffnung keimt auf, vielleicht gibt es eine Rettung.

 

Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt und ich kann erkennen, dass meine ehemals beige Hose, mit den vielen Taschen an den Beine furchtbar aussieht, überall Löcher, Blut und Schmutz. Ich betaste die einzelnen Taschen, hier irgendwo musste das Handy doch sein. So schnell meine Verletzungen es mir erlauben durchwühle ich meine Taschen doch nichts, das Handy ist weg. Ich bemühe mich aufzustehen, es kostet mich viel Kraft, doch ich ziehe ich an einem Müllcontainer hoch und betrachte zum ersten Mal genauer die Umgebung, in der ich erwacht bin. Mülltonnen- und säcke stehen um mich herum, es ist dunkel, die Lampe über dem Hinterausgang ist zerschlagen, so dass nur das spärliche Licht von der Straßenlaterne der Hauptstraße ihren Schein in die Gasse wirft. Ich sehe Backsteinmauern um mich herum und die Finsternis. Es ist so dunkel, dass ich die Hand vor Augen kaum sehen kann. Ich kann mich nicht erinnern wie ich hier her gekommen bin, geschweige denn, wo ich mich überhaupt befinde. Mein Gehirn arbeitet nur äußerst träge und die Schmerzen in meinem Kopf und nun auch noch die in meinem rechten Bein, die ich im Liegen überhaupt nicht bemerkt habe, machen mich fast verrückt.

 

Ein Schleifen… Ich habe eben eindeutig ein schleifendes Geräusch wahrgenommen. Doch aus welcher Richtung kam es? An den Müllcontainer geklammert verharre ich stocksteif. Mehr als schemenhafte Umrisse kann ich nicht wahrnehmen. Da ist es wieder, dieses Geräusch und dann Schritte. Ich bin nicht allein. Die Anwesenheit der zweiten Person wird mir deutlich bewusst.

 

„Hallo? Ist da jemand?", rufe ich zögerlich. Auf eine Antwort warte ich vergeblich. Und wieder „Wer ist denn da? Bitte, ich brauche Hilfe."

 

Nichts. Die einzige Reaktion ist die Stille. Die Schritte werden lauter, kommen dichter. Eine Panikattacke erfasst mich. Ich kann nicht mehr atmen, meine Glieder fühlen sich wie aus Stein an. Rote Punkte tanzen hektisch vor meinen Augen. Atmen, atmen! Befehle ich mir selbst. Der Schweiß tritt mir aus allen Poren. „Hören Sie, ich weiß, dass Sie da sind. Zeigen Sie sich." Kläglich klingen meine Worte in meinen eigenen Ohren. Jemand, der sich mitten in der Nach in dieser Gasse rumtreibt, kann sich kein edler Samariter sein. Das Sprechen bereitet mir unsagbar viele Schmerzen, ich schlucke mein eigenes Blut herunter. Dann höre ich es wieder, ein Schleifen, ein Schritt, ein Schleifen ein Schritt, immer im Wechsel. Ich versuche mich zu erinnern wo ich das Geräusch schon einmal gehört hatte, doch es fällt mir einfach nicht ein. Das Einzige, das ich wahrnehme ist die Tatsache, dass es immer dichter zu kommen scheint. Langsam versuche ich um den Müllcontainer herumzugehen, während ich mich noch immer an diesen klammere und sehe einen ganz schwachen Lichtschein. Ein Streichholz? Unmöglich, geht es mir im Kopf umher. Ich lasse den Container los, teste aus, ob ich auch ohne allein stehen oder sogar gehen kann. Mit zusammengebissenen Zähnen gehe ich vorsichtig einen Schritt. Nach weiteren drei Schritten bleibe ich stehen, krümme mich zusammen und atme die stickige Luft ein. Es ist heiß und riecht nach Müll. Mir dreht sich der Magen um. Der Geruch und der Schmerz verursachen mir eine Übelkeit, die sich in einem Schwall Erbrochenem Luft macht. Keuchend atme ich bemüht ruhig ein und aus, richte mich wieder auf und gehe weiter. Langsam bewege ich mich auf den Schein zu, dichter, langsam, noch ein Stück dichter. Der Lichtschein bewegt sich leicht, dabei ist es komplett windstill. Selbst in meiner jetzigen Situation ist mir klar, dass das Streichholz, wenn es denn eines ist, von jemandem gehalten werden muss. Ich raffe all meinen Mut zusammen und schleiche weiter voran, setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Wie viele Meter mag ich wohl noch entfernt sein? Vielleicht zwei bis drei? Es könnten allerdings auch mehr sein, schätzen gehörte noch nie zu meinen Stärken. Ich bin dicht genug, um eine Silhouette erkennen zu können. Mein Gegenüber ist schätzungsweise 1,90 Meter groß und hat eine schlanke Figur. Es muss sich eindeutig um einen Mann handeln. Mir stockt der Atem. Die Panik droht mich erneut zu übermannen. Weiter! Dränge ich mich in Gedanken und so gehe ich weiter, taste mich durch die finstere Nacht.

 

Der Mann verharrt starr in seiner Position, sieht fast so aus, als würde er an der Hauswand lehnen. Ich taste mich weiter vor, bin nun schon so nah, dass ich seinen Hinterkopf erkennen kann. Sein Blick ist nach unten gerichtet, er sieht nicht in meine Richtung. Vielleicht bilde ich mir auch nur ein, dass ich beobachtet werde. Aber ich habe es doch gefühlt. Das Kribbeln im Nacken, der Schweiß der mir zwischen den Schulterblättern hinabrennt. Ich fühle mich wach und das in meinem Körper freigesetzte Adrenalin weckt zaghaft meine Neugier. Die Mischung aus absoluter Panik und perverser Neugier treiben mich zum weitergehen an. Ich stehe direkt hinter ihm, wenn ich meinen Arm jetzt ausstrecke, kann ich ihn berühren. Er regt sich jedoch nicht, hält den Kopf weiter gesenkt, blick scheinbar zu Boden.

 

„Hallo?", flüstere ich.

 

Keine Reaktion. Behutsam strecke ich meinen Arm aus, gehe noch einen Schritt näher. Mein Herz hämmert wie irre, mein Mund ist trocken. Schweiß und Blut laufen mir in die Augen. Stoßweise atmend berühre ich die Gestalt mit meinen Fingerspitzen an der Schulter. Eine Reaktion bleibt aus. Verwirrt ziehe ich meine Hand zurück und runzle die Stirn. Die Anspannung in meinem Körper wächst mit jedem Herzschlag. Ich lege den Kopf leicht schief, betrachte den männlichen Körper unmittelbar vor mir. Jetzt erst registriere ich, dass der Lichtschein nicht von einem Streichholz sondern von einer Kerze, wie man sie aus kleinen Weihnachtsgestecken kennt, ausgeht. Das spärliche Licht reicht nicht aus um viel der Umgebung zu erkennen. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Mutig berühre ich den Arm des Mannes. Keine Reaktion. Ich stoße ihn leicht an. In dem Moment kippt sein Kopf zur Seite, fällt vom Hals hinunter und landet vor meinen Füßen. Starr vor Schreck bin ich nicht in der Lage mich zu bewegen, geschweige denn zu schreien. Mein Blick ist auf den kopflosen Körper gerichtet, da entdecke ich, dass statt eines Halses ein langer Holzstab aus dem Oberkörper ragt. Ein Besenstiel? So schnell es mein Körper zulässt bücke ich mich, um mir den Kopf anzusehen und blicke direkt in das Gesicht einer Puppe. "Was?" entfährt es mir. Mein Kopf kann keinen klaren Gedanken fassen. Ich versuche mich zu beruhigen und spreche mir selbst gut zu: "Ganz ruhig Jane, alles wird gut. Das war nur ein dummer Scherz. Das hat absolut nichts mit dir zu tun." Ich schrecke auf, als im angrenzenden Nachbarhaus das Licht angeschaltet wird. Mit der neuen Lichtquelle fällt es mir leichter die Gestalt anzusehen. Noch immer hocke ich vor dem gruseligen Puppenkopf, die mich fast in den Wahnsinn getrieben hätte. Ich setze mich auf den Boden, schüttele den Kopf. "Was für eine gottverdammte Scheiße." Ich sitze direkt neben meinem Peiniger, von dem jetzt keine Gefahr mehr ausgeht. Ich sehe nach oben, betrachte ihn näher. Die Kleidung sieht neu aus, nichts besonders schickes, dunkle Hose und T-Shirt, dunkle Schuhe, wahrscheinlich von der Stange. Von seinen Armen hängen Schnüre herab, wie bei einer Handpuppe. „Was zum Teufel..." entfährt es mir zwischen zusammengepressten Zähnen. Die Hand der Puppe baumelt direkt neben meinem Kopf. Ich erkenne, dass es nur eine kleine weiße LED-Kerze ist. Doch da ist noch etwas. Angewidert greife ich nach der Hand und drehe sie zu mir um. Dort ist ein Stück gelbes Papier. Ich ziehe es hervor und entfalte es eilig. Erneut bricht der Schweiß aus allen Poren, mit zitternden Händen öffne ich den Zettel und sehe die Schrift:

 

Meine liebe Jane,

dies ist noch lange nicht das Ende.

 

"Nein, nein, nein.", wimmere ich und breche in Tränen aus.

 

 

Drei Wochen zuvor…

 

Kapitel 2

 

„Hey Jane wir gehen noch was trinken, kommst du mit?" fragt mich meine Arbeitskollegin und mittlerweile auch gute Freundin Kristina.

 

Ich bin Sekretärin in einer mittelgroßen Anwaltskanzlei. Zugegeben, es war nie mein Traumjob aber ich kann davon ganz gut meine Miete bezahlen und im Laufe der Jahre habe ich mich wohl mit dem Job arrangiert. Mit fast 30 stelle ich mir jetzt allerdings langsam die Frage, ob ich mit einem Arrangement tatsächlich den Rest meines Lebens verbringen möchte.

 

Ich überlege kurz und stimme zu. "Bin dabei. Wo soll's s denn hingehen?"

 

Es ist Freitag, also Zeit für unser wöchentliches Ritual, das Wochenende mit einem gemeinsamen Abstecher in die Bar einzuläuten. Eigentlich bin ich nicht der Typ dafür. Smalltalk liegt mir nicht besonders und viele meinen ich habe einen sehr eigenwilligen Humor. Daher halte ich meine Kollegen gern auf Abstand. Hin und wieder gehe ich allerdings Freitags mit. Zum einen damit die anderen Kollegen mich nicht für merkwürdig halten und zum anderen weil Kristina ständig der Meinung ist, ich muss raus, Leute kennenlernen und Spaß haben. Seit ihrem Spruch "Du bist so aufregend wie eingeschlafene Füße" bemühe ich mich, lockerer zu wirken.

 

Kristina grinst von einem Ohr zum andren und meint: „Um die Ecke hat so eine neue Musikbar eröffnet, die wollen wir heute testen." Ich zucke mit den Schultern, nicke und versuche mein Gesicht unter Kontrolle zu behalten. Okay, also eine Musikbar…Worauf habe ich mich da nur wieder eingelassen? Kristina ist toll, herzlich, immer gut gelaunt, unglaublich hilfsbereit und doch ein wenig weltfremd. Sie sieht in allem immer nur das Gute, in den Menschen immer nur das Beste. Ich mache mir häufig Sorgen um sie, denn Mädchen wie Kristina sind beliebte Opfer. Ihre Naivität wird durch ihre püppchenhafte Optik noch unterstrichen. Große Kulleraugen, glänzende Korkenzieherlocker bis zur Schulter und der perfekte kleine Schmollmund zu der perfekten kleinen Stupsnase. Ganz ehrlich? Ich hasse sie weil ich sie liebe. Kristina ist alles das was ich nicht bin und zugleich auch genau das, was ich nicht sein wollen würde.

 

Auf dem Weg zum Fahrstuhl sammeln wir systematisch die restlichen feierwütigen Arbeitskollegen unserer Abteilung ein, Tim, den blonden und super heißen Abteilungsleiter, Meg unsere Sekretärin die mit Abstand die größte Sammlung an Hello Kitty Bleistiften hat, obwohl sie schon Ende Dreißig ist, unsere Langzeitaushilfe Cora die nebenbei Jura studiert und das wo sie mit ihren 90-60-90 Maßen auch locker als Model arbeiten könnte und Ben, unser Mädchen für alles. Eigentlich ist Ben ebenfalls Sekretär, aber als einziger Mann, ohne zwei linke Hände, übernimmt Ben auch hin wieder kleinere Reparaturen.

 

Es ist mittlerweile 18:00 Uhr, gut gelaunt machen wir uns zusammen auf den Weg, jeder voller Vorfreude und Erwartungen auf das bevorstehende Wochenende.

Die Sound-Bar, welch kreativer Name, ist bereits brechend voll. Zu meiner großen Überraschung und Freude dröhnt die Musik zur Abwechslung nicht aus einem Lautsprecher sondern ist live. Das Duo steckt mitten in Meat Loaf's "Anything for love" als wir uns einen Weg hinein bahnen. Es ist bereits stickig und verqualmt und in der Luft liegt eine Feuchtigkeit, die nur durch zu viele Menschen auf engem Raum produziert werden kann. An der Tür und den Wänden wird mit Plakaten geworben, dass diese Bar neue Talente fördert und Newcomern Chancen gibt. Da mein Musikgeschmack ohnehin vom üblichen Kommerzdenken der Radiosender abweicht, ist mir das nur recht.

 

„Dort hinten ist noch ein Tisch frei.", ruft Meg uns zu.

 

Zielstrebig geht sie in die Richtung und sichert uns damit unsere Plätze. Wir sitzen kaum fünf Minuten, da kommt auch schon die Bedienung, was in dieser Servicewüste bekanntlich nicht selbstverständlich ist. Sie ist eine blonde Schönheit, volle Lippen die vom Lipgloss feucht glänzen, riesige blaue Kulleraugen, umrahmt von langen schwarzen Wimpern. Ich bin mir sicher, dass sie nachgeholfen hat und nicht alles ganz so echt ist, wie sie es wahrscheinlich gerne hätte. Tim und Ben können ihre Blicke kaum von ihr wenden, was mich ehrlich gesagt nicht verwundert.

 

"Hi, was wollt ihr trinken?" fragt uns die Heidi-Klum-Bedienung übermotiviert. Der Einfachheit halber bestellt Cora Bier für alle. Lucy, so heißt unsere Kellnerin laut dem kleinen Namensschildchen, das direkt neben ihrem Ausschnitt platziert ist, nickt und wackelt in ihrem kurzen Rock davon. Ich rolle kurz mit den Augen, um meine Begeisterung über Lucy zum Ausdruck zu bringen.

 

„Und Leute, hat irgendwer was schönes geplant?", richte ich die Standard-Freitagabend-Frage an die Runde.

 

Tim sieht von einem zum anderen und erzählt, „Meine Schwester kommt mich mit ihrem Mann und dem kleinen Quälgeist besuchen."

 

„Wie süß, deine Schwester hat ein Kind? Junge oder Mädchen?", fragt Kristina, neugierig wie immer.

 

Sie hat erst vor kurzem bei uns angefangen, sich aber schon sehr gut eingelebt, so dass sie noch nicht wissen kann, was Tim mit dem „Quälgeist" meint. Wir anderen müssen uns ein lautes Lachen bei der Frage verkneifen. „Ähm nein, Kinder hat sie nicht. Der Quälgeist den ich meine ist Fifi, ihr Chihuahua. kein Scherz, das Vieh heißt tatsächlich so und wird behandelt wie ein rohes Ei." Wir brechen in schallendes Gelächter aus. Ich bemerke, dass Cora neben mir mit dem Fuß zum Takt wippt und eisernen Blickkontakt zu einem gut aussehenden Kerl in ihrem Alter hält, der lässig an die Bar gelehnt steht. Sie ist seit vier Monaten Single und genießt die neue Freiheit in vollen Zügen. Die anderen unterhalten sich weiter über ihre mehr oder weniger spektakulären Wochenenden. Mit einem Ohr lausche ich den Erzählungen meiner Kollegen, bin allerdings mehr auf meine Beobachtung von Cora konzentriert. Sie strafft die Schultern, öffnet den obersten Knopf an ihrer Bluse und streicht sich den Rock glatt, bevor sie sagt:

 

„Ich weiß ja nicht wie es euch geht, aber von dem ganzen Sitzen heute tut mir der Rücken weh. Vielleicht sollte ich lieber ein wenig stehen."

 

Mit einem zwinkern gibt Cora uns zu verstehen, dass sie Beute gewittert hat. Langsam quetscht sie sich von ihrem Platz an uns vorbei, richtet ihren Rock, öffnet tatsächlich noch einen Knopf ihrer Bluse und geht mit verführerischen Schritten auf den Tresen zu. Soviel zu einem gemütlichen Bier mit Kollegen.

 

Meg greift meine vorherige Frage wieder auf und antwortet schlicht: „Putzen." Damit hat sie es geschafft, unsere volle Aufmerksamkeit zu bekommen, denn Meg ist ein absoluter Putzmuffel.

 

„Hm…gibt es einen besonderen Anlass?", frage ich sie.

 

Meg errötet leicht und starrt auf die Tischplatte.

 

„Also ehrlich gesagt, ich hab da diesen Typen kennen gelernt. Ryan ist sein Name. Wir haben uns vor ein paar Monaten im Chat kennen gelernt." Ben sieht sie an und reißt die Augen auf, bevor er mit seiner Moralpredigt beginnt:

 

„Spinnst du Meg? Du kannst dich noch nicht allen Ernstes mit irgendeinem Typen aus dem Chat treffen. Das könnte doch wer weiß was für ein Kerl sein. Liest du keine Zeitung, siehst kein fern?"

 

Mit rollenden Augen und flehendem Blick sieht Meg zu mir rüber. Diese Predigt kannten wir bereits von Ben. Er ist nicht nur das Mädchen für alles sondern auch unser selbst ernannter Bodyguard.

 

„Hey beruhige dich. Er ist zweiundvierzig, Bankangestellter, nicht verheiratet oder geschieden, keine Kinder. Ryan geht gern spazieren, interessiert sich für Musik, liest gern und was der absolute Hammer ist, er steht auf Hello Kitty." Meg grinst selig von einem Ohr zum anderen. Sie wirkt glücklich. Allerdings müssen wir alle lachen, welcher kriminelle Mann würde schon auf Hello Kitty stehen?

 

„Das freut mich für dich Meg. Ehrlich.", sage ich aus vollem Herzen und meine es auch so. Ben und Tim nicken ebenfalls zustimmend.

„Lust zu tanzen?" fragt Tim und sieht dabei ganz eindeutig in Kristinas Richtung. Sie erzählte mir schon vom ersten Tag an, wie toll sie unseren Abteilungsleiter doch findet. Noch fällt es mir schwer einzuschätzen ob Tim das gleiche über sie denkt. Nicht wirklich überraschend antwortet sie: „Ja sehr gern." und schenkt Tim ihr strahlendstes Lächeln.

 

In dem Moment kommt auch schon Lucy, die Heidi-Klum-Kellnerin, mit unseren Getränken. Ben, ganz der Kavalier lädt uns alle ein, mit dem Wissen, dass beim nächsten Mal ein anderer die Rechnung übernimmt. Meg nippt an ihrem Bier und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen, ist in Gedanken wohl schon beim morgigen Tag, an dem Ryan sie besuchen wird. Ben fängt ein Gespräch mit mir an über die Band die gerade spielt, doch ich kann mich nicht wirklich darauf einlassen. In Bens Nähe fühle ich mich häufig befangen und komme mir unzulänglich vor. Ich weiß nicht genau was es ist aber irgendetwas erweckt meine Aufmerksamkeit. Ich drehe den Kopf und schaue mich im Raum um. Die Bar ist klein, voll aber gut überschaubar und trotzdem habe ich das Gefühl beobachtet zu werden. Meine Augen suchen weiter den Raum ab, doch bis auf das knutschende Pärchen in der Ecke, ein paar tanzende Leute auf der Tanzfläche und eilig umherlaufende Kellnerinnen kann ich nichts entdecken. Es scheint alles ganz normal zu sein. Doch das komische Gefühl verursacht mir einen schalen Geschmack im Mund, feuchte Hände und ein Kribbeln im Nacken.

 

„Hey hörst du mir überhaupt zu?" Ben sieht mich besorgt an.

„Was? Zuhören, ja klar, ich hör dir zu. Erzähl ruhig weiter.", antworte ich ihm und versuche das Unbehagen zu überspielen. Ben ist nicht auf den Kopf gefallen, und nimmt seine Umwelt erstaunlich sensibel, für einen Mann, wahr.

 

"Alles in Ordnung Jane? Du bist ziemlich blass." Ich schüttle den Kopf, versuche zu lächeln.

 

„Nein nein, alles bestens. Ich denke ich werde mal kurz für kleine Mädchen."

 

Ohne eine Antwort abzuwarten stehe ich auf und gehe in Richtung der Toiletten. Zu meinem Glück muss ich nicht anstehen und kann mich gleich in die sichere Kabine einschließen. Was ist nur mit mir los? Ich bin sonst kein ängstlicher Typ aber irgendetwas fühlt sich in der Bar bedrohlich an. Ich sehe auf meine Uhr, die leuchtenden Zeiger verkünden das es halb neun ist. Wow, wir sind schon seit zwei Stunden in der Bar, die Zeit ist regelrecht verflogen. Ich denke gerade darüber nach als ich Geräusche höre. Die Tür zu den Toiletten ist, soweit ich es mitbekommen habe, nicht geöffnet worden. Ich bin noch immer allein. Schritte, nein, ein Schritt und ein Schleifen. Das kann gar nicht sein, ich bilde mir nur Schritte ein weil ich noch nervös bin. Aber es kommt näher und das Schleifen wird deutlicher. Ich wage es nicht mich zu bewegen, ziehe die Beine an, so dass meine Füße von außen nicht zu sehen sind, während das Schrittgeräusch und auch das Schleifen immer deutlicher werden. Ich hocke zusammengekauert auf dem Toilettensitz, mir bricht der Schweiß aus. Mein Nacken ist feucht, meine Hände kleben und meine Zunge fühlt sich in meinem trockenen Mund wie Schmirgelpapier an. Mit angehaltenem Atem lausche ich weiter, doch es ist wieder still, nur die Musik aus dem Barbereich dringt leise durch die Wände. Ich atme tief durch und stelle meine Füße zurück auf den Boden. Auf Zehenspitzen gehe ich auf die Kabinentür zu und drehe langsam an dem Schlüssel. Ich bin mir unsicher ob ich die Tür öffnen soll, entscheide mich dann aber dafür. Schließlich kann ich mich nicht ewig auf der Toilette einer Bar verstecken weil mir mein gereiztes Hirn einen Streich spielt. Vorsichtig drücke ich die Tür auf und spähe langsam um die Ecke. Nichts. Dort ist niemand. Ich komme aus der Kabine heraus und schüttele den Kopf. Ein Kichern entfährt mir. „Jane, Jane, Jane, du solltest wirklich über Urlaub nachdenken" murmele ich vor mich hin. In Gedanken versunken gehe ich zu den Waschbecken, drehe das Wasser auf, benutze die Seife und wasche mir gründlich die Hände. Da ich nicht viel Wert auf Make up lege, mache ich mir auch keine großen Gedanken als ich mir das angenehm kühle Wasser ins Gesicht spritze. Bisher habe ich nicht auf die Spiegel geachtet, erst jetzt als ich nach dem höher liegenden Handtuchhalter greife sehe ich in den Spiegel und erstarre. Ich habe erwartet mein Spiegelbild zu sehen doch das was ich sehe erschüttert mich. An der Ecke des Spiegels ist eine Handpuppe aufgehängt, doch was mich wirklich aus der Fassung bringt ist die Botschaft auf dem Spiegel, die unmissverständlich an mich gerichtet ist.

 

Meine liebe Jane,

das Spiel hat begonnen. Wir sind erst ganz am Anfang.

 

Kapitel 3

Ich muss mich übergeben. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es in die Kabine und fange direkt an, meinen gesamten Mageninhalt zu entleeren. Keuchend hänge ich vor der Toilette, die Arme auf die Toilettenbrille gestützt. Meine Augen tränen und mein Hals brennt. „Das kann nicht wahr sein, das kann doch einfach nicht wahr sein." Immer wieder stammele ich diesen Satz vor mich hin bevor ich weinend zusammenbreche.

 

Ich kann nicht sagen, wie lange ich so da saß als Kristina in den Waschraum kommt.

 

„Jane? Jane, bist du hier?" Kristina sucht nach mir.

„Hier.", kann ich nur flüstern. „Ich bin hier."

 

Ihre Schritte werden schneller, stoßen jede der fünf Toilettentüren auf bis sie mich in der letzten Kabine zusammengekauert auf dem Fußboden findet.

„Mein Gott was ist passiert?" Die Angst ist Kristina ins Gesicht geschrieben. Sie hilft mir mich aufzusetzen und blickt mich weiterhin panisch an.

 

„Jane, nun erzähl schon. Ich bin außer mir vor Sorge. Du bist schon eine Ewigkeit verschwunden."

 

Und so sitze ich zitternd auf dem Toilettendeckel und zeige schweigend mit dem Zeigefinger auf den Spiegel. Kristina steht auf, dreht sich um und geht langsam auf die Wachbecken zu. Sie bleibt schweigend davor stehen und ich sehe nur, wie sie sich die Hand an den Mund presst.

 

„Was ist das?", fragt sie, während unsere Blicke sich im Spiegel treffen. Vorsichtig bewegt sie sich noch ein Stück dichter auf die Spiegel zu, streckt die Hand aus und zieht sie im letzten Moment wieder zurück ehe sie sich umdreht und mich mit ernster Miene ansieht.

 

„Wir müssen die Polizei verständigen." Mühsam erhebe ich mich vom Toilettendeckel und gehe wankenden Schrittes auf Kristina zu. Ich reagiere nicht auf ihren Vorschlag, zu viele Dinge gehen mir durch den Kopf, vor allem eine Frage: Wer? Wer will mich erschrecken? Wer hat das getan? Mir gehen die Schritte und Schleifgeräusche durch den Kopf, ich versuche mich krampfhaft zu erinnern, ob sie mir bekannt vorkommen, finde aber keine Antwort. Kristina reißt mich aus meinen Gedanken als sie plötzlich vor mir steht und mir den Arm um die Schulter legt.

 

„Jane, hast du eine Idee wer das gewesen sein könnte und vor allem warum? Offensichtlich will dich hier jemand ganz übel erschrecken."

 

Ich schüttele den Kopf. „Nein, ich weiß es nicht aber vielleicht ist das auch nur ein riesiger Zufall und ich war überhaupt nicht gemeint. Lass uns abwarten mit der Polizei."

 

Kristina reißt ihre Augen auf und starrt mich ungläubig an. „Hast du sie noch alle? Wer sollte denn sonst gemeint sein? Jane Fonda? Dein Name ist Jane, du bist hier komplett allein und es steht eine Botschaft, wenn man das so nennen kann, für Jane auf dem Spiegel. Wir sollten definitiv die Polizei holen."

 

Ich glaube selbst nicht an meine Theorie, dass es sich nur um einen merkwürdigen Zufall handelt bin im Moment aber einfach zu überreizt um klar zu denken.

 

„Wo sind die anderen?", frage ich Kristina. Vielleicht fand einer von Ihnen es lustig mich zu verängstigen. Verwirrt sieht Kristina auf die Nachricht auf dem Spiegel und reagiert überhaupt nicht auf meine Frage. Endlose Sekunden verstreichen ohne eine Reaktion.

 

„Was?", fragt sie schließlich.

 

„Kristina, wo sind die anderen?" Jetzt sieht sie mich endlich wieder an bevor sie antwortet „Die sind kurz nachdem du hier rein bist, los. Ben hat vorgeschlagen noch in den „Moon Club" zu gehen. Meg ist nach Hause gefahren und die anderen sind schon vorgegangen zum Club. Deswegen bin ich ja hier, ich wollte dich suchen." Also konnte es keiner von ihnen gewesen sein.

 

„Lass uns gehen.", flüstere ich.

 

Kristina hat ja Recht, wir sollten die Polizei rufen aber was sollen wir Ihnen sagen? Hallo, ich bin Jane und die Botschaft auf dem Spiegel ist ganz offensichtlich für mich? Dann bringen die Cops direkt Verstärkung in Form von Pflegern der psychiatrischen Anstalt mit. Alles was ich im Moment will ist raus hier. Ich muss denken und solange ich die Botschaft auf dem Spiegel anstarre, kann ich das nicht. Wir hören ein Klopfen an der Tür.

 

„Wer klopft denn bitte an die Tür einer öffentlichen Toilette?", fragt Kristina, wohl eher sich selbst als mich. Raschen Schrittes geht sie auf die Tür zu und ist ebenso überrascht wie ich als sie sieht, wer da geklopft hat. Es ist Ben.

 

„Kristina, ist alles klar bei euch? Ich habe vor dem „Moon Club" auf euch gewartet und als ihr nicht kamt wollte ich nach euch suchen. Warum seid ihr denn immer noch auf der Toilette?" Kristina sieht mich über die Schulter hinweg an, bittet mich lautlos um Erlaubnis, Ben davon zu erzählen. Ich verwehre ihr die Erlaubnis in dem ich fast unsichtbar mit dem Kopf schüttle. Nicht noch mehr Leute sollen in diesen kranken Scheiß hereingezogen werden, egal ob es tatsächlich um mich geht oder nicht. Schließlich antwortet Kristina mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen: „Mädchenkram, du weißt schon." und zwinkert Ben verschwörerisch zu. Dieser guckt nur verwirrt an ihr vorbei, auf der Suche nach mir. Ich habe mich von außen gegen die Kabine gelehnt, da ich meinen Beinen noch nicht ganz traue. Ich atme tief ein und aus und gehe schließlich auf die Tür zu.

 

„Hi Ben. Hast du dich nicht in der Tür geirrt?", versuche ich zu scherzen. Ben bemerkt mein chaotisches Aussehen, mustert mich mit zusammengezogenen Augenbrauen aber schweigt, zu meiner großen Freude.

 

Sekunden der Stille treten ein bis Ben fragt: „Ähm, kommt ihr mit rüber zum „Moon Club"?"

 

Zögerlich sieht er von Kristina zu mir, woraufhin Kristina mich mit einem fragenden Gesichtsausdruck ansieht. In den Club zu gehen ist das Letzte wonach mir jetzt der Sinn steht. Ich will nach Hause, in mein Bett und den Abend hinter mir lassen.

 

„Also ich bin raus. Ich denke ich werde schlafen gehen." Antworte ich. Kristinas Gesichtsausdruck zeigt mir, dass sie hin und her gerissen ist, nicht weiß, ob sie mit mir oder in den Club gehen soll.

 

„Geh ruhig.", beende ich ihr Chaos im Kopf. „Es macht mir wirklich nichts aus."

 

Da Ben nichts von den Geschehnissen weiß und das auch gern so bleiben kann, habe ich ihr fast jeglichen Wind aus den Segeln genommen. Kristina sieht mich besorgt an. „Ich weiß nicht Jane, was ist wenn es, ich meine deine Bauchkrämpfe wieder kommen?" Bei dem Wort Bauchkrämpfe wird Ben augenblicklich ein wenig rot im Gesicht. Typisch Mann. „Ich lass euch mal kurz allein." Und schon hat Ben reiß aus genommen.

 

Kristina seufzt. „Jane, was hast du jetzt vor? Denkst du nicht, dass es besser wäre, wenn dich jemand nach Hause bringt? Das macht mir wirklich nichts aus." Ich schüttle den Kopf. Auf keinen Fall soll Kristina in diese merkwürdige Sache mit reingezogen werden und falls mich jemand beobachtet, soll er keine Inspiration für weitere Opfer seiner Stalking- Attacken bekommen.

 

„Alles ist gut, ich gehe nach Hause, lege mich in mein Bett und der ganze Spuk ist vorbei. Geh ruhig mit Ben zu den anderen."

„Oh Gott Jane, du machst es einem auch schwer. Gut, ich gehe zu den anderen in den Club aber ich frage Ben ob er dich nach Hause bringen kann. Allein lasse ich dich hier nicht weg."

 

An ihrem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass es sich nicht lohnt weiter zu protestieren. Also stimme ich zu, mich von Ben, sofern er es denn möchte, nach Hause begleiten zu lassen. Kristina sieht mir tief in die Augen und meine Angst spiegelt sich auch in ihrem Gesicht wieder. Ich nehme sie in die Arme und murmele nur „Ich weiß". Damit ist alles gesagt und ich spüre dass sie ihren Druck bei der Umarmung verstärkt, als Zeichen, dass sie mich versteht. Ich löse mich aus ihrer Umarmung. „Lass uns gehen."

 

Ben wartet wie unser Bodyguard vor der Tür, froh von den "Frauenproblemen" verschont geblieben zu sein. „Also, wie sieht’s aus?" Fragt er, während er uns abwechselnd ansieht. Ohne mir die Möglichkeit einer Antwort zu lassen plappert Kristina sofort los. „Jane geht es nicht gut, du weißt schon, ihre Periode und so. Wärst du so lieb sie nach Hause zu begleiten?"

 

Bei dem Wort Periode zieht ein regelrecht erschrockener Ausdruck über Bens Gesicht. Auf keinen Fall möchte er nähere Infos haben, willigt aber sofort ein mich nach Hause zu bringen. Wie ein entmündigtes Schulmädchen trotte ich hinter den beiden her zum Ausgang. Draußen vor der Tür sieht Kristina mich streng an, bevor sie mich zum Abschied in den Arm nimmt und mir zuflüstert: „Falls dir irgendetwas heute Nacht komisch vorkommt, ruf bitte sofort die die Polizei, versprichst du mir das?" Ich nicke nur, doch das scheint ihr bereits zu reichen. „Pass gut auf sie auf Ben." Ermahnt sie ihn bevor sie sich umdreht und in Richtung „Moon Club" geht.

 

Die 20 minütige Taxifahrt mit Ben ist angenehm. Wir reden ein bisschen über die Arbeit, Kollegen und den heutigen Abend. Ben erzählt mir, dass er es toll findet in einem so gut harmonierenden Team zu arbeiten. Ich stimme ihm ohne Kompromiss zu, denn ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, sich mit seinen Kollegen zu verstehen und sogar gern zur Arbeit zu gehen. Die Zeit vergeht sehr schnell und ich bemerke erst, dass wir am Ziel sind, als der Taxifahrer sich zu mir umdreht. „Wir sind da. Macht dann 30,50." Da hat jemand Spaß an seinem Job geht mir zynisch durch den Kopf. Ben hat mich offensichtlich so gut abgelenkt, dass ich für einen kurzen Augenblick die Ereignisse des heutigen Abends verdrängen kann. Ich reiche dem Fahrer sein Geld und verabschiede mich von Ben.

 

„Vielen Dank, dass du mich begleitet hast. Du weißt ja wie Kristina ist." Ben grinst mich an „Was denn, keine Einladung auf einen Kaffee?" Für einen kurzen Moment entgleisen meine Gesichtszüge. "Äh, Kaffee?" Stammele ich völlig verlegen. Ben's Grinsen wird daraufhin nur noch breiter. Er beugt sich zu mir rüber und berührt flüchtig meine Wange mit seinen Lippen. "Schlaf gut Jane." Ich steige aus, drehe mich um und antworte ihm, mit dem süßesten Lächeln das ich zustande bringe „Wir sehen uns Montag." Ich werfe die Autotür hinter mir zu und gehe schnellen festen Schrittes auf meine Haustür zu. Dort angekommen stecke ich den Schlüssel in das Schloss und drehe mich noch einmal um. Ben winkt mir zu, und gibt dem Fahrer das Zeichen zu starten. Jetzt bin ich wieder allein. Denke ich.

 

Ich gehe zu meiner Wohnung in den 2. Stock. Der Hausflur ist absolut still. Meine Uhr zeigt an, dass es erst 22:30 Uhr ist. Ich suche an meinem Schlüsselbund den passenden Schlüssel um die Wohnungstür zu öffnen und finde ihn tatsächlich in Rekordgeschwindigkeit. Schnell schließe ich die Tür auf, denn mein einziger Wunsch ist es, eine heiße Dusche zu nehmen und so schnell wie möglich ins Bett zu kommen. Sobald ich im Flur stehe drücke ich auf den Lichtschalter, der den Flur sowie den Wohn- Essbereich in ein gemütliches Licht taucht. Eine riesige Wohnung war mir nie wichtig aber gemütlich sollte sie sein, mein ganz persönlicher Rückzugsort. Den Flur habe ich in einem hellen gelb gestrichen, was auf mich immer sehr einladend und sommerlich wirkt. Meine Wohnküche ist rot, feurig. Ich liebe es abends auf der Couch zu sitzen, bei Kerzenlicht, und den Schatten bei ihrem Tanz auf den roten Wänden zuzusehen. Doch heute beunruhigt mich irgendetwas als ich in die Wohnung komme. Die Schatten dich mich sonst beruhigen ängstigen mich. Ich stehe noch immer an der Wohnungstür und blicke panisch von einer zur anderen Seite. Mir fällt ein, dass ich in der Kommode noch Pfefferspray liegen habe. Es ist zwar total schwachsinnig aber ich fühle mich besser als ich es in der Hand halte. Langsam taste ich mich vor, gehe in Richtung Wohnzimmer. Der Anrufbeantworter blinkt. Will ich wirklich wissen wer darauf gesprochen hat? Eigentlich nicht, dennoch höre ich die Botschaft ab.

 

„Du kannst mir nicht entkommen Jane. Ich werde immer bei dir sein."

 

Kapitel 4

 

Ich kann einfach nicht mehr, breche zusammen und weine hemmungslos. Was im Moment geschieht ist so unreal, überhaupt nicht greifbar oder logisch erklärbar. Meine ganze Welt bricht ohne Vorwarnung in sich zusammen und begräbt mich unter den Trümmern. Fragen rasen durch meinen Kopf, reizen mein Hirn. Warum ich? Was habe ich nur getan? Wer tut mir das an? Die Antworten stellen sich nicht ein. Bis heute war meine Welt in Ordnung. Doch jetzt ist alles anders. Ich darf niemandem mehr trauen und muss trotzdem versuchen da wieder raus zu kommen. Problem ist nur, dass ich „DAS" noch gar nicht einordnen kann. Worauf läuft es hinaus? Erpressung, Mord, Rache? Ich weiß es einfach nicht. Die Tränen wollen einfach nicht aufhören. Ich sitze auf dem Fußboden, habe die Arme um meine angewinkelten Beine geschlungen und wiege langsam vor und zurück während die Tränen den Stoff meiner Hose durchweichen. Etliche Minuten vergehen, fühlen sich an wie Stunden. Zäh wie Kaugummi. Meine Augen brennen und sind geschwollen, meine Nase ist wund. Ich starre nur vor mich hin und fühle mich unendlich schwer und leer zugleich. Ohne Vorankündigung kommt mein Kampfgeist zurück, ebenso schnell wie der vorherige Zusammenbruch.

 

„Reiß dich bloß zusammen Jane!" Befehle ich mir selbst. Nur langsam stehe ich auf. Ich habe nicht bemerkt, dass ich mich völlig steif gesessen habe. Mühselig schleppe ich mich mit tauben Beinen ins Badezimmer. Angst spüre ich im Moment nicht. Wäre der Eindringling noch hier, hätte er sich die Gelegenheit sicher nicht nehmen lassen um sich zu zeigen. Was mich im Spiegel anstarrt ist fast noch erschreckender als die Botschaft auf meinem Anrufbeantworter. Ich sehe aus, als wäre ich in den letzten Stunden um Jahre gealtert. Rote verquollene Augen starren mich glanzlos an. Meine Nase sieht nicht viel besser aus. Das Haar steht wirr vom Kopf ab. Ich drehe die Dusche auf, um das kalte Wasser ablaufen zu lassen. Währenddessen ziehe ich mich aus und werfe die getragenen Sachen in den Wäschekorb. Mit der Hand teste ich die Wassertemperatur und steige in die Dusche. Mit geschlossenen Augen prasselt das Wasser auf mich herab und spült alles von mir.

 

Nach meiner Dusche und nur in meinen Bademantel gehüllt gehe ich mit ruhigen Schritten zurück ins Wohnzimmer und suche in meinem unordentlichen Schreibtisch nach einem Schreibblock und einem Stift. Ganz unten in der Schublade werde ich fündig. Ich setze mich mit meinen Utensilien auf die Couch und beginne erneut zu suchen. Diesmal in der Schublade des Couchtisches, in der ich immer noch eine „Notfall"- Schachtel Zigaretten verstecke. Eigentlich habe ich das Rauchen schon vor ein paar Jahren aufgegeben aber im Moment erscheint es mir wie Folter, meinem Körper das Nikotin vorzuenthalten. Ich finde die Schachtel endlich und stelle fest, dass sie noch halbvoll ist. Mit zitternden Händen stecke ich mir eine der Zigaretten an und inhaliere genüsslich. Das leichte Zittern meiner Hände geht zurück. Ich fühle mich innerlich und äußerlich ruhig. Beängstigend ruhig. Der Block liegt auf meinem Schoß und ich teile das Blatt gedanklich in drei Spalten ein. Wer, Motiv, Indizien. Unter „Wer" schreibe ich alle Personen die mir einfallen, mit denen ich in den letzten Monaten etwas zu tun hatte. Viele sind es nicht. Nur meine Kollegen, mein Chef, der Briefträger. Ich stelle fest, dass mein Privatleben offensichtlich sehr abgekühlt und fast gar nicht mehr vorhanden ist. Ich habe eine zehnjährige Beziehung hinter mir. Es war die ganz große Liebe. Direkt nach der Schule sind wir zusammengezogen. Wir haben oft über Kinder und Heirat gesprochen, daraus geworden ist nie etwas. Er wollte mehr als ich ihm geben konnte und ich war das Warten auf den Antrag leid. Am Ende hat jeder von uns eingesehen dass es so nicht mehr weiter gehen kann und eine Trennung der beste Weg wäre. Während ich darüber nachdenke stelle ich traurig fest, dass mich die Trennung von Christian nicht berührt hat. Für einen Moment war ich perplex, da ich nicht begreifen konnte, das jetzt niemand mehr abends auf mich wartet aber nur kurze Zeit später war es völlig okay für mich. Erschreckend einfach.

 

Christian... Würde er aus verletztem Stolz so etwas tun? Nein, ich denke nicht. Christian ist immer lieb und freundlich, zuvorkommend und aufmerksam gewesen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er sich zu solch schlechten Scherzen herablassen würde. Kaum habe ich den Gedanken beendet schäme ich mich auch schon dafür. Meine Nerven gehen doch mit mir durch. Ich starre wieder auf meine Liste mit Namen, Namen von Menschen denen ich immer vertraut habe. Ist es möglich, dass einer von ihnen mir das antut?

 

Die Sonnenstrahlen wecken mich und lösen einen bohrenden Kopfschmerz aus. Ich bin eingeschlafen, in einer ziemlich ungemütlichen Position. Sitzend auf der Couch. Langsam strecke ich meine Arme und Beine und drehe den Kopf von links nach rechts. Sämtliche Glieder schmerzen und sind steif. Nur langsam kann ich von der Couch aufstehen, um in die Küche zu gehen und Kaffee zu kochen. Die Erinnerungen an den Vorabend prasseln auf mich ein und nehmen mich unverzüglich wieder gefangen. Die entscheidende Lösung oder eine Idee habe ich noch immer nicht. Das einzige das ganz klar ist, ist die Tatsache, dass ich vorsichtig sein muss mit wem ich spreche. Allein ist es für mich nicht möglich dem Spuk ein Ende zu machen aber wen könnte ich fragen? Kristina würde ausrasten wenn ich ihr erzähle, dass ich auch auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hatte. Die Nachricht... Ich gehe ins Wohnzimmer und höre mir die Mitteilung erneut an „Du kannst mir nicht entkommen Jane. Ich werde immer bei dir sein." Wieder und wieder spiele ich sie ab aber die Stimme kommt mir nicht bekannt vor. Die Worte sind mit Bedacht gewählt lösen aber keine Erinnerungen in mir aus.

 

Frustriert gehe ich in die Küche und schenke mir eine Tasse Kaffee in meinen Hello Kitty Becher (ein Geschenk von Meg) und gehe zurück ins Wohnzimmer. Ich lasse mich auf die Couch fallen und sehe aus dem Fenster. Diese Unwissenheit macht mich wahnsinnig. Ich greife mir den Block vom vorigen Abend und gehe erneut die Namen durch.

 

Kristina: ausgeschlossen.

Ben: glaube ich nicht.

Meg: hätte die Nachricht auf einem Hello Kitty Klebezettel hinterlassen.

Der Briefträger: hat mich bis jetzt erst ein paar Mal gesehen.

 

Ich grübele, ob mir noch mehr Personen einfallen, insbesondere Arbeitskollegen aber niemand ist darunter, der ein ernsthaftes Problem mit mir zu haben scheint. So hängen meine Augen wieder an dem einen Namen: Christian.

 

Kapitel 5

 

Eine Weile nach unserer Trennung erhielt ich noch immer Post für Christian, daher kenne ich seine neue Anschrift. Schnell wasche ich mir das Gesicht, putze meine Zähne und ziehe mich an. Es ist Samstag, also kann ich eine bequeme schwarze Leggins und ein knielanges rotgemustertes Kleid auswählen. Ich schlüpfe in meine roten Ballerinas und zupfe mein kurzes braunes Haar in Form. Beim rausgehen schnappe ich mir meine Handtasche und den Fahrradschlüssel. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und laufe eilig zu meinem Fahrrad. Je eher ich dieser Sache ein Ende bereite, desto besser. Ich machte mich auf den Weg zu Christian's Wohnung, die nur knappe 3 Kilometer entfernt war. Während ich parkende Autos, Mütter mit ihren Kindern und Jogger hinter mir lasse frage ich mich, ob mein Plan nicht vielleicht doch irre ist. Gedankenversunken fahre ich weiter und werde durch ein lautes Hupen aus meinen Gedanken gerissen. "Hey, pass doch auf!" Schreit mich ein Autofahrer aus dem runtergelassenen Fenster an. Ich bremse so abrupt, dass ich über den Lenker fliege. Ich schlage hart mit den Ellenbogen auf den Asphalt auf. Der Autofahrer springt aus seinem Wagen und kommt auf mich zu gerannt "Alles in Ordnung Kindchen, hast du dir wehgetan?" Fragt er, mit einem Mal besorgt. Ich rappel' mich auf und sehe an mir runter. Ein Riss in der Leggins und abgeschürfte Ellenbogen, sonst scheint aber alles in Ordnung zu sein. "Tut mir Leid." Murmele ich ohne den Autofahrer anzusehen, hebe mein Rad auf und schiebe so schnell es geht davon. Ein Bremshebel ist abgebrochen, ansonsten ist das Rad, bis auf ein paar Kratzer, jedoch heil geblieben. Ich schwinge mich wieder auf den Sattel und fahre nun langsamer und bemüht konzentriert weiter.

 

Hier ist es, Christian's Wohnhaus. Der rote Backsteinbau mit den weißen Fenstern und Türen sieht aus wie jedes andere Wohnhaus in der Umgebung. Ich stehe neben der großen Buche und sehe hoch zum dritten Stock. Es ist schon eine Weile her, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind und es kostet mich Überwindung zur Haustür zu gehen und zu klingeln. Während ich noch immer überlege, ob ich es wirklich wagen will höre ich meinen Namen.

 

"Jane? Was machst du denn hier?"

Ich drehe mich um und sehe Christian, begleitet von einer attraktiven rotblonden in einem lockersitzenden bodenlangen Sommerkleid. Ihre Augen werden von einer großen Sonnenbrille verdeckt, so dass ich ihren Blick nicht deuten kann. Christian sieht aus wie immer, sonnengebräunt, trainiert und glücklich. Ich sollte eigentlich eine Art Schmerz oder Trauer empfinden, ihn so glücklich zu sehen doch das tue ich nicht. Im Gegenteil, ich freue mich für ihn.

 

"Chris, hi." Ich gehe auf ihn zu und er nimmt mich kurz in den Arm. Sein vertrauter Geruch steigt mir in die Nase und ich fühle mich gleich viel besser.

"Das ist ja eine Überraschung. Warst du in der Gegend oder wolltest du zu mir?" Freundlich lächelt er mich an, die Mundwinkel seiner Begleiterin könnten jedoch kaum noch weiter nach unten wandern.

 

"Äh ja, ich war in der Gegend. Netter Zufall, dass wir uns sehen." Oh Gott, ich stammele wirklich nur dummes Zeug. "Also nein, eigentlich wollte ich dich sprechen.", korrigiere ich mich selbst. Noch immer lächelnd sieht Chris mich an, "Ok, denn komm doch rein." Chris' Begleitung räuspert sich kurz und wir sehen sie an. Mit hochgezogener Augenbraue sieht sie Christian an und verschränkt ihre Arme vor der Brust. "Hast du nicht eine Kleinigkeit vergessen?"

 

Chris sieht mich verlegen an bevor er sagt, "Sorry. Also Jane, das ist meine Freundin Nicky." Wieder ein lautes Räuspern von Nicky, dann eine ausgestreckte Hand mit perfekt manikürten Nägeln. "Jane, hallo. Chrissi hat ein wenig untertrieben. Ich bin seine Verlobte. Schön dich endlich kennenzulernen. Ich hab' ja schon so viel von dir gehört."

 

Ich starre Chris fassungslos an. Verlobt? Das ging aber verdammt schnell. Er sieht verlegen auf seine Füße, als wäre es das spannendste auf der Welt.

 

"Verlobt? Oh, wow… Man, ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Glückwunsch." antworte ich. Nicky lächelt breit und Chris sieht mich entschuldigend an. Die Situation ist skurril. Ich stehe hier mit meinem Ex-Freund und seiner Verlobten und bin eigentlich hergekommen, um ihn zu fragen, ob er mich stalkt wie ein Irrer. Glücklicherweise klingelt mein Handy. Ich wühle in meiner Tasche und fördere es zu Tage. Der Anruf kommt von Kristina. "Hey, was gibt's?" Begrüße ich sie. "Ich wollte über gestern reden, Jane. Ist noch etwas vorgefallen?" Mir steht nach vielem der Sinn aber nicht jetzt, vor Chris und Nicky über "mein Problem" zu sprechen. Ich wimmele Kristina ab: "Du, ich meld' mich später, ok?" Das Handy stopfe ich zurück in meine Tasche, sehe das glückliche Paar vor mir an und verabschiede mich. "Äh ja, ich muss dann auch los. Alles Gute für euch." Schnell drehe ich mich um und gehe zu meinem Fahrrad. Während ich aufsitze und in die Pedale trete höre ich Christian noch rufen: "Jane? Ich denk' du wolltest etwas besprechen?" Ohne mich umzudrehen fahre ich davon, Hauptsache weg aus dieser Situation.

 

Zuhause angekommen nehme ich die Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und schenke mir ein Glas ein, mit dem ich mich auf den Balkon setze. Die Sonne scheint warm auf meine Haut und die Geranien versprühen einen sommerlichen Duft. Genüsslich nippe ich an meinem Wein als die innere Unruhe wieder Besitz von mir ergreift. Ich stelle das Weinglas auf den ausgeblichenen Balkontisch, gehe ins Wohnzimmer und hole meine Liste und die angefangene Schachtel Zigaretten von gestern. Zurück auf dem Balkon zünde ich mir eine Zigarette an und ziehe gierig den Rauch ein. Ich inhaliere ihn sehr tief und sehr lange bevor ich den Rauch in kleinen Kringeln wieder ausatme. Die Liste liegt vor mir auf dem Tisch. Lauter Namen, die alle mit einem Grund versehen sind, warum sie nicht diejenigen sind, die mich in den Wahnsinn treiben wollen. Ich habe absolut keine Ahnung, warum mir das passiert.

 

Kapitel 6

Jemand saß vor seinem PC und starrte auf den Bildschirm, beobachtete jede Bewegung in der kleinen Wohnung im zweiten Stock. Es war alles ruhig, die süße kleine Jane sitzt da, ganz ahnungslos auf ihrem Balkon und trinkt Wein, ging es der Person durch den Kopf. "Du hast mein Leben ruiniert, jetzt ruiniere ich dich!" Sprach dieser Jemand mit eiskalter Stimme in Richtung des Monitors. Die Person wandte sich von den Bildern der Überwachungskamera ab und drehte sich zu dem zweiten Monitor, widmete sich wieder dem angefangenen Brief.

 

Ich kann beweisen, dass Ihre Mitarbeiterin Jane Gelder veruntreut hat. Aus Angst vor Konsequenzen erteile ich diese Auskunft anonym. Sie sollten jedoch schnell handeln, bevor schlimmeres passiert.

 

Drucken, in den Umschlag schieben, Briefmarke aufkleben. Mit einem hasserfüllten Grinsen verlässt die Person die Wohnung und steckt den Brief in den nahe gelegenen Briefkasten. Jetzt hieß es abwarten.

 

Kapitel 7

 

Montag, ich fühle mich noch immer rastlos und unruhig, habe aber keine neuen Nachrichten erhalten. Mein Tag im Büro startet heute um 11:00 Uhr. Ich blicke auf meine Uhr während ich mit dem Fahrstuhl in den sechsten Stock fahre. 10:45 Uhr. Also genug Zeit, in Ruhe Tee zu kochen und mir Kristina's Wochenendbericht anzuhören. Die Fahrstuhltür öffnet sich und ich stehe in unserem Büro. Meg sitzt bereits an ihrem Platz und sieht mich mit geröteten Augen an.

 

"Meg, hey, was ist denn los?"

 

Ich stelle meine Tasche auf ihrem Tisch ab und lehne mich gegen die Tischplatte. Meg reißt nur die Augen auf und schüttelt mit dem Kopf.

 

"Tim will dich sprechen."

Ich bin irritiert. Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?

"Oh, ok. Ist er in seinem Büro?"

Meg sieht mich an und nickt.

 

Dieser Morgen startet anders als erwartet. Auf dem Weg zu meinem Büro treffe ich auf andere Kollegen und wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, verhalten sich heute alle merkwürdig. Was kann über das Wochenende schon passiert sein? Frage ich mich. Ich betrete mein Büro und sehe Marc an meinem Platz sitzen.

 

"Morgen, gab es Serverprobleme?" Marc ist unser IT-Berater, der mich jetzt unglücklich ansieht. Was zur Hölle ist nur los heute?

 

"Jane, hi. Serverprobleme? Nein, da läuft alles." Er sieht nervös umher und vermeidet den Blickkontakt mit mir.

"Marc? Was machst du dann an meinem Platz?"

"Frag Tim. Ich darf nicht mit dir darüber sprechen."

 

Meine Verwirrung wächst und wächst. Da alle Wege scheinbar zu Tim führen und mir langsam dämmert, dass mir niemand eine befriedigende Antwort geben wird, mache ich mich auf den Weg zu Tim's Büro. Seine Tür ist geschlossen, also klopfe ich kurz an bevor ich sie öffne und den Kopf durch den Spalt stecke.

 

"Guten Morgen, Meg sagte, du willst mich sprechen?"

"Jane. Gut, dass du da bist. Bitte komm' rein und schließ die Tür hinter dir."

 

So geschäftsmäßig kenne ich Tim noch gar nicht. Klar, in Meetings mit Mandanten verhält er sich professionell aber niemals steif. Der Tim, der jetzt vor mir sitzt, ist Chef durch und durch. Ich trete ein und setze mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Tim sieht fertig aus. Ich schenke ihm ein aufmunterndes Lächeln, das er nicht erwidert.

 

"Was ist denn los heute Morgen? Ihr verhaltet euch alle so komisch.", eröffne ich das Gespräch.

 

Tim rauft sich kurz die Haare bevor er mich mit zusammengepressten Lippen ansieht.

 

"Du hast doch die Kaufpreistransaktion vom Hansen-Deal betreut, oder"

Ich nicke, noch immer nicht wissend, worauf das hinauslaufen soll.

 

"Der Betrag ist nicht komplett auf dem Kundenkonto angekommen, Jane. Es sind 12 Millionen auf unserem Anderkonto eingegangen aber nur 7 Millionen weitergeleitet worden."

 

"Aber, wie…? Tim, ich habe die Transaktion noch gar nicht ausgeführt.", versuche ich mich zu rechtfertigen.

 

Tim schiebt mir die Kontounterlagen zu, die eindeutig eine andere Sprache sprechen

 

"Oh mein Gott! Wurden wir gehackt?" Erschrocken halte ich mir die Hand vor den Mund.

 

"Wir wurden nicht gehackt. Sieh dir die Bankverbindungen genauer an."

 

Ich sehe mir den Ausdruck an und finde schließlich, worauf Tim anspielt. Die Kontonummer… Es ist meine.

"Tim, du glaubst doch nicht, dass ich 'was damit zu tun habe? Das ist Schwachsinn. Wieso sollte ich Geld stehlen?"

 

"Hier lies das!" Tim schiebt mir eine weitere Nachricht zu. Sie ist in einem Frischhaltebeutel.

 

Ich lese den Text und mir stockt der Atem.

 

Ich kann beweisen, dass Ihre Mitarbeiterin Jane Gelder veruntreut hat. Aus Angst vor Konsequenzen erteile ich diese Auskunft anonym. Sie sollten jedoch schnell handeln, bevor schlimmeres passiert.

 

"Nein. Das ist nicht wahr! Tim, du glaubst das doch wohl nicht?" Ich werde panisch. Tim sieht mich über den Schreibtisch hinweg an, seine Miene lässt allerdings keine Deutung zu.

 

"Jane, es tut mir Leid aber du bist fristlos entlassen. Der Staatsanwalt ist bereits informiert und wird in ein paar Stunden hier sein."

 

Ich beginne, gegen meinen Willen, zu weinen.

 

"Tim, das ist ein Irrtum. Ich habe nichts damit zu tun. Bitte, du musst mir glauben.", schluchze ich.

 

"Ich würde gern aber die Beweise sprechen gegen dich Jane."

 

"Wie lange kennen wir uns jetzt schon? Du kannst doch unmöglich diesen Quatsch glauben!"

Kopfschüttelnd sitze ich da und verstehe die Welt nicht mehr. Tim greift zum Telefonhörer: "Kristina? Kannst du bitte kurz kommen?"

"Lass es mich prüfen Tim, bitte. Ich schwöre, dass ich keine Gelder unterschlagen habe." Flehe ich ihn unter Tränen an.

Tim seufzt: "Ich weiß das und als Freund würde ich jetzt sicher auch anders handeln. In dieser Situation bin ich aber dein Vorgesetzter Jane, ich muss mich an die Regeln halten, sonst rollen unsere Köpfe zusammen. Wir können später überlegen, was wir tun können Jane aber jetzt mach' bitte keinen Ärger."

 

Zum zweiten Mal an diesem Vormittag trifft mich der Schlag. "Willst du mich verarschen? Irgend so ein Perverser ängstigt mich zu Tode, mein bindungsscheuer Ex-Freund heiratet und ich werde beschuldigt eine verdammte Menge Geld gestohlen zu haben und du bittest mich um Verständnis? Ich fass es nicht. Überleg' doch mal Tim, wenn ich mir 5 Millionen unter den Nagel gerissen hätte, warum zur Hölle sollte ich dann heute ins Büro kommen?" Vor Wut laufen mir weitere Tränen über die Wangen während ich Tim direkt in die Augen starre.

 

Wenige Sekunden später steht Kristina neben mir. Ihrem Blick sehe ich an, dass sie weiß was man mir vorwirft.

 

Tim räuspert sich und wendet den Blick von mir ab."Bringst du Jane bitte in das leere Büro neben dem Kopierraum? Der Staatsanwalt wollte so schnell wie möglich hier sein."

 

Kristina reagiert auf diese Bitte nur mit einem langen Seufzer. Ich will ihr die Situation nicht noch schwerer machen also sage ich: "Ist schon in Ordnung." Ohne Tim noch einmal anzusehen gehe ich voran, gefolgt von Kristina. Sie schließt hinter uns die Tür und wir gehen ein paar Schritte schweigend den Flur entlang.

 

"Jane, warte mal." Ich bleibe stehe und blicke in ihre großen traurigen Augen. "Ich weiß, dass du das nicht getan hast."

 

"Danke, dass ist lieb von dir. Es bringt mir nur leider nichts, wenn niemand außer dir das so sieht."

 

"Wer würde dir schaden wollen? Hast du eine Idee? Könnte es mit dieser gruseligen Geschichte von Freitag zu tun haben?"

 

Ich rechne es Kristina hoch an, dass sie sich Sorgen um mich macht aber jetzt gerade ist mein Kopf einfach nur leer. Neue Tränen bahnen sich ihren Weg nach oben und ich bemühe mich diese weg zu atmen. Kristina erkennt, dass ich nicht antworten werde und so gehen wir schweigend den restlichen Weg. In dem leeren Büro angekommen lasse ich mich schwer auf einen Stuhl fallen. Kristina will sich gerade zu mir setzen als ich ihre Bemühungen unterbreche.

 

"Bitte, nicht jetzt, ok? Ich brauch' einen Moment für mich."

"Klar Jane, wie du willst. Wenn etwas ist, du weißt ja, wo du mich findest."

 

Geknickt, dass ich ihre Hilfe ablehne verlässt Kristina das Büro und schließt die Tür hinter sich. Ich sitze einfach nur da und starre Löcher in die Luft. Das provisorische Büro ist nur mit einem kleinen Tisch und drei Stühlen eingerichtet. Ein leerer Schrank und ein Telefon, das nicht eingesteckt ist, runden das Inventar ab. Ich sehe aus dem Fenster, lasse die unter mir liegende Stadt auf mich wirken. Alles ist normal, ein Tag wie jeder andere, zumindest für alle anderen. Mein Blick schweift durch den Raum und fällt auf eine Tür. Ich glaube mich zu erinnern, dass dies ein Zugang zum Treppenhaus ist. Vor dem Umbau befand sich an dieser Stelle ebenfalls Flur, das Büro ist nachträglich erst errichtet worden. Die Tür sollte daher abgeschlossen sein. Meine Kopfhaut kribbelte. Ehe ich mich versah, sprang ich hektisch vom Stuhl und lief zur Tür. Ich drehte am Knauf und… Nichts. Die Tür war abgeschlossen. Das Glück scheint mich wirklich komplett verlassen zu haben. Absolute Ohnmacht senkt sich wie ein Mantel über mich. Ich lasse mich an der Tür hinabrutschen und winkle die Beine an. Meine verschränkten Arme ruhen auf meinen Knien und mein Kopf liegt auf den Armen während die Tränen sich ihren Weg bahnen. Wie lange ich so sitze kann ich nicht sagen, es fühlt sich wie eine kurze Ewigkeit an. Mit einem Mal höre ich ein kurzes piepen, das mich sehr stark an unsere Schlüsselkarten erinnert. Ich spüre eine Bewegung in meinem Rücken aber wie ist das möglich? Die Tür wird aufgeschoben und ich springe auf. Ohne mein Gegengewicht bewegt sich die Tür nun viel schneller und öffnet sich vollständig.

 

"Ben? Was machst du hier?" Verwirrt sehe ich ihn an.

"Wir haben nicht viel Zeit, los komm jetzt!"

"Aber..."

"Nein, los jetzt. Die Staatsanwaltschaft hat gerade angerufen, der zuständige Staatsanwalt ist schon unterwegs. In maximal 20 Minuten wird er hier sein. Also komm in Bewegung."

"Ich kann nicht abhauen, wie stellst du dir das vor? Und wo sollte ich auch hin? Die Polizei steht sicher schon vor meiner Wohnung."

"Ich weiß, dass du es nicht getan hast Jane. Ich will dir helfen aber du musst mir jetzt vertrauen und mitkommen."

Ich drehe mich noch einmal zur Tür hinter mir um, in der Erwartung, dass gleich eine Horde Polizisten das Büro stürmen wird, doch es ist alles ruhig. Panisch sehe ich Ben in die Augen, der mich mit seinem Blick anfleht mit ihm zu gehen.

 

"Scheiße!", entfährt es mir aber ich tue es. Ich flüchte vor der Staatsgewalt, mit einem Kollegen, der deswegen im Knast landen könnte. Ben macht mir Platz, zieht die Tür zu und verschließt sie wieder. Durch das Treppenhaus laufen wir nach unten bis in die Tiefgarage. Während des Laufens sehe ich, dass Ben sogar an meine Tasche gedacht hat, die zuletzt in meinem Büro stand. Wir schlängeln uns zwischen den parkenden Autos hindurch bis zur Nummer 182, auf der ein schwarzer Kleinwagen mit getönten Heckscheiben steht. Ben zieht den Schlüssel aus seiner Hosentasche und sperrt den Wagen auf. Eilig laufe ich um das Fahrzeug herum und will die Beifahrertür öffnen. Ben stoppt mich jedoch mit einem einzigen Wort: "Hintertür." Also öffne ich die Hintertür und lasse mich auf den Sitz gleiten. Ben springt ebenfalls in das Auto, wirft mir meine Tasche nach hinten und startet den Motor.

 

"Wo fahren wir denn jetzt hin?", frage ich von meinem Platz aus.

"Zuerst zu meiner Cousine, die am Stadtrand wohnt und dann weiter ans Meer. Ich habe eine Ferienhütte, in der du dich vorerst verstecken kannst.

"Was wollen wir denn bei deiner Cousine? Ich will wirklich keinen Ärger machen, Ben."

"Ich glaube nicht, dass du in deiner Handtasche Wechselwäsche verstaut hast, oder? Meine Cousine hat ungefähr deine Größe und Statur, daher dürften dir ihre Sachen passen. "

"Ich mein' es ernst. Das alles hier, hat absolut nichts mit dir zu tun."

"Jane, ich helfe dir weil ich an deine Unschuld glaube. Also bitte, lass mich nicht an meiner Hilfsbereitschaft zweifeln."

 

Im Rückspiegel kann ich gut Ben's Augen betrachten, die starr geradeaus blicken, unter zusammengekniffenen Augenbrauen. Ohne sein freundliches Lächeln wirken seine Augen unfassbar kalt. Ein kurzer unerklärlicher Schauer läuft mir über den Rücken, bevor ich den Blick abwende. Ben steuert das Auto trotz der überhöhten Geschwindigkeit sicher durch die Stadt und nach 20 Minuten wird der Verkehr langsam weniger. Die großen Wohnblöcke lichten sich immer mehr, Eigenheime mit Gärten, Spielplätze und Parks treten in den Vordergrund. Mir ist übel und es fällt mir schwer auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ich ziehe meine Handtasche auf meinen Schoß und suche nach meinem Handy. Zwischen Bonbons und Taschentüchern finde ich es schließlich in einem Seitenfach. Wie nicht anders zu erwarten, ist mein Verschwinden aufgefallen. Ich habe dutzende verpasste Anrufe und Nachrichten.

 

"Sie wissen es."

Ben sieht mich durch den Rückspiegel hinweg an, hebt fragend eine Augenbraue.

"Kristina und Tim. Sie wissen, dass ich weg bin. Mein Handy quillt über vor verpassten Anrufen und Nachrichten."

"Du hast dein Handy noch eingeschaltet?", fragt Ben fassungslos.

"Äh ja. Wieso?"

"Mach es aus. Komplett. Und nimm die Simkarte raus. Siehst du nie fern?"

"Doch, schon aber…"

"Handyortung?"

"Oh…"

"Ja, oh!"

 

Ben hat Recht. Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Flüchtig sehe ich die Nachrichten von Kristina im Vorschaumodus auf dem Handydisplay. Wo bist du? Ruf' mich an! Wir müssen die Polizei verständigen! Die Polizei sucht nach dir! Genau das, was ich erwartet habe. Ich schalte das Telefon aus und entnehme die Simkarte, die ich sicherheitshalber in dem Kleingeldfach meines Portemonnaies verstaue, ohne zu wissen, ob ich sie jemals wieder aktivieren werde. Die Polizei sucht mich. Ich bin offiziell eine flüchtige Kriminelle. Bei dem Gedanken zieht sich mein Magen noch mehr zusammen. Das alles ergibt keinen Sinn. Ich starre aus dem Fenster und fühle die Welle der Verzweiflung die langsam und drohend über mich hereinzubrechen droht.

 

Nach weiteren fünfzehn Minuten Fahrt hält Ben den Wagen vor einem Reihenhaus an. Wir steigen aus und gehen in Richtung Haustür. Bereits jetzt völlig paranoid, sehe ich ständig von rechts nach links und blicke über meine Schulter. Ich erwarte, dass jeden Moment die Polizei aus der nächsten Hecke gesprungen kommt. Die Kiesel knirschen unter unseren Schuhen, als wir zum Haus gehen. Erstaunlicherweise ist der Weg, für ein Reihenhaus, relativ langgezogen und das Haus wurde nicht direkt auf dem Randstein des Bürgersteigs errichtet. Die Gegend ist schön, ruhig und grün. Genau das war es, wovon Christian und ich immer geträumt haben. Jetzt ist fraglich, ob ich jemals wieder auch nur in einer Einraumwohnung leben werde.

 

Ben drückt auf die Klingel und wenige Sekunden später öffnet sich die Tür. Eine hübsche Frau im langen blassrosa Sommerkleid steht vor uns.

 

"Ben, was für eine Überraschung! Kommt doch rein." Begrüßt sie uns freundlich.

Er beugt sich vor und umarmt seine Cousine kurz. "Anna, das ist Jane, eine Freundin vor mir."

Anna strahlt mich regelrecht aus ihren hellbraunen Augen an.

"Jane, freut mich dich kennenzulernen. Und jetzt rein mit euch."

 

Ich bemühe mich um ein kurzes Lächeln. Warum zur Hölle strahlt Anna so und warum grinst sie breit und zwinkert Ben zu? Wir folgen ihr hinein in das helle Haus. Es ist sehr gemütlich. Die Einrichtung ist in weiß gehalten und die Wände in verschiedenen Pastelltönen. Man spürt und sieht Anna's Liebe zum Detail. Sie führt uns in die Küche und bittet uns an dem großen Esstisch, direkt vor dem Zugang zu dem kleinen Garten, Platz zu nehmen.

 

Fragend sieht sie Ben und mich abwechselnd an. Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, sehe auch ich Ben an.

 

"Also, was führt euch zu mir?", eröffnet Anne die Fragerunde.

"Wir brauchen deine Hilfe."

"Ok. Worum geht's?"

"Jane und ich sind auf dem Weg zum Ferienhaus. Es war ziemlich spontan und Jane hatte leider keine Zeit noch Sachen zu packen."

Selbst in meinen Ohren klingt diese Ausrede mehr als lahm. Anna zieht gespannt die Augenbrauen nach oben und sieht Ben und mich skeptisch an.

"Und?"

"Kannst du Jane eventuell etwas borgen?"

"Was? Du erzählst mir, dass ihr in den Urlaub fahren wollt und Jane keine Sachen dabei hat? Ben, für wie blöd hältst du mich?"

Ben sollte seine Cousine nicht belügen, nicht meinetwegen. Ich dachte kurz nach und übernahm die Zügel.

 

"Es tut mir Leid Anna. Ben wollte mich nur schützen." Setze ich an doch Ben unterbricht mich: "Jane, nein. Lass es gut sein."

Ich sehe in Anna's offene Augen und bitte stumm um Verständnis.

"Das wird kein Urlaub, eher eine Rettungsaktion." Neben mir sehe ich Ben, der sich mit den Fingern in die Nasenwurzel zwickt.

"Mein Freund schlägt mich. Ben, nun ja, er hilft mir abzuhauen. Ich kann keine Tasche packen oder persönliche Dinge mitnehmen, weil er dann wüsste, dass ich abhauen will." Ben starrt mich mit großen Augen an, sieht dann zu Anna.

"Ja, so ist es. Ich wollte Jane nicht in Verlegenheit bringen."

 

Anna's Blick spiegelt echtes Mitgefühl und ich schäme mich zutiefst für mein Verhalten. Sie erhebt sich von ihrem Stuhl und kommt auf mich zu. Von hinten schlingt Anna die Arme um meinen Oberkörper bevor sie flüstert: "Komm mit, such dir aus was du möchtest."

Das war erschreckend einfach. Anna entlässt mich aus ihrem Klammergriff und zieht mich an der Hand hoch von meinem Stuhl. Kaum das ich stehe zerrt sie mich bereits hinter sich her in ihr Schlafzimmer. Aus der Schublade unter ihrem Bett zieht sie eine kleine Reisetasche hervor. Sie mustert mich kurz und öffnet dann ihren riesigen Kleiderschrank. Anna wühlt zwischen T-Shirts, Pullovern, Röcken und Hosen umher. Die ganze Situation ist mir unbehaglich und ich fühle mich unwohl bei dem Gedanken daran, die Sachen einer fremden Frau zu tragen, wenn auch einer sehr hilfsbereiten und netten Frau. Anna wirft verschiedene Kleidungsstücke auf das Bett und murmelt zwischendurch vor sich hin: "Und das noch und dann das und oh, genau, das natürlich auch."

Bei der Menge an Kleidungsstücken bekomme ich es mit der Angst zu tun. Anna staffiert mich aus, als würde ich eine sechswöchige Kreuzfahrt ohne jeglichen Landgang antreten.

 

"Danke aber das ist schon viel zu viel." Stoppe ich vorsichtig ihren Eifer. Sie dreht sich um und sieht die Berge auf dem Bett.

"Du hast Recht. Bitte entschuldige."

Anna seufzt, verschränkt die Arme vor der Brust. Mit klarem Blick sieht sie mich an.

 

"Weißt du, für Ben und mich ist Gewalt kein neues Thema. Meine Pflegeeltern, also Ben's Tante und Onkel, schlugen mich regelmäßig. Das Jugendamt hat die Augen verschlossen, wollte von alldem nichts sehen und hören. Immer wenn es zu schlimm wurde, flüchtete ich zu Ben. Er war mein Retter. Je älter wir wurden, umso wütender wurde Ben. Mit sechzehn war es so schlimm, dass ich mit einem blauen Augen und blutender Lippe zu Ben's Familie rannte. Er schwang sich in sein Auto, fuhr zu unserem Haus und…"

 

Anna unterbricht sich selbst, ringt scheinbar mit sich, ob sie weitersprechen soll. Dieser private Einblick in Anna's und auch Ben's Leben ist schrecklich und viel zu intim. Ben ist mein Kollege. Ich kenne ihn seit zwei Jahren, wir gehen hin und wieder zusammen etwas trinken oder essen. Unsere Unterhaltungen sind oberflächlich und jetzt erfahre ich in diesem einen Moment mehr als ich jemals hätte wissen wollen. Anna hat sich weit genug gefangen und fährt fort:

 

"Ben rannte in das Haus und prügelte auf seinen Onkel ein. Seine Tante kam vom einkaufen nach Hause und hörte bereits draußen die Schreie und Geräusche. Ben war einfach rasend vor Wut, er konnte nicht mehr aufhören. Meine Pflegemutter rief die Polizei, die ihn dann festnahm. Mein Pflegevater war zu diesem Zeitpunkt fast nicht mehr zu erkennen. Ben hat ihn ins Koma geprügelt, wurde jedoch nie dafür belangt. Er erzählte etwas von einem Angriff und das es Notwehr war. Ich wurde als Zeugin befragt und da mein Gesicht scheinbar Beweis genug war, glaubte das Gericht ihm."

 

Anna schüttelt den Kopf, versucht die Gedanken zu vertreiben. Ich bin wie erstarrt, weiß nicht, wie man angemessen auf eine derartige Geschichte reagiert.

"Anna, es tut mir Leid. Auch, dass ich jetzt alte Wunden wieder aufreiße."

 

Sie nickt und stopft so viele Sachen wie möglich in die Reisetasche. Anna will mir helfen, auf eine absolut echte und ehrliche Art. Zusätzlich zu den Klamotten packt sie außerdem noch Zahnbürste, Zahnpasta und Duschgel für mich ein. Ich hoffe, dass ich mich eines Tages erkenntlich zeigen kann.

 

"Jane? Anna? Alles ok bei euch?", ruft Ben ungeduldig aus der Küche.

"Wir kommen.", ruft Anna zurück und drückt mir die gepackte Tasche in die Hand.

 

Schweigend gehen wir zurück in die Küche zu Ben, der bereits steht und auf uns wartet.

 

"Wir sollten gehen.", sagt er mit einem Blick in meine Richtung.

Ich nicke zur Bestätigung und beobachte, wie Ben Anna erneut in die Arme nimmt, dieses Mal jedoch ein kleines bisschen länger, vermutlich als Zeichen seiner Dankbarkeit. Anna wischt sich ein kleines Tränchen aus dem Augenwinkel und nimmt auch mich in den Arm.

"Alles Gute Jane. Pass auf dich auf."

Ich tätschle ihr unbeholfen den Rücken und antworte: "Danke Anna. Ich weiß nicht, was ich sagen soll."

"Schon ok."

 

Wir bewegen uns in Richtung Tür, danken Anna erneut und gehen zu Ben's Wagen. Er entriegelt ihn und schwingt sich auf den Fahrersitz. Ich klettere, wie schon zuvor, mit der Reisetasche in der Hand, auf den Rücksitz.

 

Ben atmet kurz tief ein und aus bevor er den Motor startet. Langsam rollt das Fahrzeug zurück aus der Parkbucht auf die Straße.

 

Während der Fahrt dreht Ben sich kurz zu mir um, "Wir brauchen jetzt noch ungefähr zwei Stunden. Versuch' dich ein bisschen zu entspannen."

 

Mechanisch nicke ich und will eigentlich laut lachen. Wie absurd kann es noch werden? Mein Kollege verhilft mir zur Flucht, seine Cousine erzählt mir ihre und seine Lebensgeschichte und er sagt ich soll mich entspannen. Erneut starre ich aus dem Fenster, ohne tatsächlich etwas zu sehen. Ohne es zu bemerken, fallen mir schließlich doch die Augen zu und ich sinke in einen traumlosen Schlaf.

 

Kapitel 8

 

Unterbewusst höre ich Kies und Steinchen knirschen, bremsende Reifen. Langsam öffne ich die Augen und blinzele gegen das grelle Sonnenlicht, das durch die Frontscheibe auf den Rücksitz fällt. Für einen Moment bin ich orientierungslos, doch dann holt mich die Realität wieder ein. Ben dreht sich vom Fahrersitz zu mir um und lächelt mich an.

 

"Wir sind da Schlafmütze. Fühlst du dich ein wenig besser?"

Mein Nacken schmerzt, also drehe ich vorsichtig den Kopf von rechts nach links. "Nicht wirklich."

 

Ich löse den Sicherheitsgurt und öffne die Tür. Neben dem Auto stehend sehe ich mich um. Die Landschaft ist traumhaft. Ben's Ferienhaus liegt direkt am Meer, nur durch Dünen und einen kurzen Fußweg getrennt. Es ist ein kleiner zweistöckiger Bungalow aus Holz mit kleinen blauen Fenstern. Der Rasen vor dem Haus ist sattgrün und frisch gemäht. Die warme salzige Luft umhüllt mich und vermischt sich mit dem Geruch der Blumen aus den Pflanzkisten vor den Fenstern. Ich gehe einige Schritte, strecke meine steifen Glieder. Wäre der Grund für den Besuch nicht so tragisch, könnte ich mich hier wohlfühlen. Ben holt die Reisetasche mit Anna's Sachen aus dem Auto, wirft sich den Tragegurt über die Schulter und tritt neben mich.

 

"Toll, oder?"

"Absolut."

"Lass uns reingehen, dann kannst du dich frisch machen."

 

Er geht voran und ich folge ihm. Das Haus ist rustikal eingerichtet, viel Holz und viele alte Elemente. Wir betreten das große Wohn- Esszimmer und ich bestaune den wunderschönen Esstisch aus alter Eiche. Der Raum ist hell und freundlich, trotz der dunklen Möbel. Ben führt mich durch das Haus, zeigt mir da Bad, mein Schlafzimmer und den Vorratsraum.

 

"Ich mach' uns eine Kleinigkeit zu Essen, komm einfach runter wenn du soweit bist."

Seine Hilfsbereitschaft rührt mich und ich spüre neue Tränen, die sich ihren Weg bahnen wollen. Ben steht direkt vor mir und in diesem Moment kann ich selbst nicht mehr sagen, warum es Momente gab in denen ich mich in seiner Gegenwart unwohl gefühlt habe. Ohne darüber nachzudenken, verkürze ich die Distanz zwischen uns und schlinge meine Arme um ihn. Sollte er überrascht sein, lässt er es sich nicht anmerken. Er erwidert die Umarmung und streichelt mir behutsam über den Kopf. Ich sehe zu ihm auf und hoffe, dass mein Blick meine Dankbarkeit widerspiegelt. Ben küsst meinen Scheitel bevor er mich behutsam von sich schiebt und verlässt das Schlafzimmer ohne sich umzudrehen. Trotz dieser irren Situation fühle ich mich sicher. Die Reisetasche liegt auf dem Bett. Ich öffne sie und ziehe die einzelnen Kleidungsstücke hervor, um sie in den großen Schrank zu hängen. Eine Jeansshorts und das blaue Shirt lasse ich auf das Bett fallen. Ich will nur noch raus aus meinem Anzug und der Bluse. Nachdem ich mich umgezogen habe gehe ich runter zu Ben, der in der Zwischenzeit Sandwiches zubereitet hat. Ich habe überhaupt nicht bemerkt wie hungrig ich bin, bis ich die Brote sehe. Ben steckt gerade mit dem Kopf in einem der Küchenschränke als ich zu ihm trete.

 

"Das sieht wunderbar aus. Ben… Ich weiß nicht was ich sagen soll."

Sein brauner Wuschelkopf taucht aus dem Schrank auf. "Was?" Scheinbar hat er mich nicht gehört, also setze ich an: "Ich sagte, ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Die Rettung und Hilfe heute. Das Essen, alles." Ben schüttelt den Kopf. "Nein Jane. Du brauchst mir nicht zu danken. Was hier gerade mit dir passiert ist… mir fehlen die Worte. Verrückt beschreibt es nicht ausreichend."

"Ich weiß."

"Los, schnapp dir einen Teller. Wir essen draußen und du erzählst mir alles woran du dich erinnern kannst oder was uns weiterhelfen könnte."

Wir sitzen auf der kleinen Terrasse und der leichte Wind kühlt unsere Haut. Die leeren Teller stehen vor uns auf dem Tisch und ich wische noch die letzten Krümel von der Tischplatte.

 

"Also?" Ermutigt mich Ben.

"Also? Ich weiß nicht womit ich anfangen soll. Es gibt niemanden, der mir schaden will. Ich meine, ich bin doch nur ich. Wer sollte sich die Mühe machen, mich in den Knast zu bringen und vor allem warum? Das ergibt einfach keinen Sinn."

Ben sieht mich konzentriert an, seine braunen Augen funkeln. "Immer der Reihe nach. Was ist jetzt tatsächlich am Freitag in der Bar losgewesen? Kristina ist eine schlechte Lügnerin und du sahst wirklich furchtbar aus."

Er will mir helfen, also erzähle ich ihm alles. Von dem Spiegel in der Bar und der Nachricht auf meinem Anrufbeantworter. Als ich fertig bin sieht er mich entsetzt an.

 

"Und du sagst, es gäbe niemanden der dir schaden will. Schon klar. Warum warst du damit nicht zur Polizei? Du hast offenbar einen Stalker und der könnte wer weiß was mit dir vorhaben."

"Die Nachricht am Spiegel hat mich zu Tode erschreckt, ja, aber was hätte ich der Polizei denn schon sagen sollen? Ich hätte keine Hinweise, einfach nichts liefern können. Ich dachte wahrscheinlich, dass es nur ein blöder Scherz ist, genauso wie die Nachricht auf dem AB."

Ben sieht mich fassungslos an. Jetzt, wo ich die Geschichte erzähle, klingt sie selbst für mich sehr schräg und absolut naiv.

"Und die Kaufpreisaktion für Hansen?"

"Die wollte ich heute Morgen erledigen. Ich habe keine Ahnung wer oder warum die Zahlung schon raus ist und vor allem warum sie auf meine Bankverbindung ging." Ich stöhne auf und vergrabe mein Gesicht in den Händen. "Ich bin sowas von am Arsch!"

"Wir kriegen das schon irgendwie wieder hin. Hier dürftest du vorerst sicher sein. Im Büro vermisst mich niemand. Ich habe ein paar Tage frei und wollte heute Morgen nur noch schnell meine Sporttasche abholen. Ich habe ordentlich und unauffällig hallo und auch tschüss gesagt. Eine Verbindung zwischen uns sollte es nicht geben. Denkst du auch, dass die Nachrichten alle zusammenhängen?"

 

Widerwillig hebe ich den Kopf und sehe Ben an. "Ja, das denke ich."

"Geh' weiter zurück Jane, ich meine sehr weit. Gab es Vorkommnisse in deiner Kindheit oder Jugend, irgendwelche Auffälligkeiten?"

"Worauf willst du hinaus? Willst du wissen ob ich Vorstrafen habe oder mit zwölf den Hund des Nachbarn in Brand gesteckt habe, der sich jetzt rächen will?" Ich weiß selber nicht warum ich so genervt reagiere aber diese Untätigkeit raubt mir den Verstand. Es gibt ein Problem und mir fehlen die Ansätze es zu lösen.

"Sowas in der Art, genau." Ben grinst mich an und ich muss ungewollt lachen.

"Mir kommt gerade eine Idee, warte kurz hier." Mit diesen Worten verschwindet er in das Haus und lässt mich allein auf der Terrasse zurück. Wenige Augenblicke später taucht Ben mit Zettel, Stift und Telefon bewaffnet wieder auf. Ich ziehe fragend eine Augenbraue hoch und sehe ihn an. Er legt das Retro-Handy auf den Tisch und setzt sich. "Das ist noch ein uraltes Prepaid-Handy. Kein Vertrag, keine Zurückverfolgung."

 

"Und?" Hake ich nach.

"Damit rufen wir jetzt bei der Bank an."

 

Aufmerksam lausche ich dem Telefonat, in dem Ben sich als Tim ausgibt, und versucht seine Gesprächspartnerin zum Reden zu motivieren. Immer wieder lässt er ein kurzes "Aha" oder "Mhm" verlauten. Gespannt rutsche ich auf dem Tisch hin und her. Endlich beendet Ben das Gespräch und legt das Handy auf den Tisch.

 

"Und?", löchere ich ihn.

"Ok, also die Transaktion wurde über deinen Account mit deinen Einwahldaten vorgenommen."

"Wann soll ich die Transaktion denn ausgeführt haben?"

"Am Freitag, gegen 17:30 Uhr."

 

In meinem Kopf rattert es und ich versuche mich daran zu erinnern, was ich um diese Uhrzeit getan habe.

 

"Da war ich tatsächlich noch im Büro. Wir sind erst gegen 18:00 Uhr losgegangen. Verdammt." Ich sehe meine Fälle davon schwimmen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Ben das Vertrauen in mich verliert.

 

"Kannst du dich erinnern, ob irgendetwas merkwürdig war? Hast du den Rechner neu gestartet, auf E-Mails geantwortet im Internet gesurft?"

"Ich habe von Marc eine E-Mail bekommen. Er sagte etwas von Updates oder so deswegen musste ich ihm den Fernzugriff auf meinen Rechner gestatten. Dauerte vielleicht eine halbe Stunde. Als ich wieder an meinen Platz kam war der Rechner aus und ich habe ihn neu gestartet. Ich glaube, es sah alles aus wie immer."

 

Ben sieht nachdenklich zur Seite und scheint den Freitag Revue passieren zu lassen. Seine Augen wandern im Garten umher aber seine Mimik verrät eindeutig, wie angespannt er ist.

 

"Ich bin zwar kein Experte aber ich habe mich letzte Woche mit Marc zum Lunch getroffen und von anstehenden Updates sagte er nichts. Er hatte Wartungsarbeiten und Termine mit verschiedenen Internetanbietern, daran erinnere ich mich noch. Zumal Updates für gewöhnlich alle betreffen."

 

"Meinst du ich wurde gehackt?" Mein Verstand sucht nach logischen Erklärungen und hier bietet sich eine.

"Möglich. Es wäre zumindest nicht auszuschließen. Auf diese Weise hätte der Hacker freien Zugang zu deinem Rechner bekommen und hätte unbeobachtet schalten und walten können. Ich befürchte nur, dass er das System bereinigt und keine Spuren hinterlassen haben wird."

 

"Wieder auf Anfang also?" Frage ich entmutigt.

Ben nickt. "Wieder auf Anfang. Aber jetzt gehen wir erst einmal runter zum Strand und bekommen den Kopf frei."

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.02.2010

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