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Chapter One

Die Nacht hatte etwas Magisches an sich in London.

Besonders aber war es doch an Weihnachten, wenn die ganze Stadt in flutende Lichter getränkt war, unzählige in verschiedenen Farben leuchtende Schiffe über die Themse schunkelten und ein Duft von Lebkuchen in der Luft lag.

Darius Milner gähnte erneut und beobachtete ermüdet die vielen Gesichter, die vor dem Schaufenster des Ateliers herwanderten. Manche von ihnen blieben stehen und betrachteten eines der vielen Ölgemälde seines Onkels, die Meisten aber vergeudeten keinen Blick in die alte Stube.

Seiner Meinung nach war es eine Schande solch hochwertigen Stücke in den Schandflecken Londons zu verstecken. Es hatte einen gewissen Charme und er wusste genau, dass sein Onkel sich sowieso ungern von einem der Bilder trennte, befürworten konnte er es trotz Allem doch nicht. Selten verirrte sich sogar heute ein Kunde in den Schuppen.

Die Ladenglocke bimmelte und Darius sah überrascht auf.

Eine Frau, die kaum im mittleren Alter sein durfte, war hereingekommen und zielstrebig auf eines der Bilder zugegangen. Verblüfft stellte er fest, dass es eines seiner wenigen Bilder war, welches sein Onkel ausgestellt hatte.

Die Frau richtete abwartend ihren Blick auf ihn, als erwartete sie, dass er sie endlich beraten würde. Darius beeilte sich zu ihr zu eilen und wusste nicht ganz, womit er sich ihr perlendes Lächeln verdiente.

"Ich nehme es", sagte die Fremde, bevor er etwas zu dem Bild erklären konnte. Den langen weißen Saal, den er gemalt hatte. Und die schummrigen Gestalten, die an dessen Wänden tanzten und zu schreien schienen.

Er selbst wusste nicht wirklich was es zu bedeuten hatte. Aber sein Onkel hatte gesagt, dass dies die Logik und gleichzeitig Verrücktheit an Kunst war. Ein Künstler wusste nicht immer, was er dort tat und doch erschien es für ihn mehr als logisch und wunderschön, überirdisch schön.

Darius betrachtete die Frau näher; ihr schwarzes, wallendes Haar. Voluminös, seidig- rabenschwarz. Und die Smaragdaugen, die ihm irgendetwas zu sagen schienen, das er nicht enträtseln konnte.

Er verkaufte sein Bild und sah der Fremden nach, wie sie aus dem Laden verschwand und Londons Schandfleck verließ, bis sie nichts als ein schwarzer Punkt in der Ferne war, der langsam im Schneesturm unterging. 

Darius drehte sich um und sah den alten Mann zufrieden lächeln. "Ich wusste es war eine gute Idee, deine Werke auszustellen, mein Junge", lobte sein Onkel ihn. Darius erwiderte dieses Lächeln und bat ihn, die nächste Zeit seine Schicht zu übernehmen.

Er warf sich seinen Mantel und einen warmen Schal um und flüchtete aus dem Atelier.

Sein Onkel konnte ihm nur hinterhersehen, während er eine Flut der Traurigkeit in sich aufsteigen spürte. 'Ich bringe Ihnen ihren Enkel. Er erinnert sich nicht an sein Leben vor dem Tod. Aber bitte kümmern Sie sich gut um ihn. Ich habe vollstes Vertrauen in Sie.'

 

Darius folgte den Fußstapfen verschiedener Menschen vor ihm und schaute nicht einmal auf.

Weihnachten.

Auf dem Marktplatz hielt er an und blickte wahllos in eines der Schaufenster.

Braunrote Haare, weiße Haut, die schon wieder zwei Jahre älter war, Augen wie der äscherne Himmel über London am Abend. Hände, die niemals vollends frei von Farbresten und stets rau und schrobig waren.

Ja. Zwei Jahre war es her, seit er plötzlich, nach einem Autounfall, wie sein Onkel sagte, in seinem Bett aufgewacht war, ohne jegliche Erinnerungen an sein Leben davor zu hegen. Nur Bruchstücke, wie ein zerschmetterter Pozellanteller, den man mit den kaputten Teilen nicht mehr zusammenfügen konnte. Es wurde nicht mehr so wie zuvor, sondern würde nur weiter gehen. Mit einem Körper kurz vor dem Brechen.

Eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm rempelte ihn von der Seite an und er griff schnell herum, um sie vor dem Fallen zu schützen. Doch sie schenkte ihm nur wütende Blicke. "Pass doch auf, wo du hingehst!", keifte sie und drückte ihr Kleines beschützend an sich. Floh in die Nacht.

Ein Körper kurz vor dem Brechen und doch unerträglich stabil.

Darius schlenderte weiter und immer tiefer in das fröhliche Getümmel der Leute, die keine anderen Sorgen hatten, als den genauen Alkoholgehalt in einem der Punschgläser, die ausgeteilt wurden. Er konnte nicht ganz glauben, Einer aus dieser Menge zu sein.

Jedoch Einer, der auf den Alkoholgehalt pfiff und sich gleich zwei Gläser schnappte, mit denen er die Säure in seinem Hals wegspülen wollte. Wegspülen konnte er sie nicht. Aber seinen Hals in Brand stecken, um nichts Anderes als die flammende Spur des Punsches zu spüren.

Aus den Lautsprechern dröhnte Hallelujah und erbemerkte, wie ein Pärchen nach dem Anderen langsam zu tanzen begann. 

"Darius?"

Er sah auf und sah ein blondes Mädchen, das ihm wie verrückt zuwinkte. Es war vier Jahre her und doch erinnerte er sich an sie. Langsam schritt er auf sie zu und lächelte. Es war eine Erinnerung, die er nicht verloren hatte. "Erica."

Erica, seine Ex-Freundin. Die Muse für seine ersten Gemälde, das Mädchen mit dem Lächeln einer Sirene und dem Herzen einer Hexe. Vor vier Jahren war sie seine erste große Liebe gewesen, wohl wissend, dass sie zwei Jahre älte war als er und somit heute zweiundzwanzig.

"Du bist der Letzte, mit dem ich gerechnet hätte!", wisperte sie aufgeregt. Der Winter verwandelte ihren Atem in eine weiße Wolke.

"Das kann man wohl sagen. Was hast du so getrieben die letzten Jahre?"

"Ich dachte, dass damals...als wir..., dass du dich, du weißt schon -?", fragte sie, ohne auf seine Worte einzugehen. Darius fuhr es eiskalt durch die Knochen und er vermochte nicht zu sagen, ob er nicht einfach nur fror.

"Um genau zu sein erinnere ich mich nicht wirklich an 'damals'", erklärte er ihr und war froh, die Wahrheit zu sprechen. Der Grund, aus dem sie sich getrennt hatten, lag im Schatten. Seltsam, dass er sich an all die Tage erinnerte, an denen sie gestritten und an denen sie seine Gemälde in Rage durchschnitten und zerbrochen hatte, aber nicht an den einen schicksalhaften Tag, an dem sie auseinandergebrochen waren.

Erica musterte ihn auf eine Weise, die er nur als vorsichtig und abwartend deuten konnte, mit ihren schokoladenbraunen Augen und dann bildete sich ganz langsam ein Schmunzeln auf ihrem hübschen Gesicht, das völlig unaffektiert von ihrem Alter blieb.

Sie wog ihre Worte sorgfältig ab und sagte dann freudig: "Dann bist du also frei? Super!" Erica zog ihn mit sich und Darius fragte sich bis heute, warum er nicht geahnt hatte, dass ein Mädchen, dass sein ganzes Leben bereits einmal zerstört hatte, darauf angelegt war, es noch einmal in Stücke zu reißen.

 

***

 

"Bist du sicher, dass es okay ist? Du weißt, dass du nur noch weiter von ihm entfernt sein wirst..

Du wirst vollends auf deinen Schützling konzentriert sein und langsam...wirst du ihn vergessen. Lächeln, verabschieden, vergessen. Wieder und wieder. Mit jedem Schützling und auch mit ihm", sagte Sherrie mit fester Stimme.

Es war Darius' Zimmer.

Alles in diesem Raum schien zu sagen, dass ein entscheidender Teil fehlte, den selbst die Presenz ihrer selbst und der ihrer Schwester nicht ausfüllen konnte.

Er war ihr Schutzengel gewesen, als sie noch in ihrer menschlichen Gestalt gewesen war und doch war sie zu schwach gewesen um ihn zu beschützen, wenn er sie am meisten gebraucht hatte. Hatte sich nur an ihn klammern können und hatte ihn immer tiefer und tiefer in die Dunkelheit gezogen.

Oder war er es, der sie ins Licht getragen hatte? Wo sie sich befand, war es Finsternis oder Sonnenlicht, sie vermochte es nicht zu sagen.

Sie. Leia.

Seit sich herausgestellt hatte, dass sie ein Engel war und ihre richtige Mutter, richtige Familie, gleich vor ihren Augen, hatte sich einiges verändert. Schon bald würde auch ihr ein Pate zugeteilt werden. Kein todkrankes Kind, wie sie es gewesen war, denn sie war kein Schutzengel. Sondern ein Junge, den sie durch sein langes, gesundes Leben lenken sollte. Er war ebenfalls ein Seher, wurde ihr gesagt- Ebenfalls.

Leia konnte sich noch immer nicht an Alles erinnern. Sie schien den Tag, an dem über Darius' Zukunft geurteilt wurde, völlig vergessen zu haben. Selbst einige ihrer gemeinsamen Tage als Schützling und Schutzengel lagen im Schatten. Aber sie sah den Tag genau vor Augen, an dem er sie in die Innenstadt Londons geführt hatte.

Seine große Hand in ihrer; sein Lachen wohltuend in ihren Ohren. Konnte den Stoff des schwarzen Kleides, welches er ihr gekauft hatte, immer noch auf ihrer Haut fühlen. Die Leichtigkeit ihrer offenen Haare, die sich über ihre nackten Schultern gelegt hatten. Und anschließend, nach Allem, die Fahrt in dem Riesenrad, während der sie in seinen Armen geweint hatte.

Wenn sie nun, mehr als zwei Jahre später, daran dachte, fühlte sie nichts als Leere in sich.

Die jetzige Leia in all ihrer Engelspracht, war gefangen in einem Versteckspiel, in dem sie die alte Leia um jeden Preis finden musste und doch befand sie sich so unendlich weit weg von ihrem Ziel.

Außerdem gab es da immer wieder diese Bilder, die auftauchten wann sie wollten, ohne sie zu fragen, ob es ihr gerade passte. Leia konnte sie nicht einordnen und es war schmerzlich die fehlenden Puzzleteile zu erzwingen. Dann, wann immer Alles zu groß und schwer für sie wurde, setzte sie sich auf den Schoß ihrer Mutter und diese sang ein Lied für Leia. In einer Sprache die sie nicht verstand, und die sie müde machte nur beim Nachdenken über all die komplizierten Worte.

In diesem Bezug hatte sich nicht viel zu ihrem Menschenleben geändert, fand sie.

Ja, es war komisch, wie viele Freiheiten sie haben konnte, wie viele Flügelpaare ihr auch an ihrem Rücken wachsen mochten und sie immer noch gefangen und unterdrückt blieb, solange er nicht bei ihr war, um das Gewicht auf ihren Schultern mit einem einzigen Lächeln zu heben.

Leia antwortete nicht auf die Frage ihrer Schwester; Sherrie. Wenn sie nur wüsste und aus ihren Augen lesen konnte, dass Leia nie eine Entscheidung laut aussprach, ohne sich vollends entschieden zu haben.

Vielleicht war es besser Darius loszulassen. Sie wusste, wie selbstsüchtig es war, dem Schmerz den Rücken zu kehren und zu vergessen um leichter zu leben, während er immer, immer auf einer Stelle bleiben würde. Dafür gab es keine Entschuldigung.

Leia nahm Sherries leichte Schritte auf dem Parkett wahr und kurz darauf ihre warmen Fingerspitzen, die sich wie Schraubstöcke um ihren Körper schlossen.

"Es tut mir leid. Dass du mich nicht als deine Schwester sehen und mir nicht vertrauen kannst. Dass ich niemals für dich da sein konnte."

"Engel können sich nicht erkälten. Ist das nicht wunderbar?", erwiderte Leia. Nur an Sehnsucht verenden.   Wenn Engel starben, lösten sie sich dann in tausend weiße Federn auf?, fragte sie sich. Wichtiger, würde eine ihrer Federn ihn dann erreichen können?

Ständig hatte sie solche Gedanken. Sie vermisste...Glöckchen, der sie in solchen Zeiten tadeln würde. Noch immer konnte ihr keiner sagen, wo er geblieben war und wann sie ihn wiedersehen konnte. Durfte.

"Unsere Mutter und ich, wir haben dich immer beobachtet von hier oben", fuhr Sherrie fort und zog Leia's Aufmerksamkeit auf sich.

"Auch während meiner Zeit mit Darius?", fragte sie und Sherries Fingernägel gruben sich auf Erwähnung seines Namens leicht in ihren Arm. Hässliche, hässliche Narben würden sie hinterlassen.

"Immer", sagte Sherrie nur und es war ihrer Schwester Antwort genug. Sie ließ sich vollends in Sherries Umarmung fallen und schloss die Augen. 

 

***

 

Darius Milner seufzte zum dritten Mal an diesem Abend und musterte Erica's schokoladenbraune Augen. "Wie schon gesagt. Ich male wieder, du kannst mir ruhig glauben."

"Das fasse ich nicht!", lachte sie und schon wieder drehten sich einige Männer in der Taverne ihrer engelsgleichen Stimme zu. "Ich dachte, dass du es aufgegeben hättest, nachdem du mich nicht mehr malen konntest!"

Als ob ich den Teil von mir, der mich am meisten definiert, aufgeben könnte, dachte er. Aber er schmunzelte nur in sein Gin-Glas und trank einen weiteren Schluck. 

Erica hatte sich verändert. Sie trug Lippenstift, Miniröcke und beinahe durchsichtige Blusen. Die alte Erica hatte sich niemals geschminkt, lieber ein wandelndes Kleid getragen anstatt sich in hautenge Klamotten zu zwängen. Diese Frau erweckte nicht mehr den Drang in ihm, sie zu zeichnen und jeden ihrer Blicke einzufangen. Früher wäre er auf jeden begehrenden Blick eines anderen Mannes eifersüchtig gewesen, heute war er komischerweise erleichtert.

"Also, Darius, hast du heute noch was vor?"

Darius brauchte sich Erica nicht zuwenden, um den Klang ihrer Frage einzuordnen. Es musste, es MUSSTE, an dem vielen Gin liegen, aber ihn schien die Frage nicht im Geringsten zu stören. "Noch nicht. Aber du hast bestimmt einen Vorschlag, was wir da machen können?", murmelte er und versuchte gleichzeitig irgendwo eine Notbremse zu ziehen. 

Kichern.

"Ich bin zweiundzwanzig, Darius. Ich habe ein eigenes Haus. Da würde uns Niemand...unterbrechen, wenn du verstehst?"

Je öfter sie seinen Namen sagte, desto tiefer schien er in den Sog des Alkohols zu geraten. Schwindel befiel ihn, aber da war Erica, die ein maliziöses Lächeln auf den Lippen hatte, zwei Scheine auf den Tresen schob und sich von ihrem Hocker erhob. Und Darius, oder mehr, sein Körper, der nicht auf ihn hören wollte, folgte ihr.

Obwohl die Laternen angeschaltet waren, war es stockfinster um ihn herum. Nur an ihrer immer wieder ertönenden Stimme konnte er sich noch orientieren.

"Nur noch um die Ecke, Darius, beeil' dich!", rief sie säuselnd und gefährlich zugleich. Darius riss die Augen auf und blieb stehen. Endlich sah er, wo er sich befand und wollte umdrehen.

Sackgasse. Kein Haus weit und breit.

"Oh. Du hast es tatsächlich noch bis hier hin geschafft..." 

Zwei schwummrige Gestalten, viel größer als er und eindeutig maskulin, das konnte er sagen.

"Sollten die Tropfen nicht schon längst wirken? Du hast gesagt, wir könnten sofort unseren Spaß haben. Und wir haben dir geglaubt. Also?", hörte Darius einen der Kerle.

KO-Tropfen, dachte er und wollte Ericas Antwort hören, die bei ihm als nichts als ein heftiges Rauschen ankam. Dann ein Lachen, ein Schlag in seine Magengrube. Und gleichzeitig begannen die Tropfen komplett zu wirken und Darius ging zu Boden.

Impressum

Texte: Mareike Dlugosch
Bildmaterialien: Mareike Dlugosch
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Familie, ohne die es niemals ein Happy-End geben würde. Und für Alle, die sich nach dem ersten Band auf die Fortsetzung gefreut haben. Danke!

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