Cover





“Heute dasselbe fühlen wie gerstern heißt nicht fühlen -
heißt sich heute an das erinnern, was man gestern gefühlt hat,
heißt heute der lebendige Leichnam dessen zu sein,
was gestern gelebt und verloren ging.”
(Fernando Pessoa)




Die Sonne schien durch das schmale Küchenfenster, das tief verträumte Gesicht einer Frau spiegelte sich darin. Es war schwer zu sagen, ob die Augen die Straße oder sich selbst beobachteten. Eine Hand umklammerte eine Tasse Kaffee, die andere stützte den Kopf. Von weitem hörte man das kurze Brummen eines Handys, dann war es wieder still. Ein junger Mann betrat die Küche.
„Gibt es was Neues?“, fragte die Stimme am Fenster.
„Naja, ich denke er wird länger arbeiten müssen oder bekommt keinen Urlaub.“, der junge Mann sah zum Boden.
„Tyler, was hat er geschrieben?“, die Anspannung die diese Stimme verursachte, verstärkte sich nur noch mehr, als die Frau der sie gehörte ihre Tasse beiseiteschob.
„In der SMS stand, dass er nicht kommt.“
Die junge Frau gab einen wütenden Seufzer von sich
„Wir sehen ihn nie und fragen wir ihn, ob er ein einziges Mal Zeit für uns hat, kommt so was.“
„Joan, beruhig dich.“
„Er ist unser Vater.“, die Finger der Frau tippten auf der Tasse herum.
„Kennst du ihn denn anders?“
Eine lange Pause entstand, in der sich keiner der beiden das Thema weiter ausführen wollte. Joan wusste, dass ihr Bruder Recht hatte, ihr Vater war schon immer ein Mensch, der tat was er für richtig hielt, das ist niemals anders gewesen.
„Nun gut Tyler Drat. Du bist siebzehn und ich bin zweiundzwanzig, zudem wohnen wir allein. Wozu also so einen Aufstand machen.“, Joans Ziel war es ihren Bruder aus der Reserve zu locken, eine Seite in ihr wollte förmlich einen Konflikt provozieren. Tyler allerdings kannte die Masche nur zu gut und vermied es sich weiter darauf ein zu lassen.
In diesem Moment löste die schrille Klingel der Tür die fest gefahrenen Gedanken der Geschwister.
„Ich geh schon.“, Tyler verließ die Küche und öffnete die Wohnungstür. Kaum, dass er die Klinke herunterdrückte, wurde das sperrige Holz grob bei Seite getreten.
„Hey ihr Pisser, was soll das?“, brüllte Tyler zwei Männer an, die in schwarzen Anzügen in ihre Wohnung stürmten. Joan sprang auf, der Stuhl flog hinter ihr zu Boden. Unsicher was sie als nächstes tun sollte, beobachtete sie die Szene für ein paar Sekunden und sah, wie die eine Person in schwarz versuchte ihren Bruder zu packen und aus der Wohnung zu zerren.
Daraufhin stürmte sie los und rammte den Fremden zur Seite. Tyler, der sich schnell wieder gesammelt hatte, sah, dass hinter seiner Schwester der zweite Anzugträger auf sie zukam. Er ballte seine Fäuste und verpasste seinen Widersacher einen schweren Schlag ins Gesicht.
„Wer seid ihr verdammt?“, brüllte Tyler.
Einer der beiden Eindringlinge, nahm eine Spritze aus einem kleinen Etui, dass er aus der Innentasche seines Anzugs, heraus zog.
„Für Erklärungen ist keine Zeit. Ihr müsst mit uns kommen, die Zeit wird knapp.“
Joan legte sich auf die Lauer, wie ein Tiger auf Beutezug.
„Vergesst das lieber. Wir kommen nirgendwo mit hin.“
„Schluss mit der Spielerei. Dass ihr mitkommt steht nicht zur Debatte. Wichtiger ist was euch erwartet.“, der Mann mit der Spritze stürmte auf Tyler zu. Joan versuchte ihn wieder wegzustoßen, doch damit schien der Mann gerechnet zu haben, blitzschnell drehte er sich um und rammte ihr die Spritze in die Schulter.
„Tyler, lauf weg!“, sie spürte ein kurzes schmerzhaftes Ziehen im ganzen Oberarm.
„Nein! Joan!“ Tyler konnte dem einen Mann in schwarz gerade noch einen Kinnhaken geben, als der andere ihm von Hinten ebenfalls eine Spritze in die Schulter stieß.
Der Raum rückte in die Ferne, alle Geräusche wurden zu dumpfen Tönen, bis sie nur noch ein leises Rauschen im Nirgendwo waren, dann wurde es dunkel und alle Kraft wich aus ihren Körpern.
Einn monotones Brummen drang an die Ohren der Drat Geschwister, nach und nach bemerkten sie, dass sie sich bewegten. Tyler öffnete die Augen. Erst einmal kamen ihm grelle Sonnenstrahlen entgegen, bei denen er dachte jeden Moment erblinden zu müssen. Nach ein paar Minuten gewöhnte er sich jedoch an die Helligkeit und er musste feststellen, dass er in einem Auto saß. Joan befand sich neben ihm auf der Rückbank, ihre Augen waren noch geschlossen. Auf den Quadrat – ähnlichen Ledersitzen vor ihm sah er die beiden Männer sitzen, die ihnen diese ganze abartige Sache eingebrockt haben.
„Wo bringt ihr uns hin?“, Tyler wollte erst protestieren, doch er spürte noch die Schwäche, die das Schlafmittel in ihm auslöste.
„Keine Angst.“, der Mann auf dem Beifahrersitz drehte sich zu ihm um. „Wie wäre es mit einer Pause? Stell dir vor, du könntest einmal Urlaub von dem Grau da draußen, der Hektik und dir selber machen.“
Tyler blickte den Mann sprachlos ins Gesicht. Hatte er es doch gerade geschafft einen Punkt in Tyler aufzudecken, den er für gewöhnlich vor allen anderen versteckt hielt. ‚Urlaub von sich selbst hört sich so unerreichbar an’, dachte Tyler. Jetzt öffnete auch Joan ihre Augen, nach den wenigen Sekunden des Erwachens, stieg die Wut wieder an, mit der sie kurz zuvor ihr Bewusstsein verlor.
„Euch ist klar, dass ihr eine Entführung am Arsch habt, ja?“
Von der Fahrerseite hörten sie ein belustigtes Lachen, das aber auch einen Grad an Ernsthaftigkeit beinhaltete. Der Beifahrer wandte sich Joan zu.
„Ihr müsst wissen, dies hier ist keine Entführung im klassischen Sinn. Das alles geschieht im Namen der Menschlichkeit – ihr werdet schon sehen. Oder möchtest du lieber eines der Wracks werden, die in ihrer Wohnung vor sich hin vegetieren und nicht wissen was sie den ganzen Tag tun sollen?“
Ein Nebelfeld tauchte vor dem Fahrzeug auf, eine kleine weiße Wolke, in die der Wagen mit unveränderter Geschwindigkeit hineinfuhr. Doch statt wie gewohnt nach ein paar Sekunden auf der anderen Seite wieder aufzutauchen, blieb das Auto mit seinen Insassen verschwunden.
Tyler und Joan rissen vor Schreck die Augen auf und schauten aufgeregt aus den Fenstern. Die ganze Umgebung hatte sich innerhalb eines Augenzwinkerns verändert: Die Asphaltstraße wurde zum Feldweg, die Betonmauern zu Büschen und Bäumen, der graue Himmel war auf einmal strahlend Blau.
Das Fahrzeug wurde langsamer bis es vor einem rieseigen schwarzen Gittertor anhielt. Große Buchstaben befanden sich auf dem Gitter, sie bildeten die Wörter „Aller Seelen – Camping“.
Der Fahrer nahm seine Sonnenbrille ab und drehte sich zu ihnen um.
„In fünf Tagen holen wir euch wieder ab. Bis dahin dürftet ihr kuriert sein.“
Danach betätigte er auf der Armatur einen kleinen Knopf und die beiden hinteren Türen sprangen auf.
Der Beifahrer, der noch immer zu ihnen gedreht war, warf einen Blick hinaus.
„Ich denke ihr werdet das schaffen. Seid stark.“, er drehte sich wieder um.
Wie versteinert saßen die Drat Geschwister auf den Rücksitzen. Joan sah zu Tyler hinüber, Tyler warf seiner Schwester eine unausgesprochene Frage zu, woraufhin sie kurz nickte. Sie stiegen aus, gleich darauf klappten die Türen wieder zu.
Der Beifahrer sah den anderen Mann in schwarz an.
„Meinst du sie sind schon bereit dafür?“
Der andere Mann warf einen Blick in den Rückspiegel und beobachtete kurz die beiden Geschwister.
„Du weißt es geht nicht anders. Uns, vor allem aber ihnen, läuft die Zeit davon.“
Der Beifahrer setzte ein besorgtes Gesicht auf
„Ich hoffe es geht alles gut.“
Das schwarze Auto fuhr wieder davon.


***


Joan und Tyler betraten den Platz jenseits des schwarzen Eisentores. Jeder
Schritt den sie taten wirbelte Staub von dem sandigen Untergrund auf. Die Sonne schien auf sie herab und bereits jetzt herrschten Temperaturen wie in einem Glutofen.
Tyler hob eine alte, zerfledderte Broschüre auf. Die Farbe war schon ganz verblasst, der Rand war überall eingerissen und das Papier lag wie ein Lappen in der Hand.
„Sie mal hier.“
Joan drehte sich zu ihm rüber „Was ist das?“
„Scheint ein Flyer oder so was zu sein.“, Tyler las einen Text vor, den er mit Mühe entziffern konnte „Aller Seelen, ein Erholungsort für geschundene Seelen, Traumata und psychische Problemfälle.“
„Davon habe ich noch nie gehört.“, Joan warf den Kopf in den Nacken „Arrogante Pisser.“
Tyler ließ den Fetzen wieder zu Boden sinken und trat ihn von sich weg, eine hell-braune Staubwolke stieg auf.
„Diese verdammten Drecksäcke. Setzten uns einfach aus. Was sollen wir hier, uns hinlegen und sterben?“, Tyler murmelte noch ein paar Beleidigungen vor sich hin.
„Reg dich ab Bruderherz.“, Joan erkannte etwas in der Ferne, sie war sich nicht sich aber am Ende des Feldweges schien ein kleines Haus zu stehen. Sie legte eine Hand als Sonnenschutz über ihre Augen.
„Lass uns da mal hingehen. Vielleicht erfahren wir dann mehr.“
Sie kamen an der Holzhütte an. Vor den Fenstern hingen weiße Gardinen, die einen Blick in das Innere des Gebäudes versperrten. Erst schien es, als gäbe es keinen Eingang, doch dann erspähten die beiden einen schmalen Trampelpfad, der um die Hütte herum zu einer Tür führte. Joan klopfte. Ein Mann gehobenen Alters mit grauem, lichterem Haar öffnete ihnen. Die Handbewegung, mit der er die Geschwister herein bat, warf tiefe Falten in seinen verschlissenen Smoking.
„Herzlich willkommen am Aller Seelen Campingplatz.“, der Mann ging gemütlich rüber zu dem alten viktorianischen Schreibtisch, der am Ende des langen und schmalen Raumes stand. Er nahm drei Sektgläser von einem kleinen Beistelltisch und platzierte diese auf direkt vor Joan und Tyler.
„Es ist schön sie hier zu haben. Ich möchte mit ihnen nur noch kurz ein paar Formalien besprechen, danach können sie sich auf dem Gelände frei bewegen.“, er drehte sich mit seinem Stuhl zu einem kleinen Kühlschrank, der neben seinem Schreibtisch aufgestellt war und nahm eine Flasche Champagner heraus, mit der er die Gläser füllte.
Joan stieß Tyler mit einem Grinsen im Gesicht an.
„Und du sagst noch mal Shining sei ein unrealistischer Film gewesen.“, flüsterte sie ihm zu.
Der alte Mann nahm einen Schluck und wandte sich zwei Papieren zu, die vor ihm auf dem Tisch lagen.
„Kommen wir zu den formalen Teil. Bitte berichtigen sie mich, wenn eine Angabe falsch sein sollte. Datum des Eintritts ist der zweite September.“ Die Geschwister nickten.
„Namen, Tyler und Joan Drat, siebzehn und zweiundzwanzig Jahre alt.“ Beide nickten.
„Joan ist gerichtlich anerkannter Vormund von Tyler.“ Beide nickten.
„Joan arbeitet als Bürofachkraft, Tyler besucht die Schule.“ Beide nickten.
„Tyler, schizophrene Paranoia. Joan, schwere borderline Störung.“
Joan die gerade einen Schluck von dem Champagner nahm verschluckte sich ruckartig bei diesem Satz und spuckte die Hälfte beinahe aus.
Tyler verstand gar nichts mehr.
„Hören Sie, es muss sich hierbei um eine Verwechselung handeln.“
Der alte Mann sah kurz auf, schüttelte den Kopf und las weiter.
„Todesursache Tyler Drat: Herzstillstand mit sechsundvierzig. Todesursache Joan Drat Selbstmord mit dreiunddreißig.“
Fassungslos rissen die beiden ihre Augen auf.
„Wer lässt sich denn so was einfallen?“, Joan stellte empört ihr Glas bei Seite und sah rüber zu Tyler der wie gelähmt auf das Blatt Papier starrte.
„Kranke scheiße.“
Der Mann drückte Tyler einen Schlüssel in die Hand.
„Ihr bekommt das Zelt am West-Place.“
Tyler wollte sich nicht so einfach abwimmeln lassen.
„Was soll das heißen, Todesursache?“
„Nun, jeder stirbt einmal. Wenn ich sie bitten darf, sie halten den Verkehr auf.“, lächelnd verwies sie der alte Mann zur Tür und legte dabei die Formulare wieder weg.
„Erklären Sie uns das jetzt!“, die Faust von Tyler schlug so heftig auf den Tisch das zwei Gläser umkippten. Der alte Mann beachtete dies allerdings nicht weiter, er saß auf seinem Stuhl, legte die Hände vor sich auf den Tisch und starrte durch die beiden hindurch. Joan hob eine Hand und fuchtelte vor den Augen des Mannes herum, jedoch ohne Erfolg.
„Na schön, gehen wir, bevor Sigmund Freud hier noch in Arbeit erstickt.“
Die Drat Geschwister verließen das kleine Häuschen wieder und machten sich auf die Suche nach ihrem Zelt. Zu Beginn liefen sie zwischen etlichen Wohnwagen hindurch. Der Weg unter ihnen war nun schon wenigstens mit Steinen gepflastert, alles andere spielte sich auf weiträumigen Rasenflächen ab.
Das Wetter machte einem Bilderbuch Hochsommer Konkurrenz und es dauerte nicht einmal eine halbe Stunde, dass die beiden bei der Hitze zu keinerlei Suche mehr motiviert waren.
„Joan, wenn wir nicht gleich diesen beschissenen West-Place finden drehe ich noch durch.“
„Zaubern kann ich auch nicht, also reg dich ab. So groß hätte ich es mir gar nicht vorgestellt.“
Tyler sah sich weiter um.
„Hier kann man nicht mal jemanden nach dem Weg fragen. Wie kann das sein, dass alles so menschenleer ist?“
Joan erkannte von weitem eine großzügige Wegkreuzung mit einem Schild, auf dem eine Karte des Campingplatzes abgebildet war. Sie beschloss das ganze einmal aus der Nähe zu betrachten.
„Das ist ein Wegweiser.“
Tyler sah sie skeptisch an. „Gut Sherlock, wie geht’s weiter?“
„Wenn wir weiter geradeaus gehen kommen wir zu den Blockhütten. Links kommen nur noch mehr Wohnwagen und rechts sind die Zeltplätze.
„Dann sollten wir wohl rechts lang gehen.“, meinte Tyler mit ernster Miene.
Joan musste bei diesen plötzlichen Stimmungsschwankungen immer lächeln. „Auf geht’s Watson.“
Es dauerte nicht mehr lange, da erreichten sie ihren Zeltplatz und fanden das Zelt, für das sie den Schlüssel besaßen. Das war auch nicht weiter schwer, denn auf dem gesamten West-Place stand nur ein einziges Zelt. Joan schloss das kleine Vorhängeschloss, das an dem Reisverschluss befestigt war, auf. Staunen legte sich über ihre Gesichter. Das Wort Doppelzelt war stark untertrieben. In der Mitte des Zeltes lagen zwei breite Luftmatratzen, zu den Seiten hin war genug Platz um einen ganzen Hausstand unter zu bringen, man konnte sogar problemlos darin stehen. Das Vorzelt war nicht viel kleiner; ein Kühlschrank und ein Campingkocher, sowie Decken und ein paar Stühle mit Tisch befanden sich dort drinnen. Joan nahm den Zettel der am Kühlschrank hing ab „Wird täglich mit frischen Lebensmitteln und Getränken gefüllt.“
Ein Grinsen überzog wieder ihr Gesicht.
„So lässt es sich doch aushalten.“
„Da hätten sie uns auch gleich einen Wohnwagen geben können.“, meckerte Tyler.

***


Der Tag verging nur allzu schnell ohne, dass das Geringste geschah, die grelle Sonne verschwand unbemerkt und rauschende Laute legte sich über die Stille.
„Hört sich wie Regen an.“, Tyler hielt seinen Kopf aus dem Zelt „Joan, sieh dir das an. Ich glaub es nicht.“
Beide stiegen aus dem Zelt, vor ihnen spielte sich ein Phänomen ab, das sie noch nie zuvor gesehen haben. Der Regen stieg aus dem Boden heraus auf und tropfte in den Himmel. Jede Stelle aus der es tropfte begann in einem dunkelgrünen Farbton zu leuchten.
„Unglaublich. Wie kann das gehen?“, Joan erwartete keine Antwort, sie ging weiter ein paar Schritte auf den Platz hinaus.
„Ob es überall so aussieht? Lass uns doch eine Runde auf die anderen Plätze machen.“, schlug Tyler vor. Die Drat Geschwister machen sich auf den Weg zu dem Wohnwagen Park. Eine sehr helle Beleuchtung zog die Aufmerksamkeit der beiden schon von weitem auf sich. Mit den gepflasterten Wegen hörte der Regen allerdings auf.
„Abends geht hier wohl mehr ab.“, Tyler hoffte doch sehr, endlich etwas gegen diese strickte Langeweile tun zu können.
„Das will ich hoffen Ty, sonst kannst du mir eine Rheumadecke und Strick-Zeug schenken.“
Sie liefen eine Weile zwischen den Wohnwagen umher und sammelten die verschiedensten Eindrücke.
„Das ist wirklich schräg.“, Joan sah zu Tyler rüber, der wie hypnotisiert auf einen der Wohnwagen starrte „Ich komme mir vor wie in einem Wachsfigurenkabinett. Das war doch vorhin noch nicht da.“
In der Tat hat sich der Platz mit den Wohnwagen verändert. Vor jedem Wagen waren lebensgroße Marionetten aufgestellt, kleine Scheinwerfer beleuchteten sie und setzten die Puppen in Szene.
Jedes Mal wurden alltägliche Situationen dargestellt.
Joan und Tyler standen vor einer der kleinen Bühnen, bei der eine Marionettenfamilie zum Essen an einem Tisch saß. Tyler ging zu den regungslosen Figuren hinüber. Vorsichtig schlich er zwischen Blumen, umherliegenden Spielzeug und einem Grill herum, Joan folgte ihm mit der gleichen Aufmerksamkeit. Sie konnte ihre Augen einfach nicht von den Puppen lassen. Die Szene wirkte friedlich, wenn da nicht die Tatsache gewesen wäre, dass keine der Puppen ein Gesicht besaß. Sonst wurde wahrhaftig an jedes Detail gedacht: Alle trugen sie Kleidung, eines der Kinder hatte sogar einen Ketchup-Fleck auf dem T-Shirt, die Mutter trug einen Ring am linken Ringfinger. Was das Ganze so surreal machte, waren schlicht die fehlenden Gesichter und Haare, so waren sie nur ausdruckslose Dummys.
Tyler bewegte sich nach vorn, er war schon immer sehr neugierig gewesen und wollte einfach eine der Puppen berühren.
Seine Finger streiften das gummiartige Material.
„Verdammt!“, Joan schrie auf und sprang einen Schritt zurück. Tyler erschreckte sich ebenfalls fürchterlich und auch er wollte zurückweichen, doch stolperte er über eines der Spielzeuge und landete auf dem Hintern.
Die Puppen bewegten sich. Erst jetzt sahen die beiden, dass die Marionetten an hauchdünnen Stahlseilen befestigt waren.
„Was hast du gemacht?“, schrie Joan zu ihrem Bruder, der vor Schreck beinahe kein Wort heraus brachte.
„Nichts! Ich habe nur eine Figur berührt.“
Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, beobachteten sie das Szenario eine Weile. In steifen Bewegungen führten die Puppen leere Gabeln an die Stelle im Gesicht, wo sich der Mund befinden sollte. Die Mutter drehte dazu ihren Kopf abwechselnd hin und her.
„Was für eine Freak-Show.“, sagte Tyler.
„Die werden über Stahlkreuze bewegt.“, Joan deutete auf ein großes Kreuz, dass ungefähr zwei Meter über dem Wohnwagen hing.
„Lass uns weiter gehen.“, sie half ihrem Bruder aufzustehen.
„Wir sollten uns die Dinge lieber aus der Ferne ansehen.“, er klopfte sich kleine Erdklumpen aus der Kleidung.
Ihr Weg führte sie tiefer in die Wohnwagenkolonie herein. Joan blieb erneut vor einer der kleinen Bühnen stehen, auf der die Puppen eine Hochzeit darstellten. Das Ehepaar Arm in Arm, ein kleines Kind in einem hellblauen Kleid, auf das kleine Blümchen gestickt waren, stand daneben.
„Das ist wie damals, als Mama und Papa geheiratet haben.“, Joan versuchte sich zu erinnern.
Tyler begann wie auf Kommando zu Grinsen.
Joan wandte sich zu ihm.
„Was gibt es denn da zu lachen?“
Ihr Bruder konnte sich kaum noch beherrschen.
„Hast du etwa auch so ein zuckersüßes Blumen Kleidchen getragen?“, jetzt lachte er lauthals drauf los.
„Ha, ha! Nur zu deiner Information, mir hat es sehr gut gestanden.“, Joan sah fragend zu Tyler, der immer noch mit Lachen beschäftigt war.
„Es war sicher der letzte Schrei Mary-Kate.“
Joan boxte Tyler spielerisch gegen die Schulter. „Halt die Klappe.“
Der nächste Wohnwagen vor dem sie hielten zeigte eine Mutter, die ein Baby in den Armen hielt, ein anderes Kind stand davor und legte eine Hand auf das Knie der Mutter. Eine Szene weiter erblickten sie zwei große Puppen die sich in den Armen lagen, jeweils ein Arm der Mutter und ein Arm des Vaters hielten die beiden Kinder, die in der Mitte standen, fest. Besonders Tyler hatte einen glücklichen freudigen Ausdruck im Gesicht, als er dieses Standbild einer Familie sah. Hier hätte er den Rest der Nacht verbringen können, es fühlte sich so geborgen an, auch wenn diese Familie vor seinen Augen nur aus Marionetten-Dummys bestand. Dieser Szene schaute er noch nach, als sie bereits zwei Wohnwagen weiter waren.
Das nächste Exemplar unterschied sich deutlich von den anderen Wagen. Die Figuren trugen dunkle Kleidung und auch das Licht war kein warmer weiß-gelber Schein mehr. Rote und Blaue Lichter trafen auf die Szene. Sie verliehen diesem Bild eine Spur von Aggression und Kälte. Die Erwachsenen Puppen standen sich gegenüber, wie zwei streitsüchtige Katzen und zeigten mit dem Finger aufeinander. Die beiden kleineren Puppen saßen neben dem Wohnwagen, sie schauten heimlich um die Ecke.
„Sieht nach Streit aus.“, meinte Joan ohne jede Gefühlsregung.
Tyler, dessen Augen ihre Freude und ihren Ausdruck für einen Moment verloren hatten, war vollkommen aus seinen Gedanken gerissen.
„Sieht nach Trennung aus.“
Das rote Licht verbarg die Details, in den Gesichtern der beiden, was man jedoch erkennen konnte, war das Tylers Augen begannen wässerig zu funkeln.
„Die Kinder müssen alles mit ansehen. Pha! War ja klar.“, seine Stimme war sehr leise.
Joan merkte dass dieses Bild ihren Bruder sehr bewegte, sie legte ihre Hände auf seine Schultern und drehte ihn vorsichtig von dem Wohnwagen weg.
„Genug Puppentheater für heute. Lass uns gehen.“
Zurück im Zelt wirkte Tyler noch immer nachdenklich.
„Das kam mir so bekannt vor.“
Joan kam auf eine Idee „Na klar! Kam dir irgendwas davon fremd vor? Mir nicht. Es ist als würden sie all unsere Erinnerungen in Standbilder packen.“
Tyler sah Joan mit Schrecken an „Das sind unsere Erinnerungen.“


***


Den folgenden Morgen verschliefen die Drat Geschwister komplett und erst, als die glühende Mittagssonne das Zelt in eine Sauna verwandelte krochen die beiden aus ihrem Unterschlupf.
„Wie spät ist es?“, Tyler verzichtete gerne mal auf ein ‚guten Morgen‘.
„Eins“, rief eine Stimme aus dem Vorzelt, die gerade dabei war ein paar Brötchen zu schmieren.
„Was hältst du davon, wenn wir heute eine Runde zu den Blockhütten machen? Irgendwo muss doch was los sein auf diesem Platz.“, Joan reichte ihrem Bruder eines der Brötchen.
„Hoffentlich. Die ganze Sache hier ist echt öde.“
Ein wenig müde, schlurften sie vom West-Place herunter. Auf dem Weg zu den Blockhütten streiften sie zwangsweise das Gebiet mit den Wohnwagen, doch es hatte sich wieder einiges verändert. Die Marionetten waren verschwunden, nicht die geringste Spur deutete darauf hin wie es vergangene Nacht aussah. Mehr noch verwunderte es sie, dass hier sogar Menschen herumliefen, obwohl gestern noch alles komplett verlassen war.
„Joan, ich fange langsam an, an meinem Verstand zu zweifeln.“
„Machst du Witze? Endlich sind hier mal Menschen. Komm mit.“, die Geschwister steuerten auf den erst besten Wohnwagen zu, Joan ergriff sofort die Initiative.
„Guten Tag. Mein Name ist Joan Drat, das ist mein Bruder Tyler. Können sie uns sagen was hier abends geschieht? Ich meine wegen der ganzen Marionetten, die hier auftauchen.“
Nichts passierte. Der Mann saß vor ihnen, blätterte in einer Zeitung und ließ sich nicht weiter stören. Tyler winkte mit seiner Hand vor dessen Augen, doch der Mann zwinkerte nicht einmal.
„Hören sie nicht? Sie müssen uns helfen, bitte.“, Enttäuschung spiegelte sich in Joans Gesicht wieder.
Der Mann schien sie immer noch nicht wahr zu nehmen. Eine Kopfbewegung von Joan sagte, dass sie weiter gehen sollten. Sie ihren Weg Richtung Hütten fort.
„Ich hab’s! Wir sind gestorben und jetzt sind wir Geister. Was hältst du davon?“, Tyler trat dabei ein paar Steine vor sich hin und dachte im Stillen, dass er gar keine Antwort auf die Frage haben wollte.
„Du hast doch den gealterten Bond gestern gehört, ich begehe Selbstmord und du kriegst ´ne Herzattacke und außerdem passt das Alter nicht.“
Tyler sah seine Schwester mit zweifelndem Blick an.
„Du glaubst doch nicht wirklich was er gesagt hat? Ich meine, wie will so einer denn unsere Zukunft kennen?“
Joan zog ihre Augenbrauen zusammen und starrte vor sich auf dem Boden, wie ein kleines Kind dem man gesagt hatte der Weihnachtsmann sei tot.
„Ich weiß nicht was ich noch glauben soll.“
Nach einiger Zeit kamen sie bei der Blockhüttensiedlung an. Der Ort war, wie war es anders zu erwarten, menschenleer. Es reihte sich eine Hütte an die nächste, alle in einem tadellosen Zustand, in den Fensterbänken hingen meist Blumenkörbe mit den verschiedensten bunten Gewächsen.
Aber auch in der kleinen Siedlung geschah nichts, was die beiden Geschwister nicht gerade dazu veranlasste längere Zeit dort bleiben zu wollen. Erst am Rande des Blockhüttenkomplexes entdeckten sie ein kleines von Hand bemaltes Schild, in Form eines Pfeils auf dem das Wort „See“ geschrieben war. Tyler machte Joan auf dieses Schild aufmerksam. Joan nickte als Antwort. In einem Zustand von Enttäuschung und langerweile folgten die Geschwister dem Pfeil. Sie ließen die Blockhüttensiedlung hinter sich und noch etliche Meter bevor sie den See erreichten machten sie eine weitere Entdeckung.
„Die Hütte sieht ja Mal richtig scheiße aus.“, Tyler deutete auf eine sehr verwahrloste Hütte, die allein Mitten im Nirgendwo stand. Sämtliche Fenster waren mit einer dicken Schicht Staub überzogen, das Holz aus der die Fassade bestand war komplett verblichen und an einigen Stellen schon bedenklich stark eingerissen, selbst die Tür sah so aus, als wäre sie nicht mehr in der Lage unerwünschte Besucher fern zu halten.
Joan musterte die Hütte „Das ist die reinste Baracke, ich kann mir nicht vorstellen, dass darin jemand lebt.“
„Nichts von dem was wir bisher gesehen haben war so heruntergekommen wie dieser Bretterhaufen.“, Tyler symbolisierte mit einer Handbewegung, dass sie weitergehen sollten.
„Unheimlich.“, Joan zuckte mit den Schultern und folgte ihrem Bruder.
Auf der anderen Seite des Fensters schoben die dicken Finger einer rauen Hand den schweren dunklen Vorhang beiseite. Ein einzelner Lichtstrahl drang in die Schwärze des Raumes und legte ein kaltes grau-blaues und durch und durch emotionsloses Auge frei. Das röcheln einer zu lange belasteten Raucherlunge raschelte gegen den Stoff des Vorhangs.
Der See stellte sich als große Pfütze heraus. Der Wasserstand war sehr niedrig, man konnte die Sandbänke, die meist gut vom Wasser bedeckt waren hervortreten sehen, wie kleine Berge. Ungeachtet dessen, verbrachten Joan und Tyler einige Stunden dort, was nicht zuletzt daran lag, weil dort viele Bäume standen die einen beachtlichen Schatten warfen unter denen man herrlich ausruhen konnte.
Als sich die Geschwister wieder auf den Rückweg machten, brach bereits die Dämmerung ein.
Etwas erschöpft kam sie wieder an ihrem Zeltplatz an und überlegen, ob es irgendwas gab, womit man hier die Zeit totschlagen konnte.
„Was meinst du, holen wir uns was zu essen und gehen nochmal zu den Wohnwagen rüber?“, Joan wartete auf Tylers Antwort, die nach einigem Zögern dennoch den Weg aus seinem Mund fand.
„Vielleicht hat sich wieder etwas verändert.“, sagte er während er sich schon seinem Abendbrot widmete.
Gestärkt verließen die beiden den West-Place und folgten den Übergang zu den Wohnwagen. Sie sahen sich erneut ein paar der Szenen an, deren Hauptdarsteller die gesichtslosen Marionetten waren. Es waren nicht mehr die gleichen Bilder wie am vorherigen Abend. Die kleinen Marionetten schienen nun älter geworden zu sein und es gab eine Reihe von Standbildern, die Geburtstage und einen Umzug zeigten.
Von diesem Zeitpunkt an fehlte die Figur des Vaters.
Dieses Mal aber ließen sich Joan und Tyler nicht so leicht beeindrucken und hielten sich nicht lange vor einzelnen Wohnwagen auf. Ein blaues Licht in der Mitte des Platzes lockte sie. Das Blau war von überall aus sichtbar, wie eine Säule erhob es sich aus der Mitte der Wagen hinauf in den schwarzen Nachthimmel. Wohnwagen um Wohnwagen zog an ihnen vorbei und reihte sich zu den zahlreichen Erinnerungen, die hinter ihnen lagen – dann war es soweit.
Das blaue Licht umhüllte Tyler und Joan, der Ausdruck auf ihren Gesichtern war eine Mischung aus Verwunderung, Überraschung und ein wenig Trauer. Jede einzelne Emotion war in diesem Moment zutreffend. Eine männliche und eine weibliche Marionette in ihrer Größe und Statur standen vor ihnen, sogar die Kleidung war identisch. Zwischen ihnen und einen Schritt weiter zurück stand eine ältere männliche Puppe. Sie trug einen oliv-grünen Parker, darunter ein dunkelblaues Shirt und dazu blaue Jeans, ein Arm lehnte jeweils auf der Schulter der Marionetten vor ihm.
„Eine solche Erinnerung habe ich nicht.“, stellte Tyler skeptisch fest.
„Das sind Abziehbilder von unseren jetzigen ich’s. Aber…“, Joan stockte kurz bevor sie weiter sprach „…Dad haben wir schon länger nicht mehr gesehen. Nicht so.“
„Vor allem aber, steht er uns lange nicht mehr so nahe.“, Tyler schlug sich mit einer Hand auf den Oberschenkel, ein Bruchteil der Wut die in ihm brodelte fand so seinen Weg an die Oberfläche. Joan schüttelte traurig den Kopf. Dennoch konnten die Geschwister nicht einfach fortgehen, wortlos standen sie da, wie erstarrt.
Schwere Schritte schlurften hinter dem blau beleuchteten Wohnwagen über den Rasen, Metall funkelte in der Dunkelheit und warf ein paar helle Flecken auf die schmutzige Kleidung. Röchelndes Atmen folgte der Silhouette eines dickbäuchigen Mannes, der den Wohnwagen von hinten hinauf kletterte. Raue Hände, die aufgrund zu trockener Haut schon einige weiße Stellen aufwiesen, umklammerten jeweils einen Griff einer überdimensionierten und rostigen Heckenschere.
Das Geräusch zweier aufeinandertreffender Eisenklingen begleitet von einem kurzen Quietschen folgte.
Joan zuckte zusammen.
Tyler riss Augen und Mund auf.
Die Figur des Vaters fiel um, die dünnen Stahlseile geleiteten mit ihr zu Boden.
Ein älterer Mann um die vierzig sprang vom Dach des Wagens. Ein schräges Grinsen vertiefte die Falten in seinem Gesicht, sodass schwarze schattige Gräben entstanden, die ihn zusätzlich entstellten. Der Mann nahm die Heckenschere beiseite und hängte sie an den Handwerkergürtel, der um seine Hüfte hing. Danach zog er ein gelbliches Tuch aus der Hosentasche seines dunkelblauen, fleckenübersätem Hausmeisteroveralls und strich sich damit über seine fortgeschrittenen Geheimratsecken.
„Wenn ich mich vorstellen darf, ich bin der Platzwart oder auch Hausmeister von Aller Seelen.“, die Worte spuckte er förmlich mit seiner grollenden lauten Stimme aus.
„Ich sorge dafür, dass der Platz sauber bleibt und der Müll verschwindet.“
Die große Gestalt machte ein paar Schritte vorwärts. Erschrocken starrten die Geschwister den Mann an. Eine blitzschnelle Bewegung und die große Hand, die an einem vernarbten Arm hing packte Joan an den Haaren und riss den Kopf nach hinten in den Nacken. Sie hielt sich an dem Arm des Hausmeisters fest, um den Schmerz der durch das ziehen entstand nicht zu verstärken.
„Weißt du.“, brüllte er fast schon in ihr Ohr „Ich sollte dich mit sämtlichen Morphinen vollpumpen. Danach schneide ich dir den Bauch auf…“, der verstörte Alte drückte Joan schmerzhaft tief zwei Finger in die Magengegend „…dann reiße ich dir alle Eingeweide raus und serviere sie dir zum Abendbrot.“
Das krächzende Lachen holperte wieder aus seiner Kehle, bis es abrupt aufhörte.
Tyler rammte seine Faust gegen den dicken Bauch des Hausmeisters, sodass er einen großen Schritt zur Seite machte. Tyler packte Joans Arm und sie liefen so schnell ihre Beine es zuließen von dem Platz runter.
„Du dämliches Dreckstück, dafür werde ich dir jeden Finger einzeln abschneiden.“, der psychopatische Mann griff nach seiner Heckenschere und rannte ihnen hinterher. Schnell wie er war, konnte er den Abstand in Kürze verringern, es war nur eine Frage der Zeit bis er Joan und Tyler eingeholte. Zeit hatten sie nicht. Tyler lief voran, dicht gefolgt von Joan. Plötzlich tauchte ein Schatten vor ihm auf. Bei dem Versuch auszuweichen schlug er einen Haken zur Seite und riss seine Schwester mit sich in einen dunklen Graben. Joan wollte gerade wieder aufstehen, in diesem Moment drückte Tyler sie zu Boden.
„Hier kann er uns nicht sehen.“, flüsterte er.
Die Drat Geschwister blieben noch eine Weile auf der kalten Erde im Graben liegen und warteten bis sie nichts mehr hörten und das vom Schrecken explodierte Adrenalin etwas abgeklungen war. Vorsichtig standen sie auf und blickten sich um, niemand war in Sicht. Schnellen Schrittes machten sie sich auf den Weg zu ihrem Zelt. Der Regen vom Boden hatte nachgelassen.
Joan ging in das Zelt hinein, Tyler wollte ihr folgen, doch kurz bevor das Vorzelt erreichte, tauchte der Schatten wieder vor ihm auf und stieß ihn an der Schulter an.
„Entschuldigung Tyler Drat, Drat.“, hallte eine Flüsterstimme in seinem Kopf.
„Was?“, fragte er.
Aus dem Zelt tönte Joans Stimme „Hast du was gesagt?“
„Nicht so wichtig.“, Tyler betrat das Zelt, mit dem Gedanken, dass ihm sein Verstand einen witzlosen Streich gespielt hat.
Eine lange Nacht lag hinter ihnen. Die Luftmatratzen kamen ihnen vor wie Luxusbetten und auch die einfachen beigen Wolldecken wurden zu kuschligen, gemütlichen Schutzhüllen. Die Geschwister brauchten im Moment nur eines und das war Schlaf.


***


Vom Tag erlebten die beiden nicht viel. Tyler öffnete seine Augen, der schwere Schlaf, lag noch auf ihm und nach ein paar kurzen Anläufen erhob er sich aus dem traumlosen Abgrund in den Tag. Ein Blick auf die Uhr, am Kopfende des Zeltes, verriet ihm, dass es bereits halb vier Uhr nachmittags war. Andererseits hatte die Uhr keine Ziffern oder so etwas in der Art, es war eine einfache weiße Scheibe mit zwei Zeigern. Würde man die Uhr umdrehen, wäre es gerade einmal zehn Uhr morgens, dachte sich Tyler.
Joan war bereits wach, sie saß am anderen Ende des Zeltes die Beine hingen zum Vorzelt raus, ihre Arme waren auf die Knie gestützt. So nachdenklich sah man sie selten, gestand Tyler sich ein und richtete sich auf „Morgen.“
Joan drehte ihren Kopf für eine Sekunde leicht zur Seite „Morgen.“
Auch in den folgenden Stunden blieb die Stimmung zwischen ihnen ehr ruhig, fast schon beklemmt, zu nervenzerrend war die letzte Nacht.
Bei Einbruch der Dämmung standen Tyler und Joan vor dem Zelt, der Boden glühte schwach auf, gleich würden wieder Regentropfen, herauf tropfen.
„Wenn du mich fragst, sollten wir zu dem Anzugtypen an der Rezeption gehen.“
„Und dann?“, Joan blickte irritiert zu ihrem Bruder.
„Na, wir sollten ihn mal fragen was hier überhaupt los ist.“, Tyler riss energisch die Hände in die Höhe, als wäre die Antwort so simpel, dass man sie hätte greifen können.
„Oh ja, richtig. Wir haben uns schon am ersten Tag schon blendend unterhalten.“, spielte Joan Tylers Idee herab, doch dieser wollte sich die Provokation nicht gefallen lassen.
„Wenn wir hier an etwas zu Grunde gehen, dann ist es deine negative Ausstrahlung.“
Joan schubste ihn zur Seite. Ein Gerangel begann zwischen den beiden, es war nicht ernsthafter Natur, nur waren sie nicht von ihren Meinungen abzubringen und nun musste es einen Stärkeren geben. Tyler hatte Joans Kopf im Schwitzkasten, während sie versuchte ihrem Bruder einen Tritt in die Kniekehle zu verpassen.
Mit einem Windstoß begann ein wildes Rascheln von Blättern eines Baumes, der in der Nähe vor ihrem Zelt stand. Das Geräusch wich auch dann nicht, als der Wind nachließ.
Ein Seufzer ertönte in der Nähe.
Die Bewegungen der Geschwister stoppten, wie auf Kommando, die Angst kroch durch ihre Nerven und ließ ihre Gliedmaßen erstarren.
„Der Hausmeister?“, Panik lag in ihrer Stimme und Joan drohte vor Schreck zu erblassen.
Bei genauerem Hinhören stellten sie fest, dass sich dieser anfängliche Seufzer anhörte wie Lachen. Langsam gingen Joan und Tyler in Richtung des Baumes. Was sie sahen war für beide schlicht unglaublich.
„Daran erkennt man, dass ihr Geschwister seid.“, die Stimme klang abgehackt und entfernt, als spräche jemand durch eine enge Röhre. Jetzt erkannten die beiden den Grund für die seltsamen Töne – sie kam von einem Mann, der an dem Baum erhängt wurde.
„Aber Streit ist das Letzte an das ihr denken solltet.“
Immer noch ungläubig betrachtete Tyler den Untoten „Warum hängst du hier?“
„Und warum kannst du noch reden?“, ergänze Joan.
Auf dem faltigen Gesicht des Gehängten zeichnete sich ein Lächeln ab.
„Sie sagte mir, ich soll euch warnen.“, ein tiefes Keuchen folgte, der Gehängte rang nach Luft, um weiter sprechen zu können, wobei sich sein zerschlissener und dreckiger weißer Anzug aufblähte.
„Sie sagte mir, dass ihr zu der Rezeption geht und dass ihr eure Einweisungspapiere stehlen wollt.“
Tyler sah fragend zu Joan, diese zuckte mit ertappter Mine mit den Schultern.
„Ich glaube eh nicht was da drinnen steht.“, versuchte sie sich zu rechtfertigen.
Die Laute des Gehängten wurden wie auf Knopfdruck lauter, rauer, vor allem aber wütender.
„Solltest du aber! Es ist das Ende des Traumes aus dem du nicht aufwachen wirst.“
Tyler wirkte wieder gefasst „Wer oder was steckt hinter der Warnung?“
Der Gehängte lachte „Ich wurde vor fünfzehn Jahren hier eingewiesen.“, die Rede wurde unterbrochen, als der Mann wieder tief Luft holte „Ich stahl meine Papiere und verbrannte sie. Meine Strafe ist dieser Baum. Ich bleibe hier, Folter genug.“
„Also sind wir praktisch tot.“, Tyler senkte seinen Blick zum Boden.
„In ihrer Welt, ja. Aber die Zeit am Strick hat mich einiges gelehrt. Lebt nicht in ihrer Welt und versucht euch nicht in eurer zu verstecken. Die Dinge geschehen dazwischen. Das habe ich zu spät entdeckt.“
Joans Augenbraun senkten sich zu einer kämpferischen Mine.
„Du sagtest du wurdest eingewiesen. Was bedeutet das. Ist das hier eine Art Irrenanstalt?“
Der Regen setzte ein und damit verschwand der Gehängte.
„Hey, ich war noch nicht fertig!“, schrie Joan in die Leere.
Tyler versuchte sie zu beruhigen „Lass uns gehen.“
Joan kniete sich auf den Boden „Mir ist nicht mehr danach, den Platz heute zu verlassen.“
„Was, wenn wir da unten was Wichtiges verpassen?“
„Zum Beispiel? Das Marionetten-Schauspiel in dem ich mich umbringe oder das in dem du eine Herzattacke kriegst?“, Joan war sichtlich wütend. Die Wut rührte aber in erster Linie daher, dass ihr langsam die Ideen ausgingen und sie nicht wusste, was sie hier zu suchen hatten. Ein Gefühl von Ohnmacht breitete sich in ihr aus und die Frage, ob ihr Ende schon feststeht, war in ihrem Kopf allgegenwärtig. Tyler wollte ihr gerne irgendetwas Aufmunterndes sagen, etwas hoffnungsvolles, aber letztendlich entschied er, dass es im Moment wohl besser war, Joan eine Weile allein zu lassen, damit beide wieder auf andere Gedanken kommen konnten.
„Gut, meinetwegen kannst du die Nacht mit Schmollen verbringen. Ich werde mich noch etwas auf dem Platz hier umsehen.“, Tyler machte sich auf den Weg den Zeltplatz zu erkunden, glücklicherweise regnete es nicht so stark wie in den vergangenen Nächten.
Der West-Place war groß und umgeben von unzähligen Büschen, Sträuchern und Bäumen. Im Grunde hatten hier eine Menge Zelte Platz, es stand jedoch nur ein Zelt dort und das war ihr eigenes. Gelangweilt wollte Tyler schon wieder zurückgehen, als er einen schmalen Pfad entdeckte, der zwischen ein paar Büschen hindurch führte. Seine Neugier siegte und er verschwand in dem dichten Wirrwarr von Pflanzen. Hinter dem Gestrüpp lag ein kleiner Spielplatz.
Der Boden bestand, anders als auf dem Zeltplatz, aus Sand, dass bedeutete, dass es hier nicht regnete. Tyler sah sich um, trotz der Dunkelheit konnte er erkennen, dass die Schaukel und das Klettergerüst mit Rutsche schon sehr alt und abgenutzt aussahen. Er ging an der Schaukel vorbei und verpasste ihr einen kleinen Schubs, dass sie hin und her schwang, dabei bemerkte er nicht wie hinter ihm die Umrisse eines Kindes auftauchten. Tyler sah sich weiter um, bis aus dem Nichts ein Ball auftauchte und gegen seinen Rücken prallte. Erschrocken drehte er sich um, konnte aber nichts entdecken.
„Fang!“, rief eine Kinderstimme und der Ball flog erneut auf ihn zu.
„Wer bist du? Zeig dich!“, rief er in die Dunkelheit hinein.
Ein kleiner Junge tauchte vor ihm auf.
„Spielverderber“, rief der kleine, lief an ihm vorbei und sprang in den Sandkasten. Tyler sah ihm hinterher, doch als er den Rücken des Jungen sah, ereilte ihn der nächste Schock. Der Rücken war übersäht von tiefen blutverschmierten Schnitten, teilweise sah es so aus, als hätte man große Stücke Fleisch herausgerissen. Er schlich hinter dem Jungen her. Der kleine war im Sandkasten mit irgendetwas beschäftigt, aber Tyler konnte von weitem nichts Genaues sehen.
„Wie ist dein Name? Ich heiße Tyler.“, die kleine Person ließ sich nicht ablenken, seine Hände waren weiterhin an der Arbeit.
„Joshua. Meine Mama sagt aber immer Josh.“
Tyler war diese Situation so suspekt, dass er lieber auf Distanz blieb, er wagte sich gerade einmal so weit vor, dass er sehen konnte womit der Junge beschäftigt war. Wie ein Alptraum, dachte Tyler, diese Szene könnte aus einem Horrorfilm stammen. Vor dem Jungen lag eine tote Taube, ein Messer steckte in ihr und das Kind war dabei ihr die Flügel abzutrennen.
„Sag mal Josh, was ist mit deinem Rücken passiert?“, Tyler sprach langsam.
Eine Zeit lang herrschte stille, dann flüsterte der Junge „Ehrlich, ich habe versucht nicht so zu werden. Ich kann nicht anders. Mich haben sie nicht vorher gewarnt.“
Tyler wusste nicht was er antworten sollte, er hatte keine Ahnung wovon der Junge sprach.
Das Kind drehte sich zu Tyler um.
„Der Müll muss weg vom Zeltplatz.“
Tylers Augen weiteten sich. Plötzlich zog sich ein Strick um seinen Oberkörper und um seinen Hals.
Joan saß mit einem Glas Kola Rum vor dem Zelt. Sie hatte die Stühle und den Tisch aus dem Vorzelt nach draußen geräumt und stellte ein kleines Radio auf den Tisch, das sie im Zelt gefunden hatte. Auf allen Sendern war nur Rauschen zu hören. Nach einiger Zeit fand sie doch noch einen Sender, dort spielte gerade Bill Dogett‘s Honky Tonk. Sie summte leise die Melodie mit, der Blick in ihrem Gesicht entsprach jedoch ganz und gar nicht der Gemütlichkeit dieses Augenblickes. Trauer spiegelte sich in ihren Augen wieder.
Ein Flüstern drang an ihr Ohr.
„Was?“, Joan sprang auf, die Stimmen waren zu leise und zu schnell, als dass sie hätte verstehen können was sie sagten. Das Flüstern wurde lauter, schneller. Es war, als existierten die Stimmen nicht wirklich, sie klangen so entfernt und doch schienen sie direkt in ihrem Kopf zu klingen. Joan kniff die Augen zusammen, das schrille Durcheinander schmerzte in ihrem Kopf, sie presste die Hände gegen die Stirn. Auf einmal hörte sie nur noch „Lauf, lauf, lauf zu Tyler. Zu Tyler.“
Joan lief ein paar Schritte weiter auf den Platz hinaus. Neben ihr tauchte ein Schatten auf und flüsterte ihr zu „Der Spielplatz.“, danach begann eine Spur auf dem Boden zu leuchten und wies ihr den Weg.
Tyler lag auf dem Boden und versuchte sich aus den Fesseln zu befreien, dabei zog sich die Schlinge um seinen Hals immer weiter zu. Er rang nach Luft, aber langsam wurde auch das immer schwerer. Vor seinen Augen wurde es dunkler und dunkler.
Mit einem Mal verschwand der Druck um seinen Hals und er holte so tief Luft, dass er glaubte seine Lunge müsste platzen. Das nächste was er sah, war Joan, die die Stricke um seinen Körper löste.
„Lass uns hier abhauen Ty.“, Joan half ihrem Bruder auf die Beine zu kommen und sie verließen den Spielplatz. An ihrem Zelt jedoch warteten schon lauter Schatten. Sie besaßen die Form von Menschen, aber keinerlei Details, keine Gesichter, nichts desgleichen – es waren einfach nur Schatten. Erneut vernahmen Joan und Tyler schnelle Flüsterlaute.
„Wir, wir müssen reden, müssen reden.“
„Ich bin euch dankbar für die Hilfe, aber können wir das verschieben?“, Joan ging in Richtung Zelt.
„Danke? Wofür dankst du ihnen?“, Tyler folgte ihr mit verwirrtem Ausdruck.
„Sie haben mich vor ein paar Minuten zu dir geführt. Andernfalls, naja…“, Joan atmete tief aus „Hätte ich nicht einmal geahnt, dass du in Schwierigkeiten steckst.“
Die Schatten flüsterten wieder „Bitte, bitte, bitte helft uns, helft uns.“
„Wobei?“, Tyler versuchte einen Punkt innerhalb des Schattens zu fixieren, was ihm schwer fiel, denn er sprach praktisch in die Leere.
„Der Hausmeister, Hausmeister.“, die Laute der Schatten, gerieten zunehmend durcheinander und Tyler und Joan konnten sie kaum noch verstehen.
„Er ist, ist außer Kontrolle. Außer Kontrolle. Aller Seelen wird kaputt, kaputt gemacht.“
„Wir sollen dieses Monstrum aufhalten, ja? Nun bei unserer ersten Begegnung hätte er uns gerne in unsere Einzelteile zerlegt.“, ein ironischer Unterton schwang in Joans Worte mit, sie konnte den Schatten nur sehr schwer Vertrauen entgegen bringen.
„Einsperren. Er muss im Keller, im Keller eingesperrt werden.“
Tyler schüttelte den Kopf „Dann verratet uns auch gleich wie wir das anstellen sollen, wir werden ihn kaum darum bitten können.“
„Fragt die Mutter. Die Mutter. Im Haus. Im großen Haus. Sie kann sehen. Sehen. In der Nacht.“
Die ersten Sonnenstrahlen traten über den Horizont und die Schatten verschwanden einer nach dem anderen. Joan sah Tyler müde an.
„Was meinst du? Können wir ihnen trauen?“
Tylers Gedanken überschlugen sich förmlich, es war so viel um sie herum geschehen, dass er selber kaum noch entscheiden konnte was richtig und was falsch für sie war.
„Naja, sie haben uns mehr als einmal geholfen.“
Was meinst du? Da war nur die Sachen von vorhin, oder Tyler?“
Schuldbewusst sah er ihr in die Augen.
„Als wir vor dem Hausmeister wegliefen, erschrak mich einer von ihnen und nur deswegen sind wir in dem Graben gelandet.“
„Und du dachtest, das wäre nicht der Rede wert?“, Joan verschränkte die Arme vor der Brust, sie klang jetzt sehr gereizt.
„Das war ein Bruchteil einer Sekunde…“, versuchte Tyler zu erklären.
„In der sie unser Handeln manipulieren.“, unterbrach Joan ihren Bruder grob.
„Joan. Du weißt genauso wenig wie ich wen oder was wir hier vertrauen können. Ich fände es nur hilfreich, wenn wir ab und zu mal einen Hinweis bekommen, zu dem was hier vor sich geht.“
Joan schloss kurz die Augen.
„Vielleicht besuchen wir mal diese Mutter. Aber erst nächste Nacht. Ich bin einfach nur noch müde und außerdem habe ich von Silent Hill langsam die Nase voll.“
Joan ging ins Zelt und legte sich gleich auf ihre Matratze. Tyler wartete noch einen Moment, vielerlei Gedanken strömten durch seinen Kopf. Er hasste es wenn ihre Gespräche auf diese Art und Weise endeten.


***


Die Sonne ruhte auf dem West-Place und der Tag floss im grellen Schein dahin, während Tyler und Joan ausschliefen. Diese Ruhe waren sie nicht gewohnt. Erst zu Beginn der Abendstunden, kehrte wieder Leben bei ihnen ein.
Die Geschwister Drat waren gerade mit dem Essen fertig, als Joan elanvoll aufsprang.
„Auf geht’s Ty. Wir gehen heute einen entlaufenen Psychopaten einsperren.“, sagte sie in einem belustigten Tonfall, der Tyler heute gar nicht gefiel.
„Könntest du die Sache vielleicht ein bisschen ernster nehmen?“
„Oh ich bin ernst. So ernst wie man sein kann, wenn man von Starsky und Hutch entführt wird und an einem Ort ausgesetzt wird, der aussieht wie Freddy Krügers super Alptraum. Das wird bestimmt das spannendste, was mir in den nächsten elf Jahren passiert.“
Tyler zog skeptisch seine Augenbrauen zusammen.
„Das spukt dir also im Kopf herum. Du hast einfach schiss vor dem, was dir in Zukunft blühen wird.“, Verständnislosigkeit lag in Tylers Stimme, schließlich hing ihrer beider Zukunft in der Schwebe.
„Wie würdest du reagieren, wenn du erfährst, dass zweidrittel von deinem Leben schon vorbei sind?“, Joans überspielt frohes Gesicht, wich einem besorgten Ausdruck.
Tyler mochte diese Vortäuscherei von ‚alles-ist-in-Ordnung‘ überhaupt nicht.
„Du glaubst ihnen? Selbst wenn es stimmen würde, wer sagt, dass du dich jemals umbringen würdest? So bist du noch nie gewesen.“, schrie Tyler sie an.
Tränen bildeten sich in Joans Augen und sie wendete ihren Blick von Tyler ab.
„Joan?“, Tyler beobachtete ihre Reaktion „Komm schon, was ist los?“
Sie rang nach Worten. Auf einmal waren so viele Bilder aus der Vergangenheit in ihrem Kopf.
„Was weißt du schon. Als du vor vier Jahren im Krankenhaus gelegen hast, wusste keiner so genau, ob du noch mal aufwachst. Du hast fast drei Monate im Koma gelegen. Es war einfach schrecklich.“
Tyler verstand nicht worauf seine Schwester hinaus wollte.
„Daran kann ich mich noch erinnern. Wir sind auf ein altes Baugerüst geklettert, weil ich ein Bild an ein Gebäude sprayen wollte, es fing an zu regnen, ich bin abgerutscht und gefallen. Dumm gelaufen.“
„Dumm gelaufen? Ich hätte dich locker festhalten können. Aber ich hatte Angst da runter zu fallen. Ich hätte nur nach deiner Hand greifen müssen, dann wäre das alles nicht geschehen. Ich hatte genug halt. An diesem Abend wärst du fast gestorben.“, erzählte Joan in einem resignierten Wortlaut.
Tyler wollte nicht unbedingt darüber reden, jedoch konnte er seine Schwester jetzt nicht allein lassen.
„Das war meine Schuld. Ich habe in dem Moment nur daran gedacht mich fest zu halten.“, eine Träne quoll aus Joans Auge.
„Woher hättest du das wissen sollen.“, Tyler sah sie fürsorglich an.
Joan wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Wenn du gestorben wärst, dann hätte ich glaube ich den Verstand verloren. Oder ich…“
„Ok, ich lebe doch. Du auch. Damit sich das so schnell nicht ändert, sollten wir jetzt gehen und dem dahergelaufenen Michel Meyer verschnitt den Arsch aufreißen.“
Joan lächelte, endlich löste sie die Kette, die zu lange um ihr Herz gespannt war.
Die Drat Geschwister verließen das Zelt und machten sich auf die Suche nach dem Haus, von dem ihnen die Schatten berichtet hatten. Vorbei an dem Wohnwagen Park kamen sie wieder bei der Rezeption an. Von hier aus konnten sie es sehen, es war das einzige richtige Haus weit und breit. Es sah gespenstisch aus, die dunkelbraune Holzverkleidung und das schwarze Dach ließen das Haus in der Nacht fast schon mit dem Himmel verschmelzen.
Die Veranda knarrte laut, als Tyler seinen Fuß darauf setzte. Nun standen sie vor einer massiven Eichenholztür, die ihnen den Weg versperrte. Beide sahen sich um.
„Schrei mich sofort an, wenn du eine Klingel siehst.“, Joan widmete sich den Fenstern, um einen Einstiegspunkt zu finden.
„Das Haus stammt mit Sicherheit aus einer Zeit in der es noch keine Klingel gab.“, Tyler drückte aus einem Akt der Ratlosigkeit gegen die Tür, ein leises Quietschen riss prompt die Konzentration der beiden an sich. Joan starre mit Verwunderung auf Tyler, dann zur Tür.
„So einfach kann es sein.“
„Entweder das, oder jemand wartet bereits auf uns.“
Sie betraten das Haus. Nach ein paar Schritten standen sie in einem schummerig beleuchteten Flur von dem aus sie in das große Wohnzimmer schauen konnten. Jedenfalls vermuteten sie, dass es sich um ein Wohnzimmer handelte, denn vor den Fenstern hingen dunkelblaue Vorhänge, die den Raum verdunkelten. Mit Mühe sahen sie die Umrisse von einem Sofa, Sessel und einem Tisch. Die Geschwister setzten vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um nicht irgendetwas, dass in der Dunkelheit versteckt war, um zutreten und mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, als nötig war. Tyler ging voran, als er gegen etwas Weiches trat, das daraufhin panisch vor seinen Schritten flüchtete. Die leisen traurigen Worte einer Frau erfüllten den Raum.
„Tyler sei vorsichtig, du wärst fast auf Turtle getreten. Er ist doch schon so alt.“
Er hörte vor Angst sein Herz schlagen, doch seine Antwort kam reflexartig aus seinem Mund.
„Wer ist Turtle?“, auch wenn er statt ‚wer‘ lieber ‚was‘ gefragt hätte.
„Turtle ist mein Kater.“, antwortete die Frau.
Es vergingen Minuten ohne dass eine der drei anwesenden Personen ein Wort sprach. Tyler und Joan standen wie angewurzelt auf ihren Plätzen und versuchen die Position der Stimme zu orten. Eine schmale Hand zündete eine Kerze an. Jetzt konnten sie erkennen, dass die Frau auf einem breiten Sessel saß, der mit dunkelroten Seidentüchern bedeckt war. Die mysteriöse Unbekannte, zündete weitere Kerzen an, die auf kleinen Halterungen auf der rechten und linken Sessellehne befestigt waren.
„Bitte setzt euch.“, die Frau wies mit einer Hand zum Sofa gegenüber ihres Sessel. Ihre langen strähnigen Haare glänzten im Kerzenschein, in ihrem Gesicht warfen die Schatten dunkle Ränder unter die Augen. Sie trug eine helle Bluse, die Farbe konnten Joan und Tyler wegen der schwachen Beleuchtung nicht richtig erkennen, jedoch sahen sie dunkle verschmierte Flecken. Das könnte Blut sein, dachte Joan, in ihrem Kopf schrillten die Alarmglocken.
„Denk doch nicht gleich an so makabre Dinge Joan.“, die Frau deutete auf die Flecken. „Heute Nachmittag habe ich einen Kuchen gebacken, ich hatte nur noch keine Zeit mich umzuziehen. Wir schweifen ab.“, die zittrige Stimme legte eine kurze Pause ein, bevor sie sich wieder fing um monoton weiter zu sprechen.
„Mein Name ist Sally Gordon. Aber hier in Aller Seelen nennen sie mich immer ‚die Mutter‘.“
Tyler beugte sich etwas vor um sie besser sehen zu können.
„Man hat uns gesagt sie würden uns helfen den Hausmeister unschädlich zu machen.“
Die Mutter lehnte sich zurück, sodass ihr Gesicht kaum noch zu erkennen war.
„Das ist richtig. Er muss unbedingt in meinem Keller eingesperrt werden, lebendig.“
Joan zuckte mit den Schultern, sie schien sich von der plötzlichen Emotionslosigkeit nicht beeindrucken zu lassen.
„Gut, aber wie sollen wir das machen? Er ist ein cholerisches Monster und das ist noch stark untertrieben.“
„In meinem Keller steht ein Käfig, dort soll er geheilt werden. Genaueres erzähle ich euch später. Zuerst aber, brauche ich eure Hilfe.“, die Mutter legte ihre Hände in den Schoß.
Tyler schüttelte mit dem Kopf.
„Wusste ich doch, dass die Sache einen Haken hat.“
Joan blickte, mit Misstrauen, zwischen den beiden hin und her, ihr war nicht entgangen, dass die Frau bei dem letzten Satz erneut etwas weinerlich klang. War diese Gefühlskälte von vorhin nur dazu da, um vor ihnen etwas zu verstecken?
„Um was genau geht es?“, fragte Joan, dabei beobachtete sie die sogenannte Mutter haarscharf.
„Meinen Sohn. Ich will, dass mein Sohn nach Hause kommt. Josh ist schon seit Tagen da draußen.“, Tränen flossen ihr nun über das Gesicht, trotzdem blieb sie stumm. Kein Schluchzen war zu hören, nicht einmal den geringsten Seufzer brachte sie hervor, nur die Tränen zeigten ihre Gefühle. Das Gesicht blieb kalt und ungerührt.
„Wir werden uns darum kümmern, aber wenn wir ihn haben, erzählen Sie uns alles was wir wissen müssen.“, Joan sah ihr Gegenüber mit fester Entschlossenheit an. Es dauerte nicht sehr lange, da waren die Tränen der Mutter wieder getrocknet.
„Joan Drat. Ich sehe in der Nacht. Ich kann sehen was mit den Menschen passiert, noch bevor sie selbst es auch nur ahnen. An mir sind schon hunderte Leben vorbei gezogen, die weniger von Bedeutung waren. Ich habe nur äußerst selten mit einem dieser traurigen Seelen gesprochen. Wenn ihr also Hilfe wollt, solltet ihr dringend an eurem Fingerspitzengefühl arbeiten.“
Die Mutter und Joan blickten sich fest in die Augen. Es hätte ein Streit ausbrechen können, sie hätten aufstehen und sich wild beschimpfen können oder gar in Handgreiflichkeiten enden können. All diese Möglichkeiten, lagen in diesem einen Moment in ihren Augen. Doch Joan sah noch etwas anderes, etwas viel mächtigeres in ihrem Blick von dem sie nicht wusste was es war.
„Joan wir sollten keine Zeit verlieren.“, stieß Tyler endlich seine Schwester an.
„Hör auf deinen Bruder.“, die Mutter wandte ihr Gesicht den Kerzen zu. „Auf wiedersehen.“
Die beiden Geschwister waren schon wieder auf dem Flur, da packte Tyler Joan am Arm.
„Warte kurz. Ich bin mir sicher ich habe ihren Sohn schon einmal gesehen.“
„Was? Wann war das?“, fragte Joan.
„Gestern auf dem Spielplatz. Bevor ich gefesselt wurde, sah ich einen Jungen, ich frage nach seinen Namen und er antwortete Joshua.“
Joan verdrehte die Augen „Mal überlegen. Wann wolltest du mir das doch gleich erzählen?“
„Spielt das jetzt eine Rolle? Ihn hierherzubringen wird bestimmt nicht leicht. Er kann echt bösartig werden. Er sagte der Müll müsse weg vom Zeltplatz. Kommt dir das bekannt vor?“, Tyler wirkte etwas aufgeregt.
Seine Schwester nickte.
„Der Hausmeister. Du meinst, es gibt parallelen zwischen den beiden?“
„Wir brauchen etwas mit dem wir den Jungen hierher locken. Wir sollten uns vorher noch in seinem Zimmer umsehen.“, Tyler sah die Treppe hinauf, die vor ihnen lag.
Es dauerte nicht lange, da standen sie auch schon in dem Zimmer des Jungen und ihnen kam einiges darin bekannt vor. Der Schreibtisch war voll von Miniaturmarionetten, die scheinbar eine Geschichte erzählten. Eine große Marionette schlug eine kleine, ein anderes Mal lag die kleine Marionette am Boden und wurde von der großen getreten. Die Szenen setzten sich fort bis zu einem letzten schrecklichen Standbild: die große Marionette hielt ein Messer in der Hand und die kleine Marionette lag auf dem Boden, sie war bedeckt mit roter Farbe.
„Grandiose Fantasie der Kleine. Wie wollen wir ihn an den Ort des Schreckens zurück bringen?“, Tyler ließ seinen Blick auf den Puppen ruhen.
Währenddessen überlegte Joan, was sie nun tun sollten.
„Er hält alles Fremde für Müll oder bessergesagt er hält Leute denen es besser geht als ihn für Müll. Wir müssen Vertrauen zu ihm aufbauen.“
Tyler durchzuckte ein eine Idee „Wenn wir ihm eine dieser Szenen hier vorspielen, dann wird er mit garantiert an diese Zeit zurück erinnert. Er ist sauer auf seinen Vater oder hat Angst, jedenfalls wird er versuchen dem Opfer zu helfen. Einer von uns flüchtet dann mit Josh hierher zurück.“
„Und der andere?“, Joan sah Tyler fragend an, obwohl sie sich der Antwort längst bewusst war.
„Wir nehmen noch ein paar Dinge mit.“
Entschlossen den Jungen nach Hause zu bringen gingen die Drat Geschwister zum Spielplatz. Als sie ankamen, war weit und breit niemand zu sehen.
„Sieht schlecht aus.“, Joan ging ein paar Schritte umher.
„Vertrau mir, er wird kommen, wenn wir anfangen. Denk dran wir treffen uns dann im Haus.“, Tyler ballte vor Aufregung seine Hände zur Faust, er versuchte so verängstig auszusehen wie es nur möglich war.
„Ich hoffe nur du hast dich nicht geirrt, was den Jungen angeht.“, Joan atmete noch einmal tief durch, danach sah sie zu ihrem Bruder rüber. Dieser nickte und gab damit das Startzeichen.
„Du kleiner Drecksack! Dir werde ich es zeigen.“, Joan holte mit einem Stahlrohr aus, das sie aus dem Haus mitnahmen und schlug knapp an Tyler vorbei. Er schmiss sich zu Boden, die Hände schützend vor den Körper haltend.
„Tu es nicht. Bitte schlag mich nicht.“
Wieder schlug Joan so, dass das Rohr knapp neben Tylers Körper auf kam. Tyler zerdrückte unter seinem T-Shirt eine Tube roter Farbe und fing lauthals an zu schreien.
Der Junge kleine Jung erschien hinter Joan und verpasste ihr einen wuchtigen Hieb in die Rippen. Vor Schmerz gekrümmt, machte sie ein Satz rückwärts uns sah wie der Junge auf sie zulief. Josh holte erneut aus, diesmal traf er Joan an der Schläfe und brachte sie zum Fallen. Joshua war viel kräftiger als die beiden gedacht hatten. Joan lag am Boden und sah bunte Schlieren vor ihrem Auge umhertanzen.
„Josh!“, rief Tyler dem Jungen zu „Josh hilf mir!“, der Junge lief zu Tyler rüber und half ihm aufzustehen „Wir sollten hier weg.“, flüsterte der Junge. Tyler reagierte in Sekunden.
„Ich habe ein Versteck, komm mit.“, sie liefen an Joan vorbei. Der Junge drehte sich noch einmal um, er riss seinen Fuß und die Höhe und trat, der noch immer am Boden liegenden Joan, in die Kniekehle.
Ein schmerzhaftes Stöhnen entrann ihr. Sie zog ihr Knie fest an den Körper, doch musste sie auch daran denken ihre Rolle weiter zu spielen. Sie streckte ihren Kopf in die Höhe.
„Warte nur ab bis ich dich in die Finger bekomme. Dann kommst du nicht mehr so einfach davon.“, rief sie laut in Richtung ihres Bruders.
Tyler versuchte so viel Angst in seine Stimme zu legen wie es ihm möglich war.
„Josh, komm schon wir müssen weg.“
Nun lief Tyler mit dem Jungen zum Haus der Mutter. Joan folgte ihnen humpelnd mit einigem Abstand. Am Haus wartete sie einen Moment vor der Tür. Tyler öffnete ihr.
„Und? Hat es geklappt?“, Joan schlurfte in den Flur.
„Ja, Josh sitzt in seinem Zimmer. Als wir das Haus betraten wirkte er wie verwandelt. Er war freundlich sagte hallo zu Sally und verschwand in sein Zimmer.“, Tyler beobachtete die Bewegung seiner Schwester.
„Das sieht aber nicht so gut aus. Ich komme gleich zurück.“
Joan humpelt in das Wohnzimmer.
Tyler kam einen Augenblick später mit einem Kühlbeutel nach und setzte sich auf das Sofa zu Joan.
Er musste weiterhin an den Jungen denken.
„Sally, haben sie sich Josh mal etwas genauer angesehen? Die Wunden auf seinem Rücken…“
„Tyler, Josh ist seit zwanzig Jahren tot.“, keinerlei Emotionen lagen in ihrer Stimme.
Diese Tatsache überrumpelte Tyler komplett. Joan hingegen setzt ein nahezu perfektes Pokerface auf, während sie ihr Bein hochlegte und ihr Knie mit dem Kühlbeutel versorgte.
„Schön und gut, wir haben ihnen geholfen, jetzt helfen sie uns.“
Die Mutter sah Joan immer noch traurig an.
„Ich erzählte euch von dem Käfig. Ihr braucht allerdings noch den Schlüssel. Soweit ich weiß, findet ihr den in der Hütte des Hausmeisters. Er wohnt in einer zerfallenen Hütte in der Blockhüttensiedlung.“
„Was für ein Zufall.“, Tyler starrte die Mutter an. Ohne auch nur im Geringsten auf diese Bemerkung zu reagieren fuhr sie fort.
„Lockt ihn in den Käfig, den Rest erledige ich.“
Joan nahm den Kühlbeutel von ihrem Knie und setzte sich wieder richtig hin
„Es ist schon fast Morgen.“
„Der Hausmeister ist immer nachts unterwegs.“, die Mutter nahm ein aufgeschlagenes Notizbuch in die Hand, das die ganze Zeit auf ihrem Schoß lag „Ich möchte, dass ihr das lest.“, sie übergab den beiden, das rote Buch „Ich sehe die Zukunft anderer Menschen. Ich schreibe sie auf und eine Kopie davon, geht an die Rezeption. Der alte Mann entscheidet dann, was für die Patienten relevant ist zu wissen. Andererseits enthält er ihnen auch einiges vor.“
Durch einen kleinen Spalt im Vorhang, drang bereits das erste Licht des anbrechenden Morgens und legte sich auf die eine Gesichtshälfte der Mutter. Ihr gesenkter Blick wirkte müde, vollkommen erschöpft und verbraucht „Das ist meine Aufgabe. Die Menschen deren Zukunft ich sehe, treffe ich meist nie. Das will ich auch gar nicht – das wäre zu schmerzhaft. Viele von ihnen kommen zu ‚Aller Seelen‘ und werden Therapiert. Sie sollen mit sich ins Reine kommen. Aber bei euch, konnte ich mich nicht zurückhalten. Es ging einfach nicht. Lest.“
Joan und Tyler nahmen das Buch in die Mitte ihre Augen flogen mit voller Konzentration über die Seiten:


„25. August, 1:15 Uhr
Name: Joan Drat – Selbstmord mit 33 Jahren.
Zukunft: Etwas Schreckliches geschieht / ein Mensch wird brutal er
mordet / Joan bringt eine unschuldige Person um / schwere Schuldge-
fühle treten auf / keine Hilfe mehr möglich / borderline Persönlichkeits-
störung tritt auf / legt selbstverletzendes Verhalten an den Tag / ver-
steckt all das vor ihrem Bruder / wird verfolgt von den Erinnerungen an
den ermordeten /Wahnvorstellungen / sagt das für sie eine Grenze ver-
schwimmt / begeht Selbstmord“

„25. August, 1:19 Uhr
Name: Tyler Drat – Herzstillstand mit 46 Jahren.
Zukunft: Kann den Selbstmord von Joan nicht verstehen / sucht bei allen
möglichen Leuten nach Rat / hat Kontakt zu zwei Männern / schwarze
Anzüge in einem Schrank / Freunde / die Männer erzählen ihm zum
ersten Mal von Aller Seelen / er vermutet Joan dort zu finden / Tyler
findet den Ort / sieht wie Joan den Campingplatz aufräumt / Joan reißt
Tyler das Herz raus




Ein langes Schweigen trat ein. Eine unbehagliche stille, setzte sich in ihren Köpfen ab. Tyler war der erste der die Unfassbarkeit aus dem Raum drängen wollte.
„Hast du das alles gesehen?“
Die Mutter hatte Tränen in den Augen „Es ging alles sehr schnell, es reihte sich Bild an Bild, die Notizen habe ich beinahe blind geschrieben. Ich sah es so, wie es da steht. Diese Vision war so realistisch, so… nahe.“
Joan streckte ihr leicht verletztes Bein, die Schmerzen ließen ein wenig nach.
„Ist immer alles eingetreten was sie gesehen haben? Kann man nichts an diesen Vorhersagen ändern?“, Joan konnte dass, was sie da las nicht glauben.
Die Mutter lehnte sich im Sessel zurück, ihr Gesicht lag nun wieder im Schatten versteckt, nur das Funkeln der Augen, konnte man noch erkennen.
„Nicht in dieser Welt. Wenn ihr es schafft, dann handelt nicht nach dem Muster eurer Welt und handelt nicht nach dem Muster dieser Welt. Findet es. Findet etwas dazwischen.“
Joan stand auf „Tyler, es ist spät ich… kann nicht mehr richtig denken. Ich muss raus. Sally, wir werden uns wiedersehen.“, Joan ging in Richtung Tür.
„Ich verstehe nicht…“, Tyler blickte zwischen seiner Schwester, die schon im Begriff war zu gehen und Sally hin und her „Aber, warte doch!“, rief er aus dem Wohnzimmer zu Joan. „Sally, danke für ihre Hilfe. Wie kommen noch einmal vorbei, sobald wir den Schlüssel haben. Bis bald.“, Tyler wollte gerade den Raum verlassen, da hörte er die Mutter im Hintergrund leise sprechen.
„Du wirst noch sehen Tyler, du wirst noch sehen.“
Die Geschwister verließen das Haus, keiner von ihnen sagte ein Wort, ihre Füße trugen sie automatisch zurück zum West-Place. Der Horizont färbte sich schon rosa-orange. Im Vorbeigehen bemerkten sie das bei den Wohnwagen kein Licht mehr brannte. Wieder war eine Veränderung eingetreten.
Die Marionetten sahen nun sehr alt aus und dreckig. Die Kleidung, sofern sie noch welche trugen war an vielen Stellen eingerissen, einigen fehlten Arme oder Beine, die nun mehr vor den Wagen verteilt herum lagen.
„Wie geht es dir?“, fragte Tyler vollkommen unerwartet.
„Mein Knie tut noch etwas weh sonst erfreue ich mich bester Gesundheit.“, Joan fühlte sich mental gelähmt von dem was sie gerade im Haus der Mutter erfahren haben, dass sie es am liebsten wieder vergessen hätte. Die Vision von ihrer Zukunft gefiel ihr ganz und gar nicht. Aber was blieb ihnen noch übrig, um all dem zu entkommen. Natürlich sorgte sie sich auch um ihren Bruder und entschied ihre gespielte härte für einen Moment zurückzustellen.
„Was ist mit dir?“
„Ich… hab Angst. Ich kapiere nicht, was wir hier machen und warum wir eine solche Zukunft haben sollen oder wie wir sie ändern sollen.“
Joans Gesicht war gezeichnet von einem melancholischen Ausdruck.
„In irgendeiner Art und Weise müssen wir mit diesem Hausmeister in Verbindung stehen. Wenn wir ihn tatsächlich einfangen sollten…“, Joan stockte, mittlerweile schien auch sie der Mut verlassen zu haben. „…vielleicht verändert sich dann die ganze Sache.“
„Was ist, wenn etwas schief geht und du jemanden umbringst? Wenn das alles schon hier anfängt?“, Tyler überlegte sich alle ihm logisch erscheinenden Wege, deren Weichen sich in ihrer Zeit in Aller Seelen gestellt hatten.
„Du meinst, wenn ich den Hausmeister umbringe?“, Joan sah ihren Bruder mit festem Blick an. Sie sprach aus, was er nur dachte und Tyler spürte plötzlich Zweifel in sich aufsteigen, was ihren Plan betraf. Sie waren wieder an ihrem Zelt angekommen. Joan holte etwas zu trinken aus dem Kühlschrank.
„Wir sollten uns hinlegen. Morgen steht viel auf dem Plan.“
Tyler sagte nichts mehr. Er wollte sich nur noch hinlegen und schlafen. Seine Gedanken drehten sich um die folgende Nacht bis die Müdigkeit in ihm siegte und ihn herab in einen traumlosen Schlaf zog.


***


Die Sonne ging auf und wieder unter. Es ist schon einige Zeit vergangen, als die Geschwister Drat zu Letzt die Sonne sahen, aber sie wussten, dass sich die bedeutenden Dinge in der Nacht abspielten, in der Dunkelheit.
Tyler und Joan waren seit ein paar Minuten wach und bereiteten gerade ein gigantisches Frühstück vor. Spiegeleier, Waffeln, Salat, Müsli – einfach alles was der Kühlschrank hergab. Beide zeigten sich von bestgelaunter Seite.
„So wie ich das sehe haben wir noch ein paar Stunden Zeit, bis Mitternacht. Wir sollten noch einmal richtig reinhauen.“, Tyler lud sich zwei Spiegeleier auf.
„Sollte sich herausstellen, dass das hier unsere Henkersmahlzeit ist, dann sollten wir nicht pingelig sein.“
Erstaunlicherweise schafften sie es beinahe das gesamte Repertoire an Frühstücksutensilien zu vernichten. Joan lehnte sie vollgestopft in ihrem Stuhl zurück. Tyler aß gerade noch die letzte Waffel, als der Boden anfing zu glühen.
„Sieh dir das an. Die Nacht beginnt wieder in Aller Seelen.“, Joan räumte die Überreste ihres Mahls ab, danach legten sich die Geschwister ins Gras, unter ihnen jeweils eine Isomatte, die den Regen abhalten sollte. Jedoch blieb die all abendliche Routine aus, es Regnete diese Nacht nicht. Tyler blickte in den schwarzen Himmel, er suchte nach Sternen, aber selbst die waren wie verschluckt.
„Weißt du noch als wir das eine Mal mit Dad Zelten waren?“
Joan lachte kurz laut auf „Die Geschichte mit dem Krebs?“
„Er hatte ihn aus dem Wassergeholt, weil er dir einen Schrecken einjagen wollte.“, Tyler setzte sich auf. Ein Teil seiner Gelassenheit kehrte wieder zurück.
„Bis er gestolpert ist und der Krebs verschwunden war. Oh ja, ich werde nie den überraschten Schrei am nächsten Morgen vergessen, als der Krebs, dann auf seinem Schlafsack gesessen hat.“
„Er saß direkt auf Brusthöhe.“
Beide fingen laut an zu lachen, wie schon seit langem nicht mehr. Die Zeit die sie bisher hier verbrachten, war doch meistens ernst oder auch beängstigend. Sie hätten schwören können, dass sich auch in ihnen etwas verändert hatte. So viele Erinnerungen lagen hinter ihnen – ihre Köpfe waren Schnellzüge auf dem Weg ins Ungewisse.
Der Abend schritt weiter fort und es war beinahe Mitternacht, als die Drat Geschwister sich auf dem Weg zur Hütte des Hausmeisters machten.
„Tyler, mir ist aufgefallen, dass wir rein gar nichts dabei haben um uns zu verteidigen. Wir müssen aufpassen, dass er uns nicht erwischt.“, Joan wirkte nachdenklich.
„Das wird nicht einfach. Danach müssen wir noch zu Sally, alles vorbereiten.“, Tyler konzentrierte sich auf das was vor ihnen lag. Im Stillen dachte er sich jedoch, dass es vielleicht gut war, keine Waffen dabei zu haben.
Der Anblick der Blockhüttensiedlung hatte sich seit ihrem ersten Besuch nicht geändert, keine Menschen, nichts geschah. Sie näherten sich der zerfallenen Hütte, Abseits des Platzes.
„Wir sollten zusehen, dass wir durch eins der hinteren Fenster reinkommen.“, Tyler versuchte von weitem sehen zu können, ob sich etwas oder jemand in dem Haus bewegte.
Sie schlichen zwischen einer alten Waschmaschine und etlichen kaputten Möbelstücken um das Haus herum. Joan sah durch ein Fenster, das einzige, vor dem kein Vorhang hing. Es schien sich bei dem Raum um die Küche zu handeln.
„Ty, halte Ausschau nach unserem Psychopaten, ich versuche das Fenster auf zu machen.“
Es kostete sie kaum Anstrengung. Die Scharniere, die das Fenster verschlossen, waren so marode, dass ein kräftiger Hieb genügte um sie aus dem Holz zu reißen. Lediglich das knackende Geräusch von brechendem Holz sorgte für eine Schreckenssekunde.
„Mach doch nicht so einen Krach.“, Tyler stieß seine Schwester an der Schulter an.
„Kann ich auch nichts für. Der Bretterhaufen ist total Termiten zerfressen.“
Das Fenster war geöffnet und die Drat Geschwister stiegen in die Küche ein. Das erste was sie feststellten war, dass die Räume in einem genauso erbärmlichen Zustand waren wie die Fassade.
Die Küche war vollgestopft mit haufenweis Elektrogeräten und Kartons – viel bewegen konnte man sich nicht. Joans Augen wanderten von einer Ecke in die andere.
„Ok, wenn du ein psychopatischer, abschlachtlustiger, Messi-Hausmeister wärst, unter welchem Schrotthaufen würdest du die Schlüssel für dein Verließ verstecken?“
Tyler überlegte sichtlich angestrengt „Würde ich hier vor mich hin vegetieren, würde ich nichts verstecken. Das lohnt sich einfach nicht.“, meinte Tyler letztendlich.
Die beiden bahnten sich ihren Weg Richtung Wohnzimmer. Lauter ausgestopfte Tiere hingen an den Wänden. Auf dem Sessel und dem Sofa lagen überall ausgebreitete Zeitungen. Unter einem riesen großen Elch Kopf stand eine Kommode auf der verschiedene Werkzeuge zu sehen waren. Joan stieß gegen den Couchtisch, noch bevor sie ihn genauer ansehen konnte. Sie vernahm ein Wohnzimmer – ungewöhnliches Geräusch von verschmierter Masse, die mit schmatzenden Lauten ihren Weg vom Tisch herab suchte. Gedankenlos sah Joan auf den Tisch und machte vor Schreck einen Sprung nach hinten, in einen Haufen von Zeitschriften.
„Besitzt der Typ keinen Keller?!“, brach der Schrei aus ihr heraus.
Tyler starrte auf den Tisch, während er Joan wieder hoch half.
„Der Keller ist bestimmt reserviert für die Leiche seiner Mutter.“
Auf dem Tisch lag der verweste Kadaver eines Fuchses, die Bauchdecke war geöffnet und die Gedärme waren über den kompletten Tisch verteilt. Etwas wackelig auf den Beinen durchsuchten sie den Raum, konnten aber nichts finden, dass in entferntesten so aussah wie ein Schlüssel.
Joan warf ihren Kopf in den Nacken, der Geruch von Verwesung erschwerte ihr das Denken.
„Wo würde ich meine Schlüssel hinlegen?“
Tyler gab ein stoßartiges, kurzes Lachen von sich.
„Du lässt deine Schlüssel überall liegen. Ich würde sie in der Nähe der Tür aufbewahren.“
Joan ging zur Eingangstür, dort hingen sauber und ordentlich aufgehängt drei Schlüssel.
„Gut kombiniert Agent Starling.“
„Witzig.“, konterte Tyler.
Joan steckte die Schlüssel in ihre Jackentasche und gerade als sich beide ein paar Meter von der Tür entfernt hatten, hörten sie wie von der anderen Seite jemand aufschloss.
„Scheiße, er kommt, wir müssen weg.“, Tylers Augen weiteten sich vor Angst.
Die Geschwister liefen zurück in die Küche. Tyler kletterte als erster durch das Fenster, vielmehr wurde er von Joan hindurch geschoben. Leider trat er dabei einen Stapel Teller um, der auf der Küchentheke stand, über die sie klettern mussten. Das Klirren verriet sie. Joan war gerade dabei aus dem Fenster zu steigen, als die Tür aufflog und der Hausmeister hereinstürmte.
„Ihr kleinen Bastarde! Ausstopfen werde ich euch und eure Gedärme werde ich zum Frühstück verspeisen!“
Tyler zog seine Schwester durch das offene Fenster, doch gelang es ihrem Widersacher ihren Fuß zu packen. Durch einen Blick nach hinten sah sie gerade noch wie der Hausmeister ein großes Messer aus der Schublade zog und auf sie einstechen wollte. Da begann Joan wie wild los zu treten, sie traf die Hand, die das Fleischerbeil ähnliche Messer festhielt. Das Ziehen von Tyler katapultierte sie förmlich aus dem Haus und beide landeten auf dem Boden im Dreck.
„Am besten wir laufen durch den Garten.“, Tyler deutete auf die, mit sämtlichen Gerümpel zugestellte Rasenfläche. Fackeln wiesen, mit einem dämmrigen Schein den Weg. Sie rannten los, vorbei an einem Schuppen, der nur noch aus zwei Wänden bestand, vorbei an einem rostigen Autowrack. Der Boden war übersäht von Hindernissen, die es beiden schwer machten sich vorwärts zu bewegen. Im Laufen fiel Tylers Blick auf einen Baum. Zahlreiche Zeichnungen, die aussahen, als hätte sie ein fünfjähriger gemalt, hingen daran. Sie bildeten Personen ab und viele rote Farbkleckse.
Ein plötzlicher Gedankenblitz schoss Tyler durch den Kopf und er war für eine Sekunde unachtsam.
Ein lauter schmerzhafter Schrei entrann Tylers Lunge und er ging zu Boden. Sofort drehte sich Joan um „Nein, nein, nein, nein, nein!“, schrie sie. Ihr Bruder setzte sich auf.
„Scheiße ist das eine Bärenfalle?“, Tyler biss die Zähne zusammen, der Schmerz fraß sich langsam durch sein gesamtes Bein. Joan und Tyler versuchten die Falle mit ihren Händen aufzustemmen.
„Warum geht das nicht.“, Panik klang in Tylers Stimme mit.
„Das blöde Ding ist vollkommen verrostet, wir brauchen eine Stange oder was ähnliches.“, Joan sah sich hektisch um.
„Halte durch.“, sie entfernte sich ein paar Schritte von ihrem Bruder und wühlte sich durch einen Berg Metallschrott. Es dauerte nicht lange und sie fand einen schmalen Zaunpfahl, mit dem sie zurück zu Tyler rannte. Ihre Befürchtung wurde war. Sie waren zu dritt.
„Sieh an, sieh an. Schön euch Missgeburten wiederzusehen.“, der Hausmeister hielt noch immer das Messer in der Hand.
„Ihr werdet mir meinen Platz nicht streitig machen. Mir ist egal was sie sagt, eure Köpfe werden gleich an meiner Wand hängen. Weg mit dem Müll!“, der Hausmeister holte aus. Joan stürmte los, ihr Blick visierte die Heckenschere, die am Gürtel der monströsen Gestalt hing an. Innerhalb von Sekunden griff sie sich die Schere. In geduckter Haltung, holte sie Schwung. Tyler starrte auf das Messer. All seine Gedanken, all seine Erinnerungen schienen sich in der Klinge zu spiegeln. Konnte es sein? War dies das Ende? Joans Augen blitzten wutentbrannt. Ihre Hände hielten die Griffe so fest, dass es schmerzte. Ihr Kopf hob sich, sie fixierte ihr Ziel. Die Messer der Schere richteten sich gegen den Hausmeister.
Die Ereignisse der letzten Tage durchzuckten Tylers Gedanken „Das ist Josh.“, sein Augen weiteten sich, jetzt verstand er das Ausmaß der Vorhersagen, die die Mutter getroffen hatte.
„Tu das nicht. Joan, nein.“


***


Totenstille. Nichts bewegte sich. Nicht einmal der geringste Luftzug war zu spüren. Der Himmel war schwarz, kein Stern wagte sich aus seinem Versteck. Der kleine Junge vom Spielplatz lag bewusstlos in den Armen der Mutter.
„Josh. Sie wollen dir nichts wegnehmen.“, ihre Arme umklammerte den Jungen.Sein Atem war unruhig, der Brustkorb hob und senkte sich in einem schnellen unruhign Rhytmus.


***


Zur gleichen Zeit füllten sich die Wege in der Blockhüttensiedlung. Hunderte von Füßen stapften über den grau gepflasterten Boden. Steife Bewegungen von gesichtslosen Gestalten reihten sich aneinander. Alle waren auf dem Weg in die gleiche Richtung. Der große Marionettenkonvoi schritt zu der zerfallenen Hütte, ohne einen Stopp gingen sie hinter die Baracke in den Garten. Sie bildeten einen lückenlosen Kreis, ohne jede Fluchtmöglichkeit. In ihrer Mitte befanden sich drei graue versteinerte Figuren, es handelte sich dabei um Tyler, Joan und den Hausmeister. Die drei verharrten in dem Moment in dem Tyler auf dem Boden saß mit der Bärenfalle an seinem Fuß, die Klinge des Hausmeisters war auf ihn gerichtet, Joan war dabei ihre Attacke auszuführen. Das Schicksal sollte seinen Lauf nehmen.
Eine große Marionette, die den Konvoi anführte trat aus der Kreisform hervor und berührte Tyler an der Schulter. Während dieser Berührung zeichnete sich auf dem Kopf der Puppe ein Gesicht.
Tylers Versteinerung löste sich, er schreckte zurück bevor er sich der neuen Situation gewahr wurde. Die Marionette befreite Tyler von dem schmerzhaften Eisen an seinem Fuß und setzte sich zu ihm. Tyler beäugte ihn verwirrt.
„Du trägst das Gesicht von meinem Vater. Wer bist du?“
Die Marionette legte eine Hand auf das Gesicht.
„Ich suchte in deinen Gedanken nach einer Person, die du mit Schutz verbindest.“
„Was ist passiert? Warum sind Joan und der Psycho versteinert?“, die Puppe sah kurz zu ihnen hinüber.
„Du kennst die Antwort bestimmt. Du weißt das der Mord den Joan begeht der Auslöser für eine traurige und kurze Zukunft ist.“
Verzweiflung wurde in Tylers Augen sichtbar.
„Es heißt doch, sie begeht den Mord an einen unschuldigen. Ist er unschuldig?“, fragte er voller Trotz.
„Die Dinge sind nicht immer so wie sie scheinen. Du hattest diese Idee. Du nanntest den Hausmeister Josh. Du hattest Recht, das ist er.“
Tyler saß immer noch auf dem Boden, er legte den Kopf in den Nacken und sah in den schwarzen Himmel.
„Was?“, flüsterte er, obwohl er genau wusste was gemeint war.
Die Marionette fuhr in einem ruhigen monotonen Wortlaut fort.
„Joshua Gordon brachte vor zwanzig Jahren seinen Nachbarn um, weil er dachte dieser Mann hätte kurz zuvor seine Frau getötet. Er war ein guter Mann, sorgte für seine Frau, plante eine Familie. Als sich herausstellte, dass sein Opfer nichts mit dem Mord zu tun hatte, ertrug Josh das nicht und versuchte sich umzubringen. Danach lag er im Koma. Wir beschlossen ihn hierherzuholen, damit er die Flecken von seiner Seele waschen kann. Ihm wurde die Rolle des Hausmeisters zugeschrieben, damit er mit sich aufräumen kann.“
Die Puppe legte eine Pause ein. Tyler starrte in das Abbild von dem Gesicht seines Vaters, dann fuhr sein Gegenüber fort.
„Er ist niemals ein solcher Tyrann gewesen, doch seine Persönlichkeit zerfiel, sein inneres Kind, wenn man es so nennen will, lief weg und hinterließ ein wahres Monster.“
„Das meint ihr also, wenn ihr von Therapie sprecht.“, Tyler verschränkte die Arme vor der Brust „Das Ganze würde auch Joan blühen?“
Die Marionette nickte.
„Joan weiß, dass sie niemanden umbringen darf, ohne damit die Hölle los zu treten. Wir waren bereits bei der Mutter. Sally erzählte uns was sie sah. Joan bring ihn nicht um.“


***


Ein schwarzer Füller flog in Windeseile über die vergilbten Blätter eines Notizbuches, die Hand kam nicht mehr zum Stillstand. Sally zog ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, die andere freie Hand hielt ihren pochenden Kopf. Blut tropfte aus ihrer Nase.


***


„Wir tun nichts was gegen eure Entscheidung geht. Wir sind schließlich Marionetten. Aber ich biete dir an das Schicksal weiter aufzuschieben. Ihr bekommt eine zweite Chance, dass alles abzuwenden.“, die Marionette stand nun ebenfalls auf.
„Wo ist der Haken, was muss ich dafür tun?“, Tyler stemmte die Hände in die Hüften.
„Die Frage ist, ob du ihr zutraust diese Entscheidung über eure Zukunft hier und jetzt zu fällen. Vertraust du ihr geht alles weiter. Wenn nicht, nehmen wir den versteinerten Josh mit. Ihr verlasst Aller Seelen wieder. Aber ihr lauft weiterhin Gefahr, dass die Vorhersage eintrifft.“
Tyler sah ihn fragend an.
„Wie bitte? Ich dachte, wenn wir hier rauskommen ist alles gegessen?“
Die Marionette senkte ihren Blick.
„Ihr seid hier, weil ihr gerettet werden sollt. Versteh doch, wäret ihr nicht eingewiesen worden, so hätte Joan einen Mord begangen.“
Tyler nickte „Die Entscheidung wird fallen, egal wo?“
„Ja.“, antwortete die Marionette.
Tyler ging rüber zu Joan er schloss die Augen und flüsterte kaum hörbar zu seiner versteinerten Schwester.
„Was auch immer du vorhast. Es funktioniert nicht, weder in unserer Welt, noch hier. Lass uns rausfinden was dieses ´dazwischen´ ist, von dem immer alle reden. Ich glaube an dich.“
Tyler sah sich um und hob ein langes Seil vom Boden auf.
„Lasst sie weiter machen.“
Die Marionette zögerte „Bist du dir sicher?“
„Hundertprozentig sicher.“
Die Farbe kehrte zurück in die Figuren, aus den steinernen Skulpturen wurden wieder menschliche Körper. Die Klinge begann im schwachen Licht der Fackeln zu funkeln. Doch bevor der Hausmeister seine Bewegung beenden konnte, ließ er das Messer fallen. Ein kurzer kaum hörbarer Schrei folgte. Joan machte mit der Heckenschere einen weiten Bogen und stach sie in den rechten Fuß des Hausmeisters.
Tyler humpelte hinter die große Gestalt und schnürte das Seil um seinen Oberkörper, solange er noch durch den Schock, den die Schmerzen auslösten, erstarrt war. Gleichzeitig liefen die Marionetten auf den Hausmeister zu und hielten ihn fest.
Mitten in dem Gemenge sah sich Joan mit konfusem Gesichtsausdruck um.
„Was ist hier passiert?“
„Das erzähle ich dir gleich, zuerst kümmern wir uns um den Hausmeister.“
Die Marionetten umringten den großen Mann, sie hielten ihn fest, womit sie eine Flucht unmöglich machten. Joan und Tyler führten den Puppenkonvoi zum Haus der Mutter. Auf dem Weg dorthin klärte Tyler seine Schwester über die gesamten Vorgänge der letzten halben Stunde auf.
Die Mutter öffnete die massive dunkle Eingangstür zu ihrem Haus und begleitete sie in den Keller, der junge Josh hielt die Hand der Mutter fest. An ihrem Ziel angekommen erblickten Joan und Tyler zum ersten Mal den Käfig. Er hatte die Größe einer Abstellkammer und die dicken schwarzen Eisenstäbe waren verziert mit goldenen Buchstaben und Mustern, an drei Seiten außerhalb des Käfigs waren Spiegel aufgestellt. Joan nahm die Schlüssel aus ihrer Jackentasche und schloss die Käfigtür auf. Die Mutter ging ein paar Schritte vor und löste sich von der kleinen Kinderhand.
„Ich habe dir erklärt was du jetzt tun musst Josh.“, sagte sie und wies ihm den Weg in das große Eisengestell. Daraufhin bahnten die Marionetten den Weg für den auffällig ruhigen Hausmeister, der ohne jeden Protest ebenfalls in den Käfig hinein ging.
Der alte Josh setzte sich hin und reichte dem jüngeren die Hand. Zögerlich ging der junge Josh auf die sitzende Person zu und nahm die Hand.
Alle drei Spiegel zersprangen mit einem lauten klirren.
Was übrig blieb, war ein Mann von circa achtundzwanzig Jahren, der kaum noch Ähnlichkeit mit dem grausamen Psychopathen besaß, der er vor kurzem noch gewesen war. Ein entspanntes Gesicht mit feinen Zügen und grün-braunen Augen betrachtete seine Hände und sah an dem schlanken Körper herab und wieder hoch. Dann näherte er sich der einen Seite des Käfigs, an der die Drat Geschwister standen.
„Joan, Tyler, ich danke euch.“, ein klare und freundliche Stimme drang durch die Stille. „Ihr habt mich befreit aus dieser Sackgasse.“
Joan setzte, was wohl nach einer solchen Nacht Bewunderung verdiente, ein Lächeln auf.
„Das nächste Mal musst du bei der Berufswahl besser aufpassen, der Hausmeister steht dir nicht.“
Joshua Gordon erwiderte das Lächeln.
„Dir auch nicht. Ich denke ich werde den Hausmeister mit mir nehmen… und was deinen Bruder angeht.“, Josh sah aus dem Käfig zu Tyler rüber. „Auf sein Bauchgefühl kannst du dich verlassen.“
Mit diesen Worten verschwand Joshua Gordon in einem leichten Hauch von Nebel. Mit ihm auch das Gemenge von Marionetten.
Die Mutter begleitete Tyler und Joan nach ober in den Flur. Joan wandte sich Sally zu.
„Eines ist mir nicht ganz klar geworden, was hatte es mit den Marionetten auf sich?“
„Wisst ihr, in Aller Seelen, soll den Menschen ihr eigenes Unterbewusstsein direkt vor Augen geführt werden, sie sollen ein Gefühl für diese Seite von sich entwickeln. Die Marionetten sollen das verdeutlichen. Ihr habt sicher die Puppen in Joshs Zimmer oben gesehen. Nun, tatsächlich hatte er eine ganz normale Kindheit, doch die Trennung seiner Persönlichkeiten lösten in ihm grausame Wahnvorstellungen aus.“
Eine nachdenkliche Stille trat ein. Das Gesicht der Mutter erhellte sich.
„Für euch wird es nun Zeit zu gehen.“
Tyler sah sie mit großen Augen an „Im ernst?“
„Ihr habt gelernt, was ihr lernen solltet, gesehen was ihr sehen solltet und ihr habt getan was für euch richtig war. Ich hatte diese Nacht eine Vision und ich muss euch sagen, dass hier ist unser letztes Treffen.“
Joan schüttelte ihr die Hand „Sie wissen nicht wie froh ich bin das zu hören.“
Tyler tat es ihr gleich „Sally, nochmals danke für ihre Hilfe.“
„Holt euch von der Rezeption eure Entlassungen ab. Lebt wohl.“
Die Mutter blieb an der Tür ihres Hauses zurück und sah wie die beiden um nächste Kurve verschwanden. Die Morgenröte kletterte langsam über den Horizont.
Tyler klopfte an die Tür des Rezeptionshäuschens. Die Stimme des alten Mannes im Smoking bat sie herein.
„Die Geschwister Drat. Schön sie in solch guter Verfassung wiederzusehen.“
Tyler strahlte ihn an „Die Freude ist ganz unsererseits.“
„Sie sind hier um ihre Entlassungspapiere abzuholen, einen Moment bitte. Ich muss noch schnell ein paar Altlasten vernichten.“
Die beiden Geschwister sahen zu wie die Papiere mit ihrem einstigen Profil und der Todesursache durch den Reißwolf gejagt wurden.
„Bitte sehr hier sind ihre Entlassungen. Es freut mich zu lesen, dass wir uns wohl nicht mehr wiedersehen werden.“
Mit einem überbreiten Grinsen gab Joan ihm die Hand.
„Ich wusste doch, dass wir mal einer Meinung sein werden.“
Daraufhin verließen sie die Rezeption und betraten die staubige Straße, auf der sie angekommen waren.
Am Tor wartete bereits ein Auto. Die beiden Männer, die sie hierher brachten saßen darin, diesmal trugen sie keine schwarzen Anzüge – im Gegenteil, wie waren locker bekleidet, Jeans, T-Shirt, Flanellhemd.
„Leute was ist los? Ist das FBI pleite gegangen?“, Joan stieg ins Auto, Tyler folgte ihr.
Der Beifahrer drehte sich um.
„Wie geht es euch?“
Tyler rückte auf seinem Platz etwas hin und her „Ich könnte etwas Schlaf vertragen und vielleicht ein neues Fußgelenk Sonst schätze ich geht’s gut.“
Der Fahrer blickte in den Rückspiegel uns sah Joan an.
„Joan? Wie ist es dir ergangen?“
Joan machte einen erschöpften Eindruck.
„Ich schätze wir haben hier ein paar Dinge in die richtige Richtung gebogen. Fühlt sich gut an.“, sie deutete mit dem Finger auf ihren Kopf.
Die Mundwinkel im Gesicht im Rückspiegel bogen sich nach oben.
Der Beifahrer drehte sich wieder um und sah nun auf die Straße die vor ihnen lag.
„Es tut mir leid, ab heute gehört ihr nicht mehr zu der Welt in der ihr geboren wurdet, ihr gehört auch nicht zu der Welt, in der ihr die letzten Tage verbracht habt. Ihr habt eine Welt dazwischen geschaffen.“
Die Drat Geschwister sahen sich mit einer Mischung aus Überraschung und Freude an. Das Auto startete und fuhr den langen staubigen Weg entlang, bis es verschwand.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /