Menschen sind einfach interessante Wesen. Wo immer ich sie beobachte, überlege ich, was wohl in ihnen vorgeht, welche Geschichte sie haben und welche Geheimnisse sie umgeben.
Bei einer Zugfahrt saß ich einer adrett gekleideten Dame gegenüber. Sie sah so harmlos, nett und freundlich aus, aber ihr Gesicht spiegelten auch ein ereignisreiches Leben wider. Als ich sie anlächelte, konnte sie ja nicht wissen, welche eigenartige Geschichte gerade in meinem Kopf entstand ...
Viel Vergnügen!
DIE NOTBREMSUNG
„Sie sitzen immer auf diesem Platz.“
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Überrascht sah der Mann von seiner Zeitung auf: „Bitte?“ „Sie sitzen immer auf diesem Platz, jeden Werktag.“ Der Mann war etwas verwirrt. Er sah die Frau, die sich ihm gegenüber hingesetzt hatte, an.
Unscheinbar, das war das erste Wort, das ihm zu ihr einfiel. Ein Hausfrauentyp. Eine jener Frauen, die daheim herumsaßen, telefonierten und sich die Fingernägel lackierten. Gepflegt, zurückhaltend, gebildet, uninteressant.
„Wussten Sie, dass dies die längste Strecke zwischen zwei Stationen ist? Durchschnittliche Fahrzeit: 11 Minuten und 45 Sekunden. Kein Wunder, es gibt hier kaum menschliche Ansiedlungen, am Rande der Stadt. Meinem Sohn hätte das sicher sehr gefallen. Er liebte Straßenbahnen, er liebte auch Eisenbahnen; einfach alles, was Räder hat und auf Schienen fährt. So sind sie nun einmal, die Jungs.“
Eine Spinnerin, ganz eindeutig. Die hat sie nicht alle.
„Mein Sohn ...“ fuhr die Frau fort, ohne darauf zu achten, ob er sich dafür interessierte, „war wunderbar. Wissen Sie, so ein Zwölfjähriger explodiert fast vor Energie, vor Einfällen und Ideen. Es gab keinen Tag, an dem wir nicht gemeinsam etwas unternahmen. Nach der Scheidung war er mir wirklich Halt und Stütze.“
Wundert mich nicht, dass du geschieden bist, dachte der Mann. So eine Spinnerin würde ich auch nicht ...
„Und nun ist er tot.“ Sie sagte das fast emotionslos, wie eine nüchterne Feststellung. „Was ist denn passiert?“ fragte er desinteressiert und eigentlich nur, um auch einmal etwas zu sagen. Außer ihnen saß niemand mehr im Waggon, man fuhr ja auf die Endstation zu. „Ein bedauerlicher Unfall. Ein besoffener Autofahrer hat ihn überfahren. Keine strafrechtlichen Konsequenzen.“ Der Mann schüttelte den Kopf: „Aber das ist doch nicht möglich! Ein Betrunkener tötet mit einem Auto Ihren Sohn, und er wird nicht angezeigt?“
Sie lächelte mild: „Samstag, 1. Oktober: Unfall auf der Stadtstraße 7. Ein Opfer. Die Rettung kann nur noch den Tod feststellen. Er wurde von dem herannahenden Mercedes dreißig Meter durch die Luft geschleudert und war auf der Stelle tot. Der Fahrer verübt Fahrerflucht und wird von einer Polizeistreife gestellt. Die Beamten sagen aus, dass es im Wageninneren stark nach Alkohol und Erbrochenem riecht. Der Fahrer wurde ins Spital gebracht, da er leichte Verletzungen erlitten hatte. Die dort abgenommene Blutprobe besagt: 1,5 Promille Alkohol im Blut. Sonntag, 2. Oktober: Der Fahrer wird aus dem Spital entlassen. Wie sich später herausstellt, nimmt er sämtliche Unterlagen über seine Untersuchung des vorigen Abends sofort mit. Montag, 3. Oktober: Anzeige der Mutter des getöteten Jungen. Drei Wochen später neuerliche Anzeige gegen den Betrunkenen, welcher, wie sich herausstellt, ein hoher Politiker ist. Die zivilrechtliche Anzeige wurde abgewiesen, da keine Beweise vorlagen. Die strafrechliche Anzeige wurde zur Verhandlung gebracht. Weder Polizisten noch Ärzte wollen sich an irgendetwas erinnern können. Augenzeugen im Spital, die die Einlieferung des Betrunkenen beobachtet haben, werden vom Gericht als voreingenommen oder nicht glaubwürdig abgewiesen. Elf der zwölf Geschworenen sprechen den Mann frei. Die Mutter des ermordeten Jungen wird auf Grund der Verhandlungskosten und der Rechtsanwaltskosten finanziell ruiniert. Es erfolgt eine Gehaltskürzung auf das Existenzminimum.“
Die Frau schwieg, dem Mann aber wurde einiges klar. Er war einer dieser Geschworenen gewesen, die damals den Mann freigesprochen hatten. „Aber ... das ist doch schon alles so lange her! Zehn Jahre, oder länger!“ „Zwölf. Es sind zwölf Jahre. Und heute hat mein Sohn Geburtstag. Jedes Jahr schenke ich ihm etwas.“
Sie spinnt, ich wusste es. Die spinnt! Nervös sah er auf die Uhr: noch über fünf Minuten Fahrzeit. Ich setze mich woanders hin, dachte er. Er wollte aufstehen, aber – es ging nicht. Ehe er wusste, was los war, war die Frau hinter ihm. Sie band einen Riemen um seinen Hals, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. Mit eisernen Griffen zog sie seine Hände nach hinten und fesselte sie mit einem starken Klebeband zusammen. Alles ging so schnell, dass er nicht wusste, wie ihm geschah. Während sie aus ihrer Tasche einige Gegenstände herausnahm, redete sie ruhig weiter: „Ich habe Sie schon lange beobachtet. Es ist unglaublich, wie regelmäßig das Leben der Menschen verläuft. Ich musste nur den Sitz mit einem Klebespray einsprühen, dessen Wirkung schon bald nachlassen wird; der Rest war ein Kinderspiel.“ Sie nahm einen Regenschirm aus der Tasche und setzte ihm die Spitze auf die linke Brusthälfte, genau dort, wo das Herz war. Dann klemmte sie den Griff beim gegenüberliegenden Sitz ein. „Es hat lange gedauert, bis ich den Regenschirm mit der richtigen Länge gefunden habe.“ Sie sagte das, als ob es ihn wirklich interessieren würde. Endlich löste sich die Lähmung von ihm: „Was haben Sie vor? Was soll das? Wollen Sie mich ...“ „... umbringen.“ Wieder war es eine Feststellung.
Sie stieg auf einen Sitz, der sich neben der Notbremse befand. Mit einer Schraube montierte sie einen Haken und fädelte eine Schnur ein. Diese verband sie mit der Notbremse. Nun wandte sie sich wieder dem Gefesselten zu: „Sie bekommen nun diese sehr rutschige Schnur in den Mund; nur das Ende. Ich werde dann ein Gewicht an das andere Ende binden. Ein ziemlich schweres Gewicht. Schwer genug, um die Notbremse zu aktivieren. Wenn Sie die Schnur loslassen, werden Sie sich selbst am Regenschirm aufspießen. Sehen Sie, es kann ein Nachteil sein, wenn man immer in Fahrtrichtung sitzen will.“
Nun stieg Panik in dem Mann hoch: „Aber ... aber ich habe doch gar nicht ... ich meine, ich war es doch, der gegen das Urteil gestimmt hat! Bitte, das stimmt!“ „Das haben die anderen auch gesagt. Leider kann ich das nicht nachprüfen. Es ist auch nicht wichtig. Sie sind der letzte der Geschworenen, die anderen sind bereits bei meinem Sohn. Sie sind sein Geburtstagsgeschenk. Mund auf!“ Bevor er reagieren konnte, hatte sie ihm ein Ende der Schnur in den Mund gesteckt. Automatisch biss er hinein. Nun hängte sie ein Eisengewicht an das andere Ende. Der Zug war unheimlich stark, er begann sofort zu schwitzen. Die Frau setzte sich auf einen Sitz gegen die Fahrtrichtung und klemmte sich einen dicken Polster in den Nacken. Die Schnur begann zu rutschen. Wie wild versuchte er nun seine Fesseln zu lösen. Das einzige Ergebnis war, dass die Schnur noch schneller rutschte. Er hatte vielleicht noch drei Zentimeter im Mund. Er sah aus dem Fenster. Niemals würde er es bis zu Endstation schaffen. Die Frau neben ihm lehnte sich genüsslich zurück in den Polster und begann zu singen: „Happy birthday to you, happy birthday to you ...“ Die Schnur rutschte weiter. „… happy birthday, dear Samuel …“ Und weiter. Einen Zentimeter noch. „Haaaaaaappy birthday ...“ Er hielt das nicht mehr aus. Er hasste sie, dieses Weib. Und dieses Singen, dieses nervende Singen, das Klopfen der Finger im Takt des Liedes. Tack. Tack. Tack. „… happy birthday to you …“ Die Schnur rutschte weiter. „Neeeein!!“
Mit quietschenden Bremsen kam der Zug zum Stillstand. Kaum eine Minute später wurde hinten eine Tür geöffnet, die Frau stieg aus. In ihrer Tasche hielt sie einen Sack mit gebrauchtem Klebeband, Schnur und Gewicht. Leise singend ging sie in die Dunkelheit, während der Fahrer des Zuges fluchend und schimpfend in der Finsternis nach hinten ging, um zu sehen, welcher Idiot hier die Notbremse gezogen hatte.
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2009
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Widmung:
An Theresa, die mich zu Bookrix gebracht hat!