Prolog
Unter mir breitete sich der Nachthimmel wie eine schwere, dunkelblaue Wolldecke aus. Gähnend verabschiedeten sich die letzten feuerroten Sonnenstrahlen am Horizont zusammen mit meiner Heimat, die allmählich über den Rand des bulläugigen Flugzeugfensters meinem Blickfeld entrückte.
Meine Heimat. Das Land, mit dem ich auf das Tiefste verwurzelt war, mit dem ich mich vollkommen verbunden fühlte. Eine ganze Weile lang werde ich es nicht mehr sehen, nicht die herbe, salzige Luft riechen, nicht den stürmischen Wind spüren, der sich in meinen Haaren verfing und auch nicht die heftigen, kalten Regenschauer auf der Haut spüren, die urplötzlich aus dem Nichts aufzogen und wieder verschwanden.
Meine Freunde werde ich nicht sehen. Zwar gab es Emails und Briefe und die obligatorischen Weihnachtskarten, doch es würde nicht das Gleiche sein. Die Distanz war einfach zu groß.
Auch meine Eltern… Doch selbst sie werden nicht hier sein. Ein weiteres Flugzeug wird sie schon bald an einen anderen Ort bringen, noch viel weiter entfernt, als der für mich bestimmte Zielort. Ich war ihnen nicht böse, nein, wie könnte ich. Aber momentan konnte ich die Situation einfach noch nicht komplett erfassen, allein die Vorstellung überragte meine bisherigen Erfahrungen um ein Vielfaches. Ich wischte eine einsame Träne von meiner Wange.
Ein Jahr lang sollte es sein und danach wäre alles wieder wie früher. So zumindest war der Plan. Was blieb mir schon anderes übrig, als mich zu fügen? Wie hätte ich widersprechen, wie sie umstimmen können? Nein, das wäre schlichtweg nicht möglich gewesen.
Seufzend übergab ich mich dem weichen Polster des Flugzeugsitzes und bat innerlich den Sandmann um seine großzügige Unterstützung, damit der Schlaf mich einlullte, während ich immer weiter gegen die Zeit in die neue Welt aufbrach.
1. Kapitel: Der Überfall
Die Nacht war dunkel und regnerisch, leise grollten Gewitter. Manhattans Wolkenkratzer wurden immer wieder vom schummrigen Licht vereinzelter Blitze erleuchtet, die einen kurzen Blick in die düsteren Ecken der Stadt erhaschen ließen. Große Tropfen klatschten gegen die unzähligen blinden Fensterscheiben, erst langsam und satt, schließlich schneller und heftiger, bis sie ein dröhnendes Trommelfeuer auf den Dächern der Autos eröffneten. Die riesige Wolkenwand im Westen ließ leicht vermuten, dass sich das Wetter nicht so bald ändern würde.
Mitten in diesem ohne Unterlass prasselndem Stakkato war soeben ein Flugzeug auf dem Rollfeld des Central Airports gelandet. Die vergleichsweise winzig wirkende, aufgemalte Flagge in blauen, roten und weißen Farben war durch den Dunst kaum zu erkennen. Nur eine kleine Menschenmenge drückte sich durch die schmalen Flugzeugtüren und schlängelte sich den gewundenen Korridoren entlang nach draußen. Trübes Scheinwerferlicht beleuchtete ihren Weg.
Am Terminal wurde ein junges Mädchen von einem Chauffeur empfangen. Sie war zierlich und schlank, etwa 16 Jahre alt und hatte einen freundlichen, wenn jetzt auch etwas müden Gesichtsausdruck. Ihr honigblondes, rötlich schimmerndes Haar fiel in weichen Wellen auf ihre Schultern und bedeckte zum Teil ihren Rücken. Über der Schulter trug sie einen Rucksack, dessen Träger sie fest umklammerte. Zwei Koffer standen zu ihren Füßen.
„Hallo, Sie müssen James sein“, begrüßte sie den Chauffeur mit einem zaghaften Lächeln und strich sich verlegen mit dem Handrücken einige lange Ponysträhnen aus dem Gesicht.
„Sehr wohl, Miss Bonnie“, antwortete der schon etwas ältere Herr mit der Andeutung einer Verbeugung. Er trug einen eleganten dunklen Anzug unter seinem Regenmantel und weiße Handschuhe. „Wenn Sie mir bitte folgen würden, ich bringe Sie nun in Ihr neues Zuhause.“
Zuvorkommend übernahm er die großen Lederkoffer und ging voran. Langsam bahnten sie sich ihren Weg durch die Menschenansammlung am Terminal. Unter dem schummrigen Licht der Laternen verließen sie den Airport in Richtung Parkhaus. Die vereinzelt angebrachte Beleuchtung warf ein flackerndes Licht auf ihren Weg, ihre Schritte hallten hell von den Wänden wieder. Ein paar Passanten kreuzten hastig ihren Weg, vermutlich Reisende, die ihren Anschlussflug nicht verpassen wollten. Sonst war es still bis auf das gelegentliche Kreischen einer Sirene, dem entfernten Hupen von Autos und eben dem dumpfen Trommeln des Regens auf dem Parkhausdach.
Vor einer schwarzen Limousine blieben sie stehen. Diese wirkte so nobel und extravagant zwischen den Mittelklassewagen, die in derselben Reihe parkten, als stünde dort eine vergoldete Kutsche mit vier weißen, federgeschmückten Pferden. Der Unterschied ließ sich einfach nicht verleugnen. Umgehend half der Chauffeur seinem Gast beim Einsteigen, bevor er das Gepäck in den Kofferraum lud und selbst in die Fahrerkabine stieg.
Die Limousine reihte sich unauffällig in den dichten New Yorker Nachtverkehr ein. Bonnie blinzelte durch ihre fast schon zugefallenen Augen, doch sie konnte durch die abgedunkelten Scheiben des Wagens und den prasselnden Regen kaum etwas erkennen. Irgendwie hatte sie die Reise unerwartet stark erschöpft und so begnügte sie sich damit, das Farbenspiel der Straßenlaternen und der Reklametafeln auf der nassen Scheibe zu bewundern. Ja, nun war sie wirklich angekommen. Das hier war New York wie es leibt und lebte, eine pulsierende, aufregende und dennoch ihr völlig fremde Stadt. Müde schmunzelte sie in sich hinein. Doch sie würde sich noch bis zum nächsten Morgen gedulden müssen, diese Stadt, die niemals zur Ruhe kommt. Dann und erst dann würde Bonnie sich näher mit diesem Ort auseinander setzen.
Mehrfach bog die Limousine links und rechts ab und durch das sanfte Schaukeln war Bonnie schon fast eingeschlafen, als das Auto plötzlich von einem heftigen Ruck erfasst wurde.
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Schon wieder Patrouille. Ausgerechnet in dieser regnerischen Nacht. Er seufzte und rieb sich die Augen, während er angestrengt durch die Regenschleier nach unten auf die niemals schlafende Stadt blickte. „Was tut man nicht alles, um ein guter Anführer zu werden“, murmelte er leise vor sich hin. Wie gerne würde er sich jetzt einen schönen Abend mit seinen Freunden machen – oder vielmehr mit seiner Freundin. Er lächelte in sich hinein. Nun ja, Freundin war nicht ganz richtig, aber was nicht war, konnte ja noch…
Wie aus dem Nichts schoss plötzlich ein dunkler Schatten wenige Meter vor ihm vorbei. Nein, das konnte kein Traum gewesen sein, war er sich sicher. Er beschloss, seinen Posten zu verlassen und dem Schatten durch die Nacht zu folgen.
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Der Stoß riss Bonnie aus ihren Träumen. Sie erschrick heftig und blickte aufgeregt nach vorne durch die Windschutzscheibe. Doch dort war niemand. Sie hatten in einer kleinen Seitenstraße angehalten, die fernab des hektischen Verkehrs nur in schwaches Licht getaucht war. Weder vor noch hinter ihnen war ein anderes Auto zu sehen. Wie also… ?
Nun aber machten weitere monströse Geräusche ihr klar, dass dieser Ruck nicht durch einen Aufprall ausgelöst worden war, sondern von etwas, was sich AUF dem Dach des Wagens befand! Der Chauffeur schrie auf und versuchte, den Wagen von der Stelle zu bewegen. Doch er stockte schon bei dem Versuch, da nun mehrere grimmige Männer zu beiden Seiten der Limousine aufgetaucht waren, die den Wagen von allen Seiten umringten.
Bonnie löste leise den Sicherheitsgurt, verriegelte die Türen zu beiden Seiten und presste sich in ihren Sitz; starr vor Angst hoffte sie, die Männer würden die Türen nicht öffnen können. Was wollten sie? War das ein Überfall? Der Regen prasselte immer noch ohrenbetäubend laut. Hörte sie da Stimmen? Oder bildete sie sich das nur ein? Sie konnte die Geräusche nicht unterscheiden – vielleicht, wenn sie einen kurzen Blick durch das Fenster wagte…
Vorsichtig richtete sie sich auf. Doch plötzlich sah sie zwei leuchtend grelle Augen durch die Scheibe neben ihr aufblitzen. Ihr Atem stockte. War das möglich? Oder litt sie an Halluzinationen?
Im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgerissen – nein, sie wurde aus den Angeln gerissen. Als wäre sie eine Papiertür in einem Puppenhaus. Ein langer, kräftiger, mit Klauen bewehrter Arm griff nach ihr. Sie schrie und krallte sich in das Leder der teuren Sitze. Doch es half nichts. Erbarmungslos glitten ihre Finger ab. So leicht wie ein Kind wurde sie aus der Limousine gezerrt und auf das Dach des Wagens gehoben.
Sie wusste nicht, ob sie träumte oder nicht, aber sie sah sich Auge in Auge mit dem Besitzer des leuchtenden Augenpaars. Im blassen Schein einer Straßenlaterne, die durch die dunstige Luft ein schwaches Licht auf ihren Gegenüber warf, erkannte sie… ein groteskes Gesicht. Die roten Augen funkelten ihr böse entgegen, die Nase war kantig, die Kiefer hart und eckig wie die eines Raubtieres. Einige spitze Zähne zeigten sich, als dieses Wesen – was immer es auch sein möchte – den Mund zu einem hämischen Grinsen verzog. Ihr Herz klopfte schneller und schneller. Der Anblick raubte ihr den Atem. Sie keuchte vor Angst, während ihr der nasse Wind hart ins Gesicht schlug.
Das Wesen – und nun auf den zweiten Blick erkannte Bonnie doch einige annähernd weibliche Gesichtszüge – hielt sie mit festem Griff am Oberarm gepackt.
„Schön, dich kennenzulernen, Mensch“, erwiderte es mit bissigem Grinsen. „Ich habe dich gesucht. Du besitzt etwas, das mich sehr interessiert.“
„Ich besitze nichts von Wert“, sprach Bonnie in Todesangst. Was wollte dieses Wesen nur? Sie war doch nur ein Schulmädchen… Lange Regenbäche flossen nun ihren Körper hinunter und durch ihre Kleidung. In ihrem Gesicht klebten feuchte Haarsträhnen. Der Wind kühlte sie rasch aus und der Griff des Wesens schmerzte zusehends.
„Von wegen“, grollte das Wesen und schüttelte sie grob, „Wo ist das Emirion?“
„Emirion?“, flüsterte Bonnie mehr zu sich selbst. Was sollte das sein? „Ich besitze kein E…“
Doch sie konnte ihren Satz nicht beenden. Mit einem Ausdruck tiefer Verachtung warf sie das riesige Wesen vom Dach des Autos. Kurz schwebte sie durch die Luft und seltsam ferne Erinnerungen an ihre Anreise tauchten vor ihrem inneren Auge auf, dann landete sie unsanft in einer dreckigen Pfütze am Eingang einer Gasse, einige Meter neben der Limousine. Schmerz durchzuckte ihre Schulter, als sie auf dem Untergrund aufprallte, während der schlammige Boden ihre Kleidung durchtränkte. Ungestüm prasselte der Regen auf ihr Haar.
Das Wesen landete fast lautlos und unvermutet elegant neben ihr. Benommen blickte Bonnie auf. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Horde fremder, abgerissener Männer, die gerade noch den Wagen umringt und sich über den wehrlosen Chauffeur gebeugt hatte, beim Anblick der Kreatur ungläubige, furchtsame Mienen zeigte. Unvermittelt rasch zogen sie sich - den Fahrer mit sich schleifend – in den Hintergrund zurück. Doch sofort bereute sie ihre Unachtsamkeit. Erneut wurde sie gepackt und wuchtig gegen eine Wand gedrückt. Diesmal jedoch umklammerten die Pranken der entstellten Frau ihren Hals.
„Du wirst es mir schon noch geben“, schrie sie und donnerte Bonnies Kopf gegen die Wand. Bonnie würgte. Verzweifelt und hustend versuchte sie, die Klauen des Wesens von ihrem Hals zu lösen, doch es war vergebens. Ebenso hätte sie versuchen können, Stahl mit ihren bloßen Händen zu biegen. Sie keuchte und versuchte, nach Luft zu schnappen. Ihre Panik steigerte sich zusehends.
Und obwohl sie keinen Ton mehr hervorbrachte, schrie das Wesen Bonnie immer noch an, fragte wieder und wieder nach etwas, von dem sie noch nie gehört hatte. Erneut krachte ihr Kopf gegen die Backsteinmauer hinter ihr.
Vor ihren Augen wurde es zunehmend neblig. Die herrische Stimme der Kreatur dröhnte dumpf zu ihrem Ohr, als wäre ihr Kopf unter Wasser, die einzelnen Worte verstand sie kaum noch. Sie konnte nicht mehr klar denken, aber irgendwie glaubte sie zu spüren, dass der Griff um ihren Hals sich lockerte.
Dann verlor sie das Bewusstsein.
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Er hatte genug gesehen. Das hier musste sofort enden. Er sprang sie von hinten an und riss sie grob an den Schultern herum. Sie entwand sich seinem Griff, taumelte kurz, doch fing sie sich gleich wieder, geduckt, sprungbereit bohrten sich ihre grellen Augen in seine.
„Du…“, zischte sie wie eine Giftschlange. Das Mädchen, welches sie gerade noch gewürgt hatte, sank leblos zu Boden.
„Lass sie in Ruhe!“, schrie er und griff sie erneut an. Die Männer, die in einer entfernten Ecke der Seitenstraße den Fahrer immer noch umringt hatten und ihn festhielten, ergriffen nun panisch die Flucht und der Mann sackte nach Luft ringend in sich zusammen.
„Immer noch der alte Menschenfreund, was?“, keifte sie und teilte harte Schläge aus. Geschickt entging sie seinen Attacken, duckte sich, wich zur Seite aus. Grollend umkreisten sich die beiden Gestalten unter dem schummrigen Laternenlicht. Warum nur kämpfte sie so verbissen? Was wollte sie von dem Mädchen?
Er war besser geworden seit dem letzten Mal, dennoch trafen einige ihrer Schläge und ihre scharfen Krallen rissen lange Wunden in seinen Oberarm. Er zuckte heftig, holte aber sofort zum Gegenschlag aus. Warmes Blut lief langsam seinen Arm hinunter und der peitschende Sturm schürte ein heißes Brennen. Doch er ließ sich nicht ablenken. Wieder und wieder beobachtete er, suchte ihre Schwachstellen und attackierte sie gezielt.
Es war kein leichter Kampf, aber diesmal behielt er die Oberhand. Eine Finte ließ sie taumeln und er packte sie am Bein und schleuderte sie gegen die Wand. Schnell stand sie abermals auf, jedoch verrieten ihre Bewegungen, dass ihre Kräfte allmählich erschöpft waren. Sie fauchte, doch bevor er erneut angreifen konnte, warf sie unvermittelt den Deckel einer Mülltonne nach ihm. Im letzten Moment wich er aus. Angespannt richtete er sich auf und blickte sich um – doch sie war verschwunden.
Geschafft. Er gab seine Verteidigungshaltung auf und ein tiefes Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn, das sich sofort mit dem Stolz über seinen Sieg vermischte. Und die beiden Menschen?
Der Fahrer des Wagens schien unverletzt, benommen lehnte er an einer Wand und rieb sich den Kopf. Dieser würde seine Hilfe nicht brauchen. Leise zog er sich zurück, wand sich um und sah das Mädchen noch immer unverändert in der dunklen Straßenecke liegen. Vorsichtig näherte er sich, aber bevor er sie erreicht hatte, drückte ihn etwas in seine Fußsohle. Er blickte zu Boden und sah, dass er auf einen kleinen, glitzernden Gegenstand getreten war. Behutsam hob er ihn auf. Zwar kam er ihm nicht bekannt vor, aber vorsichtshalber stecke er ihn in seine Tasche.
Die Kleine atmete ruhig und gleichmäßig, rührte sich aber nicht. Sacht hob er sie an den Schultern auf. Sie war immer noch bewusstlos, schien jedoch nicht schwer verletzt zu sein. Was sollte er mit ihr machen? Er müsste sie in ein Krankenhaus bringen, doch wenn Demona so reges Interesse an ihr zeigte, würde sie dort nicht sicher sein. Vielleicht wusste Elisa Rat…
Seufzend hob er sie auf. Was auch immer Demona wollte, es würde Ärger bedeuten, viel Ärger... Und er würde das Mädchen mit sich nehmen müssen, auch wenn das ganz und gar keine gute Idee war.
2. Kapitel: Ein neuer Gast
Der Wind peitscht ihm um die Ohren und verfing sich in seinem langen Haar. Durch den trommelnden Regenschauer brannten die Wunden an seinem Oberarm wie Feuer. Er verzog schmerzhaft das Gesicht und doch wagte er nicht, seine Arme mehr als nötig zu bewegen. In ihnen lag das junge Mädchen. Wären die Schürfwunden in ihrem Gesicht nicht gewesen, könnte man denken, sie würde schlafen, so friedlich lag sie darin.
Ein leichter Schauder rann durch seine Brust. War er jemals einem Menschen so nah gekommen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Was tat er da eigentlich? Sein Vorhaben war höchst riskant, weitaus Schlimmeres als Ärger von seinen Clanmitgliedern konnte es nach sich ziehen, wenn das hier schief ginge. Er seufzte leise. Eigentlich hatte er keine Wahl.
Mit einem unguten Gefühl im Bauch glitt er durch die Nacht zurück nach Hause.
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Eine letzte Windböe trug ihn nach oben, bevor er auf dem steinernen Balkon landete und seine Schwingen einklappte.
„Brooklyn, na endlich…“, begrüßte ihn sein Freund, der – kaum das er ihn vernommen hatte – aus dem Inneren des Turms nach außen auf den Balkon huschte. „Wir haben uns schon…“ Seine Stimme stockte, als er den Schopf blonden Haares sah, der über Brooklyns Arm hing. „Was…“, begann er, doch der Ankömmling warf ihm nur vielsagende Blicke zu und trat ins Innere.
Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Schuldbewusst senkte er den Blick und ging zur Mitte des Innenraums. Vor einem prasselnden Kaminfeuer stand ein altes, abgewetztes Sofa, auf das er die Kleine vorsichtig legte. Er trat ein paar Schritte zurück, dann blickte abwartend er in die Runde. Niemand sprach ein Wort. Die Anspannung wuchs ins Unermessliche, man glaubte sie mit Händen greifen zu können.
Schließlich konnte er es nicht mehr ertragen. „Ich hatte keine andere Wahl“, platzte es aus ihm heraus, aber das Grollen seines Anführers ließ ihn augenblicklich verstummen.
„Keine andere Wahl? Es gibt immer eine andere Möglichkeit“, fauchte dieser ihn an. Seine Augen glänzten zornig und jeder Muskel seines riesigen, stählernen Körpers spannte sich an. „Du bringst einen Menschen hierher – einen MENSCHEN! Weißt du, was das für uns bedeuten kann?“
„Es war Demona“, versuchte er sich kleinlaut zu rechtfertigen. „Ich konnte sie nicht…“
„Was ist denn hier los?“, durchbrach eine glockengleiche, helle Stimme die schneidende Atmosphäre. Eine junge Frau kam soeben die Treppe herauf, die in das oberste Geschoss des Turmes führte. Sie trug enge, dunkle Jeans und eine rote Jacke. Ihr langes schwarzes Haar glänzte im Schein des Feuers. „Gibt es ein Problem?“, fragte sie. Dann fiel ihr Blick auf das Mädchen, das reglos auf dem Sofa lag. Erschrocken lief sie zu ihr und beugte sich über sie.
„Was ist passiert?“ Eindringlich sah sie von einem zu anderen. „Wer ist sie? Wie kommt sie hierher?“
„Brooklyn hat sie soeben mitgebracht“, brummt der Riese wütend, während er vor dem Kamin auf- und abging.
„Ich… Es war keine böse Absicht. Ich musste es tun, Demona hat sie angegriffen“, stammelte Brooklyn.
„Dafür hatte sie sicher einen guten Grund“, überlegte die Frau laut und runzelte die Stirn. Sie strich dem Mädchen über Stirn und Wangen; sie fühlten sich kühl an. Plötzlich aber trat eine Bewegung in das Gesicht der Kleinen, sie verzog den Mund und presste die Augen zusammen. Dann begann sie langsam und vorsichtig die Augen einen Spaltweit zu öffnen. Als sie die Frau erblickte, durchfuhr sie ohne Vorwarnung ein heftiger Ruck und sie fing an zu zittern.
„Keine Angst“, flüsterte die junge Frau mit tiefer, sanfter Stimme. „Du bist in Sicherheit. Geht es dir gut?“
Nur langsam hörte das Mädchen auf zu zittern und setzte sich schließlich auf, den Blick immer noch auf die Frau gerichtet. Ihre großen Augen blickten starr und angsterfüllt auf sie, als der Schock sie erneut überrollte.
„Ich… Ich wurde angegriffen – von einem… von einer Frau!“, sprach sie mit angsterfüllter hoher Stimme. „Dann bin ich bewusstlos geworden und… Wer sind Sie? Haben Sie mich gefunden? Und wo bin ich hier eigentlich?“
„Mein Name ist Elisa Maza, ich bin Polizistin. Und nein, ich habe dich nicht gefunden, das waren meine Freunde“, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
„Ihre Freunde?“, fragte das Mädchen verständnislos und ließ den Blick über den Raum schweifen. „Wer sind denn…?“
Sie erstarrte, als sie die großen Gestalten bemerkte, die in wenigen Metern Entfernung um sie standen. Sechs war es an der Zahl. Das Kaminfeuer und einige Kerzen erhellten ihre Gesichter nur schemenhaft, doch menschlich – das musste Bonnie sich eingestehen – sahen sie nicht aus. Ihre Gesichter waren ebenso kantig und wild wie… Mit schreckerfüllten Augen wandte sie sich wieder Elisa zu. Aber bevor diese etwas erwidern konnte, spürte Bonnie wie etwas Warmes und Feuchtes ihre Hand erkundete. Angespannt suchten ihre Augen nach der Ursache.
Vor sich erblickte sie einen Hund – oder jedenfalls so etwas Ähnliches wie ein Hund. Er war ebenfalls groß und sehr kräftig, hatte einen gedrungenen Körperbau, einen wuchtigen Kopf und Kiefer, die vermutlich große Äste durchbeißen konnte. Doch er sah sie nur als großen neugierigen Augen an, winselte leise und fuhr fort, ihre Hand zu lecken. Wie in Trance sah Bonnie ihm dabei zu. Sie fühlte sich immer noch fernab jeglicher Realität, als ein leises Rascheln in einiger Distanz sie aufblicken ließ.
„Scheinbar mag er dich“, brummte eine der Gestalten und kam langsam auf sie zu. Während der Gargoyle in den Schein des Kaminfeuers trat, sah Bonnie, dass er riesig war, noch viel größer, als er aus der Ferne aussah. Sein lavendelfarbener Körper war muskelbepackt und langes schwarzes Haar fiel ihm über die Schultern und den Rücken herab. Vor seiner Brust gefaltet hingen beeindruckende dunkle Schwingen. Er sah unheimlich wild aus. Als er direkt vor ihr stand, ging er in die Hocke, um mit ihr auf eine Augenhöhe zu gelangen und tätschelte freundschaftlich den Kopf des Hundes.
„Ich bin Goliath und das hier sind meine Clanmitglieder Hudson, Lexington, Brooklyn, Broadway und Angela. Er hier heißt Bronx. Wir sind Gargoyles“, fügte er hinzu, als er das verständnislose Gesicht des Mädchens sah.
Nun kamen auch die anderen näher an das Feuer. Der erste mit dem Namen Hudson war fast so groß wie der Anführer selbst. Er hatte einen braunen Hautton, trug Teile eines Harnischs und ein langes, gebogenes Schwert. Seine Haare und sein Bart waren weiß, also schien er älter zu sein als die anderen.
Broadway war ebenfalls groß und ähnlich beleibt wie Hudson. Seine Haut war dunkelgrün und er blickte Bonnie neugierig an, während er sich mit einer Hand den kahlen Schädel kratzte.
Der Gargoyle, der sich als Lexington vorstellte, war kleiner als der Rest und seine Haut war lindgrün. Er grinste und entblößte dabei ein paar spitze Zähne. Dann hüpfte er wieder zurück zu seinen Kameraden und beobachtete sie weiter aus sicherer Entfernung.
Brooklyn war nicht ganz so groß wie die meisten seines Clans, aber deutlich größer als Lexington. Sein Gesicht sah drachenartig aus, er hatte einen langen breiten Schnabel und zwei nach hinten verlaufende Hörner auf der Stirn. Seine weinrote Haut stand in krassem Kontrast zu seinem langen weißen Haar. Trotzdem wirkte er noch ziemlich jung. Im Gegensatz zu den anderen sah er sie nur kurz an und senkte dann schnell wieder den Blick.
Die Letzte, die sich ihr vorstellte, war Angela, eine junge Gargoyle-Frau. Ihre Haut war so lavendelfarben wie die von Goliath und ihr Haar war ebenfalls lang, seidig und schwarz. Überhaupt sahen sich die beiden sehr ähnlich. Scheu aber freundlich blickte sie Bonnie an.
Bonnie musste schlucken. Hätte ihr Gesicht nicht so gebrannt, wäre sie sich sicher gewesen, dass das alles nur ein komischer Traum ist. Ein komischer, wenn auch etwas gruseliger Traum. Aber scheinbar war dem nicht so.
„Ich heiße Bonnie“, erwiderte sie schüchtern. Der seltsame Hund hatte sich nun zu ihren Füßen gelegt und schien zu schlafen.
„Was ist vorhin passiert?“, fragte Elisa sie. „Wer hat dich angegriffen? Und warum?“
„Es war eine Frau“, sagte Bonnie zögerlich. „Aber sie sah anders aus – also ähnlich wie ihr.“ Vorsichtig und fragend blickte sie Goliath an. Sie wollte diesen… Gargoyles ja nicht zu nahe treten.
„Demona - es stimmt also doch“, ging ein Raunen durch die Runde. Bonnie sah wie Brooklyn insgeheim die Augen verdrehte. „Natürlich stimmt es“, glaubte sie ihn leise murmeln zu hören, doch niemand schien ihn zu beachten.
„Was wollte sie von dir?“, fragte Goliath.
„Ich weiß nicht genau, irgendetwas, was ich noch nie gehört habe. Ich habe ihr gesagt, dass ich so etwas nicht habe, aber scheinbar hat sie mir nicht geglaubt. Jedenfalls hat sie mich angegriffen und an mehr kann ich mich nicht erinnern.“
Goliath blickte nun skeptisch. „Das gefällt mir nicht. Wir sollten die Sache im Auge behalten und weiter nachforschen. Demona wollte sicher etwas Bestimmtes damit bezwecken.“
Nun unterbrach Elisa. „Am besten kümmern wir uns erstmal um dein Gesicht und dann bringen wir dich nach Hause, du wirst sicher schon vermisst. Wo wohnst du denn?“
„Ähm, naja, eigentlich komme ich aus Europa. Ich bin erst heute Abend in New York gelandet. Meine Eltern sind bald für eine längere Zeit auf einer Geschäftsreise, daher verbringe ich ein Jahr bei meinem Onkel in New York.“
Elisa lächelte. „Dann bringen wir dich eben zu ihm. Wo wohnt er denn?“
„Ich weiß nicht genau. Eigentlich war da ein Fahrer, der mich am Flughafen abgeholt hat, aber dann wurde der Wagen überfallen…“ Sie verstummte kurz. „Mein Onkel heißt David Xanatos, wenn euch das weiterhilft.“
Stille trat in den riesigen Raum. Eine derartige Stille, das man wahrscheinlich eine Stecknadel hätte fallen hören können, dachte sich Bonnie. Nur das Feuer flackerte im Hintergrund und der Hund namens Bronx schnarchte leise. Alle anderen schienen den Atem anzuhalten.
„Okay, dann wissen wir, wo wir hinmüssen“, schnitt Elisa dem Schweigen das Wort ab. Sie ging zu einem Schrank und holte einen Verbandskoffer heraus. „Zuerst aber versorge ich mal deine Schürfwunden.“
Während sie Verbandssachen herausholte und anfing, Bonnies Gesicht zu verarzten, verzogen sich die Gargoyles in einen weiter hinten, im Halbdunklen gelegenen Teil des Raumes. Sie schienen sich zu beraten, aber Bonnie konnte kein Wort verstehen.
Schweigend lies sie die Prozedur über sich ergehen. Aber ein Gedanke ließ sie nicht los.
„Elisa, du hast vorhin gemeint, dass einer deiner „Freunde“ mich …ähm, gefunden hat. Aber wer war es denn eigentlich? Ich meine, ich habe mich noch gar nicht bedankt.“ Etwas beschämt über die Unannehmlichkeiten, die sie bereitet hatte, blickte sie zu Boden.
„Ach so, dass war Brooklyn“, erzählte Elisa und packte die restlichen Verbandsutensilien wieder in den Koffer. „Ich schicke ihn dir mal rüber“, versprach sie und verschwand, um scheinbar etwas mit den Gargoyles zu besprechen.
Wortlos saß Bonnie auf dem alten Sofa. Sie beugte sich nach vorne und strich dem Hund über den Kopf. Dieser räkelte sich grunzend auf dem Boden und schlief weiter. Als sie wieder aufblickte, stand Brooklyn vor ihr. Er war gerade mal einen Kopf größer als sie, schätzte Bonnie, dennoch sah er sehr beeindruckend aus. Sein weißes Haar leuchtete und die Muskeln unter seiner gespannten Haut schimmerten im Schein des Feuers.
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„Die Nichte von Xanatos also“, überlegte Elisa laut. „Das allein wäre für Demona schon ein Grund, sie anzugreifen. Nicht vorstellbar, was sie dann für ein Druckmittel gegen ihn in der Hand hätte…“
„Vielleicht“, entgegnete Goliath, „aber in diesem Fall könnte es um mehr gehen. Ein Druckmittel allein wäre zu einfach.“
Angespannt blickte er zu dem Mädchen hinüber. Sein Instinkt sagte ihm, dass hier etwas nicht stimmte.
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Bonnie schluckte, während sie überlegte, was sie überhaupt sagen sollte. Sie erhob sich und blickte auf ihre Hände hinab, deren Finger sich ziellos ineinander verknoteten.
„Ich ähm… wollte mich bei dir bedanken,… dass du mich gerettet hast und so“, brachte sie schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit leise hervor. Vorsichtig sah sie auf und bemerkte, dass er zu lächeln schien.
„Keine Ursache“, erwiderte dieser mit ruhiger Stimme.
Ehrfurchtsvoll aber vorsichtig musterte sie ihn. Dann blieb ihr Blick an etwas hängen.
„Du bist ja verletzt!“, stieß sie hervor. Lange, tiefe Risswunden zogen sich über seinen linken Oberarm. Meine Freunde haben dich gefunden, hatte Elisa erzählt. Das war wohl nur die halbe Wahrheit gewesen. Zwar hatte sie keine Ahnung, was passiert ist, nachdem sie ohnmächtig wurde, aber…
„Du hast gegen sie gekämpft“, sagte sie mehr zu sich selbst.
„Oh, du meinst das hier? Das ist nur ein Kratzer“, entgegnete Brooklyn mit einem schiefen Lächeln und bedeckte die Kratzspuren mit seiner anderen Hand.
„Nein, warte“, sagte Bonnie. Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie wandte sich zum Sofa um, öffnete den Verbandskoffer und nahm eine Binde und ein paar Kompressen heraus. Behutsam schob sie seine Hand weg. Die Wunden waren nicht tief und sie bluteten kaum mehr. Vorsichtig legte sie die Kompressen auf und umwickelte das Ganze mit der Binde.
„Das ist wirklich nicht nötig“, murmelte Brooklyn sichtlich gerührt. Bonnie aber fuhr unbeirrt fort. Schließlich steckte sie das Ende der Binde fest und betrachtete zufrieden ihr Werk. Verstohlen musterte sie ihn. Er schien etwas verwirrt, aber dennoch wirkte er nicht abgeneigt.
„Vielen Dank“, sagte er leise.
„Das ist nichts im Vergleich zu dem, was du für mich getan hast“, stellte Bonnie fest. „Du hast mir vermutlich das Leben gerettet.“
Für einen Augenblick sahen sie sich stumm an.
„Brooklyn, wir brechen auf“, dröhnte Goliaths Stimme vom anderen Ende des Raumes herüber. Sein Ruf schien weder Widerspruch noch Verzögerung zu tolerieren.
„Ich komme.“ Brooklyn wandte sich ab und trottete zu den anderen.
Diese hatten in der Zwischenzeit beschlossen, dass Elisa das Mädchen mit dem Auto zu Xanatos bringen sollte, während die Gargoyles ihnen in der Luft folgten.
So bereiteten sich alle auf das Zusammentreffen mit David Xanathos vor.
3. Kapitel: Unerwartete Aufgaben
„Steig ein“, sagte Elisa und hielt ihr die Tür ihres roten Wagens auf. Bonnie wandte nur zögerlich ihren Blick ab.
Gerade waren sie aus dem Raum, in dem Bonnie wieder erwacht war, durch eine schmale Holzstiege hinabgestiegen und in einer kleinen, unbedeutenden Abstellkammer gelandet. Elisa hatte leise die Tür der Kammer geöffnet und vorsichtig nach draußen geblickt. Als die Luft rein war, zog sie Bonnie an der Hand mit sich. Mehrere Stockwerke waren sie hinuntergelaufen und Bonnie hatte verwundert festgestellt, dass sie sich im Polizeihauptquartier von Manhattan befanden. Dieses hatten sie gerade durch den Haupteingang verlassen. Neugierig hatte Bonnie sich umgedreht. Der Polizeistützpunkt lief nach oben in einem Turm aus, einem Glockenturm mit einer riesigen Uhr, deren Ziffernblatt zur Straße gewandt war. Ein hoher Turm, in dessen Spitze eine Gruppe von Gargoyles lebte…
Was für eine seltsame Stadt! Bonnie stieg ein und schnallte sich an. Nochmals flog ihr Blick hoch zur Turmspitze. Waren da wirklich dunkle Gestalten, die sich mit traumwandlerischer Sicherheit in dieser immensen Höhe bewegten oder trogen sie ihre müden Augen?
Elisa fuhr los. Wieder sah Bonnie die flackernden, leuchtenden Lampen und Reklametafeln, die an ihr vorbeirauschten. Der Regen hatte aufgehört. Wie spät es wohl war?
Elisa schien ihre Gedanken erraten zu haben. „Es ist kurz nach drei. Höchste Zeit für die junge Dame, daheim anzukommen.“ Schweigend setzten sie ihre Fahrt fort.
Wenige Minuten später parkte Elisa direkt an der Straße vor einem weiteren, monströs-hohen Gebäude. Es schien noch viel höher als der Glockenturm zu sein, denn nach oben konnte sie in der Dunkelheit kein Ende ausmachen.
„Warte kurz.“ Bonnie wollte gerade aussteigen, als Elisa nochmals das Wort an sie wandte. „Es gibt da noch etwas, was du wissen solltest: Außer dir und mir weiß niemand, wo sich der Zufluchtsort der Gargoyles befindet und die allermeisten Menschen in dieser Stadt sind noch nicht einmal von ihrer Existenz überzeugt. Daher würde ich dich bitten“, und sie sah Bonnie sehr intensiv und bittend aus ihren mandelförmigen Augen an, „dass du niemals irgend-jemandem – auch nicht deinem Onkel – verrätst, wo du heute Nacht warst. Das könnte sie in sehr große Gefahr bringen. Brooklyn hat viel riskiert, um dich in Sicherheit zu bringen.“
Bonnie schluckte, ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit. Sie begann zu ahnen, dass der heutige Abend seine Konsequenzen haben würde. „Alles klar“, antwortete sie, „ich werd’s niemandem erzählen.“
„Gut, dann lass uns aussteigen.“
Sie klingelten und nach einiger Verzögerung antwortete die unterkühlte, näselnde Stimme eines Mannes durch die Sprechanlage: „Sie wünschen?“
„Elisa Maza hier. Ich möchte Xanatos sprechen. In einer dringenden Angelegenheit.“
Ohne Ankündigung verriet ihnen das neu aufgetretene Surren, dass sie die Tür öffnen konnten. Im Inneren der dämmrig beleuchteten, großzügigen Halle nahmen sie einen Aufzug. Bonnie kam es so vor, als würden sie sehr viele Stockwerke nach oben fahren, doch effektiv konnte sie in dem gedämpften Lichtschein nicht viel ausmachen. Ein leises Läuten verriet ihnen kurz darauf, dass sie angekommen waren. Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich und beide traten in einen sanft erhellten, stilvoll eingerichteten Empfangsbereich von kühler Eleganz. Glänzende dunkle Fliesen bedeckten den Boden und die Wände waren von Marmorplatten eingefasst.
„Detective Maza, Sie wissen schon, um welche Uhrzeit Sie uns beehren?“ Ein Mann Ende 30 hatte sie bereits erwartet. Er trug trotz der fortgeschrittenen Stunde noch einen dunklen Anzug und sah sie streng an.
„Natürlich, Owen, aber ich dachte, Xanatos hat Interesse daran, dass ich ihm seine Nichte vorbeibringe“, antwortete Elisa schlagfertig. Schüchtern trat Bonnie aus dem Schatten der Polizistin heraus. Owen blieb der Mund offen stehen.
In diesem Augenblick eilte ein weiterer Mann herbei. Er war wohl etwa Anfang 40 und trug ebenfalls einen eleganten, dunkelblauen Anzug. Sein sonnengebräuntes Gesicht warf Sorgenfalten und stand im krasses Kontrast zu seinem glatten, straff nach hinten gebundenen, dunklem Haar, das in einen kurzen Pferdeschwanz auslief. Xanatos.
„Bonnie, Gott sei Dank!“, rief er und nahm sie kurz in den Arm. „Wir haben schon alle Hebel in Bewegung gesetzt, aber du warst unauffindbar. James kam zurück und hat von dem Überfall erzählt. Ich habe mir schon solche Sorgen gemacht. Und eine Horde Gargoyles hast du auch gleich mitgebracht“, fügte er mit einem Blick zurück in den Gang, aus dem gerade gekommen war, hinzu.
Aus dem Schatten hinter ihm traten nun nach und nach Goliath, Broadway, Brooklyn und Lexington hervor. Sie waren offensichtlich schon vor Elisa und ihr durch einen anderen Eingang gekommen.
„Hallo Onkel“, erwiderte Bonnie leise. Eigentlich hätte sich nun ein Gefühl der Erleichterung in ihr breit machen müssen – schließlich sollte sie nun in ihrem neuen Zuhause und in Sicherheit sein. Aber irgendetwas in ihrem Inneren ließ sie noch nicht aufatmen. Und woher kannte ihr Onkel eigentlich die Gargoyles? Überrascht hatte er bei ihrem Anblick nicht gewirkt.
„Wir müssen reden, Xanatos“, kündigte Goliath mahnend an und nahm diesen zur Seite.
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Das Zimmer war noch dunkel. Ein kühler Lufthauch wehte ihr entgegen und brachte eine Prise kalter, regnerischer Nachtluft mit sich.
„Es ist alles vorbereitet, Miss Bonnie“, ließ Owen in ihrem Rücken verlauten. „Sie können das Zimmer sofort beziehen. Fühlen Sie sich ganz wie Zuhause und zögern Sie nicht auf mich zuzukommen, wenn Sie noch etwas benötigen. Gute Nacht.“
Und damit verschwand Owen kehrtwendend in seine wohlverdiente Nachtruhe. Bonnie war wieder allein.
Sie schaltete das Deckenlicht ein und sah sich im Zimmer um. Direkt links neben der Tür stand ein moderner, eleganter Schreibtisch und daneben einige Regale, in denen sie ihre Schulbücher unterbringen konnte. Bei genauerem Hinsehen merkte sie, dass allerdings schon ein paar Bücher darin standen. Sie zog eines heraus. Becker. Daneben Holter, Meyer, Dostew. Alles klassische Werke der zeitgenössischen Literatur. Ihr Onkel schien sich Mühe bei der Einrichtung gegeben zu haben. In der Ecke versteckte sich ein grüner, runder Sessel. Ein Stück daneben stand ein breites Bett, das mit dem Kopfende bis zur Wand reichte. Ein Dutzend kleiner, weicher Kissen lag darauf und eine breite, seidige Bettdecke. Über das Bett spannte sich ein Hauch von Stoff wie ein Baldachin. Dieser war ebenfalls zart grün und gab damit dem Ganzen noch mehr das Aussehen einer kleinen grünen Höhle. An der gegenüberliegenden Wand stand ein überdimensionaler Schrank, der sicher drei Meter breit war. Direkt davor entdeckte Bonnie ihre Koffer. Wenigstens die waren gut angekommen, dachte sie bei sich. An der vierten Wand des rechteckigen Raumes, etwa gegenüber der Tür, durch die sie gerade gekommen war, befand sich hinter einem fliederfarbenen Chiffon-Vorhang eine Glastür, die man zur Seite schieben konnte, um nach draußen zu gelangen. Sie war weit geöffnet und Bonnie trat auf den Balkon hinaus.
Die Aussicht war atemberaubend schön. Der Regen hatte aufgehört und sie blickte von hoch oben über halb Manhattan. Überall leuchtete es, auf den Straßen herrschte ein reges Treiben, als würde eine Schar Ameisen ihrer Arbeit nachgehen. Und ebenso winzig sahen die Autos auch aus. Bonnie musste grinsen. Gerade setzte in der Ferne ein blinkendes Flugzeug zum Landeanflug an. Im Gegensatz dazu wirkte der Himmel wie flüssiges, undurchdringliches Blei. Schwere, tiefgraue Wolken hingen dort oben und bildeten einen starken Kontrast zu der Stadt, die niemals zu schlafen schien.
Ein frischer Wind kam auf und da ihr Kopf noch brummte, beschloss Bonnie, wieder nach drinnen zu gehen. Sie schloss die Tür hinter sich und zog den Vorhang zu. Trotz der fortgeschrittenen Stunde war sie noch zu aufgeregt, um schlafen zu können, so beschloss sie, sich ein wenig in diesem riesigen Wolkenkratzer umzusehen.
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„Wenigstens auf euch ist Verlass“, sagte Xanatos zu Goliath gewandt und atmete auf. „Vielen Dank, dass ihr sie hergebracht hab. Aber eines möchte ich schon mal gerne wissen: Wie habt ihr sie gefunden und was ist heute Nacht eigentlich genau passiert? Als der Chauffeur zurückkam, war er völlig aufgelöst…“
„Demona hat sie heute Nacht angegriffen“, antwortete Goliath, „warum, wissen wir nicht. Aber ein Zufall war es sicher nicht.“
„Nun, vielleicht hat Demona irgendwie herausgefunden, dass sie in Verbindung mit mir steht. Sie in ihrer Gewalt zu haben, wäre eine gute Möglichkeit, mich zu erpressen. Das liegt doch auf der Hand.“
„Schon möglich, aber es könnte durchaus noch andere Gründe geben, die wir nicht kennen“, schaltete sich jetzt Elisa ein. „Demona kann man nicht trauen“, fügte sie mit einem schiefen, misstrauischen Blick auf ihren Gegenüber hinzu.
„Xanatos, sie muss auf jeden Fall beschützt werden und zwar rund um die Uhr. Wir wissen nicht, was Demona noch geplant hat und sie ist zu allem fähig“, forderte Goliath.
„Selbstverständlich, ich werde sie meinen besten Bodyguards anvertrauen“, stimmte Xanatos sogleich zu. „Nicht auszudenken, wenn ihr etwas geschehen würde…"
„Wir beide wissen, dass das gegen Demona nicht ausreichen wird“, redete Goliath ihm ins Gewissen. „Daher möchte ich, dass wir sie in der Nacht bewachen. Ich werde Brooklyn mit dieser Aufgabe betrauen.“
Mit einem Seitenblick sah er seinen jungen Stellvertreter an. Dieser war sichtlich erstaunt darüber. „Goliath, ich halte das für keine…“ , begann er überrascht.
Auch Xanatos blickte sichtlich verdrossen.
„Er wird diese Aufgabe für die nächste Zeit übernehmen, bis Bonnie keine Gefahr mehr droht.“ Damit war es für Goliath eine beschlossene Sache.
Ein Rascheln hinter ihnen ließ alle herumfahren.
„Ah, Bonnie, da bist du ja wieder!“, sagte Xanatos eilig, als das Mädchen langsam zwischen zwei großen Pflanzen hervortrat.
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Das Gebäude war echt der Wahnsinn. Ihr Zimmer lag an einem langen Gang, dessen Ende sie in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte. Nur ein paar dumpfe Strahler waren kurz über dem Boden an beiden Seiten des Flurs angebracht. Ihr Licht reichte gerade aus, um im Halbdunkeln nicht über den schweren Teppich zu stolpern, der die Mitte des Flurs schmückte. Im Abstand von wenigen Metern hingen Bilder an den Wänden. Aquarelle, Kupferstiche, Ölgemälde. Bonnie wagte ihren Wert gar nicht zu schätzen. Im Vorübergehen sah sie Dutzende weiterer Türen, die auch an ihren Flur grenzten. Was sich wohl hinter ihnen verbarg? Bonnie war so neugierig, dass sie fast die Klinke einer Tür betätigt hätte, während sie gespannt über den Gang tapsend ihre neue Umgebung erkundete.
Aber plötzlich erregte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit. Halblaute Stimmen, die miteinander diskutierten. Sie ging ein paar Meter weiter bis rechterhand der Abgang einer Treppe auftauchte. Vorsichtig schlich sie die Stufen hinunter. Große Pflanzen standen zu beiden Seiten, als sie in eine dunkle Ecke des Empfangsbereiches trat, in dem sie vor kurzem angekommen war. Nur ein kurzes Stück weiter sah sie, wie ihr Onkel mit den Gargoyles diskutierte. Sie wollte nur zu gern wissen, was sie besprachen. Sie versuchte sich langsam heranzutasten, aber das Rascheln der Blätter verriet sie. Alle Blicke wandten sich ihr zu und etwas widerwillig musste sie nun wohl oder übel ihr Versteck verlassen.
„Ah, Bonnie, da bist du ja wieder!“, sagte Xanatos, als sie zwischen den Pflanzen hervortrat und sich zu der Gruppe gesellte. Innerlich verfluchte sie das nervige Grünzeug.
Es sah fast nach einer Art Versammlung aus, dachte Bonnie insgeheim und ihr wurde etwas mulmig. Was gab es heute Nacht noch Großartiges zu besprechen, das nicht bis morgen warten konnte?
„Wir haben gerade über deine Sicherheit gesprochen, Bonnie, und Brooklyn wird in den nächsten Nächten ein Auge auf dich haben“, sagte ihr Onkel feierlich, doch ihr entging sein missmutiger Unterton nicht. „Und tagsüber werden zwei meiner besten Leibwächter selbstverständlich für dich da sein. Schließlich wollen wir ja nicht, dass es nochmal zu so einem Vorfall kommt.“
Nochmal so ein Vorfall? Hatte sie richtig gehört? Stand sie jetzt auf einer Art „Abschussliste" oder warum das ganze Theater?
Noch bevor sie etwas entgegnen konnte, fügte Goliath ernst hinzu: „Wir werden dich beschützen. Dir wird nichts geschehen. Aber wir sollten nichts riskieren, wir wissen nicht, was Demona noch plant“, sagte er und sah Brooklyn ermahnend an.
„Hab schon verstanden“, erwiderte dieser kleinlaut. Sah wohl nicht so aus, als würde er seine Pläne für die nächsten Nächte umsetzen können. Es wäre ja auch zu schön gewesen…
„Danke, aber…“, versuchte Bonnie anzusetzen, wurde jedoch ansatzlos unterbrochen.
„Also dann, bis morgen Abend. Wir müssen jetzt aufbrechen!“, beschloss Goliath. „Wo bist du zu finden?“, fragte er an Bonnie gewandt.
„Ihr Zimmer ist im 21.Stock. Mit dem Balkon gen Westen“, antwortete stattdessen Xanatos.
„Gut, dann bis morgen!“
Und die Truppe Gargoyles zog ab. Elisa verabschiedete sich und verschwand zurück durch den Fahrstuhl.
Sie hinterließen einen wenig begeistert blickenden Xanatos und ein junges Mädchen, das sich die Folgen dieser Nacht noch nicht einmal annähernd vorstellen konnte.
4. Kapitel: Zuhause?
Am nächsten Tag erwachte Bonnie erst sehr spät. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und ihr grelles Licht hatte sie nun aus ihren Träumen gerissen. Leicht benommen setzte sie sich auf und rieb sich die Stirn. Wo war sie doch gleich wieder? Ach ja, richtig, bei ihrem Onkel in Manhattan. Oder…? Plötzlich blickte sie sich erschrocken um. Ja, doch, es war eindeutig. Sie war nicht mehr Zuhause und sie war weder in einem Flugzeug noch in einem schummrig-erleuchteten Raum voller Gargoyles…
Apropos… Nun fielen ihr die Ereignisse der vergangenen Nacht wieder ein. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie sah auf ihre Armbanduhr und bemerkte nebenbei, dass sie in der Nacht voll angezogen ins Bett gestiegen war. Mist, schon Viertel nach zwölf!
Mit einem Satz war sie aus dem Bett. Höchste Zeit hier mal eine Dusche aufzusuchen, überlegte sie und kramte in einem ihrer Koffer, um ihren Kulturbeutel herauszuholen. Und ein Mittagessen konnte sie auch schon vertragen.
Das Badezimmer, welches Owen ihr heute Nacht noch gezeigt hatte – ihr eigenes Badezimmer –, war gleich um die Ecke. Abgesehen von einem Stapel Handtücher und einigen Pflegeutensilien war es leer. Bonnie schloss die Tür hinter sich ab. Warmes Tageslicht drang durch das Fenster und floss unter einem weißen, samtenen Vorhang hindurch auf den hell gefliesten Boden des großzügigen Raumes. Das Licht und die Wärme waren sehr behaglich. Munter legte Bonnie ihre Kleider ab und freute sich insgeheim schon, sich in eines der duftenden, kuscheligen Badetücher zu wickeln.
Eine halbe Stunde später fühlte sie sich schon wieder einigermaßen kultiviert. Die Anspannung der vergangenen Stunden hatte sich gelöst – vorerst zumindest. Gerade wollte sie die Küche aufsuchen, als ihr Owen in Begleitung einer älteren, rundlichen Frau entgegenkam.
„Guten Morgen, Miss Bonnie! Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?“ Als Bonnie nickte, fuhr er fort: „Ich möchte Ihnen Nancy vorstellen, die gute Seele in unserem Haus. Sie kümmert sich um den Haushalt und die Zubereitung der Mahlzeiten. Nancy, das ist Miss Bonnie, die Nichte von Mister Xanatos.“
Die ältere Dame strahlte über ihre pausigen Wangen und nickte ihr freundlich zu. Sie hatte ein rundliches Gesicht mit Lachfälten zu beiden Seiten des Mundes. Um ihre Augen hatten sich Grübchen eingegraben und das Haar war bereits deutlich grau meliert.
„Freut mich, Sie kennenzulernen!“, erwiderte Bonnie höflich. Die mütterlich wirkende Haushälterin war ihr sofort sympathisch.
„Sie müssen bestimmt hungrig sein?“, stellte Nancy fest. „Ich habe bereits etwas für Sie vorbereitet.“
Und nur zu bereitwillig folgte Bonnie ihr in die Küche.
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Das Mittagessen war ausgezeichnet. Wenn das so weitergeht, werde ich mit ein paar Kilos mehr wieder nach Hause kommen, schmunzelte Bonnie in sich hinein.
Ihr Onkel war nicht zum Mittagessen erschienen, aber damit hatte Bonnie auch nicht gerechnet. Sie hatte ihn zwar schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen, aber sie wusste, dass er ein sehr strebsamer Geschäftsmann war und fast rund um die Uhr arbeitete, um sein Unternehmen zu leiten.
So aß sie zusammen mit Nancy und James in der Küche. Eigentlich gab es ja noch das elegante Esszimmer, aber hier war es viel gemütlicher, kleiner und behaglich. Sie mochte Nancy und James von Anfang an. Beide waren sehr beunruhigt über die Vorkommnisse der letzten Nacht, vor allem James, der einen Teil ja hautnah miterlebt hatte. So erkundigten sie sich mehrfach nach ihrem Befinden und Bonnie versuchte bereitwillig, sie jedes Mal zu beruhigen. Überhaupt waren die beiden sehr erfreut, dass die junge Hausherrin bei ihnen zu Tisch saß. Diese Freude konnten sie kaum verbergen und ihre Augen strahlten ihr warm entgegen.
Der restliche Tag schien wie im Flug zu vergehen. Sie hatte gerade ihre Koffer ausgepackt und alles provisorisch im Schrank und in den Regalen verstaut, als auch schon Owen zum zweiten Mal auf den Plan trat und sie mit ihren neuen Bodyguards vertraut machte.
Diese Typen fand sie einfach widerlich. Beide Männer waren mindestens zwei Köpfe größer als sie selbst und breit wie ein Schrank. Sie trugen schwarze Anzüge und sehr dunkle Sonnenbrillen, die sie nie absetzten. Obwohl Bonnie ihre Augen nicht sehen konnte, merkte sie doch an ihren arroganten Gesichts-zügen, dass ihrer Meinung nach der Job als Babysitter für ein ängstliches, kleines Mädchen deutlich unter ihrem Niveau lag. Keiner von beiden machte den Anschein, als würde er an das glauben, was angeblich letzte Nacht passiert war. Wenn sie überhaupt genau in Kenntnis gesetzt worden waren.
Sie seufzte, schickte die Männer vor ihre Tür und machte sich Musik an. Das konnte ja noch heiter werden! Wie lange wollte ihr Onkel dieses Prozedere wohl durchziehen?
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Der Nachmittag war ein einziges Drama! Auf Schritt und Tritt wurde sie überall hinbegleitet, sogar bis zur Toilette folgte man ihr, wo sie aber demonstrativ laut die Tür hinter sich schloss. Innerlich grollend nahm sie auf dem Klodeckel Platz und verschränkt die Arme.
War das wirklich nötig? War die Lage so ernst? Grübelnd presste sie ihre Lippen zusammen und runzelte die Stirn, bevor sie die Spülung betätigte. Es gab etwas, worüber sie dringend nachdenken musste… Und dafür brauchte sie ihre Ruhe!
Nach dem Abendessen bei Nancy versuchte sie sich langsam auf ihren neuen Leibwächter einzustimmen. Zwar war sie heilfroh, die beiden Plagegeister los zu werden, aber würde das, was danach käme, besser sein?
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„Du musst los, Brooklyn!“
Gerade war die Nacht über Manhattan hereingebrochen. Eine neue Nacht voller Spannung, Abenteuer… und einem kleinen Mädchen, das beschützt werden sollte. Das Leben konnte schon echt trist sein…
„Ich weiß nicht, Goliath, hältst du das wirklich für eine gute Idee? Broadway und Lexington könnten doch auch…“ Brooklyn waren die Zweifel ins Gesicht geschrieben.
„Du hast sie gefunden, es ist also dein Schicksal, dich um sie zu kümmern“, entgegnete sein Anführer. „Und du kennst Demona besser, keiner von deinen Brüdern wäre ihr sonst gewachsen. Und vergiss nicht: Du bist mein Stellvertreter! Es ist unsere Aufgabe, Menschen in Not zu beschützen.“
Mit hängendem Kopf sprang Brooklyn auf das Geländer des steinernen Balkons und stürzte sich in die Nacht.
„Schicksal…“, murmelte er leise vor sich hin. Er wusste nicht ganz, was er von seinem Auftrag halten sollte. Aber er schien momentan nicht darum herum zu kommen. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als den Wolkenkratzer von Xanatos anzusteuern.
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Es klopfte an der Tür. Bonnie sprang auf, um zu öffnen. Die Bodyguards waren endlich verschwunden, stattdessen stand ihr Onkel vor ihr, der sie herzlich begrüßte.
„Bonnie, ich hoffe, du hattest einen schönen ersten Tag in meinem bescheidenen Zuhause“, lächelte Xanatos, der sich der unverhohlenen Untertreibung sehr wohl bewusst war.
Das Mädchen verdrehte spöttisch die Augen. Noch nie zuvor hatte sie derartig viel High-Tech-Ausrüstung und Luxus an einem Ort gesehen. Ihr Onkel lächelte, als er ihre Reaktion bemerkte und fragte höflich: „Darf ich reinkommen? Ich möchte dir gerne unseren neuen Gast vorstellen.“
Er trat ein und hinter ihm folgte der Gargoyle namens Brooklyn. Bonnie schloss die Tür hinter ihnen und sah sie erwartungsvoll an.
„Ich glaube, du kennst Brooklyn bereits“, setzte ihr Onkel erneut an. Sie nickte nur.
„Nun denn, Brooklyn, pass mir gut auf mein kleines Goldstück auf! Sie ist das Kostbarste in meinem ganzen Besitz“, fügte er mit einem Augenzwinkern in ihre Richtung hinzu. „Falls ihr noch irgendetwas benötigt, lasst es mich einfach wissen.“
Bonnie grinste innerlich – Goldstück, so hatte er sie früher auch immer genannt. Wage Erinnerungen an ihre Kindheit kamen ihr in den Sinn. Bilder eines kleinen, rotwangigen Mädchens mit blonden Locken und bunten Kleidern, das Kerzen auspustete und beim Anblick der überdimensionierten Geschenke des reichen Onkels aus Amerika große Augen machte. Das war so lange her…
Die Worte ihres Onkels hallten noch in ihren Ohren nach, als Xanatos sich bereits zum Gehen wandte. Er klopfte dem Gargoyle zum Abschied herzhaft auf die Schulter, so kräftig, dass dieser plötzlich zusammenzuckte. Mit einem letzten kritischen Blick zurück ließ er sie schließlich allein.
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Noch immer war Bonnie skeptisch. Wie sollte sie mit ihm umgehen – mit einem Gargoyle? Noch dazu war sie von dem Tag mit ihren anderen beiden Bodyguards mehr als bedient.
Vermutlich ging es ihm nicht anders. Wortlos blickten sie einander an.
„Willst du dich nicht setzen?“, ergriff sie schließlich die Initiative, wies auf ihren Sessel und ließ sich auf ihrem Bett nieder.
„Nein, danke“, erwiderte er. Man merkte sichtlich, wie unwohl er sich fühlte. Befremdet sah er sich im Zimmer um. Bonnie spielte unruhig mit ihrer Bettdecke und ließ sie immer wieder durch ihre Finger gleiten. Auch sie wurde zusehends angespannter.
„Ich werde dann mal nach draußen gehen und… ähm, aufpassen“, sagte er schließlich und blickte Richtung Balkon.
„Alles klar“, antwortete sie zaghaft. Sie sah ihm nach wie er auf den Balkon hinaustrat und sein Körper mit der Dunkelheit der Frühlingsnacht verschmolz.
Es war schon spät und da sie nichts mehr zu tun hatte, beschloss sie, schlafen zu gehen. Nachdem sie das Licht gelöscht hatte, kuschelte sie sich unter die warme Decke und lauschte in die Nacht hinein. Draußen war es absolut still. Nichts außer ihren eigenen Atemzügen war zu vernehmen. Selbst die ratternden Räder der geschäftigen Bevölkerung schienen für einen Moment zu ruhen. Vielleicht sollte sie noch etwas wachbleiben?
Aber der schwere Arm des Schlafes griff nach ihr und entführte sie in die Traumwelt.
˜
Die Nacht war lang und nicht besonders abwechslungsreich. Hin und wieder regnete ein kurzer Schauer herab, dann war es wieder still, bis auf das entfernte Dröhnen des Stadtverkehrs unter ihm.
Brooklyn seufzte und stützte resigniert den Kopf auf die Hände. Nichts ereignete sich. Keine Demona und schon gar kein Abenteuer. Keine Freunde, mit denen man die Stadt unsicher machen konnte. Er fühlte sich einsamer denn je und dachte voller Sehnsucht an seine Gefährten, die die Nacht erkundeten oder an Angela, die den Abend vermutlich mit Broadway verbringen würde…
Hin und wieder warf er einen Blick in das dunkle Zimmer. Das Mädchen schien zu schlafen. Er fühlte sich hier eigenartig unwohl, diese Rolle war ihm irgendwie nicht geheuer. Aber Goliath schien sich nicht umstimmen zu lassen. Hoffentlich wird Demona es sich bald anders überlegen, dachte er.
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Es war hell und gleich darauf wieder dunkel. Blitze durchzuckten den Himmel. Wolken türmten sich, ein furchtbarer Sturm trat auf. Er entwickelte sich zu einem überdimensionalen Strudel, der alles Umliegende verschlang. Sie stand am Rand und als sie die Gefahr begriff, wollte sie weglaufen, doch es war zu spät. Ihre Beine waren bleischwer und sie kam nicht vom Fleck. Wie gefesselt musste sie auf ihrem Platz verharren. Pochend schlug ihr Herz, die Luft wurde ihr beinahe aus den Lungen gesaugt. Panisch schaute sie sich um. Immer näher kam der Sturm. Bäume, Büsche, Autos, alles wurde von ihm erfasst. Jetzt spürte sie ihn immer deutlicher, spürte sein Locken, sein Schmeicheln. Er warb um sie, erst sanft mit ihrem Haar spielend, dann immer heftiger und brutaler. Sie wollte ihm entkommen, doch er ergriff sie mit aller Macht und wollte sie verschlingen. Flehentlich schloss sie die Augen, er möge sie doch verschonen.
Doch plötzlich schoss ein roter, starker Arm vor und fasste sie bei der Hand. Er zerrte sie aus dem Strudel.
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Verschwitzt und mit klopfendem Herzen wachte sie auf. Es war nur ein Traum gewesen. Die ersten matten Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster. Sie atmete langsamer. Es war bereits Morgen. Ein neuer Tag. Alles ist gut, beruhige dich, wiederholte sie in Gedanken wieder und wieder. Allmählich besänftigte sich ihr Puls und sie atmete tief durch.
Dann fiel ihr etwas ein. Sie sprang aus dem Bett und rannte zum Balkon, doch er war nicht mehr da.
5. Kapitel: Fundstücke
Der Traum beschäftigte sie den ganzen Tag, sodass sie ihre Umwelt kaum mehr registrierte. Frühstück und Mittagessen nahm sie stillschweigend ein, so sehr hing sie ihren Gedanken nach. Gefühle machten sich in ihr breit, die sie noch nicht recht deuten konnte. Was sollte dieser Traum ihr sagen? Hatte sie vorschnell geurteilt?
Nancy und James schienen sich bereits Sorgen zu machen. Nach dem Essen tuschelten sie leise, ob das junge Fräulein die schockierenden Vorfälle wohl doch nicht so gut weggesteckt hatte. Es war ja auch eine furchtbare Nacht gewesen und sie war doch noch so jung und kannte niemand in der Stadt außer ihrem Onkel. Aber Bonnie bemerkte es gar nicht. Auch die hinter ihren Sonnenbrillen hämisch grinsenden Fratzen der beiden Leibwächter nahm sie nicht wahr.
Sie wusste wohl, zu wem die rote Hand gehörte, die sie da aus dem Strudel gezogen hatte, aber es schien ihr unerklärlich, welche Bedeutung der Traum haben sollte und welche Rolle ER darin spielte.
Immer wieder drehten sich ihre Gedanken im Kreis. Sie kam zu keinem Ergebnis. Wie auch? Die Ereignisse der vorletzten Nacht waren vermutlich reiner Zufall gewesen. Dieses Wesen, diese Demona, schien es auf etwas sehr Wertvolles abgesehen zu haben. Und klar, nur reiche Leute besitzen solche Dinge und sie war eben ZUFÄLLIG gerade in dieser Nacht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, nämlich in der noblen Limousine ihres Onkels. Eine andere Möglichkeit konnte es gar nicht geben. Das wäre zumindest eine logische Erklärung.
Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte das selbst nicht ganz glauben. Zwar war ihre Erklärung logisch – zumindest in ihren Augen -, aber ihr Gefühl widersetzte sich. Irgendetwas sagte ihr, dass diese Wesen speziell sie gesucht hatte.
„Das ist nicht die Antwort“, murmelte sie vor sich hin. „Irgendetwas anderes muss noch eine Rolle spielen.“
Sie beschloss sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen, um besser Nachdenken zu können. Die Bodyguards folgten ihr wortlos. Sie war sehr froh, als sie ihre Zimmertür hinter sich schließen und sich auf dem Bett ausstrecken konnte. Vor ihren Augen tanzten Gedanken, als würden sich Sterne auf dem Baldachin ihres Himmelbettes bewegen. Sie tanzten und drehten sich, mal schneller, mal langsamer, immer um einen gemeinsamen Mittelpunkt.
Als gäbe es eine unsichtbare Sonne in ihrer Mitte, dachte Bonnie und schlief ein.
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Erst am frühen Abend konnte Bonnie der Traumwelt wieder entfliehen. Benommen strich sie sich den Pony aus den Augen und rappelte sich auf. Verdammter Jetlag! Wollte sie nicht eigentlich über etwas nachdenken? Ach ja, richtig! Diese Nacht, ...die eine Nacht und alle ihre Beteiligten.
Erschöpfte lehnte sie sich gegen den Berg an Kissen, warf ihr langes Haar über ihre Schultern nach hinten und fing wieder an zu grübeln. Dabei fuhren ihre Finger langsam ihren Hals hinab, tasteten nach der Kette, mit der sie immer spielten und…
Moment… Die Kette! Wo war die Kette?! Ungläubig fuhren Bonnies Finger immer und immer wieder ihren Hals hinab, suchten die Kette, die sie stets trug. Es gab keinen Zweifel: Sie war weg!
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Ihr Zimmer war bereits ein einziges Chaos, bevor Nancy an der Tür klopfte. Ihre Koffer lagen umgestülpt auf dem Boden in der Mitte des Raumes, Stapel von Klamotten türmten sich auf dem Boden, dem Bett oder lagen zerknüllt in den Fächern des Schrankes. Ihre Handtasche hatte sie durchsucht, genauso wie ihren Rucksack. Alle Kissen flogen vom Bett, in der Hoffnung, ihre Kette möge zwischen ihnen in die Untiefen gerutscht sein. Nichts. Keine Spur. Bonnie war der Verzweiflung nahe und raufte sich die Haare. Sie musste doch hier irgendwo sein…
Das Klopfen riss sie kurz aus ihren Gedanken. Sie antwortete aber nicht und so lugte Nancy vorsichtig durch den geöffneten Türspalt.
„Miss Bonnie, das Abendessen…“, begann sie, doch als ihr Blick auf der Suche nach Bonnie durch das Zimmer schweifte, stockte ihr der Atem. Wortlos blickte sie auf das heillose Durcheinander und schlimme Befürchtungen kamen ihr bereits in den Sinn.
Schwungvoll flog die Tür nun vollends auf. „Nancy, ich habe etwas Wichtiges verloren. Meine Kette ist weg!“ Mit einem gequälten Gesichtsausdruck trat Bonnie ihr entgegen. „Ich hab schon überall nachgesehen, aber ich kann sie einfach nicht finden…“
Mitleidig sah die ältere Dame sie an. „Sie taucht bestimmt wieder auf“, versuchte sie das Mädchen zu beschwichtigen, auch wenn es in Bonnies Ohren nicht besonders überzeugend klang. „Kommen Sie“, sagte sie nun warmherzig, „ein warmer Eintopf wird Ihnen jetzt gut tun.“
Mütterlich nahm sie das Mädchen beim Arm und führte sie vorbei an den abschätzig lächelnden Bodyguards, die sich wie immer neben der Tür postiert hatten, durch den dämmrigen Gang in die heimelige Küche.
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Das Essen war wirklich gut gewesen und die Anwesenheit der beiden älteren Herrschaften hatte sie etwas beruhigt. Aber nun saß sie wieder allein in ihrem Zimmer, um sich die Berge ihrer Habseligkeiten, und verfiel erneut ins Grübeln. Sie konnte sie doch nicht verloren haben, das war ganz und gar unmöglich, dachte sie verzweifelt.
Mittlerweile war ihr Zimmer in Dunkelheit getaucht. Sie machte kein Licht an, sie wollte das ganze Chaos um sich herum nicht sehen, nicht wahrhaben, dass etwas Entscheidendes fehlte.
Müde kauerte sie auf ihrem Bett, wo sie gerade eine kleine Lücke zwischen den Bergen geschaffen hatte. Ihre Arme umklammerten ihre Knie und ihr Kinn ruhte traurig auf ihnen. Irgendwie lief alles schief, seitdem sie hier war…
Ein leises Rascheln gefolgt von einem zögerlichen Klopfen ließen sie aus ihrer Lethargie erwachen. Mühsam setzte sie sich auf und ging zur Balkontür, um sie zu öffnen. Er war wieder da.
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Er merkte es noch in dem Moment, als sie die Tür öffnete. Etwas war anders. Innen war es so dunkel wie die Nacht selbst, dennoch konnte er ihre Gesichtszüge erkennen. Der unbeschwerte, schüchterne Ausdruck war aus ihnen gewichen, stattdessen spürte er eine Mischung aus Verzweiflung und Traurigkeit.
„Hallo“, flüsterte sie betrübt und wandte sich ab, um wieder nach innen zu gehen. Sie wollte nicht abweisend sein, aber mehr brachte sie gerade nicht zustande.
Er folgte ihr wachsam. Im Zimmer war ein furchtbares Chaos ausgebrochen, als hätten Eindringlinge alles auf den Kopf gestellt. Alarmiert blickte er sich um.
„Was ist passiert?“, fragte er eindringlich. Sie antwortete nicht, sondern setzte sich auf ihr Bett, umschlang ihre Beine und verbarg ihr Gesicht vor ihm. Still und bewegungslos saß sie vor ihm, nur ihre Schultern zuckten hin und wieder.
„Bonnie“, sagte er nun leiser und weniger fordernd. Irritiert blickte sie auf. Es war das erste Mal, dass er sie bei ihrem Namen genannt hatte; immerhin konnte er sich daran erinnern. Er kniete vor ihr auf dem Boden und sah sie fragend an. Verstohlen wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen. Auf ihre Wangen glänzten feuchte Spuren und sie zog einen traurigen Schmollmund.
„Es ist nur… Ich hab etwas verloren und kann es nicht mehr finden“, sagte sie schließlich leise und trotzig. Es kostete ihr sichtbar Überwindung. Sie wollte nicht weinen wie ein kleines Kind, aber alles, wirklich alles lief schief, seitdem sie von Zuhause wegging.
„Was war es?“, wollte er behutsam wissen.
„Meine Halskette.“
Wieder kauerte sie sich zusammen. Sie wollte seinen Blick nicht sehen, wollte niemanden sehen, der nicht verstand, wie schwerwiegend der Verlust für sie war. Was hatte sie nur falsch gemacht?
„Eine Kette also“, überlegte Brooklyn laut und sah sich suchend im Zimmer um. Er erhob sich und lief langsam durch den Raum, um besser nachdenken zu können. Wo konnte sich eine Kette nur versteckt haben? War sie wirklich hier, inmitten dieses Durcheinanders? Zögerlich inspizierte er die herumliegenden Stapel. Zwischen den Klamotten? Hm, eher nicht. Im Schrank? So wie dieser aussah… unwahrscheinlich. In der Handtasche?
Plötzlich kam ihm eine Idee. Er öffnete den Beutel, der an seiner rechten Hüfte hing und zog einen Gegenstand heraus, den er unlängst erst gefunden hatte. Es war eine kleine, goldene Sonne. Nun, so klein war sie gar nicht, bei genauerem Hinsehen füllte sie mit ihren gebogenen Strahlen einen guten Teil seiner Handfläche aus. Die Strahlen waren – genau wie der Sonnenkörper selbst - matt poliert, der runde Körper aber war außerdem mit Ornamenten verziert. Glänzende Spiralen und gebogene Linien schmückten die Oberfläche und vier kleine, funkelnde Diamanten waren darin eingelassen. Zwischen zwei Strahlen befand sich eine Öse, durch die eine sehr dünne, lange goldene Kette verlief. Es war der kleine, goldene Gegenstand, den er nach dem Kampf mit Demona in der Gasse gefunden hatte.
Er ging zurück zum Bett, neigte sich dem Mädchen vorsichtig entgegen und sagte: „Ist es vielleicht diese hier?“ Fragend hielt er ihr die kleine Sonne entgegen.
Erstaunt und ein bisschen argwöhnisch blickte sie auf, aber als er ihr den Anhänger zeigte, wandelte sich ihr Erstaunen in blanke Ungläubigkeit. Überraschend riss sie die Augen auf und der Mund blieb ihr offen stehen. Vor ihr in der Hand des Gargoyles lag - das silberne Mondlicht unschuldig spiegelnd - ihre geliebte Kette!
Fassungslos setzte sie sich auf und streckte die Hand nach ihr aus. Er ließ das kostbare Stück vorsichtig in ihre Hand gleiten. Sie konnte es kaum glauben…
„Wann…, nein wo…“, setzte sie an und rang mit den Worten, während sie behutsam über die verzierte Oberfläche des Anhängers strich.
„Vorletzte Nacht, als Demona dich angegriffen hat“, versuchte er zu erklären. „Vermutlich hast du sie dabei verloren. Ich sah sie zufällig auf der Straße liegen…“
Eigentlich wollte er seinen Satz noch beenden, aber ihm blieb im wahrsten Sinn des Wortes einfach die Luft weg. Das Mädchen war aufgesprungen und warf sich an seine Brust. Ihre Hände, von denen eine immer noch die Kette umklammerte, schlangen sich um seinen Hals und sie schmiegte ihre Wange an ihn. Vor Schreck vergaß er weiter zu sprechen.
„Danke, du hast mich schon wieder gerettet“, sagte sie leise und aufrichtig, „danke vielmals.“ Sie löste ihre Umarmung und lächelnd blickte sie zum ihm auf.
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Sein Körper fühlte sich warm und hart an. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Brust und vernahm ein dumpfes, schnellen Pochen. Auf Zehenspitzen stehend legte sie ihre Arme in seinen Nacken und verfing sich dabei in seinem langen, weißen Haar. Glücksgefühl durchströmten sie. Sie war ihm so dankbar!
Lächelnd löste sie sich von ihm und musste verschmitzt feststellen, dass er sichtlich die Fassung verloren hatte. Seine geweiteten Augen und der etwas offenstehende Schnabel sagten ihr, dass er mit einer solchen Reaktion wohl nicht gerechnet hatte.
Beschwingt wandte sie sich ab, ging zurück zum Bett und knipste die kleine Lampe an, die auf ihrem Nachtkästchen stand. Morgen würde sie aufräumen müssen, aber das kümmerte sie im Moment nicht. Warmes Licht umhüllte die beiden, während der Rest des Zimmers in Dunkelheit getaucht blieb. Als Brooklyn sich immer noch nicht von der Stelle rührte, setzte sich Bonnie auf ihr Bett. Zufrieden betrachtete sie die kleine Sonne in ihrer Hand. Dann nahm sie die Kette bei ihren Enden und legte sie sich um den Hals.
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Trogen ihn seine Augen? Vor ihm auf ihrem Bett saß das Mädchen. Sie hatte sich gerade die Kette umgehängt, aber… nein, das war nicht möglich. Oder doch? Er hatte den Eindruck, dass die Kette – nein, vielmehr der Anhänger selbst… strahlte.
Ein strahlendes, aber kaum vernehmbares Leuchten, das man vermutlich nur sehen konnte, wenn das Licht gedämpft war und man direkt davor stand.
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Immer noch blickte er sie ziemlich verwirrt an. Irritiert runzelte sie die Stirn. So sehr konnte ihn das doch gar nicht aus der Bahn geworfen haben, oder? Dennoch überwog ihre Zufriedenheit bei weitem.
„Nun, ich werde dann mal wieder rausgehen“, sagte er jetzt langsam und wandte sich zum Gehen.
„Warte, ich komme mit!“ Schwungvoll sprang sie aus dem Bett und lief ihm hinterher. Er war bereits an der Tür, die nach draußen auf den Balkon führte, überschritt ihre Schwelle und verschwand in der zunehmenden Dunkelheit.
Sie trat ebenfalls hinaus. Die Nacht war ein tiefes, kühles Blau, das alles einhüllte. Sie konnte kaum ihre Hand vor Augen sehen. Ein Windstoß kam auf und trug die Geräusche der Stadt zu ihnen herauf. Vorsichtig tastete sich Bonnie ihren Weg nach vorne. Der Balkon war zwar nicht so groß, aber sich in den Blättern der großen Stechpalme zu verfangen oder über die Sonnenliege oder den kleinen Glastisch zu stolpern, wollte sie unbedingt vermeiden.
Schließlich konnten ihre Hände den kühlen glatten Stahl des Geländers fassen. Erleichtert trat sie näher heran und versuchte, ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Stadt unter ihr war betriebsam, aber heute Nacht schien sie ihr doch etwas ruhig als zuvor. Über ihr leuchteten bereits ein paar Sterne und ein sichelförmiger, silberweißer Mond warf sein Licht zu ihnen hinab.
Er stand nicht direkt neben ihr. Etwa eineinhalb Meter weiter hatte er sich mit den Armen auf dem Geländer aufgestützt und blickte nun gedankenverloren in die Ferne. Sein Gesicht war unergründlich.
„Brooklyn?“ Vorsichtig trat sie näher, sie wollte ihn nicht noch einmal erschrecken. Er drehte ihr sein Gesicht zu und blickte sie unverwandt an. „Wie geht’s deinem Arm?“
Er lächelte und versuchte ein unbekümmertes Gesicht zu machen. „Dem geht’s gut, Wunden heilen bei uns sehr schnell“, fügte er hinzu und tätschelte seinen Oberarm.
„Ah, okay, das ist schön.“ Bonnie konnte sich nicht wirklich vorstellen, was es hieß, schnell heilende Wunden zu haben, aber da er keinen Verband mehr trug, schien es ihm zumindest gut zu gehen.
Eine Weile lang sagte keiner der beiden etwas. Er ließ seinen Blick über die dunklen Ausläufer der Nacht schweifen, als suchte er etwas. Jedes Gebäude, jedes Licht, das aufblinkte, wurde in Augenschein genommen. Er nimmt seine Aufgabe wohl ziemlich ernst, dachte Bonnie bei sich und wandte nur mit Mühe ihren Blick von ihm ab.
Sie konnte in dieser Dunkelheit kaum etwas erkennen. Die Lichter natürlich, die die Fenster erhellten oder die Blinker der Autos oder das Leuchten der überdimensionalen Reklameschilder. Aber der größte Teil der Nacht blieb ihr verborgen, versteckt unter einem undurchdringbaren Schleier, den nur das Tageslicht lüften konnte.
Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf. Wo ihre Eltern wohl gerade waren? War es auch Nacht bei ihnen oder gingen sie in diesem Moment zur Arbeit? Ob sie sie wohl vermissten? Was sie wohl sagen würden, wenn sie wüssten, in welcher Gesellschaft sie in diesem Augenblick war? Nun, wahrscheinlich würden sie ihr das nie abkaufen…
Sie grinste in sich hinein. Wer überhaupt würde das denn schon glauben wollen? Doch langsam wurde sie nun müde. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es schon nach elf war.
„Ich… ähm, werde dann mal schlafen gehen“, kündigte sie ihrem stillen Begleiter an und unterdrückte ein Gähnen. „Vielen Dank nochmals, dass du mir meine Kette zurückgebracht hast“, fügte sie hinzu, als sie keine Reaktion bemerkte.
„Sie ist wirklich schön, deine Kette“, antwortete er nun, „du bist bestimmt froh, sie zurückzuhaben.“
„Und wie“, strahlte sie, „ich glaube, sie ist so eine Art Glücksbringer für mich. Nachdem ich sie verloren hatte, ging einiges irgendwie ganz schön schief. Ich hoffe, das ändert sich jetzt wieder.“
Er lächelte kurz, dann blickte er in ihre Augen und wollte wissen: „Bonnie, wo hast du diese Kette eigentlich her?“
„Ach, das ist eine lange Geschichte. Kurz gesagt habe ich sie sozusagen geerbt. Oder geschenkt bekommen, wie man’s sieht.“
„Haben deine Eltern sie dir geschenkt?“
„Meine Eltern? Nein, so etwas würden sie mir nie schenken. Ich hab sie von einer älteren Frau bekommen, das ist noch gar nicht so lange her, vielleicht vor ein oder zwei Jahren. Damals habe ich für die Schule ein Praktikum im Krankenhaus verbracht, wo ich diese Frau getroffen habe. Ihr ging es ziemlich schlecht, als sie eingeliefert wurde und sie tat mir sehr leid, deswegen habe ich mich ein bisschen um sie gekümmert. Wir haben uns gut verstanden und ihr ging es dann auch immer besser. Kurz bevor sie wieder nach Hause entlassen wurde, hat sie mich ein letztes Mal zu sich gerufen und mir diese Kette geschenkt. Ich wollte sie natürlich nicht annehmen, denn sie sah so wertvoll aus und naja, es kam mir wie eine Art Gegenleistung vor, dafür dass ich mich um sie gekümmert hatte. Das war mir ziemlich unangenehm. Aber sie bestand darauf, dass ich die Kette annehme und… ja, ich hab mich natürlich sehr darüber gefreut. Die alte Frau meinte, sie wäre ein Glücksbringer und würde mich beschützen. Seitdem habe ich sie, glaube ich, nie mehr abgelegt.“
Entschuldigend lächelte sie ihn an. Er blickte jedoch nur in die Ferne und registrierte es gar nicht.
„Also, ich gehe dann mal!“, beschloss sie, als er keine Reaktion mehr zeigte. „Bis morgen.“
Und sie verschwand über der Türschwelle und tastete sich ihren Weg zurück ins Zimmer. Das Licht neben ihrem Bett brannte noch, sodass sie leichter wieder hineinfand. Sehr zufrieden bereitete Bonnie sich auf das Zubettgehen vor, kuschelte sich unter die Decke und schlief glücklich ein.
6. Kapitel: Auf Abwegen
Der nächste Tag verlief für Bonnie weitaus ruhiger als seine Vorgänger. Langsam lebte sie sich hier ein, gewöhnte sich an die Atmosphäre des riesigen Luxus-Penthouses und an seine Bewohner. Nun ja, an fast alle seine Bewohner eben. Die beiden Bodyguards folgten ihr immer noch auf Schritt und Tritt, allerdings hatten sie sich einen gewissen Sicherheitsabstand angewöhnt, sodass sie vor allem von plötzlich aufgerissenen oder zugeworfenen Türen nicht erfasst wurden. Bonnie liebte es, sich auf diese Weise Abstand zu verschaffen.
Da James gerade unterwegs war, hatte sie das köstliche Mittagsessen zusammen mit Nancy eingenommen, als Owen sie aufsuchte. Das war mehr als ungewöhnlich, denn normalerweise verbrachte er seinen Arbeitstag stets an der Seite ihres Onkels – sein ständiger Berater und Begleiter sozusagen. Er passierte mit einem argwöhnischen Blick den Spalier, den die beiden Leibwächter zu beiden Seiten der Tür zur Küche bildeten, räusperte sich umständlich und richtete dann das Wort an Bonnie:
„Guten Tag, Miss Bonnie. Wie ich sehe, haben Sie gut gespeist. Nun denn, das dürfte bei Nancy ja keine Ausnahme sein.“ Ein wohldosierter Seitenblick fiel auf die kleine, rundliche Frau, die über ihr rotwangiges Gesicht strahlte.
Der Unterschied zwischen beiden hätte nicht krasser ausfallen können: Auf der einen Seite der adrette, schlanke, aber auch steif wirkende Manager, der in seinem dunklen Nobelanzug in der Küche gerade katastrophal fehl am Platz wirkte und andererseits die alte Haushälterin, die mit geblümter Schürze die Überreste des Mittagsessens einsammelte. Dennoch wusste Bonnie ohne Zweifel, wem ihre Sympathie mehr galt.
Owen fuhr fort: „Mit besten Grüßen hat Ihr Onkel mir aufgetragen, Ihnen jetzt – da Sie sich gerade einzuleben scheinen – ihre Umgebung näher zu zeigen. Eine kleine Rundführung sozusagen.“ Seine starre Miene verriet, dass er von dieser Idee weniger begeistert war als sein Chef, aber Bonnie nahm erfreut zur Kenntnis, dass ihr Onkel sich wirklich sehr um ihr Wohlergehen zu sorgen schien.
Tatsächlich hatte sie sich bisher kaum in ihrem neuen Zuhause umgesehen, fiel ihr ein. Die meiste Zeit hatte sie bisher in ihrem neuen Zimmer verbracht oder bei Nancy in der Küche. Ansonsten würde sie sich in diesem riesigen Haus sofort verlaufen. Eine Rundführung wäre also gerade das richtige, dachte sie.
„Gerne“, lächelte sie Owen an.
„Nun, dann folgen Sie mir bitte.“ Ohne ein weiteres Wort machte er auf dem Absatz kehrt und ging davon.
„Bis später, Nancy!“, rief Bonnie und eilte ihm hinterher, die Leibwächter im Nacken. Fest in ihrer Hand umklammerte hielt sie dabei die kleine, goldene Sonne, deren Kette um ihren Hals baumelte.
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Was für ein Haus, dachte sie erneut. Sie hatte ja damit gerechnet, dass es groß sein würde, aber das hier… Das war kein einfacher Wolkenkratzer, sondern ein Palast – ein Schloss fast in den Wolken.
Die unteren Etagen dienten ausschließlich Verwaltungsangelegenheiten. Mehr als hundert Mitarbeiter waren dort beschäftigt und eilten und tummelten sich wie in einem Bienenstock. Sie waren die Grundlage für den Erfolg ihres Onkels, hatte Owen gesagt; Fleiß, Disziplin und Zuverlässigkeit zeichneten sie aus.
In den Stockwerken darüber saßen die leitenden Angestellten von Xanathos Enterprise – so der Name der Firma. Sie bündelten die Informationen aus den unteren Bereichen und vertraten ihren Onkel, sollte dieser bei einer wichtigen Tagung nicht zugange sein. Außerdem gab es einige Konferenzräume, die Bonnie aber nur mit beschränktem Interesse besichtigte.
Wiederum darüber befanden sich einige Etagen, die nur als Abstellbereiche dienten und in denen Owen sie auch nicht näher herumführte.
Inzwischen hatten sie schon mehr als die Hälfte des Wolkenkratzers in Augenschein genommen. Die oberen Bereiche des Eyrie Buildings – so hatte ihr Onkel den Komplex getauft – waren allein privaten Angelegenheiten vorbehalten. Eine Art Kelleretage bildete die Grundlage, darüber befand sich die „Garage“. Mit stolzgeschwellter Brust führte Owen sie zwischen den teuren Autos hindurch. Bonnie erkannte einen dunkelgrauen Benz, einen funkelnden roten Aston Martin und die – inzwischen wieder fast makellose – Limousine, die sie vom Flughafen abgeholt hatte. Mit einem Kloß im Hals nahm sie die Überbleibsel der wohl ursprünglich riesigen Dellen in deren Dach wahr und schluckte heftig.
„Und hier“, unterbrach Owen ihren Gedankenfluss und deutete an einer Gruppe polierter Motorräder vorbei in Richtung eines massiven Tors, „befindet sich der Ausgang. Die Fahrzeuge können dieses Tor passieren und werden mit Hilfe eines Aufzuges hinunter zur Straße gebracht. Natürlich ist das System absolut sicher.“
Bonnie versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, in einem dieser Autos zu sitzen und per Aufzug mehrere Stockwerke in die Tiefe abgeseilt zu werden. Der Gedanke allein ließ ein heftiges Kribbeln in ihrem Bauch erwachen, aber gleichzeitig reizte sie das Risiko.
Sie folgte dem Manager weiter nach oben und betrat nach ihm einen weiteren Fahrstuhl. Die Türen hatten sich gerade hinter den beiden Leibwächtern geschlossen, als Bonnie auffiel, dass alle Wände des Aufzugs aus Glas zu sein schienen. Sie trat einen Schritt zur Seite – und erschrak sogleich. Hunderte von Metern direkt unter ihren Füßen befand sich die Straße mit all ihren Autos und Fußgängern! Auch Boden und Decke waren durchsichtig! Das mulmige Gefühl in ihrem Magen nahm zu. Sie war noch nie völlig schwindelfrei gewesen und dieses Gefährt ging an die Grenzen von dem, was sie ertragen konnte.
Owen registrierte ihr Unwohlsein und tat sein Bestes, um sie auf andere Gedanken zu bringen: „Und hier können Sie einen kurzen Blick auf den Swimming-Pool werfen“, klärte er sie auf.
Bonnie sah durch die Glasscheiben ins Innere des Eyrie Buildings und erkannt verzückt den „Pool“ – ein Schwimmbecken von der Größe eines kleinen Hallenbades mit Strandliegen und Rutschen, alles umsäumt von einer Gruppe Palmen und exotischen Büschen. Mehr konnte sie in den Bruchteilen von Sekunden nicht erkennen, aber es baute sie augenblicklich auf.
Anschließend führte ihre Tour noch durch die Wohnräume, also die Stockwerke, in denen sich unter anderem der Empfangsbereich, die Küche, das Wohnzimmer und die Schlafzimmer befanden. Alle Ebenen des Privatbereiches waren durch den gläsernen Aufzug miteinander verbunden.
Owen erklärte gerade, dass die Führung hiermit beendet sei und wollte sie soeben aus dem Fahrstuhl hinauskomplimentieren, als Bonnies Blick zufällig auf die leuchtende Anzeige der Stockwerke fiel.
„Owen, wir sind doch gerade im 21.Stock, oder?“, fragte sie.
„Das ist richtig“, stellte er nüchtern fest.
„Aber laut der Anzeige gibt es da zwei weitere Etagen, die Sie mir noch nicht gezeigt haben. Was befindet sich dort?“
„Das Büro von Mr. Xanathos sowie die Burganlage“, antwortete er steif ohne jegliche Regung.
„Eine Burg? Auf dem Wolkenkratzer?“ Ungläubig folgte sie seinem dunklen Anzug nach draußen.
„So ist es. Aber ich würde Ihnen empfehlen, diesen Ort nicht aufzusuchen.“
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Nachdenklich lehnte sich Bonnie zurück und ließ sich in die Kissen sinken. Die Rundführung durch den Wolkenkratzer hatte ihr ungemein geholfen sich zu orientieren, aber dennoch war es eine riesige Anlage, die für ihren mehr als mangelhaften Orientierungssinn eine echte Herausforderung darstellte. Belustigt überlegte sie, wie die anderen Hausbewohner wohl gelernt hatten, sich hier zurecht zu finden. Vielleicht hatte Nancy ja anfangs Brotkrumen ausgestreut, um sich zu behelfen, kam ihr ironischerweise in den Sinn. Leider hatte sie keine zur Hand, also musste sie sich wohl oder übel etwas Besseres einfallen lassen. Oder ihre Orientierung auf die Probe stellen.
Warum nicht?, dachte sie und erhob sich. Etwas anderes hatte sie sowieso nicht zu tun. Wieso nicht herausfinden, ob sie auch alleine zurecht käme? Da gab es nur noch ein Problem: Sie musste ihre beiden Nervensägen loswerden…
Vorsichtig öffnete sie die Zimmertür und lugte durch den Spalt. Die Leibwächter hatten sich wie immer zu beiden Seiten der Tür postiert und standen mit dem Rücken zu ihr. Mist, hier werde ich wohl kaum ungesehen durchkommen, registrierte sie frustriert. Leise schloss sie die Tür wieder, ließ sich mit dem Rücken gegen sie fallen und dachte nach. Was sie brauchte war ein Ablenkungsmanöver oder…
Vielleicht gab es sogar etwas Besseres. Owen hatte ihr vorhin erst erzählt, dass ihr Onkel das ganze Gebäude mit „Notausgängen“ versehen ließ. Sie hatte sich natürlich nichts darunter vorstellen können, daher hatte er ihr eine kleine Kostprobe spendiert – sie gehörte ja immerhin zur Familie.
Sie hatten sich in einem kleineren Büro auf der Etage der Angestellten befunden und Owen war vor eine nackte, unauffällige Stahlwand getreten. Sie war absolut glatt gewesen, kein Schalter, kein Detektor, nicht mal eine kleine blinkende Leuchte hatte sie erkennen können. Umso verblüffter war sie gewesen, als er seine rechte Hand gegen die Wand presste, diese in der Umgebung der Auflagefläche leicht nachgab – und ein Teil der Wand von der Größe einer Tür geräuschlos zur Seite glitt. Für wenige Sekunden entstand eine Öffnung, die sich sogleich wieder schloss, ebenso unauffällig wie sie sich geöffnet hatte.
Auf seine Aufforderung hin hatte auch sie es probiert – mit Erfolg. Verwundert hatte sie ihre Hand betrachtet. Die Wand hatte unter ihr nachgegeben und ihre Haut fühlte sich etwas feucht an, aber sonst war nichts zu sehen.
„Was Sie hier soeben demonstriert bekommen haben, ist eine Sonderentwicklung von Xanathos Enterprise“, hatte Owen sie aufgeklärt. „Ein Teil der Wand wird in einer Speziallegierung angefertigt, die auf Wärme – so wie sie die Haut abstrahlt – reagiert. Der in diesem Gemisch enthaltene Anteil an artifiziellem Plasma sorgt für die Zustandsänderung, so wird der Teil der Wand, der sich in der Umgebung der Impression befindet, weich. Direkt unter der Oberfläche befinden sich Detektoren, die Ihre Hand scannen und registrierten Benutzern den Zugang erlauben. Natürlich wurden Sie bereits im System aufgenommen“, schloss er förmlich und erlaubte sich ausnahmsweise ein zufriedenes Lächeln, als er ihre Sprachlosigkeit bemerkte.
Eben eine dieser Türen brauchte sie jetzt. Ob es die in ihrem Zimmer wohl auch gab? So wie sie ihren Onkel einschätzte, konnte sie fast ihr Sparbuch darauf verwetten, dass er alle Räumlichkeiten seines Luxus-Penthouses mit der notwendigen Liebe zum technischen Detail ausgestattet hatte. Sie musste die Öffnung also nur noch finden…
Bonnie rappelte sich leise wieder auf, verschränkte die Arme und sah sich suchend im Zimmer um. Wenn ich Onkel David wäre, wo würde ich eine Geheimtür einbauen? Hinter dem Bücherregal? Zu unpraktisch, das Regal würde mitten im Weg stehen, denn es konnte – wie Bonnie sich schnell überzeugte – nicht zur Seite gerollt werden. Hm, hinter dem Schrank vielleicht? Wohl doch eher nicht. Zu klassisch und schlecht erreichbar. Oder unter dem Bett? Nee, grinste sie in sich hinein, das konnte sie sich nun wirklich nicht vorstellen.
Irgendwie kam sie hier nicht weiter. Dann blieb ihr wohl nichts anderes übrig als Ausprobieren. Sie ging im Uhrzeigersinn vor. Zuerst untersuchte sie die Wand hinter ihrem Schreibtisch. Glatt, kalt, wohin sie ihre Hand auch legte, aber sonst nichts. Das feuchte, kühle Gefühl, an das sie sich erinnerte, stellte sich nicht ein. Also weiter. Das Bücherregal. Massiv gebaut. Es bewegte sich keinen Millimeter, als sie vorsichtig versuchte es zu verschieben. An die Wand kam sie erst gar nicht richtig ran. Also auch hier ein hoffnungsloser Fall. Unter das Bett zu krabbeln versuchte sie erst gar nicht, denn sie malte sich auch hier keine großen Chancen aus. Dann gab es da noch die Tür zum Balkon. Diese sah aber unauffällig aus und Bonnie konnte sich kaum vorstellen, dass es auch draußen einen geheimen Zugang geben sollte. Die Wand neben dem leichten, halb durchsichtigem Chiffon-Vorhang war ebenfalls wenig bemerkenswert, stellte sie enttäuscht fest. Dann blieb wohl nur noch… der Kleiderschrank.
Aber wo versteckte sich diese Tür?, grübelte Bonnie und besah sich den riesigen Schrank von allen Seiten. Sie konnte nichts Auffälliges sehen noch die kalte Feuchtigkeit tasten, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Oder war es etwa möglich…? Eine neue, amüsante Idee beschlich sie. Vielleicht war das eine besonders gut versteckte Tür, verborgen an einem Ort, wo niemand normalerweise suchen würde. Niemand – außer vielleicht einem kleinen Mädchen, das keinen Winkel unergründet ließ.
Gespannt öffnete sie die beiden Türen in der Mitte des großen Schrankes und trat vorsichtig ins Innere. Sie hatte nicht sehr viele Klamotten von zu Hause mitgebracht, so war das große Mittelteil, in das auf Augenhöhe eine lange Metallstange eingelassen war, fast freigeräumt. Fast augenblicklich ging ein schummriges Licht an, denn in die Wände zu beiden Seiten waren eine Reihe von kleinen Glühbirnen eingelassen. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Mit klopfendem Herzen schloss sie die beiden Türen hinter sich und schlüpfte unter der Querstange hindurch. Langsam näherte sie sich der Hinterwand, auf der das Licht der Glühbirnen dunkel schimmerte. Zögerlich hob sie die Hand. Das war ihre letzte Chance, sonst würde sie hier auf Gedeih oder Verderben in ihrem Zimmer festsitzen oder aber die beiden Plagegeister auf Schritt und Tritt am Hals haben… Entschlossen presste sie ihre Hand gegen die Dunkelheit und – augenblicklich – fühlte sie mit einer Woge tiefer Erleichterung die glibbrige Kühle des Plasmas.
Mit einem leisen Surren rückte die Wand zur Seite und gab eine Öffnung frei, die offensichtlich in einen dunklen, schmalen Gang führte. Nach und nach erhellten sich zu beiden Seiten des Gangs kleine, flackernde Lichter, die ihr den Weg weisen wollten.
Neugierig trat sie in den Gang hinein. Wahnsinn, ein Geheimgang direkt aus meinem Zimmer hinaus, dachte sie mit übersprudelnder Freude. Nun gab es immer eine Möglichkeit, heimlich zu entwischen!
Doch kaum hatte sie den schmalen Flur betretend, verriet ihr ein erneutes, surrendes Geräusch hinter ihrem Rücken, dass der Zugang sich wieder schloss und fast vollkommende Dunkelheit umfing sie.
Bonnie schluckte. Jetzt gab es nur noch den Weg nach vorne.
˜
Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang. Ihr Herz klopfte immer noch wie wild, aber Bonnie war entschlossen herauszufinden, wo der geheime Durchgang hinführte.
Zunächst konnte sie nur glatte Wände zu beiden Seiten erkennen. Mehr ließ das funzelige Licht an den Wänden nicht zu. Keine Türe, keine versteckte Geheimwaffe oder etwas in der Art, das traute sie ihrem Onkel durchaus zu. Schritt für Schritt ging sie weiter und immer neue Lichter gingen vor ihr an, während die, die weiter zurücklagen, wieder erloschen.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs war oder ob sie überhaupt mehr als ein paar Meter zurückgelegt hatte. Die Stille und die Dunkelheit raubten ihr völlig jegliches Zeitgefühl. Das Einzige, dessen sie sich relativ sicher war, war die Tatsache, dass es bisher stets geradeaus gegangen war. Jetzt aber hatte sie das Gefühl, als würde es bergauf gehen. Und wenn ihre Augen sie nicht trogen, sah sie in einigen Metern Entfernung ein Licht.
Bonnie beschleunigte ihre Schritte, beinahe rannte sie, wenn sie nicht insgeheim befürchtet hätte, über etwas, das im Dunkeln verborgen lag, stolpern zu können. Fast war sie da und nein, sie hatte sich nicht getäuscht, da leuchtete definitiv etwas vor ihren Augen. Was es wohl war? Und warum an diesem Ort?
Heftig atmend hatte sie die Anhöhe erklommen. Sie stand auf einem Flur, der etwas breiter war als der Gang, den sie hergelaufen kam. In die Decke über ihr waren drei Strahler eingelassen, deren Lichtkegel genau auf den Boden vor drei massiven Türen fiel, die hintereinander den Flur säumten.
Was war das für ein Ort?, fragte sich Bonnie mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Ein geheimes Büro ihres Onkels? Oder ein verborgenes Labor? Und warum waren diese Räume genau mit ihrem Zimmer verbunden?
Nun, wenn sie schon mal hier war, blieb ihr eigentlich nichts anderes übrig, als in die Zimmer hineinzusehen, denn wenn sie unverrichteter Taten in ihr Schlafzimmer zurückkehrte, würde sie vermutlich platzen vor Neugier.
Sie lief auf die erste Tür zu und blieb an der Schwelle stehen. Die Tür war aus massivem, dunklen Holz und völlig glatt, fast unbenutzt sah sie aus. Weder auf ihr noch an der Wand daneben stand irgendein Hinweis, wer hier arbeiten – oder leben? – könnte. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf die Klinke. Das kühle Metall schien unter ihrer Haut zu pochen, so schnell wie ihr Herz. Leise und sehr, sehr langsam drückte sie die Klinke nach unten.
Nichts. Vorsichtig hatte sie durch den Türspalt gelugt. Sie konnte absolut nichts sehen, da der Raum in vollkommende Dunkelheit getaucht war.
Nun, dann war vermutlich auch niemand drin, schlussfolgerte Bonnie. Trotzdem war sie noch misstrauisch und öffnete die Tür nur zentimeterweise. Aber auch der Lichtkegel der drei Strahler auf dem Gang erhellte das Zimmer durch die halb geöffnete Tür nicht. Zögerlich tastete sie die Wand neben dem Türrahmen ab.
„Na endlich“, murmelte sie, als ihre Hand den Lichtschalter fand. Ein kurzes Drücken – und schon wart es Licht! Leider wurden ihre Erwartungen vollauf enttäuscht: Sie befand sich in einem leeren, offensichtlich verlassenen Büro. Ein großer, dunkler Schreibtisch nahm fast dessen gesamte Breite ein, links und rechts davon standen Regale, Ablagen und Aktenschränke. Allesamt leer.
Ob hier überhaupt einmal jemand gearbeitet hat?, grübelte Bonnie und wanderte gedankenverloren durch den Raum. Das Mobiliar sah beinahe unbenutzt aus, der Tisch war bis auf eine verwaiste Schreibtischlampe leergefegt und mit einer beträchtlichen Staubschicht bedeckt. Neugierig öffnete Bonnie die oberste Schreibtischschublade. Auch hier Fehlanzeige! Was für ein langweiliges Zimmer…
Sie schlenderte zurück zur Tür und schloss sie leise hinter sich. Vielleicht hatte sie im nächsten Raum ja mehr Glück?
Mit leisen Schritten trat sie vor die Tür zu ihrer rechten. Auch diese war aus glattem, dunklem Holz und mit keinem Schild versehen. Bonnie legte ihr Ohr an die kühle Tür und lauschte. Drinnen war es absolut still. Vermutlich war also auch in diesem Zimmer niemand? Erneut betätigte sie langsam die Klinke und lugte ins Innere.
Vollkommene Dunkelheit schwebte wie ein schwarzer Vorhang vor ihren Augen. Vorsichtig tapste sie hinein. Ihre Hand fand den Lichtschalter. Aber erneut wurde sie enttäuscht, denn der Raum strahlte das Gefühl lange dauernder Einsamkeit aus: Ein abgeräumter, an die Wand gestellter Schreibtisch drängte sich an eine große, mit Spinnweben behangene Stehlampe in der hinteren Ecke des Zimmers. Auf seiner anderen Seite stand wiederum ein Regal, natürlich leer. Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers befand sich nur ein kleines, rundes Tischchen, auf dem eine alte Kaffeemaschine thronte.
Vermutlich wollte man das kleine Büro vor einiger Zeit mal ausräumen, dachte sich Bonnie, aber wer auch immer das war, ganz vollendet hat er sein Werk scheinbar nie…
Behutsam schloss sie die Tür hinter sich. Irgendwie hatte sie sich vom Zuhause ihres Onkels mehr erwartet, das hier erinnerte ja mehr an ein verlassenes Lagerhaus als an einen sagenumwobenen Geheimgang in der Villa über den Wolken.
Dann blieb wohl nur noch eine Tür, die letzte in dieser Reihe. Sie sah ebenso makellos und unberührt aus wie ihre Zwillingsschwestern und vermutlich war der Raum hinter ihr genauso verlassen und wenig beeindruckend wie die beiden anderen. Fast lustlos und ein wenig frustriert legte Bonnie ihre Hand auf die abermals kühle Klinke.
Ach, was soll’s, ging es ihr durch den Kopf, ich bin wahrscheinlich in einem völlig verlassenen Abschnitt dieses tollen Geheimgangsystems gelandet. Warum sollte auch etwas Wichtiges mit ihrem Schlafzimmer verbunden sein? Sie gab sich einen Ruck, öffnete schwungvoll die Tür – und erschrak zutiefst.
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Dieser Raum war nicht verlassen wie die beiden anderen zuvor. Mit heftigem Elan war sie in das Zimmer getreten und geriet fast augenblicklich ins Stolpern. Etwas an ihrer Seite hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Verdutzt blickte sie auf, wandte den Kopf – und augenblicklich schoss ihr die Röte ins Gesicht.
Direkt neben der Tür saß hinter einem ausladenden Schreibtisch eine junge Frau. Sie war adrett gekleidet so wie man es von einer Sekretärin eines erfolgreichen Unternehmens erwarten würde. Ihr blondes und offensichtlich sehr langes Haar war hinten zu einem kunstvollen Knoten zusammengesteckt, lange goldene Ohrringe baumelten neben ihren Wangen und auf die Nasenspitze gerückt saß eine schwarze Brille mit runden, kräftig gefassten Gläsern. Alles in allem machte sie den Eindruck einer zarte, aber dennoch sehr beeindruckenden Frau.
Wogen eines heftigen, mitreißenden Gefühls schwabbten Bonnie entgegen. Sie kamen und gingen wie die Wellen im Meer und Bonnie wusste nicht mehr, wie lange sie die Frau schon anstarrte, es kam ihr wie Minuten vor, aber vermutlich war es kaum eine Sekunde gewesen. Sie wusste nicht, wer sie war und warum sie hier in aller Abgeschiedenheit arbeitete, aber sie spürte, was für eine mächtige Aura von ihr ausging.
Sie zwang sich, wieder Luft zu holen. Dieses Gefühl, das sie erfasst hatte… Langsam ebbte es wieder ab… So etwas hatte sie noch nie erlebt. Es war wie ein Strudel gewesen, der einen tief unter die Wasseroberfläche zieht, so tief dass man das Licht der Sonne nicht mehr sieht und gleichzeitig so schnell, dass man vergisst zu atmen.
Vorsichtig blickte sie erneut auf. Die Augen der Frau waren immer noch auf sie geheftet, aber… Sie war nicht allein…
Wenige Meter neben ihr saßen zwei weitere Frauen, eine mit schwarzem Haar, die andere bereits ergraut. Auch diese beiden sahen sie an. Ein leicht amüsierter Ausdruck umspielte ihre Mundwinkel.
„Schwestern, seht an, was der Wind uns zugetragen.“ Die Blonde hatte ihre Stimme erhoben, sie klang fein wie ein Glöckchen und gleichzeitig schneidend wie ein Schwert.
„Schwestern, wir haben Besuch“, erwiderte die Graue.
„Was für eine seltene Begebenheit“, stimmte die Schwarzhaarige mit ein. Alle drei erhoben sich von ihren Stühlen.
Bonnie realisierte nun endlich wieder, in welcher Situation sie sich befand und eine mulmige Kälte ergriff von ihr Besitz.
„Tut mir leid, ich bin hier einfach so reingeplatzt. Ich wollte Sie nicht stören. Ich dachte, das Zimmer wäre leer“, stammelte sie und wurde noch röter als zuvor. Allmählich stieg eine Hitze in ihr auf; sie kam aus ihrem Bauch und erklomm langsam ihren Oberkörper, ihre Arme, kroch ihren Nacken entlang und huschte ihr schließlich ins Gesicht.
So etwas Peinliches war ihr schon lange nicht mehr passiert, schimpfte Bonnie innerlich. Aber trotzdem – das war nicht alles…
„Bleib ruhig, Kind!“, schmeichelte ihr jetzt wieder die Blonde.
„Äh, danke, aber ich... muss zurück…“
Es war nicht nur die Hitze eines Fettnäpfchens. Das ungute Gefühl in ihr wurde immer deutlicher. Langsam ergriff sie Panik. Die drei Frauen waren ihr nicht geheuer, sie sprachen seltsam altmodisch und ihr Auftreten war schon fast… bedrohlich. Und sie kamen auf sie zu. Was sollte sie tun?
Sie musste von hier weg! Daran gab es keinen Zweifel!
Blitzschnell machte sie auf den Hacken kehrt und ging zur Tür. Mit einem letzten Blick über die Schulter, warf sie ein „Entschuldigen Sie die Störung!“ in den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.
Dann lief sie so schnell es ihre Füße zuließen.
˜
Sie lief und lief, aber der Tunnel wollte kein Ende nehmen. Sie musste wieder in ihr Zimmer zurück, weg von diesem sonderbaren Ort. Ihre Füße schmerzten bereits und ihre Lunge brannte, dennoch konnte sie jetzt nicht stehenbleiben.
Die blanke Angst saß ihr im Nacken. Wurde sie verfolgt? Angestrengt versuchte sie auf andere Geräusche als ihre eigenen, gehetzten Schritte zu lauschen. Alles ruhig. Warum auch sollten sie drei Sekretärinnen verfolgen? Eigentlich völlig irrational. Aber dieses Gefühl – dieses Gefühl, das sie erlebt hatte, als sie den Raum betrat…
Übelkeit stieg in ihr hoch. Eine nach der anderen gingen die dumpfen, kleinen Leuchten zu beiden Seiten des Gangs vor ihr an. Wann war sie endlich wieder bei der Geheimtür?
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Geschafft! Voller Erleichterung warf sie die Schranktüren hinter sich zu. Nach – so kam es ihr vor – einer Ewigkeit hatte sie das Ende des Geheimgangs erreicht und hektisch die Wand abgetastet. Jetzt wusste sie, dass das gar nicht nötig gewesen wäre. Man musste keine bestimmte Stelle suchen, an die man die Hand legte, es war völlig egal, Hauptsache man konnte seine Hand einen Moment lang ruhig und ohne zu zittern gegen das kühle Material halten.
Gar nicht so einfach. Zumindest nicht, wenn man das Gefühl hat, verfolgt zu werden. Aber irgendwie hatte sie es geschafft und war durch die schmale Öffnung zurück in ihr Zimmer gekrochen.
Sie atmete tief und möglichst langsam. Eigentlich war es doch unmöglich, dass ihr jetzt noch jemand folgte, oder? War ihr überhaupt jemand gefolgt? Waren die drei Frauen böse auf sie, weil sie so plötzlich hereingeplatzt war? Hatte sie sie bei etwas wichtigem gestört? Arbeiteten sie für ihren Onkel oder – waren sie vielleicht Spione? Und wenn ja, glaubten die drei, dass sie gelauscht hatte, dass sie etwas mitbekommen hatte von ihren Plänen? Und – zu guter Letzt – würden sie hierher kommen und sicherstellen, dass sie von ihrem Vorhaben nichts erzählen würde? Würden sie sie mundtot machen?
Halt! So konnte das nicht weitergehen! Bonnie konnte sich die Fragen nicht beantworten. Alles drehte sich in ihrem Kopf. Aber sollte sie sich deswegen verrückt machen? Wahrscheinlich war ihre Phantasie mit ihr durchgegangen und sie bildete sich das eh nur alles ein! Oder?!
Selbst wenn dem so wäre und sie die drei Frauen bei einer geheimen Mission ertappt hatte – nur mal um das durchzudenken – brauchte sie doch keine Angst zu haben. Schließlich waren ihre beiden Bodyguards stets bei Fuß.
Eigentlich ein beruhigender Gedanke. Aber eine leise, nicht zur Ruhe kommende Stimme in ihrem Inneren flüsterte ihr leise zu, dass selbst die starken Männer draußen vor ihrer Tür mit diesen drei Damen Probleme bekommen würden. Das war vermutlich die seltsamste Begegnung, die sie jemals gehabt hatte. Selbst im Vergleich zu dem nächtlichen Stelldichein mit den Gargoyles…
˜
Bonnie hielt es in ihrem Zimmer nicht mehr aus. Sie musste raus, sie brauchte Ablenkung und zwar dringend…
Also zog sie ihre Jeans wieder an, die sie auf das Fußende ihres Bettes geworfen hatte und schnürte die weißen Turnschuhe, die sie auch zuhause immer als Hausschuhe getragen hatte. Sie atmete nochmals tief durch, dann öffnete sie schwungvoll ihre Zimmertür. Draußen standen – als hätten sie nie etwas anderes getan – ihre beiden Leibwächter mit verschränkten Armen zu beiden Seiten der Tür. Als die Tür in ihrer Mitte aufgerissen wurde, blinzelten sie nur müde und folgten ihr dann wortlos den Flur entlang.
Endlich kannte sie sich im „Haus“ ihres Onkels ein bisschen aus! Der Gang, den sie schon in der ersten Nacht entlang geschlichen war, sah bei Tag weitaus einladender aus, wozu natürlich auch die vielen Malereien an den Seiten beitrugen. Heute würde sie aber nicht die Treppe nach unten in den Empfangsbereich nehmen, sondern sie ging geradeaus, vorbei an noch mehr Bildern und Gemälden, hüpfte ein paar Stufen hinunter und war schließlich in der Küche.
„Hallo Nancy!“, rief sie der älteren Dame mit der blaugemusterten Schürze freudig zu.
„Miss Bonnie, schön, dass Sie wieder hier sind!“, antwortete diese sogleich, während sie mit dicken Topflappen einen heißen, dampfenden Apfelkuchen aus dem Ofen nahm.
„Sagen Sie doch einfach Bonnie“, flüsterte das Mädchen ihr ins Ohr und zwinkerte verlegen. Sie war es nicht gewohnt, „Miss“ genannt zu werden und ihr war das irgendwie unangenehm.
„Wie Sie möchten, meine Liebe“, entgegnete Nancy und lachte warmherzig. Was für eine liebenswerte Nichte Mr. Xanatos doch hatte!
„Wie wäre es mit einem Stück frischgebackenem Apfelkuchen, Mylady?“, fragte sie nun das Mädchen.
Diese blickte sie mit zusammengezogenen Brauen an und ihr Mund öffnete sich leicht vor Empörung, bis sie den scherzhaften Unterton in der Stimme der älteren Dame erkannte. Sie lächelte, tat so, als würde sie die Schleppe eines langen Kleides heben und deutete einen Knicks an.
„Sehr gern, mein Fräulein“, antwortete sie und brach sogleich in schallendes Lachen aus.
Während sie am Küchentisch Platz nahm, schnitt Nancy ihr wohlwollend ein gutes Stück aus dem noch dampfenden Kuchen und gab großzügig kühle Sahne darüber.
„Lassen Sie es sich schmecken!“, zwinkerte sie ihr zu.
„Vielen Dank, Nancy!“
Vorsichtig kostete sie den Kuchen. Er war wirklich köstlich! Nur die Tatsache, dass er noch sehr heiß war, hielt sie davon ab, ihn gleich in einem Happs zu verschlingen.
Sie hatte kaum die Hälfte des Stücks genießen können, da schneite erneut – schon zum zweiten Mal an diesem Tag! – Owen herein. Mit einem knappen Kopfnicker in Richtung der Haushälterin wandte er direkt das Wort an Bonnie.
„Guten Abend! Soeben haben mich Ihre Eltern telefonisch kontaktiert. Sie sind wohlbehalten angekommen und wünschen, dass Sie sie in einer halben Stunde in Ihrem Hotel anrufen. Hier, ich habe Ihnen die Nummer notiert!“
Er reichte ihr einen kleinen, säuberlich gefalteten weißen Zettel. Aufgeregt nahm sie ihn entgegen. Endlich! Sie hatte sich schon gefragt, was ihre Eltern wohl die ganze Zeit über trieben! Schnell entfaltete sie das Papier. Eine Nummer stand da, darunter der Name des Hotels. Mercury Island. Danach eine weitere Zahlenkombination, die vermutlich die Durchwahl, also die Zimmernummer war.
„Vielen Dank, Owen!“, erwiderte sie freundlich.
„Sie können das Telefon im hiesigen Wohnraum nutzen“, entgegnete dieser, nickte erneut und machte ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrt, um zu seiner Arbeit zurückzukehren.
Kaum war Owen verschwunden, sah Bonnie auf die Küchenuhr an der Wand. Es war fünf nach halb sechs. Das heißt, um sechs sollte sie ihre Eltern anrufen. Sie konnte es kaum erwarten.
7. Kapitel: Eine alte Geschichte
„Bonnie, Schatz, schön, dass du dich meldest!“
Ihre Mutter klang wie immer: Ein bisschen aufgeregt wie ein gackerndes Huhn, das gerade über den Hof gescheucht wird und sich dabei lautstark über diese Frechheit beschwert. Aber es lag kein gereizter Unterton in ihrer Stimme – nicht mehr.
Die letzten Wochen zuhause waren da anders gewesen. Häufiger als sonst war sie mit ihrer Mutter aneinander geraten. Aber das war sicher nur der Stress des Umzugs gewesen. Ihre Eltern mussten beruflich verreisen und diese Nachricht ereilte sie ziemlich plötzlich. Innerhalb von drei Wochen musste alles geklärt sein: Wo die neue Arbeitsstätte sein sollte, wo ihre Eltern wohnen konnten, wer ihr Ansprechpartner vor Ort war, und und, und. Ganz von der Tatsache abgesehen, wer sich in ihrer Abwesenheit um Bonnie kümmern sollte.
Die letzten Jahre hatte sie auf einem Internat verbracht, welches sie vor ihrer Abreise erfolgreich mit dem GCSE, dem General Certificate of Secondary Education, abgeschlossen hatte. Jetzt wollte sie das College anschließen, um ihre A-Levels abzulegen. Allerdings bot die neue Arbeitsstätte in Brasilien keine Möglichkeit, in einer nahegelegenen Stadt eine entsprechende Schule zu besuchen. Nach einigem Hin- und Herüberlegen wurde vereinbart, dass Bonnie zu ihrem Onkel ziehen konnte, zunächst für ein Jahr, denn so lange sollten auch ihre Eltern im Ausland weilen. Vielleicht aber auch länger, wenn sie das College komplett hier in New York abschloss…
Ende letzter Woche war sie aus England abgereist, heute war ihr dritter Tag in New York. Der Flug ihrer Eltern ging erst einen Tag später und natürlich dauerte es ziemlich lange, um nach Brasilien zu fliegen, sodass sie jetzt erst Zeit gefunden hatten, sich bei ihr zu melden.
„Hi Mum, wie geht’s euch? Wie war der Flug?“
„Bestens, Schatz, alles hat wunderbar geklappt. Vor drei Stunden etwa sind wir gelandet und jetzt haben wir’s endlich in unser Hotel geschafft! Nun ja, wir bleiben hier ja nur ein paar Tage, bis das Bungalow, dass uns die Firma zur Verfügung stellt, frei wird.“
Ihre Eltern arbeiteten bei einer Technikkonzern, die in den nächsten Monaten einen neuen Standort in Brasilien errichten wollte. Da beide im Management tätig waren, hatte sie ihr Chef beordert, ein Auge auf die Entwicklung des neuen Tochterkonzerns zu werfen und ihm durch mögliche Anfangsschwierigkeiten zu helfen. Wenn dies geschafft wäre, könnten sie wieder nach Hause zurückkehren…
„Wie ist euer Hotel? Seid ihr jetzt mitten im Dschungel?“, fügte Bonnie scherzhaft hinzu.
„Aber nein, Liebes, du wirst es nicht glauben, aber wir wohnen mitten in einer riesigen Stadt. Überall nur Hochhäuser um uns herum. Aber in der Ferne sieht man ein paar grün bewachsene Berge, vielleicht fängt dort der Urwald an“, antwortete ihre Mutter gut aufgelegt. „Auch das Hotel ist ein großer Komplex. Ich bin froh, wenn wir das Bungalow beziehen können.“
Ein Bungalow kam ihren Eltern sicher entgegen. Daheim in England wohnten sie in einem Cottage in einer ziemlich ländlichen Gegend, obwohl ihre Eltern mitten in der Stadt arbeiteten. Ihre Nachbarn, die jetzt im Laufe des Jahres in ihrem Haus nach dem Rechten sehen sollten, hielten ein paar Schafe und Hühner, es war schon fast wie ein Bauernhof. Um sie herum gab es nur wenige andere Häuser, aber große Wiesen mit hohem Gras, das nie gemäht wurde und langgestreckten Waldzügen. Ein paar Meilen weiter zog ein tosender Fluss sein blaues Band durch die Landschaft. Dort am Ufer zu sitzen, das Rauschen des Wassers in den Ohren, den Wind in den Haaren und ein herber Geruch nach wilden Kräutern in der Nase, das war Bonnies Lieblingsplatz gewesen.
Wie anders war da doch New York! Seit ihrem unfreiwilligen, nächtlichen Ausflug hatte sie das Eyrie Building nicht wieder verlassen, aber ihr Balkon gewährte ihr einen Blick auf eine geschäftige, aber dennoch irgendwie trostlose Stadt. Alles war grau, sogar der Großteil der Autos. Die Straßen, die Wege, sogar die Bäume waren einbetoniert. Natürlich gab es Dutzende an Einkaufscentern, schicken Modeboutiquen und Bars, aber selbst diese schillernden Farben konnten den Mantel von Trist und Anonymität nicht überdecken.
„Und wie gefällt es dir in New York, Bonnie? Ist doch sicher eine aufregende Stadt, oder? Bist du gut angekommen?“
„Oh, ja, klar.“ Ihr Onkel hatte sie darum gebeten, ihren Eltern nichts von den nächtlichen Vorfällen oder den Sicherheitsmaßnahmen zu erzählen. Du weißt doch wie schreckhaft meine Schwester ist, das würde sie furchtbar verängstigen und sie könnte bei der Arbeit keinen klaren Gedanken mehr fassen, war er überzeugt gewesen. Vermutlich hatte er Recht. Sie wollte ihre Eltern nicht beunruhigen. Außerdem, wer würde ihr die Geschichte schon glauben?
„Ich bin auch… gut angekommen.“ Ein kurzer Flashback an jene Nacht durchfuhr sie wie ein Blitz, doch sie schüttelte ihn ab.
„New York sieht voll… interessant aus! So viele Menschen auf einen Haufen.“ Und nicht nur Menschen…
„Das wird sicher ein tolles Jahr“, schloss sie etwas lahm.
Ihrer Mutter entging das natürlich nicht. Sie seufzte.
„Bonnie, es tut mir so leid, dass wir dich nicht mitnehmen konnten. Aber der Job, die neue Stadt, keine Schule in der Nähe…“
„Mum, ich weiß doch. Mach dir keinen Kopf. Ich komm hier klar“, versuchte sie ihre Mutter zu beruhigen.
Im Hintergrund hörte sie plötzlich ein lautes Schnaufen und ein Geräusch, als würde etwas Schweres über den Boden gezogen.
„Oh Bonnie, dein Dad ist auch endlich mit den letzten Gepäckstücken da. – Duncan, warum hat dir denn keiner mit den Koffern geholfen?“
Dumpf hörte sie die Stimme ihres Vaters, die – sonst immer ruhig und besonnen – jetzt eher hektisch und genervt klang.
„Ich habe keinen von den Gepäckträgern gefunden. So ein Saftladen! Wann ziehen wir in unser Bungalow ein, Isabelle?“
„In ein paar Tagen. – Gut, Bonnie, ich werde deinem Vater jetzt beim Auspacken helfen. Grüß David von mir! Bis später, mein Schatz.“
„Ja, mach ich. Ciao, Mum. Und gib Dad ein Küsschen von mir.“
˜
Eine Stunde später saß Bonnie wieder in ihrem Zimmer. Das Telefonat mit ihren Eltern war immerhin ein bisschen erbaulich gewesen, wenigstens war ihre Mutter nicht mehr so gereizt, wie vor dem Umzug. Sie hatten jede Menge zu tun gehabt und waren jetzt vermutlich einfach froh, den Großteil geschafft zu haben und Bonnie in guten Händen zu wissen.
Zu Onkel David hatte ihre Mutter schon immer ein sehr gutes Verhältnis gehabt. Auch als sie nach der Heirat nach England, das Heimatland ihres Vaters, gezogen war, waren sie immer in Kontakt geblieben. So viel es die Arbeit eben erlaubte. Selbst der Reichtum, den sich ihr Onkel in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren erwirtschaftet hatte, war nie zwischen ihnen gestanden.
Langsam dämmerte es draußen. Bonnie hatte Lust, ein bisschen frische Luft zu schnappen. Außerdem würde ihr neuer Begleiter sicher gleich ankommen. Ob sie ihn wohl sehen konnte, wie er durch die Luft flog und schließlich auf ihrem Balkon landete?
˜
Sie stand schon eine ganze Weile dort draußen und nichts passierte. Kam er heute nicht? Bei diesem Gedanken empfand sie eine leichte Enttäuschung, fast als hätte sie sich darauf gefreut. Irgendwie schade. Aber sie gab die Hoffnung noch nicht auf.
Inzwischen war die glühende Sichel der Sonne am Horizont verschwunden und die weitverstreuten Straßenzüge, die vorher noch einen rötlichen Überzug hatten, tauchten in das graublaue Meer der Nacht. Sie fröstelte. Wenn er nicht bald kam, würde sie doch wieder hineingehen, hier draußen war es – nur mit T-Shirt bekleidet – entschieden zu kalt.
Die Minuten verstrichen und ein dumpfes Gefühl machte sich in ihr breit. Nun, dann… Doch plötzlich hörte sie ein leises Surren, das in der Luft lag. Das war doch gerade noch nicht dagewesen! Sie blickte sich um, konnte im Dickicht der Dunkelheit aber nichts erkennen. Das Geräuschwurde etwas lauter und
Schwoll zu einem Zischen an.
Was war das? Bedrängt tastete Bonnie sich Richtung Tür. Das Ganze war ihr nicht mehr geheuer. Sie sollte besser reingehen. Just in diesem Moment hörte das Zischen auf und sie glaubte in der Dunkelheit einen schemenhaften Umriss zu erkennen, der auf dem Geländer saß. Als dieser sich nun langsam auf sie zubewegte, glaubte sie, ihr Herz würde stehenbleiben.
˜
„Bonnie, was machst du hier draußen?“
Seine tiefe, raue Stimme schnitt durch die Nacht. Das Mädchen vor ihm stand an die Wand gedrängt, völlig erstarrt, ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Nach einer Weile und immer noch blass um die Nasenspitze herum antwortete sie zögerlich:
„Ich habe auf dich gewartet…“
Er seufzte leise.
„Aber Bonnie, du kannst doch nachts nicht einfach allein hier draußen sein. Das ist gefährlich! Auf so eine Gelegenheit wartet Demona doch nur!“
Und wieder beschlich ihn so ein ungutes Gefühl. Nicht nur, dass er den dringenden Verdacht hatte, dass hinter der ganzen Angelegenheit mehr stecken könnte als es offensichtlich aussah, nein, jetzt wurde die Kleine auch noch leichtsinnig…
Sanft, aber bestimmt nahm er sie bei den Schultern und bugsierte sie in ihr Zimmer hinein. Eine neue Nacht als Babysitter hatte begonnen.
˜
Allmählich erlangte sie ihre Fassung wieder. Innen war es warm und so tauten ihr Geist und ihre vor Schreck und Kälte versteiften Arme und Beine wieder auf. Sie hatte das kleine Lämpchen auf ihrem Nachttisch angeknipst, welches ein dämmriges, heimeliges Licht in das Schlafzimmer warf.
Noch immer war sie etwas benommen. Eine Augenblick lang hatte sie gedacht, dass sich der Schreck wiederholen würde und all die Bilder hatten sie wieder eingeholt, sodass ihr im wahrsten Sinn des Wortes der Atem gestockt war. Aber es war nichts passiert. Niemand hatte sie angegriffen. Das war ihr Beschützer, ihr Bodyguard, der gerade eben auf ihrem Balkon gelandet war.
Immer wieder versuchte sie, diese Sätze in ihrem Kopf zu wiederholen. Trotzdem zitterte sie und das nicht nur vor Kälte. Ja, er hatte Recht, das war leichtsinnig gewesen. Durfte sie sich jetzt gar nicht mehr aus dem Haus trauen? Würde diese Demona sie nie in Ruhe lassen, bis sie hatte, was sie wollte, dieses Emirion?
Der Gargoyle stand zwei, drei Meter von ihrem Bett entfernt und beobachtete sie aus seinen scharfen Augen. Sicher sah er, dass sie aufgewühlt war, aber er sagte nichts. Wortlos schlang sie sich ihre Bettdecke um die Schultern, um das Zittern zu verbergen. Sie blickte zu Boden, sie wusste nicht, was sie zu ihm sagen sollte.
Nach einiger Zeit – oder kam ihr das nur so vor? – löste er sich aus seiner Starre. Langsam kam er auf sie zu und blieb in gebührendem Abstand stehen, wo er sich schließlich auf dem Boden niederließ. Lange Zeit sagte er gar nichts, sondern blickte ebenfalls zu Boden. Nur ab und an warf er einen flüchtigen Blick zu ihr hinauf. Vielleicht war schon eine halbe Stunde vergangen, als er endlich das Wort an sie richtete:
„Bonnie, warum bist du eigentlich nach New York gekommen?“
„Ich verbringe ein Jahr bei meinem Onkel, das habe ich doch schon gesagt“, antwortete sie überrascht.
„Und warum bist du nicht bei deinen Eltern?“
„Meine Eltern machen gerade eine Geschäftsreise und sie konnten mich nicht mitnehmen. Wieso willst du das wissen?“
„Nun, vielleicht wäre es besser, wenn du die Stadt verlässt. Wenn du nicht ständig in Demonas Reichweite bist. Obwohl…“, schloss er leise.
„Obwohl was? Meinst du, sie würde mir folgen?“, fragte sie zittrig.
„Ja, da wäre ich mir ziemlich sicher. Demona hat dich im Visier – weshalb auch immer“, fügte er mit einem zögerlichen Blick hinzu. „Aber je weiter weg du von dieser Stadt kommst, umso besser.“
„Aber ich kann hier nicht weg. Ich habe sonst niemanden“, gab sie zu.
„Was ist mit deinen Verwandten?“
„Ich habe keine – außer Onkel David. Weißt du“, mit einem sorgfältigen Seitenblick sah sie ihn an, „ich erzähle das sonst nicht so häufig, aber meine Eltern sind eigentlich gar nicht meine Eltern.“
Entgeistert sah er sie an und so fuhr sie äußert zögerlich fort.
„Was ich meine ist: Ich bin adoptiert worden. Ich war damals noch ganz klein, vielleicht ein oder zwei Jahre, und habe in einem Waisenhaus gelebt. Wer meine leiblichen Eltern waren, weiß niemand, ich wurde einfach dort abgegeben. Eines Tages kamen Isabelle und Duncan, also meine wirklichen Eltern. Sie konnten keine eigenen Kinder bekommen und haben mich deswegen adoptiert.“
„Das tut mir Leid“, sagte er leise.
„Das braucht es nicht“, lächelte Bonnie. „Ich hatte echt Glück, denke ich. Ich hatte schon immer ein tolles Verhältnis zu meinen Eltern, richtig freundschaftlich, naja, meistens jedenfalls. Die letzten Jahre habe ich in einem Internat verbracht, weil sie häufig geschäftlich unterwegs waren. Sie arbeiten bei einer Firma, die sich um Technik kümmert, musst du wissen.“
Er nickte verständnisvoll.
„Aber jetzt bin ich zu alt, um nochmal in ein Internat zu gehen. Eigentlich wollte ich auch öfter zu Hause sein und in einer Schule in unserer Nähe meinen Abschluss machen. Dann kam ganz plötzlich der Auftrag – und meine Eltern mussten kurzfristig nach Brasilien. Und Onkel David war so freundlich, sich während ihrer Abwesenheit um mich zu kümmern.“
Eigentlich wusste sie gar nicht so recht, warum sie ihm das alles erzählte. Er kannte sie überhaupt nicht – er war ja nicht mal ein Mensch! Vielleicht konnte er das Ganze ja auch gar nicht verstehen. Wusste er denn wie Menschen zusammenleben? Dass es Familien gibt? Wie war das bei Gargoyles?
„Also, wie gesagt, ich bin im Prinzip ganz froh, dass Onkel David mich bei sich aufgenommen hat. Natürlich fühlt es sich nicht an wie Zuhause. Aber es ist ja nicht für immer. Ich werde hier auf ein College gehen, hier sagt man auch High School dazu. Wahrscheinlich nur für ein Jahr, so lange wie meine Eltern eben im Ausland sind. Vielleicht auch etwas länger, falls ich meinen Abschluss auch in New York machen sollte. Aber das steht alles noch in den Sternen.“
Zaghaft lächelte sie ihn an. Er tat nichts weiter, als sie mit seinen großen, dunklen Augen anzusehen, aber Bonnie glaubte zu spüren, dass er verstehen konnte, wie sie sich fühlte.
„Aber momentan habe ich erst noch Ferien“, erklärte sie jetzt wieder besser aufgelegt und hüpfte behänd von ihrem Bett herunter. Sie wandte ihm den Rücken zu und ging Richtung Glastür. Die Nacht war inzwischen weiter fortgeschritten und der Mond kletterte allmählich hell und klar den Himmel hinauf. Bald war Vollmond.
Eine Zeit lang blieb sie stumm und blickte in die Dunkelheit hinaus. Sie ließ ihre Gedanken schweifen…
Dennoch war es ziemlich unhöflich, ihren Gast so zu ignorieren. Langsam wandte sie sich von der Türe ab und ging zurück. Sie wollte sich schon auf ihr Bett setzen, als ihr plötzlich eine Idee kam. Geschwind lief sie zu ihrem Bücherregal und zog ein dickes, schweres Band heraus. Mit diesem an ihre Brust gedrückt näherte sie sich behutsam ihrem Wächter.
Mit prüfenden Blicken versicherte sie sich, dass sie ihm nicht zu nahe trat, dann setzte sie sich in respektvollem Abstand neben ihn auf den Boden. Auf ihren Knien schlug sie den alten, roten Ledereinband auf und betrachtete fast zärtlich die erste Seite.
Es war ihr Fotoalbum. Ihr treuer Begleiter, an dem sie fast so sehr hing, wie an ihrer Kette. Die erste Seite war zugleich ihre liebste: Ein einziges, großes Foto prangte mitten in der Seite, darunter stand in kleiner, sorgfältiger Handschrift „Juni 1982“. Es zeigte eine junge Familie – Vater, Mutter und ein Kleinkind – die alle drei über ihre schwarz-weißen Wangen strahlten. Sie saßen auf einer niedrigen Holzbank direkt vor den Mauern eines alten Gebäudes und lachten fröhlich in die Kamera.
Ein neues Leben hatte damals begonnen.
Auch jetzt – das spürte Bonnie ganz deutlich – stand sie vor einem neuen Abschnitt ihres Lebens. Ein ganzes Jahr ohne ihre Eltern – sie würde langsam erwachsen werden müssen.
Die Augen immer noch auf die Photographie gerichtet, wandte sie sich nun ihrem Gast zu.
„Das war unser erstes gemeinsames Foto“, erklärte sie ihm gedankenversunken.
Interessiert betrachtete er es. Die kleine Familie wirkte sehr friedlich auf ihn, dennoch spürte er einen leisen Stich in seinem Herzen. So fröhlich sie auch aussahen, es war eine Illusion. Sie waren keine Familie, sondern nur eine kleine Gruppe von Menschen, die sich aneinander klammerten, um den Halt nicht zu verlieren. Sie waren aufeinander angewiesen, sie brauchten einander um zu Überleben. Wie gut bekannt war ihm doch dieses Gefühl!
„Ich kann verstehen, wie wichtig das für dich ist“, gab er leise zu. Mehr wollte er nicht sagen. Die Erinnerung hatte sich zu tief eingebrannt. Sie hervorzuholen traute er sich nicht alleine. Es war besser, sie in den Tiefen seines Gedächtnisses verschwinden zu lassen – dorthin, wo so schnell kein Gedanke die Oberfläche kräuseln würde.
Aber er hatte seine Rechnung ohne das neugierige Mädchen an seiner Seite gemacht.
„Wie ist das eigentlich bei euch? Leben Gargoyles auch zusammen – als Familien?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme. Trotzdem klang es sehr eindringlich. „Und warum bist du eigentlich nie tagsüber hier?“
Das Letzte hörte sich fast wie eine Bitte an.
Er seufzte und schloss langsam die Augen.
„Das ist eine sehr alte und ziemlich lange Geschichte…“, antwortete er zögerlich. Sollte er wirklich darüber reden? Ein dumpfer Schmerz begann in seinem Inneren zu pochen. Er war überwältigend und nur mit Mühe konnte er ihn im Zaum halten. Heftig atmete er ein und aus.
„Würdest du sie mir erzählen?“, fragte Bonnie vorsichtig. Sie konnte förmlich spüren, wie ergriffen er war. Sollte sie ihn trotzdem dazu drängen, es ihr zu verraten? Sie möchte so gern mehr über ihn wissen…
Eine Weile herrschte reglose Stille in dem kleinen, halbdunklen Raum. Nur das Licht des Lämpchens flackerte kurz auf. Es dauerte eine kurze Ewigkeit, bis er sich schließlich dazu durchrang:
„Ja, warum nicht?“, antwortete er mit einem scheuen Seitenblick. Es bereitete ihm sichtliche Qualen, darüber zu reden, das merkte Bonnie sofort. Langsam und mit Bedacht legte er sich seine Worte zurecht, ehe er zu sprechen anfing:
„Alles begann im Jahre 994. Unser Clan lebte damals auf einer Burg in Schottland zusammen mit einer Schar von Menschen. Wir waren zu dieser Zeit eine große Gruppe, viele Gargoyles unterschiedlicher Generationen, die friedlich Seite an Seite mit den Menschen lebten. Sie beschützten die Burg tagsüber und wir sie bei Nacht. Denn des Tages werden wir zu Stein, wir sind hilflos und auf Schutz angewiesen.“
„Ihr werdet tagsüber zu Stein?“, fragte Bonnie verblüfft. „Und nachts seid ihr… lebendig?“
„Ja, ich denke, so kann man das nennen“, erwiderte ihr Beschützer lächelnd.
„Deswegen bist du nur nachts hier!“ Allmählich ging ihr ein Licht auf.
„Wir erlebten damals eine gute Zeit“, fuhr Brooklyn nun fort. „Die Burg war unser gemeinsames Heim und jeder tat sein Bestes, um sie zu bewachen. Goliath war schon damals unser Anführer, nachdem er diese Aufgabe von Hudson übernommen hatte. Doch obwohl wir so in Eintracht mit den Menschen lebten, waren ihre Ansichten nie die unseren.“
„Was heißt das – dass ihr unterschiedliche Ansichten hattet?“, unterbrach ihn Bonnie erneut.
„Gargoyles sind nicht wie Menschen. Die Menschen streben nach Macht, nach Reichtum und Einfluss. Sie mehren ihre Besitztümer und versuchen, neue Länder zu erobern. Gargoyles kennen solche Ziele nicht. Sie sind nicht interessiert an Wohlstand oder Besitz. Wir sind zwar Krieger, aber wir leben um die Schwachen zu beschützen und um für das Wohl unseres Clans zu sorgen. Dennoch fürchten, ja verabscheuen uns die meisten Menschen.“
„Sie verabscheuen euch, obwohl ihr sie beschützt?“, fragte Bonnie nach. Den Aspekt, dass die Menschen sich vor ihnen fürchten, brauchte sie nicht unbedingt zu hinterfragen.
„Ja, das war schon immer so“, fügte Brooklyn traurig hinzu. „Eines Nachts im Jahre 994….“
„Das war vor über tausend Jahren!“, protestierte Bonnie. Sie glaubte, sich verhört zu haben – obwohl er gerade von einer Burg geredet hatte...
„Ihr seid doch nicht wirklich schon so alt, oder?“, zweifelte sie leise.
„Nun lass mich doch erzählen. Also, eines Nachts im Jahre 994 wurde Burg Wyvern von Wikingern belagert. Es stand schlecht um uns und nur mit den vereinten Kräften von Menschen und Gargoyles konnte die Katastrophe in letzter Minute abgewendet werden. Aber wir wurden hintergangen. Der Hauptmann der Streitkräfte schloss insgeheim einen Pakt mit dem Anführer der Wikinger. Er selbst wollte über die Burg regieren, im Gegenzug überließ er es dem Wikingerfürsten. Prinzessin Katharine, die damals über Burg Wyvern herrschte, zu seiner Frau zu machen. So kehrten die Wikinger kurz nach ihrem ersten Angriff zurück – nicht in der Nacht, sondern tagsüber als wir Gargoyles schutzlos schliefen. Die Menschen waren ihnen fast sofort unterlegen. Die Wikinger wiederrum entführten die Prinzessin, plünderten die Festung und zertrümmerten fast den ganzen Clan.“
Mühsam waren diese Worte über seine Lippen gekommen. Kurz schloss er die Augen vor Schmerz – so lange schon hatte er nicht mehr an diese schreckliche Nacht vor so vielen Jahrhunderten gedacht. Damals, als sie wirklich noch eine große Familie hatten, als sie noch nicht die letzten ihrer Art waren…
Bonnie hingegen beschlich eine deprimierende Vorahnung.
„Zertrümmerten…? Du meinst, sie…“
„Ja, sie waren alle tot. Wie durch ein Wunder haben wir sechs überlebt – genauso wie Demona und das letzte Gelege.“
„Gelege?“, fragte sie verwirrt.
„Unser Nachwuchs“, erklärte Brooklyn betreten und fuhr leise fort. „Doch das war noch nicht alles. Als die Nacht hereinbrach und wir inmitten von Feuer und Trümmern erwachten, verfluchte uns der Magus, seinerzeit Hofmagier von Prinzessin Katharine. Er glaubte, wir wären Schuld an der Entführung der Prinzessin, aber er lag falsch. Die Wikinger hatten sie bereits gefangen und wollten mit ihr durch die Wildnis flüchten. Goliath und Hudson, die den Anführern der Wikinger als Einzige nachstellten, fanden sie gerade noch rechtzeitig und konnten sie vor ihrem traurigen Schicksal bewahren. Doch als er mit ihr zurückkam, war es schon zu spät. Der Zauber war bereits gesprochen.“
„Er hat euch verzaubert? Der Magus? Was hat er getan?“
Diese Geschichte wurde ja immer unglaublicher, dachte sie verblüfft. Als ob eine Horde Fabelwesen mitten in New York nicht schon genug gewesen wäre, nein, jetzt war auch noch Zauberei mit im Spiel. Trotzdem – sie glaubte nicht, dass alles nur erfunden war… Vielleicht war es ja wirklich so wie er erzählte, aber um sich das eingestehen zu können – müsste sie noch eine Nacht darüber schlafen, mindestens eine…
„Er ließ uns versteinern, bis sich die Burg über die Wolken erhebt. Als Goliath die Prinzessin wohlbehalten zurückbrachte, musste der Magus sich eingestehen, dass er einen Fehler gemacht hatte. Doch es gab keinen Gegenzauber, der diesen Fluch brechen konnte. So sah Goliath keine andere Möglichkeit, als sich ebenfalls mit dem Zauber belegen zu lassen, um gemeinsam mit uns zu erwachen – wenn das je geschehen sollte.“
„Gruselig“, wisperte Bonnie und ein Schauder rann ihren Rücken hinab. Plötzlich war ihr kalt und ihr wurde bewusst, dass ihre Beine vom langen Sitzen auf dem harten Boden wehtaten. Mühsam rappelte sie sich auf, legte das Fotoalbum auf ihren Nachttisch und kuschelte sich wieder in ihr Bett. Auf dem Bauch liegend, das Kinn auf ihre Arme gestützt und die weiche Decke über sich, kam ihr diese Welt voller Zauberern, Prinzessinnen und alten Burgen unendlich weit weg vor. Und doch war es einmal geschehen. Der lebend Beweis saß vor ihren Augen.
Eine kurze Stille trat ein, während Bonnie eintausend Fragen durch den Kopf schossen. Eine davon war sehr einprägsam und düster, doch sie stellte eine andere.
„Wie leben Gargoyles denn so? Ist eure Leben ähnlich zu dem von uns Menschen?“
Brooklyn lächelte und erwiderte: „Gargoyles und Menschen sind sich in gewisser Weise ähnlich und doch sind sie grundverschieden. Beide Rassen müssen essen, um zu überleben und beide leben in Familien – wie ihr sie nennt – zusammen. Aber ein Gargoyles-Clan ist anders: Wir haben einen Anführer, der für sehr viele seiner Art verantwortlich ist. Unser Gelege gehört dem ganzen Clan, so betrachten alle jungen Gargoyles den Clan als ihre Eltern und nicht nur einzelne von uns. Und natürlich sind unsere Sinne weitaus schärfer als die eines Menschen – wir hören besser und können mühelos im Dunkeln sehen. Ach ja, und da wäre wohl noch der wichtigste Unterschied: Während ihr tagsüber wach seid und in der Nacht schlaft, ist es bei uns gerade umgekehrt. Unser Schlaf hilft uns nicht nur dabei, uns von Schlachten zu erholen, er lässt auch unsere Verletzungen schneller heilen, als es sonst möglich wäre.“
„Wow, du weißt ja ganz schön gut über uns Menschen Bescheid“, sagte Bonnie anerkennen.
„Elisa hat uns einiges darüber erzählt“, gab er zu. „Also über das Leben, das die Menschen heute führen. Früher war es sicher etwas anderes, wenn auch in seinen Grundzügen ähnlich.“
Wieder wurde es still in dem kleinen, dunklen Raum und Bonnie begann zu grübeln.
Früher, das war im Mittelalter. Als die Menschen noch auf Burgen lebten oder in Schlössern. Zumindest wenn man eine Prinzessin war. Eine Prinzessin, die auf einer riesigen alten Burg lebte, zusammen mit ihrem Gefolge und einem Clan von Gargoyles, die des Nachts zum Leben erwachen, um die Menschen zu beschützen.
Und mit diesen Gedanken schlief Bonnie ein.
8. Kapitel: Eine lange Nacht
Verdammt! Das konnte doch nicht wahr sein! Missmutig setzte Bonnie sich auf. Eine Woge ihres langen, ungekämmten Haares fiel ihr ins Gesicht. Ungeduldig strich sie es nach hinten und rieb sich die Augen. Sie lag in voller Montur quer in ihrem Bett. Einen Wecker glaubte sie nicht gehört zu haben, wahrscheinlich hatte sie sich auch gar keinen gestellt gestern Abend.
Gestern Abend. Gestern Nacht. Er hatte ihr etwas Wichtiges erzählt – seine Geschichte, die Geschichte der Gargoyles. Und sie war dabei eingeschlafen! Sie konnte es kaum fassen! Er musste sie für mehr als unhöflich halten – mal ganz davon abgesehen, was sie wohl verpasst hatte?!
Mit einem Satz war sie aus dem Bett. Immer noch schlaftrunken griff Bonnie sich ein paar frische Klamotten aus dem Schrank. Sie brauchte dringend eine Dusche – und einen klaren Kopf!
˜
Eine halbe Stunde später stand sie schon nicht mehr so sehr neben sich. Nancy spendierte ihr ein spätes, aber großzügiges Frühstück und berichtete allerlei Schwank, während sie mit den Küchenutensilien klapperte. Diese Geräusche wirkten irgendwie verstörend auf Bonnie und sie konnte sich kaum auf die Unterhaltung konzentrieren. Bei einem Punkt hörte sie allerdings genauer hin.
„Onkel David ist heute nicht da?“
„Nein, er ist heute Morgen nach Kalifornien geflogen. Sie wissen schon, diese Computer-Konferenz. Da muss er natürlich auf dem neuesten Stand sein, bei diesen Technik- … Angelegenheiten. Er arbeitet ja schließlich damit.“
„Ja, richtig“, murmelte Bonnie in ihr Brötchen hinein. „Und Owen?“
„Owen begleitet ihn selbstverständlich. Er ist doch sein treuster Berater und managt die wichtigsten Angelegenheiten, die Mister Xanatos selbst nicht erledigen kann. Aber keine Sorge – in drei, vier Tagen sind sie ja wieder zurück.“
„In drei Tagen erst?“ Besorgt sah Bonnie in das rundliche, liebenswerte Gesicht der Haushälterin. „Und was ist, wenn…“ Sie brachte ihren Satz nicht zu Ende.
Aber Nancy beschwichtigte sie rasch. „Das ist nicht besonders lang. Sie werden sehen, die Zeit vergeht wie im Fluge. Also machen Sie sich keine Gedanken.“
Bonnie war noch nicht überzeugt. Zaghaft biss sie in ihr Brötchen. Ihre Sicherheit schwand. Drei Tagen waren eine Menge Zeit. Vor allem, wenn man Demona hieß…
˜
Der Rest des Tages zog in weitschweifigen Bahnen vorbei. Immer mehr fühlte Bonnie sich wie in einem Gefängnis – ein großes Gefängnis zwar und ziemlich luxuriös, aber trotzdem…
Ihre beiden Bodyguards folgten ihr stets, wohin sie auch ging. So tigerte sie von einem Ende des goldenen Käfigs zum anderen ohne ein richtiges Ziel zu haben. Sie besuchte Nancy in der Küche und einmal lief ihr auch James über den Weg, der sich über die freien Tage sichtlich freute.
Dennoch konnte sie seine Freude nicht teilen, was sie sich natürlich nicht zu zeigen traute. Eigentlich hatte sie ihren Onkel fragen wollen, ob sie in den nächsten Tagen mal die Stadt besichtigen durfte. Auch wenn diese von hier oben so trostlos aussah, so war dort doch Leben, in das sie eintauchen konnte. Leben und andere Menschen und eine Ablenkung von den letzten Ereignissen…
Bonnie zuckte zusammen, als hinter ihr plötzlich eine Tür krachend ins Schloss fiel.
Scheinbar würde sie sich noch etwas gedulden müssen.
˜
Allmählich machte sie sich echte Sorgen um ihren Gesundheitszustand. Bei jedem lauten Geräusch, jedem Zischen oder Klappern zuckte sie verstört zusammen und ihr Herz begann zu rasen. So kannte sie sich selbst gar nicht! Und je länger ihr Onkel weg war, desto schlimmer wurde es.
Vielleicht brauchte sie auch nur ein bisschen Ruhe. Und sie beschloss, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen.
˜
Endlich brach der Abend an! Bonnie stand vor der Tür zum Balkon und lugte vorsichtig durch die Chiffon-Vorhänge. Die Sonne begann bereits mit dem Horizont zu verschmelzen, ihr gleißend rotes Licht breitete letzte warme Strahlen über die Dächer der Hochhäuser aus. In der Ferne zogen ein paar Wolken auf, die ebenfalls in blutrote Schleier getaucht wurden. Ein kräftiger Wind fegte sie vor sich her und blies lebhaft gegen das Glas. Einige Regentröpfchen strauchelten auf der Scheibe und rannen in dünnen Bächen hinunter.
Er wird doch kommen, oder?, versuchte sich Bonnie in Gedanken zu beruhigen. Nicht nur dass sie sich auf Gesellschaft freute, sie fieberte außerdem dem Ende der Geschichte entgegen. Hoffentlich hatte sie gestern nicht zu viel verpasst, als sie der Schlaf übermannt hatte...
˜
Ein paar Minuten später. Die Sonne war fast aus ihrem Blickfeld verschwunden, nur noch ein kleiner, halbrunden Rand lugte zwischen den Fassaden hindurch.
Wann kam er endlich? Ungeduldig drehte sie nun Runde um Runde in ihrem Zimmer. Er musste einfach kommen, er war doch ihr Bodyguard. So war es doch ausgemacht, oder? Oder konnte er einfach wegbleiben…?
Zweifel drängten sich in ihr Bewusstsein. Kam ihm etwas dazwischen? Gab es vielleicht wichtigere „Aufträge“ für ihn? Aber Bonnie schüttelte energisch den Kopf, als könnte ihr das helfen, die beißenden kleinen Stimmen in ihrem Kopf loszuwerden.
Wir leben, um die Schwachen zu beschützen. Hatte er das nicht gestern gesagt?
˜
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Behutsam öffnete sie die Tür nach draußen auf den Balkon und schlüpfte hinaus. Der stürmische Wind blies ihr ins Gesicht, verwirbelte ihre Haare und fuhr ihr unter das T-Shirt, das in seinen Fängen zu flattern begann. Dicke Tropfen klatschen ihr entgegen und sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Doch die Nacht war bereits hereingebrochen und nur noch schemenhaft konnte sie sich orientieren. Sicherheitshalber blieb sie nahe bei der Tür – man wusste ja nie! Angestrengt lauschte sie in das Rauschen des Windes hinein, aber sie fühlte sich blind und taub zugleich. Ihr Herz klopfte immer schneller und das Pochen hallte in ihren Ohren wieder wie das Echo in einer Höhle.
Da, endlich! Ein Zischen flog durch die Luft, erst leise, dann immer lauter. Schon bevor ein dunkler Schatten vor ihr landete, hielt Bonnie den Atem an. Der Umriss, ja, er musste es sein!
„Brooklyn!“, rief sie laut und stürzte ihm entgegen.
˜
Was war passiert? War er zu spät? War Demona bereits… vor ihm angekommen?
Das Mädchen eilte auf ihn zu, der Wind peitschte ihre Haare und feuchte Rinnen liefen über ihr Gesicht. Hatte sie geweint? Was war nur los?
Sie war kaum noch einen Meter entfernt von ihm, als sie fast über den Fuß eines Liegestuhles gestrauchelt wäre. Im letzten Moment fing sie sich noch und blieb stolpernd vor ihm stehen, die Augen weit aufgerissen.
Beschützend nahm er sie bei den Schultern und betrachtete sie genauer.
„Was ist passiert, Bonnie?“, fragte er eindringlich und behielt wachsam die Umgebung im Auge.
˜
Sie hatte sich vermutlich aufgeführt wie der letzte Idiot. Und dabei war gar nichts passiert. Völlig umsonst hatte sie die Pferde scheu gemacht. Was war nur los mit ihr?
Eine neue Ruhe durchströmte sie. Sie war nicht mehr allein. Alles war gut. Sie sammelte wieder Mut und mit einer Stimme, die entschlossen klingen sollte, sagte sie: „Nichts, wieso?“
„Warum wartest du schon wieder hier draußen? Ich habe dir doch erst gestern gesagt, wie gefährlich das sein kann!“, entgegnete er jetzt ärgerlich.
Bonnie begriff sofort.
„Tut mir Leid“, flüsterte sie und wandte den Blick von seinen tiefen, dunklen Augen ab. „Ich wollte dich nur… begrüßen.“
„Du Dickkopf“, fügte Brooklyn nun versöhnlich hinzu. „Mach doch keine Dummheiten.“
Schweigend gingen sich nach innen und schlossen die Tür. Bonnie schaltete das kleine Lämpchen auf dem Nachttisch ein, um besser sehen zu können, dann machte sie es sich auf ihrem Bett gemütlich, nahm ein Kissen auf den Schoß und umschlang die Beine mit den Armen. Mit einem Male fühlte sie sich wieder wohl, ihr Beschützer war jetzt da, nichts konnte ihr geschehen.
Er stand noch immer an der Wand neben der Balkontür, reglos wie eine Statue. Sein Haar war feucht geworden und über seine breite, muskulöse Brust rannen die letzten Regentropfen, kurz bevor sie vertrockneten. Seine dunklen Schwingen hingen locker darüber gefaltet und sein langer, roter Schwanz ringelte sich zu seinen Füßen. Bonnie war zuvor noch nie richtig aufgefallen, dass er fast nackt war: Außer einem Lendenschurz, der von einem breiten Ledergürtel zusammengehalten wurde, trug er nichts an seinem Leib. Mit bewundernden Blicken musterte sie seine Erscheinung. Er sah so stark aus, so unbezwingbar.
Mühsam wandte sie ihren Blick von ihm ab. „Entschuldige, dass ich gestern eingeschlafen bin“, gestand sie ihm. „Das war echt unhöflich von mir.“
„Nicht der Rede wert“, tat er es ab und kam langsam auf sie zu.
„Würdest du mir noch das Ende der Geschichte erzählen?“, fragte sie zaghaft.
„Nun, wo waren wir stehen geblieben?“, wollte er wissen und nahm auf dem Boden vor ihrem Bett Platz.
„Also, da gab es eine Prinzessin, die von Wikingern entführt wurde. Ihr habt sie wieder gerettet, aber ihr seid trotzdem von einem Zauberer verflucht worden zu… zu schlafen, bis sich die Burg über die Wolken hebt“, schloss Bonnie lahm.
„Das war auch schon fast die ganze Geschichte. Wir schliefen tausend Jahre lang, bis Xanatos Wind von der Sache mit dem Fluch bekam und beschloss, unsere Burg zu kaufen. Er wollte wissen, ob die Geschichte wirklich wahr war und so ließ er sie Stein für Stein abbauen und genauso wieder auf seinem Wolkenkratzer errichten. Was früher unvorstellbar gewesen war, ist so eingetreten: Die Burg hatte sich über die Wolken erhoben. Damit war der Zauber gebrochen. Wir erwachten wieder zum Leben.“
Das war also besagte Burg über dem Büro ihres Onkels… Unfassbar!
„Wow, das war sicher ein ganz schöner Schock für euch. Erst Schottland im Mittelalter, im nächsten Augenblick New York City mitten in der Moderne.“
„Das kannst du laut sagen. Wir haben schon eine Zeit lang gebraucht, um uns einzugewöhnen, aber das ist jetzt fast zwei Jahre her – also inzwischen sind wir echte Großstädter“, fügte er grinsend hinzu.
„Trotzdem – ihr mögt meinen Onkel nicht so sehr, oder? Das Gefühl hatte ich zumindest, als ihr mich nach Hause gebracht habt. Auch bei Elisa war das so. Gibt es dafür einen Grund?“
Er antwortete nicht sofort. Sein Blick schweifte über das Zimmer, zurück zur Tür und in die Nacht hinaus. Wieder überlegte er mit Bedacht, bevor er sich zu ihren Fragen äußerte.
„Wir haben… ein schwieriges Verhältnis zu Xanatos. Natürlich – er war es, der uns aus unserem Schlaf wiedererwachen ließ, aber es gab einige… Vorfälle, die… unsere Einstellung ihm gegenüber geprägt haben.“ Das leise, ungute Gefühl stieg wieder in ihm hoch.
„Was ist passiert?“
„Nun, er hat uns gebeten, ein paar… Aufträge für ihn auszuführen. Wir taten es aus Dankbarkeit, dass er den Fluch gebrochen hatte… Trotzdem – es war falsch und wir haben von seinen Plänen Abstand genommen. Ich weiß“, fügte er mit einem Seitenblick in ihre Richtung hinzu, „dass mag jetzt ziemlich verwirrend für dich klingen, doch das alles im Detail zu erläutern, würde… den Rahmen sprengen. Wir haben inzwischen eine relativ stabile Verbindung zu ihm. Dennoch solltest du wissen, dass Xanatos nie unser Freund sein wird.“
Bonnie überlegte kurz, bevor sie ihre nächste Frage stellte.
„Das heißt also, Burg Wyvern, wo ihr früher gelebt habt, ist das gleiche Gebäude, das heute auf der Spitze des Eyrie Buildungs steht. Aber wegen… eures schwierigen Verhältnisses zu Onkel David wohnt ihr heute nicht mehr dort, sondern in dem Glockenturm?“
„Ja, so könnte man es ausdrücken. Wir mussten unseren angestammten Wohnsitz verlassen und leben jetzt sozusagen im Exil.“
Ein anderer Gedanke kam ihr in den Sinn.
„Gestern hast du erzählt, dass ihr sechs damals alle durch den Fluch des Zauberers versteinert wurdet. Aber ich bin es in Gedanken immer wieder durchgegangen – in der Nacht, als ich bei euch im Glockenturm war, da habe ich sieben Gargoyles gesehen.“
„Ja, du hast Recht. Angela war von dem Fluch nicht betroffen. Sie ist Goliaths Tochter und schlüpfte auf Avalon, wo das Gelege später hingebracht wurde. Erst später ist sie zu unserem Clan dazu gestoßen.“
„Avalon? Was ist das denn? Und warum wurde das Gelege dahin gebracht?“
Er seufzte. „Wo Avalon genau liegt, weiß niemand – außer den Kindern Oberons selbst. Es ist eine geheime Insel, die – so steht es in den Legenden – nur dann aus dem Nebel der Zeit auftaucht, wenn ein Reisender dorthin gerufen wird. Seine Bewohner sind magische Geschöpfe, die von Oberon und Titania angeführt werden, den Herren der dritten Rasse. Aber so genau weiß ich darüber auch nicht Bescheid.“
„Und weshalb kam euer Nachwuchs dann nach Avalon?“
„Prinzessin Katharine, der Magus und ein paar Leute aus ihrem Gefolge nahmen sich der Eier an – so erfuhren wir später. Und da die Zeiten damals sehr von Kriegen geprägt waren, war der sicherste Ort für das Ausschlüpfen des Nachwuchses eine isolierte Insel, zu der nicht jeder Zutritt bekam – also gingen sie nach Avalon. Dort wurden Angela und ihre Geschwister geboren. Vor ein paar Monaten rief Avalon Goliath und Elisa zu sich. So begaben sie sich auf eine Reise und als sie wieder nach Hause kamen, hatte Angela sich ihnen angeschlossen.“
„Und… Demona? Wurde sie auch verflucht?“, wollte Bonnie zögerlich wissen.
„Was genau Demona widerfuhr, wissen wir nicht. Sicher ist aber, dass auch sie irgendwie die Jahrhunderte überlebt und sich jetzt in New York eingenistet hat. Und sie macht nichts als Ärger.“ Er seufzte erneut, als würde er an etwas Bestimmtes denken.
„Sag mal“, sie hielt kurz inne, um zu überlegen, wie sie es am besten formulieren sollte, „was macht ihr jetzt eigentlich die ganze Zeit über?“
„Wie meinst du das?“
„Naja“, sie suchte nach den richtigen Worten, „früher da wart ihr Krieger, hast du erzählt, und ihr habt eure Burg beschützt. Aber heute haben wir hier keinen Krieg mehr und ihr lebt auch nicht mehr auf der Burg. Also wir verbringt ihr jetzt die Nächte, in denen ihr wach seid?“
„Ach, das meinst du. Nun, wir haben uns neuen Aufgaben zugewandt – oder im Prinzip alten, wie man es nimmt. Elisa ist ja Polizistin und arbeitet meistens nachts. Und seit einiger Zeit helfen wir ihr dabei, Verbrechen aufzuklären.“
„Ihr seid Polizisten?“ Bonnie war sprachlos.
„Nein, nicht direkt. Aber bei bestimmten Einsätzen – ähm, helfen wir der Polizei auf die Sprünge.“ Er grinste. „Wir sind sozusagen Elisas Sondereinsatz-kommando, ihre ,Engel der Nacht‘.“
„Engel der Nacht…“, murmelte Bonnie und versuchte sich gerade vorzustellen, welchen Schreck wohl ein Krimineller bekommen musste, wenn er von einem Gargoyle auf frischer Tat ertappt und gefasst wurde. Sie musste ebenfalls grinsen. Irgendwie gefiel ihr diese Vorstellung.
Und sie weckte eine neue Sehnsucht in ihr. Das Bedürfnis nach Freiheit fiel sie so unvermittelt von hinten an, dass ihre Stimme vor Erregung fast zitterte.
„Meinst du, ihr… könntet mich mal mitnehmen? Wenn ihr auf Verbrecherjagd geht?“
Verblüfft sah er sie an.
„Ich… glaube kaum, dass Goliath davon begeistert sein würde“, überlegte er laut. „Schließlich sollen wir dich beschützen – und nicht extra in Gefahr bringen.“
Bedrückt zog sie einen Schmollmund.
„Weißt du, ich würde nur so gerne mal hier rauskommen“, gestand sie ihm. „Ich fühle mich so… eingesperrt. Wie ein Verbrecher. Dabei möchte ich doch mal etwas von der Stadt sehen. Und bald beginnt ohnehin die Schule.“ Demonas noch unbekannte Pläne hin oder her – dafür hatte sie ja schließlich einen Bodyguard…
„Ich verstehe.“ Stumm dachte er nach. Was konnte man in diesem Fall wohl tun?
„Aber Onkel David ist momentan nicht zu Hause. Heute Morgen ist er zu einer Computer-Konferenz nach Kalifornien geflogen und er kommt erst in ein paar Tagen wieder. Doch er hat mir gar nichts davon erzählt, so konnte ich ihn nicht vorher fragen, ob ich mal runter in die Stadt darf…“
Xanatos nicht hier? Das hörte sich doch mal nach einer guten Neuigkeit an!, dachte Brooklyn vergnügt. Wenn das so ist, dann…
„Dann hätte ich da eine Idee“, antwortete er mit einem Augenzwinkern.
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Ja, Goliath würde sicher nicht begeistert sein. Aber er würde aufpassen. Und sie würden das Eyrie Building ja nicht einmal verlassen – zumindest nicht richtig. Natürlich gab es diese zahlreichen „Sicherheitsvorkehrungen“, die Xanatos getroffen hatte, aber er war heute nicht da. Außerdem hatte sich ihre Feindschaft ja praktisch gelegt.
Und er würde der Kleinen eine Freude machen.
˜
Was? Hatte sie ihn da richtig verstanden? Er würde ihr die Burg zeigen? Ihre Burg… Das heißt, jetzt gehörte sie eigentlich ihrem Onkel, aber im Prinzip war es ja immer noch die Burg der Gargoyles.
Das hörte sich fantastisch an! Gut, es war keine Stadtrundfahrt, aber zumindest würde sie mal für kurze Zeit hier rauskommen…
„Und wie wollen wir das anstellen?“, fragte sie skeptisch. Denn sie konnte sich kaum vorstellen, dass sie in aller Seelenruhe mitten in der Nacht zusammen mit ihrem Gargoyle-Leibwächter durch das Haus zum Aufzug spazieren würde.
„Nun, ganz einfach: Wir werden hochfliegen.“
Fliegen? Schon allein bei dem Gedanken drehte sich ihr fast der Magen um. Der Flug nach New York war noch nicht lange her und ihre Fahrt in dem gläsernen Fahrstuhl hatte wieder diese unangenehm flauen Gefühle in ihrer Magengrube geweckt. Aber selbst – ohne schützendes Glas um sich herum, das wenigstens ein Mindestmaß an Sicherheit darstellen sollte – einfach so durch die Luft zu fliegen… das überstieg gerade ihre Vorstellungskraft.
Mit gepresster Stimme brachte sie hervor: „Ich glaube, das ist keine gute Idee…“
„Wieso? Hast du plötzlich keine Lust mehr?“
„Doch, aber… ähm…“ Betreten sah sie zu Boden. Ihr würde so wahnsinnig schlecht werden, dass der Rest der Nacht wohl gelaufen wäre. Andererseits – eine Alternative fiel auch ihr nicht ein.
„Na, dann ist doch alles klar“, erwiderte er leicht verwirrt. Hatte sie etwa Angst? Vor Demona? „Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, ich habe natürlich ein Auge auf dich.“ Nicht vorzustellen, was passieren würde, wenn der Kleinen etwas Schlimmes widerfuhr…
„Also, gehen wir?“, fragte er vorsichtig nach.
„Okay“, nickte Bonnie zaghaft. Innerlich wünschte sie sich, sie hätte heute Abend nicht Käse und Schinken auf ihr Brot – sondern eine gute Portion Überwindungskraft mit einem Schuss Adrenalin-Sucht. Aber jetzt gab es keinen Weg mehr zurück, schließlich war es auch irgendwo ihre Idee gewesen…
Brooklyn sprang auf und war mit großen Schritten bereits bei der Balkontür. Als er sie öffnete, fegte eine eisige Brise in das mollig-warme Schlafzimmer und erinnerte das Mädchen schmerzhaft daran, dass der Sommer noch eine Weile auf sich warten ließ. Sie rannte ihm nach und an der Tür rief sie in die Dunkelheit hinaus: „Warte, Brooklyn…“
Sein Körper erschien erneut im Schein des Lichts. Die Zweifel standen ihm deutlicher denn je ins Gesicht geschrieben, fast so prägnant wie an jenem Abend, als Goliath ihn zu ihrem Leibwächter ernannt hatte.
„Warte, ich… ich brauche noch eine Jacke“, sprach sie mit zittriger Stimme und ging eiligen Schrittes zu ihrem Kleiderschrank. Aber welche? Welche sollte sie nehmen? In einer Ecke des Schrankes hing ihre alte Winterjacke, dunkelbraun und innen mit warmem Schafsfell gefüttert. Zwar war sie für den Frühling nicht mehr wirklich adäquat, aber heute Abend würde sie ihr ein guter Begleiter sein. Rasch nahm sie die Jacke vom Bügel, schlüpfte hinein und ging mutigen Schrittes nach draußen auf den Balkon.
Leise schloss sie die Tür hinter sich. Nun waren sie allein draußen in der Nacht. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die neue Herausforderung. Er stand ein oder zwei Meter weiter, den Rücken an das Geländer gelehnt und blickte sie erwartungsvoll an.
„Also, wie wollen wir… hochfliegen?“ Ihre Stimme klang so piepsig, als würde sie ihr bald den Dienst versagen. Der Wind war schneidend kalt und ließ ihr Gesicht fast augenblicklich zu einer kühlen Maske erstarren.
„Nun, ich würde sagen, ich fliege und du hältst dich fest“, scherzte er.
„Und woran soll ich mich festhalten?“, wollte Bonnie wissen und trat näher an ihn heran. Die Nackenhaare standen ihr zu Berge – und das nicht nur wegen der Kälte.
„Am besten… so“, antwortete er und stellte sich dicht an sie. Behutsam nahm er ihre frostigen Hände mit seinen warmen, großen Pranken und legte sie sich um den Hals. Dann ging er etwas in die Hocke – und schwupps, schon trug er sie auf seinen Armen. Leicht wie ein kleines Kind hielt er sie und Bonnie begann zu ahnen, dass ihre Gargoyle-Freunde eine ganze Reihe stärker waren als alle Menschen, die sie kannte. Seine glatte, ledrige Haut strahlte eine angenehme Wärme aus und Bonnie begann sich zu entspannen.
Doch diese Pause währte nur kurz. Mit einem plötzlichen Satz sprang er hoch auf das Balkongeländer. Bonnie klammerte sich fester an seinen Hals. Unter ihr – durch eine trübe Wolkenschicht kaum bedeckt – leuchtete die Stadt in grellen Farben. Langsam fing sich das Bild vor ihren Augen an zu drehen, der Schwindel ergriff sie heftig, sie glaubte fast, schon im Himmel zu schweben. Keuchend ging ihr Atem. Jeder Muskel ihres Körpers verhärtete sich.
„Bist du bereit?“, fragte er zum letzten Mal. Doch die Antwort wartete er erst gar nicht ab.
Lautlos und schwer wie ein Stein stürzten sie hinab in die grelle Dunkelheit.
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Sie starb. Dessen war sie sich ganz sicher.
Sekundenlang – so kam es ihr vor – fielen sie haltlos in die Tiefe, eine breite Straße unter ihnen. Sie wartete bereits auf diesen Flashback, von dem alle erzählen, die dem Tod schon einmal näher gestanden hatten, als ihnen vielleicht lieb war – dieser Film, der einem in Sekundenbruchteilen prägende und schicksalhafte Momente des eigenen Lebens vor Augen führt, gute Erinnerungen wie schlechte, kurz bevor es vorbei war…
Doch er stellte sich nicht ein.
Ein lautes „Flap“ zischte in ihren Ohren und sie spürte, wie der Wind sie wieder ein Stück nach oben trug. Sie schwebten. Mitten im Himmel.
Vorsichtig blinzelte Bonnie, doch ihre Befürchtungen schienen sich augenblicklich bewahrheiten zu wollen. Leise unterdrückte sie ein Würgen und beschloss, vorerst nicht wieder hinunter zu sehen und die Augen zu schließen. Sie atmete tief durch und lehnte ihr Gesicht ganz fest gegen seinen warmen, muskulösen Hals. Ein Gefühl der Erleichterung stellte sich ein. Sein Körper schien das einzig Ruhige in diesen schwindligen Höhen zu sein.
Eine ganze Weile schienen sie so der Schwerkraft zu trotzen und Bonnie bemühte sich krampfhaft, an etwas anderes zu denken, sich eine andere Situation vorzustellen, als diese missliche, in der sie sich gerade befand.
Seine Stimme schnitt plötzlich laut an ihrem Ohr durch den Wind: „Unter uns siehst du jetzt die Burg. Ich flieg einmal herum, damit du sie von allen Seite sehen kannst.“
Die Burg? Unter ihnen? So hoch waren sie schon?
Widerwillig öffnete Bonnie die Augen, doch ihr Magen schien sich beherrschen zu können, zumindest startete er keine sofortige Rebellion. Und sie staunte nicht schlecht. Mal abgesehen von der Tatsache, dass sie ohne jegliche Sicherung über dem höchsten Gebäude der Stadt schwebten, also vermutlich ein- oder zweihundert Meter über der Erde in der Luft hingen, war der Anblick wirklich atemberaubend.
Langsam kreisten sie um die mittelalterliche Anlage, deren Fundament etliche Dutzend Meter unter ihren lag. Es war ein stattlicher Bau, sicher nicht der Größte seiner Art, aber dennoch eine enorm imposante Dekoration für das Dach eines Hochhauses. Die einzelnen Gebäude waren selbst von hier oben deutlich zu erkennen. Ein Haupthaus sowie ein paar kleinere Nebengebäude konnte Bonnie ausmachen, obwohl ihr der eisige Wind in den Augen brannte und diese sich mit Tränen füllten. Fast im Mittelpunkt der Burg stand ein hochaufragender, runder Turm, der alles zu seinen Füßen in den Schatten stellte. Steil und kantig erhob er sich jetzt mit seinen rechteckigen Zinnen gegen den glühenden Mond. Zu beider Seiten wurde er von zwei niedrigeren Türmen flankiert, weitere waren in die alles eingrenzende Burgmauer eingelassen.
„Nun, wollen wir mal runtergehen?“, fragte Brooklyn an ihrem Ohr.
Sie nickte gespannt.
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Sie landeten mitten im Vorgarten. Obwohl sie und ihr Begleiter aus ziemlich großer Höhe auf den kleinen Vorplatz schwebten, kamen sie recht sanft auf der Erde an. Brooklyn klappte die Schwingen ein und setzte sie im Gras ab. Noch etwas wackelig auf den Beinen, musste Bonnie erst wieder ins irdische Gleichgewicht zurückfinden.
Verdammt, warum drehte sich nur alles um sie?, sinnierte Bonnie und taumelte ein paar Schritte. Sie fühlte sich auf festem Untergrund noch nicht ganz sicher. Doch bevor sie Gefahr lief zu stürzen, spürte sie einen kräftigen, warmen Arm, der sich um ihre Schultern legte und ihr die Richtung wies. Schweigend gingen sie nebeneinander durch den dunklen Garten.
Viel konnte sie nicht erkennen. Hin und wieder zeigte eine futuristisch wirkende Laterne ihnen den Weg, doch da der Hausherr ausgeflogen war, schien nur eine sparsame Beleuchtung in Betrieb zu sein. Ein Großteil der Anlage lag im Dunkeln.
Sie schienen schon eine kleine Ewigkeit unterwegs zu sein. Langsam durchquerten sie den Vorplatz, bis sie einige steil aufragende Treppen erreichten. Erschöpft ließ Bonnie sich auf die Stufen sinken. Sie fror trotz der warmen Jacke und ihre Hände waren taub vor Kälte. Das Zittern versuchte sie zu unterdrücken, sie wollte nicht gleich wieder zurück, zumindest brauchte sie eine kleine Flugpause. Ihr Wächter stand vor ihr und sah sie aufmerksam an.
„Ist dir kalt?“
„Es geht schon“, wehrte sie ab.
Ein Schweigen entstand. Brooklyn sah zur Seite, als würde er ihre Umgebung kontrollieren. Sie nutzte die Gelegenheit, um ihren Gegenüber genauer zu mustern – so sehr es das fahle Licht eben zuließ. Auf und ab wanderten ihre Blicke. Ihr Begleiter schien es nicht zu bemerken oder zumindest ließ er sich nichts anmerken. Nach einer Weile erhob sie sich immer noch etwas unsicher. Sie konnte ihrem Drang einfach nicht widerstehen.
Zögerlich legte sie eine Hand auf die dunklen Schwingen, die jetzt gefaltet über seinen Schultern hingen. Sofort war sie sich seiner vollen Aufmerksamkeit bewusst.
„Du kannst also tatsächlich fliegen“, murmelte sie leise.
Er lächelte. „Nein, ich kann nur gleiten. Dazu brauchen wir thermische Aufwinde und eine gewisse Höhe“, erklärte er ruhig.
Er rührte sich nicht, während Bonnie immer noch fasziniert über die dunkle, ledrige Haut strich. Sie konnte es nicht fassen, dass sie tatsächlich geflogen war.
Allmählich begann es zu regnen. Zunächst nur winzige Tropfen, die ihr vereinzelt ins Gesicht klatschten, dann immer dichter und heftiger. Ihr Haar klebte ihr bereits in feuchten Strähnen im Gesicht, doch noch immer rührte sie sich nicht.
„Komm“, sagte er und nahm sie abermals bei den Schultern, „lass uns nach innen gehen.“
Und keiner der beiden bemerkte den stillen, dunklen Schatten, dessen Blick ihnen durch das Tor ins Innere der Burg folgte.
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Auch von innen gesehen war die Burg sehr beeindruckend.
Zunächst führte er sie durch lange, hohe Gänge, die auf verschlungenen Wegen durch die Anlage führte. Die Kerzen und Fackeln in den Halterungen, die alle paar Meter in der Wand angebracht waren, warfen nur ein dämmrig-trübes und flackerndes Licht ab, so dass sie sich meist in sanfter Dunkelheit ihren Weg tasteten. Das heißt, ihr Begleiter schien sehr wohl zu wissen, welchen Weg sie wählen mussten, um ihr Ziel – über das sie noch immer im Unklaren war – zu erreichen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich von ihm geleiten zu lassen.
Hin und wieder erhaschte sie im Feuerschein einen Blick auf den Schmuck, der auch hier nicht sparsam angebracht war. Große Wandteppiche hingen da, die Bilder von Jagden zeigten und von Königen auf ihren Feldzügen. Tapfere Ritter in ihrer Rüstung im Kampf gegen barbarische Krieger und viele weitere heroische Szene waren dargestellt. Neben den obligatorischen Leuchtern waren auch gelegentlich große Wappen in den Stein gemeißelt und antike Waffen lehnte leger an den Mauer, als ob die Ritter erst vor wenigen Minuten diesen Ort verlassen hätten.
Doch sie gingen weiter und weiter, ohne etwas anderes als den langen, endlosen Gang vor den Augen zu haben. Die Minuten zogen sich in die Länge und Bonnie begann zu zweifeln, ob sie hier jemals wieder hinausfinden würden.
„Wo gehen wir denn hin?“, fragte sie schließlich.
„Nur noch einen Moment. Gleich wirst du es sehen“, lautete die Antwort.
Und wirklich: Sie bogen um die nächste Ecke und wieder sah sie von Ferne ein Feuer flackern. Aber diesmal waren es weder Fackeln noch Kerzen. Im Näherkommen bemerkte Bonnie, dass sie sich langsam einem Torbogen näherten, der sich massiv aus dem Fundament erhob. An seinem höchsten Punkt war ein weiteres Wappen angebracht, doch dieses war nicht in Stein gemeißelt, sondern in eine große Eisenplatte geprägt. Gekreuzte Schwerter waren dahinter in der Wand befestigt.
Erst als sie den Torbogen durchschritten, konnte Bonnie im Schein des Feuers die Größe des Raums, in den sie nun eintraten, abschätzen. Es war der Rittersaal.
Die massiven Mauern aller begrenzenden Seiten bargen in ihrer Mitte einen großzügig bemessenen Festsaal, der fast vollständig von einer riesigen, in Hufeisenform aufgestellten Tafel eingenommen wurde. Entlang der schweren Eichentische reihten sich prächtig verzierte Holzstühle, jeder für sich ein kleiner Thron. Auch hier waren die Wände geschmückt, aber noch weit aus verschwenderischer als sie es auf ihrem Weg hierher gesehen hatte. Nicht nur Teppiche und Wappen, sondern vor allem prächtige, glänzende Waffen waren an den Steinen befestigt. In einigen Nischen blitzten edle Trinkgefäße auf, meist silberne Becher mit Gravuren oder eingearbeiteten Edelsteinen.
Im Vorübergehen hatte Bonnie beinahe den Eindruck, dass jeden Moment ein Graf oder ein König mit seinem Gefolge einmarschieren könnte, um ein prunkvolles, ausgelassenes Fest zu feiern. So traute sie sich kaum, näher an die Tafel heranzutreten und strich nur verstohlen über das raue, kühle Holz. Es lag fast kein Staub darauf. Die Vergangenheit wirkte hier so nah, dass sie sich mehr im Mittelalter denn im Jahre 1996 fühlte.
Dennoch war ihr noch immer nicht klar, was genau sie hier sollte. Brooklyn ging vor ihr entlang der Wand Richtung Kopfende der Tafel. Der Stuhl genau in der Mitte war der größte und prächtigsten von allen. Auch er schien aus dem gleichen, alten Eichenholz zu sein wie der Rest, doch seine Rückenlehne war mit rotem Stoff bezogen.
Der hat damals sicher ein Vermögen gekostet, überlegte Bonnie.
Genau in diesem Moment setzte auch ihre Begleitung an:
„Das war der Platz von Prinzessin Katherine, zu ihrer Rechten saß stets der Magus. Hier im Rittersaal wurde immer das Abendessen eingenommen, aber auch alle Festlichkeiten fanden hier statt“, erklärte er.
Bonnie fiel auf, dass er sich immer einer etwas altmodischen Sprache bediente, sobald er von ihrem Leben in Schottland erzählte. Scheinbar war die Erinnerung daran so stark, dass er in seine alten Gewohnheiten zurückfiel.
„Der Saal ist sehr schön“, sagte sie in bewunderndem Tonfall, „auch die Burg und der Garten – ich fühle mich fast wie ein Burgfräulein“, schloss sie lachend. Und das war nicht gelogen. Erinnerungen an die Geschichte der vorherigen Nacht erwachten in ihr, die Vergangenheit konnte sie hier quasi mit Händen greifen. Alles wirkt so echt und aktuell, dass sie erneut schauderte.
„Möchten Sie sich setzen, Mylady?“, stimmte er lachend ein.
„Oh nein, danke“, schlug sie das Angebot aus. „Alles sieht hier so… elegant aus und so authentisch. Da würde ich ja ganz aus dem Rahmen fallen.“
Sie drehte sich um. Die warme Luft, die gerade ihrem Rücken geschmeichelt hatte, kam von dem Kamin hinter ihnen. Das Feuer, das sie aus der Ferne hatte flackern sehen. Vor der reich verzierten, schmiedeeisernen Feuerstelle lagen Tierfelle auf dem Boden ausgebreitet – große, dunkelbraune Pelze, die von Bären stammen konnten. Obwohl sie alles andere als ein Fan von Pelzmänteln oder ähnlichem war, würde sie sich dort unten doch noch wohler fühlen als an dem feinem Tisch, wo sie sich mehr als Fremdkörper denn als Gast oder Besucher aus einer anderen Zeit vorkam.
„Hier sieht es doch ganz gemütlich aus“, versuchte sie eine Alternative vorzuschlagen.
„Gut, wie du meinst.“
Und so nahmen sie beide auf den weichen Fellen Platz, die Tafelrunde in ihrem Rücken. Der Geruch der Tierfelle stieg ihr in die Nase, dennoch genoss Bonnie die Wärme sehr, vertrieb sie doch den Frost aus ihren Händen und Füßen. Sie sprachen kaum, jeder für sich hing seinen Gedanken nach und ließ sich von der Ruhe und Trägheit, die das Feuer in ihnen entfachte, anstecken.
Mittlerweile war Bonnie so benommen, dass sie fast hätte einschlafen können. Es wurde ihr immer mühsamer, sich aufrecht zu halten und die Beine mit den Armen zu umschlingen. Ein Seitenblick verriet ihr, dass Brooklyn jedoch noch einen ganz munteren Eindruck machte – kein Wunder, dachte sie sich, schließlich hat er ja den ganzen Tag geschlafen.
Möglichst unauffällig rückte sie näher an ihn heran, bis es ihr endlich gelang, sich an seiner Seite anzulehnen. Ein fragender Blick flog zu ihm hoch, den er mit einem nachsichtigen Lächeln seiner Augen quittierte.
So lässt es sich aushalten, seufzte Bonnie innerlich und schloss die Augen. Warme Flammen tanzten auf ihrem Gesicht. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie unschuldig in den Schlaf fiel.
˜
Leicht wie eine Feder hatte sie sich an ihn gelehnt und schneller als er damit gerechnet hätte, war sie auch schon eingeschlafen. Er stützte sie mit seinem Arm, damit die Kleine im Schlaf nicht zur Seite rutschte. Eine Weile würde er noch hier bleiben, bis ihr Haar und ihre Kleidung wieder trocken waren und sie dann wieder zurückbringen in ihr Zimmer. Der erste Ausflug schien doch ganz gut geglückt zu sein. Zufrieden sah er in die züngelnden Flammen.
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„Schlaf gut, kleine Bonnie“, flüsterte er und legte die Decke über sie.
Das Mädchen lag auf der Seite, die inzwischen getrocknete Jacke trug sie noch immer. Ihre langen, blonden Haare umspielten ihr Gesicht, das regungslos und völlig entspannt wirkte. Vielleicht lächelte sie auch – oder er bildete sich das nur ein…
Er betrachtete sie noch eine Weile, aber sie schlief tief und fest. Von dem Rückflug schien sie nichts mitbekommen zu haben.
Leise ging er nach draußen. Bald würde der Morgen grauen.
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2020
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mit Dank an Greg Weisman, für die Vorlage und seine herausragenden Ideen