Leia wand sich in ihrer Decke.
Seit Stunden quälte sie sich in den Schlaf, wälzte sich von Seite zu Seite und rauschte durch einen Fiebertraum nach dem nächsten. Ihre Gesundheit erlaubte es ihr nicht, auch nur an etwas Anderes zu denken. Gewissermaßen fühlte sie sich gestraft, doch als Leia die Augen aufschlug fühlte sie sich, als habe sie einer Anweisung getrotzt und sich dieser zu wider gesetzt- somit hatte sie diese Krankheit wohl verdient.
Seit sie klein war, wusste Leia, dass sie Osteogenesis Imperfecta erkrankt war, auch bezeichnet als die Glasknochenkrankheit, bei der schon ein einzelner Sturz tödlich sein konnte.
Darum hatte ihre Familie entschieden, dass es sicher wahr, sie in diesem Haus zu evakuieren. In ihrem Leben hatte sie mehr Brot mit Butteraufstrich von einer netten Krankenschwester gebracht bekommen, als ihre Mutter für sie irgendetwas gekocht hatte.
Sie war Jemand, der Erkältungen und Schlimmeres magisch anzog.
Einmal musste Leia ein ganzes Schuljahr wiederholen, weshalb sie nun immer noch in der fünften Klasse feststeckte, anstatt wie die Anderen eine sechste Klasse zu besuchen. Aber es machte keinen großen Unterschied, da ihre Eltern in ihrem dritten Schuljahr befunden hatten, dass eine Privatschule leichter für sie zu händeln wäre.
Seither kam Montags bis Freitags Dr Kitson zu Besuch um sie zu unterrichten. Leia war eine fleißige und akademisch gute Schülerin-, denn womit sollte man sich außer mit lernen sonst noch so die Zeit vertreiben, wenn man die ganze Zeit eingesperrt war?-, worauf Dr Kitson immer sehr stolz war und ihr meist fortgeschritteneres Zeug beibrachte.
Daher war Leia nicht traurig, dass sie einmal wiederholen musste, denn den Stoff, den sie durchnahm, würden die Anderen erst im Jahr darauf lernen. Dennoch hatte sie sich seit der Privatschule wie ein vom Rest getrennter Abfall gefühlt, Asche zu Asche. In Momenten, in denen ihre Traurigkeit einen Tiefpunkt anbelangte, hatte sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, wohl wissend, dass sowieso Niemand nach ihr sehen würde, und mit ihrem Hasen Glöckchen geredet.
Glöckchen begleitete Leia schon von ihrem ersten Lebensjahr an und sie wusste genau, dass ER sie niemals verlassen würde, egal was sie machte. Das Gefühl, von Glöckchen geliebt zu werden, gab ihr Tag für Tag die Kraft gegen den Tod weiterzukämpfen und Leia fühlte sich meist stärker als alle Kinder, die draußen spielen durften und nicht wie sie gefangen wurden.
Irgendwann würde sie auf die da draußen herabschauen und im Schnee spielen trotz ihrer Gesundheit, während sie ganz schrecklich an ihrem Alter verenden würden.
Doch insgeheim wusste Leia, dass sie niemals so lange überleben würde. Vielleicht lag es an ihren großen Hoffnungen, ihren Träumen oder schlichtweg ihrer Ignoranz, dass sie sich solche bösen Gedanken machte, aber Nichts davon gab ihr ein Gefühl der Falschheit. Auch wenn ihr Kindermädchen und auch ihre Eltern ihr einredeten, dass Träume Schäume waren, gab es immer noch Glöckchen, dem sie noch mehr vertraute und dessen Stimme in ihrem Kopf sie stets ermutigte, weiter zu machen und nicht stehen zu bleiben.
Schließlich strampelte Leia sich aus der Decke frei, schlüpfte schlaftrunken in ihre Sommersandalen, die sie neben dem Bett geparkt hatte, und schleppte sich zu der Balkontür.
Am Himmel hing ein vollkommener und runder Mond, der ihr wie der Lichtkegel einer Taschenlampe den Weg zu leuchten schien. Den Weg zur Normalität, den Weg zum Mut zum Leben. Noch mehr Mut, als den, über den sie bereits verfügte. Leia verschränkte die Arme auf dem metallenen Balkongeländer und atmete die kalte Luft ein.
Sie säuberte ihre Lungen von Alpträumen und Schlafstörungen, fand Leia. Wenn sie in der Nacht draußen war, dann war sie dem Himmel am nächsten. Es war, als könnte sie die Hand nach den Sternen ausstrecken und sich gut fühlen, trotz des Wissens, dass sie sich keinen einzigen runterangeln konnte. Leia wusste hundert Prozent, dass auf einem von ihnen ihr Name stand, der nur darauf wartete, irgendwann herunter zu fallen. So hatte ihre Mutter das gesagt.
"Leia, der Tod ist ein Stern, der herunterfällt, sobald es dem Ende entgegen kommt. Darum gibt es auch so viele Sterne. Für jeden existierenden Menschen einen. Vergiss nie, dass du niemals alleine bist. Wir leben Alle unter dem selben Himmel. Immer der Selbe, egal wie sehr sich das um uns herum verändert, bleibt er doch gleich"
Glöckchen stand ihr bei, ihren Stern ausfindig zu machen, in dem sie Nacht für Nacht auf den Balkon trat. Wenn sie das Mal vergaß, peinigte sie sich, in dem sie den morgigen ganzen Tag vorlog, keinen Appetit zu haben. Natürlich wusste ihr Kindermädchen dann, dass irgendetwas nicht stimmte, doch es fragte nie nach, sondern stellte Leia nur eine Obstschale vor ihre Zimmertür. Leia wusste nicht ganz, warum es Obst war.
Als sie kleiner gewesen war, hatte das Kindermädchen ihr bei Familienfesten immer einen oder mehrere Äpfel in Stücke geschält und ihr befohlen fünfzig mal darauf zu kauen, bevor sie sich das nächste Achtel nahm. So kam sie meist die ganze Zeit über nicht zu Wort, was der Sinn hinter der Apfelfalle zu sein schien. Die Äpfel waren süßsäuerlich und schmeckten, darum schwieg Leia.
Sie wusste ganz genau, dass sie geliebt wurde. Auch wenn ihre Eltern oft auf Reisen gingen und das Kindermädchen sich weigerte, Spiele mit Leia zu spielen, so war ihr Leben ein kleiner Fleck auf der Welt, der nicht einfach ausradiert werden konnte, weil er zu unbedeutend und klein war.
"Glöckchen, wir werden meinen nächsten Geburtstag zusammen erleben", schwor sie dem Mond, der als Zeuge stur und eisern schwieg, wie es sich im Gericht gehörte.
Leia war froh, dass der Mond dafür so viel Verständnis hatte.
Ihre Stimme verklang wie der letzte unbedeutende Ton eines Liedes im Wind und einen Moment befürchtete sie, sie könnte womöglich das Kindermädchen geweckt haben, doch die Stadt rührte sich nicht und blieb weiterhin völlig unberührt. Nur die Leuchtreklamen in weiter Ferne blinkten von rosa auf blau und wieder zurück, wie es jede Nacht bis um vier Uhr morgens blieb. Dann wurden die Lichter zwei Stunden ausgestellt und um sechs Uhr wieder angemacht, ein 22 Stunden Service. Das Alles wusste Leia genau. Sie hatte vor einiger Zeit begonnen, aus Langeweile alle Dinge aufzuschreiben, die ganz sicher jeden Tag in der Stadt passierten.
Jeden Freitag kam der Schrotthändler. Jeden Montag der Eiswagen. Jeden Morgen um sieben Uhr die Schüler, die nicht wie Leia auf eine Privatschule gingen. Jeden Abend um acht Uhr schlossen die kleineren Supermärkte ihre Türen und warteten auf einen neuen Tag.
Solche Dinge. Dinge, die wie sie waren, schwach. Aber bedeutend für den Tag, das hoffte sie. Solange es eine Person gab, die sich an Leias Anwesenheit erfreute- und wenn es nur Glöckchen war-, dann war sie zufrieden.
"Leia-Schatz, leg dich schlafen. Du wirst dich erkälten."
Das Kindermädchen überraschte Leia, in dem es bereits in ihrer Zimmertür stand, die sie heute vor Müdigkeit vergessen hatte abzuschließen.
"Ich kann nicht einschlafen", erwiderte Leia, schlich aber auf leisen Sohlen vom Balkon herunter und schloss die Tür hinter sich. Sie knipste die kleine Lampe auf ihrem Schreibtisch an und betrachtete entspannt das Gesicht der alten Frau.
Es wirkte wie eine verdorbene Aubergine, so dörr und sehnig. Aber es war ein nettes Gesicht, an das sich Leia gewöhnt hatte.
"Wenn du zu wenig Schlaf hast, dann wird das deinem Schutzengel nicht gefallen, Leia-Schatz", bat das Kindermädchen, kam auf Leia zu und hob sie auf ihrem Arm in ihr Bett. Obwohl sie schon zwölf Jahre alt war und natürlich alleine gehen konnte, wurde sie immer wie ein Vierjähriges behandelt, dass seinen viel zu kleinen Laufstall verlassen hatte, sobald Leia aus dem Bett stieg.
Ihre Eltern waren zwar nicht besonders oft zu Hause, aber ihr Kindermädchen hatte die strikte Anordnung, Leia niemals zu gefährden und wie einen Schatz zu hüten. Ihre Mutter hatte Leia immer einen Saphir genannt, wegen ihren funkelnden blauen Augen, die sogar einen Fliederschimmer hatten, aber selbst wenn sie so viel wert wäre, wie ein Saphir, dann fand Leia den ganzen Aufwand doch umsonst.
Viel zu oft geschahen Dinge ohne ihre Erlaubnis oder ihre Zusage. Es wurde zur Routine, darum fand Leia nicht, dass ihr Leben ohne Schutzengel einen merklichen Unterschied aufweisen würde.
"Mein Schutzengel hat mir schon genug geholfen. Er soll sich ruhig ausruhen", beruhigte Leia ihr Kindermädchen und deckte sich abermals zu, mit dem Wissen, dass es ihr nichts nützen würde. Das wusste das Kindermädchen auch, darum ging es auf einen aufheiternden Kompromiss ein.
"Wir können morgen zusammen für deine Eltern Plätzchen machen! Ich habe noch eine Backmischung in den Schränken liegen. Deine Mutter wird sich freuen, wenn sie aus New York zurück kommt."
Leia willigte ein und überdeckte ihre Ohren mit dem Bettzeug, um Nichts mehr hören zu müssen.
Sobald das Kindermädchen ihr Zimmer verlassen hatte, sprang Leia aus dem Bett, schloss die Tür und krabbelte dann doch wieder zurück ins Warme. Diesmal nahm sie Glöckchen mit in ihren Arm, den das Kindermädchen nur als nutzloses Stofftier abtat.
Sie schlief auch in dieser Nacht mit ihm und hielt ihn ganz nah an ihr Herz, damit er ihren Herzschlag beruhigend fand.
"He, Glöckchen. Morgen backe ich Kekse. Und dir auch welche" Glöckchen antwortete mit Schweigen, über das Leia sogar leise Kichern musste. Doch schnell ermahnte sie sich aufzuhören, bevor wieder Jemand nach ihr sehen würde.
Dieser ganze Klotz, in dem sie wohnte, war wie ein Hochsicherheitsgefängnis, in dem jedes Lächeln schon ein Vergehen war. Leia hatte sich in ihren zwölf Jahren schon daran gewöhnt, dass sie selbst leise sein musste, wenn ihr Eltern zu Hause waren- da sie sich dann auf ihre Arbeit konzentrieren mussten-, doch besonders spaßig war es noch nie gewesen.
Sie rieb ihre Nase an Glöckchens Gesicht und küsste ihn auf die Stirn.
Den Namen Glöckchen hatte er sich verdient, da er früher noch eine riesige rosa Schleife trug, die mit einer Rassel gefüllt war, die bei jeder Bewegung wie tausend Glöckchen raschelte. Das Wichtigste war, dass Glöckchen zu ihrer Familie geworden war.
Mit einem leisen Schmunzeln auf dem Gesicht, das in diesem Klotz mehr als verboten war, fiel Leia in einen beunruhigenden Schlaf, in dem Federn, Regen und ihre eigenen Tränen ihre Sicht verzerrten.
***
Er beobachtete sie in ihrem Schlaf.
Manchmal zuckte sie unruhig oder spannte die Gesichtsmuskeln an, nur um sie danach entgleisen zu lassen.
Er bewunderte sie um ihren großen Lebenswillen, auch wenn er das niemals öffentlich zugeben würde. Wenn sie nicht so unglaublich stark sein würde, hätte er sie schon Jahre früher mitnehmen müssen. Vielleicht sogar noch, bevor sie die Grundschule besuchen konnte.
Auch wenn er nur wenige fünf Jahre älter war als sie, fühlte er bereits eine starke Bindung zu ihr, die er bisher noch zu keiner seiner vergangenen Schützlingen gehabt hatte.
Er hatte schon von Engeln gehört, deren Schützling ein Seher war- Jemand, der seinen Schutzengel sehen konnte-, und deren tiefes Band mit ihrem Menschen. Doch bisher hatte es nicht den Anschein gemacht, als sei Leia irgendetwas Besonderes.
Leia war wunderschön wie die Nacht, die er so liebte, (was er ebenfalls nicht zugeben würde) da sie ihn mit seinem Menschenleben verband. Das hatte er gewusst und trotzdem hatte sie ihn umgehauen, als er ihr damals zugeteilt worden war. Er hatte sich immer noch nicht an Leias Schönheit gewöhnt, aber wenn er sich oft genug sagte, dass sie nichts Besonderes war, konnte er seinen Herzschlag zügeln.
Nicht, dass er seinem Schützling gegenüber irgendwelche romantischen Gefühle hegte, doch als ehemaliger Künstler hatte er eine Schwäche für schöne Dinge. Er war froh, dass ihm das Leben als Schutzengel eine zweite Chance gab, sich eine Mauer um die Anderen zu bauen.
Gerne war er nun der arrogante Typ, der den Mädchen jeden Wunsch von den Lippen las, aber niemals für Eines offen war.
Zu Schade, dass dies Alles an den Himmel vergeudet wurde.
Schon wieder wälzte Leia sich in ihren Träumen gefangen auf die andere Seite und kniff die bereits geschlossenen Augen zusammen. Er würde sie gerne von ihren Qualen befreien, doch dann würde sie ihn in seiner wahren Gestalt sehen.
Jeglicher verbotener Kontakt mit Menschen, ebenso eine Beziehung mit jenen, galt als glatter Regelverstoß, ausgeschlossen im Falle einer Seherin. Wie er dann enden würde wusste er, doch er wagte sich nicht darüber zu fantasieren. Über das, was nach diesem Leben auf ihn wartete.
Als er sich auf einem Baum vor ihrem Fenster niederließ, um den Wachposten für diese Nacht einzuschlagen, spürte er ein Ziehen in der Brust. Das Zeichen dafür, dass Jemand an ihn dachte.
Der Gedanke daran, dass Leias Traum womöglich von ihm handelte, machte ihn traurig.
Einst war er Schutzengel eines kleinen Leukämie kranken Mädchens gewesen, das jeden Abend für ihren Schutzengel gebetet hatte. Sie war weder eine Seherin gewesen, noch hatte sie ihn jemals zu Gesicht bekommen und doch hatte sie so fest an ihn geglaubt, dass seine Fassade zu bröckeln begann, sobald sie Abends zu Gott sprach.
Letztendlich hatte die Kleine sich in den Umriss ihrer Hoffnung verliebt und ihr unbändiges Liebeskummer hatte ihr den endgültigen Todesstoß verpasst, ohne dass er sie hätte retten können, selbst wenn er ihre Gefühle erwidert hätte.
Seine Bindung zu Leia war bereits so fest, dass er nicht wusste, ob er seine Fassade bis zu ihrem Tod wahren konnte.
Aber wie bei Allem behielt er all diese Dinge immer für sich und ließ stattdessen die Hülle seiner Selbst sprechen.
So war es einfacher.
***
An diesem Morgen erwachte Leia mit einem flauen Gefühl in ihrem Magen. Sie hatte bisher noch nie irgendwelche Magenbeschwerden gehabt, daher fühlte es sich komisch an, dieses Rumoren in ihrem Bauch zu spüren.
Es fühlte sich an, als habe sie tagelang Nichts gegessen aber gleichzeitig, als würden ihre Lungen platzen, sobald sie auch nur einmal einatmete.
Glöckchen war noch an Ort und Stelle: Eng an ihre Brust gepresst lag er auf dem Larken und sagte wie sonst auch gar nichts.
Schwungvoll setzte Leia sich auf, stieg von ihrem Bett und schloss die Zimmertür auf. Sofort kam ihr ein feiner Schokoladengeruch entgegen. Wider ihrer Erwarten hatte ihr Kindermädchen ihr heute keine Obstschale auf den Flur gestellt, worüber Leia komischerweise froh war, denn das Völlegefühl schien noch lange anhalten zu wollen.
Als sie sich die Treppe hinunter gekämpft hatte, langsam, um nicht zu stolpern, wartete ihr Kindermädchen an der Küchentheke auf sie. Die Frau trug eine blaue Schürze und ein Kopftuch und knetete gerade mit ihren Händen einen Schokoladenteig, den sie danach mit einer Walze ausrollte.
Leia konnte sich nicht daran erinnern, dass die Frau die Plätzchen alleine machen wollte. Enttäuscht lehnte sie sich gegen die Küchenwand.
"Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann du das letzte Mal so lange geschlafen hast, Leia-Schatz", waren ihre ersten Worte, bei denen sie sich nicht die Mühe machte, sich umzudrehen. Leia hatte gar nicht auf die Uhr gesehen, doch sie schätzte, dass es mittlerweile schon viel zu spät war, für ein Mittagessen.
Scheinbar nahm ihr Kindermädchen nicht an, dass sie hungrig war, oder gar enttäuscht, dass es die Plätzchen bereits alleine backte. Anstatt zu antworten, raffte Leia entschlossen ein Sternenförmchen aus einer Schublade und stach es in den ausgerollten Teig, der herrlich nach einem Morgen in der Backstube duftete, ohne, dass er bereits im Ofen war.
Eins nach dem Anderen folgten weitere Sterne.
Es waren zwei, drei, vier, fünf, als sie unterbrochen wurde. "Möchtest du nicht lieber Herzchen machen, Leia-Schatz?", fragte das Kindermädchen freundlich und griff nach ihrer Hand, woraufhin Leia das Förmchen fallen ließ, ohne den ausgestochenen Teig daraus zu befreien.
Als die Frau sie losließ, schmerzte ihr Arm, als sei er durch die Berührung vergiftet worden.
"Ich möchte lieber Sterne. Meine Mama mag doch Sterne, richtig?", erwiderte Leia und setzte sich an den Esstisch.
Als sie sich wieder dem Ofen zuwandte, sah sie einen schwarzen Schatten an seiner Klappe vorbeihuschen. Es war nur einen Moment gewesen und sie hätte es sich auch einbilden können, aber dafür sah der Umriss einfach zu menschlich aus. Leia hatte ganz deutlich zwei Hände gesehen und die Wölbung von zu großen Klamotten.
"Ist noch wer hier?", fragte sie überrascht und auch neugierig, ohne auf eine Antwort zu warten. Obwohl es so viel gab, vor dem Leia sich fürchten könnte, war sie kein ängstliches Mädchen.
Weder die Dunkelheit, noch Dinge wie Monster, der Tod, Schmerz oder Blut machten ihr Angst. Das Einzige, was Leia niemals verzieh und das sie niemals befürworten könnte, waren Lügen. Davon hatte sie einfach zu viele gehört, die bereits ein riesiges Netz um sie herum gesponnen hatten. Sie machte sich nicht die Mühe, jeden Strick zu lösen und irgendwann freizukommen.
Die Lügen waren schneller als sie und würden sie innerhalb von Sekunden wieder einholen und widerstandsunfähig machen.
"Natürlich nicht. Deine Eltern sind noch auf Geschäftsreise, Leia-Schatz. Sie kommen erst nächste Woche wieder. Aber wir können ja nochmal zusammen etwas für sie basteln, wenn du magst"
"Ich habe aber Jemanden gesehen", beharrte Leia stattdessen und beobachtete das Kindermädchen, wie es einen Teigstern nach dem Anderen auf ein großes, mit Backpapier ausgelegtes, Blech legte, welches es dann in den vorgeheizten Ofen schob.
"Du hast eine blühende Fantasie, mein Kind, genau wie Dr Kitson immer sagt"
Dr Kitson sagte Vieles, vor Allem die Lügen, die Leia so hasste. Er behauptete zum Beispiel, dass Leia und ihr Kindermädchen sich so nahe und vertraut behandelten und auch so gleich aussahen, wie Mutter und Tochter. Daran mochte Leia nicht glauben, auch wenn sie das gleiche schwarze seidige Haar hatte, wie die alte Frau. Doch das der Frau war immerhin lockig und ihre Augen waren gräulich, anstatt fliederfarben. Ebenso behauptete der Doktor, dass Leia irgendwann in New York auf einer Universität studieren konnte.
Alle, die im grauen Klotz lebten oder den Bewohnern nahe standen, wussten, dass sie niemals so lange leben würde. Dies war selbst außerhalb der Kraft eines großen magischen Wunders. Dr Kitsons großte Lüge spielte sich jedoch bereits vor langer Zeit ab.
Vor zwei Jahren, als sie ihn das erste Mal in ihrem Zimmer stehen sehen hatte. In seinem peniblen, weißen Jackett, der Nickelbrille, die viel zu groß für sein schmales Gesicht war und die Halbglatze, die ihn zu einem Fernseharzt machte. Seine ersten Worte zu ihr waren Nichts als Lügen, gedeckt mit einem Lächeln.
"Guten Tag, Leia. Mein Name ist Dr John Kitson und ich freue mich darauf, mit dir zu arbeiten!" Sie hatte nicht geantwortet, sondern die große Daunendecke über ihrem Kopf gezogen und sich versteckt.
"Du hast wohl Recht", war was Leia dem Kindermädchen antwortete.
Das Kindermädchen schien sich nun nicht mehr um sie zu scheren und war ganz in seine Arbeit vertieft, was Leia dazu veranlasste, in ihren Gedanken zu verschwinden.
Vielleicht hatte sie wirklich eine zu große Fantasie. Aber das war doch nichts schlechtes. Glöckchen hatte ihr höchst persönlich gesagt, dass sie niemals aufgeben musste und sollte, weil sie sonst Schwäche bewies und ihn damit nur traurig machen würde. Sie sollte bis zum Schluss kämpfen. Dann könnte sie das erste und letzte Mal in ihrem Leben aufrecht Abschied nehmen, ohne abermals getragen zu werden.
Als Leia aufsah, stand der selbe Schatten, der eben am Ofen vorbeigesaust war, im Rahmen der Küchentür und stemmte die Hände in die Hüften, als sei er verärgert darüber, dass das Kindermädchen ihn nicht wahr genommen hatte.
Diesmal erzählte Leia der alten Frau nichts mehr von ihrer Entdeckung, da es sowieso wieder nur als Hirngespinst abgetan werden würde, sondern gab preis, dass sie sich wieder in ihr Bett legen würde, aufgrund einer plötzlichen Müdigkeit.
Ohne große Worte ließ das Kindermädchen sie gehen, nicht ohne vorher zu fragen, ob sie einen Apfel oder eine Orange essen wollte.
Als Leia dankend abgelehnt hatte, griff sie versuchsweise in den Schatten hinein und bekam ihn überraschenderweise an der Schulter zu fassen, obwohl er beinahe einen ganzen Kopf größer war als sie.
Nun schien ein jedoch unsicheres Grinsen auf seinem grauen Gesicht zu erscheinen. Leia wusste nicht, was sie auf diese Geste erwidern sollte. Der Schatten sagte: "Gut gekontert, aber die Wahrheit war's trotzdem nicht. Wie kann Jemand überhaupt Fantasie haben, wenn er im 24 Stundentakt bewacht wird und nie raus darf?"
Schnell sah Leia sich um und schaute nach, ob das Kindermädchen etwas gehört hatte, doch die alte Frau stand nach wie vor am selben Fleck und drehte ihr den Rücken zu.
Langsam und vorsichtig zog sie den Schatten mit die Treppe hinauf, ohne dass er sich wehrte.
Als sie sich mit ihm an der Hand auf ihr Bett fallen ließ, schmerzten ihre Handknöchel, da er ihre Hand erstaunlich fest gedrückt hatte, dafür, dass er anscheinend nur aus Luft und einer Sonnenspiegelung zu bestehen schien.
Als Leia wieder Gelegenheit zum Atmen fand, wusste sie nicht mehr, wo sie anfangen sollte. Sie fand es seltsam, einen Schatten zu fragen, was er in ihrem Haus zu suchen hatte. Vielleicht war es für ihre Verhältnisse generell merkwürdig, sich mit einem Schatten zu unterhalten. Darüber musste Leia an diesem Abend unbedingt mit Glöckchen reden.
Zum Glück wollte der Schatten beginnen und so verschränkte er die Arme, anscheinend leicht wütend, und kehrte Leia den Rücken zu.
"Hey...warte Mal! Das ist mein Haus, tu' nicht so, als wärst du hier daheim!", schalt sie ihn sofort und bemerkte, dass sie mit ihm sprach, als seien sie ein altes Ehepaar. Der Gedanke schien ihr beinahe die Röte in die Wangen zu treiben.
"Entschuldigung, aber ich finde es nicht korrekt, dass man mir nicht gesagt hat, du könntet mich sehen. Eine unentdeckte Seherin- unverzeihlich, weißt du? Nach dem Job hier werde ich dem Verantwortlichen für dieses Dilemma hier umbringen müssen..."
"Bitte was?" Leia hatte schon einige Beschimpfungen und dergleichen gehört, aber niemals eine Gewaltandrohung, noch dazu über etwas, das sie nicht mehr verstand als die Sterne am Himmel. Endlich wandte der Schatten sich ihr wieder zu und Leia erschrak, als er plötzlich merkwürdig zu flimmern schien.
"Tut mir leid, falls ich jetzt dein kleines tolles Weltbild verrückt habe." Auf einmal wurde der Schatten zu einem Menschen mit Haut und Haaren, was nicht dazu führte, dass Leia erleichterter war. Denn sie hatte noch nie mit einem Jungen mehr als nur fünf Minuten gesprochen, geschweige denn einen in ihr Haus gelassen.
Der Junge stupste ihre Nase mit dem Zeigefinger an und ihr wurde wieder bewusst, wie viel älter er sein musste. "Was für ein Dilemma? Ich meine, ich kann dir vielleicht helfen, wenn du mir sagst, was...", begann Leia, unterbrach sich aber selbst, als sie seine ablehnende Haltung erkannte.
Der Junge sah wie ein ganz normaler Jugendlicher aus. Er trug einen leicht zerdrückten Kapuzenpullover und eine knielange Hose. Sein freches Grinsen war umgeben von rotbraunen Haaren, die in alle Richtungen standen. Statt ihren Satz zu beenden, schenkte Leia ihm ihr Lächeln, in der Hoffnung, ihre Verwirrung würde nicht daraus zu lesen sein.
Plötzlich kam der Fremde ganz nah, so dass sein Gesicht weniger als einen halben Meter von ihrem entfernt war und pflaumte: "Ich mag's nicht, wenn man mich verarscht"
Verschreckt krabbelte Leia ein Stück weiter in die Mitte ihres Bettes, doch der Fremde lachte nur leise und begann wieder zum Schatten zu werden.
"Zwölf Jahre hab' ich dich beobachtet. Tag ein Tag aus. Und mir hat KEINER mein Obst hergebracht, nur, damit du's weißt. Wirst 'n ganzes Stück Arbeit. Aber wenn du schon so fragst, werd' ich dir's natürlich sagen. Als ob ich 'nem Mädchen einen Wunsch würde", begann der Junge und riss daraufhin überrascht die Augen auf. Leia hatte sich über die ganze Decke gestreckt und nach seinem Arm gelangt. Ihr Rücken begann zu schmerzen und sie ließ sich schnell zurücksinken, um sich dann die schmerzenden Knochen zu massieren.
"Spinnst du? Es gibt andere Methoden um zu sagen 'Bitte bleib hier, Darius!'", meckerte der Junge, der anscheinend auf den Namen Darius hörte. Leia mochte den Namen, auch wenn sie sich normalerweise nicht für solch nebensächliche Dinge interessierte.
"Du sollst ein Mensch bleiben", erwiderte sie nur und lehnte sich gegen ihr Kissen.
Darius seufzte und blieb in seiner jetzigen Gestalt. Dann erklärte er ihr mit einem traurigen Unterton, dass diese Form nicht die eines Menschen war und auch nie sein würde, was Leia wieder zum Stutzen brachte. Sie dachte, dass Glöckchen vielleicht Rat wusste und hob ihn in ihre Arme.
Darius beäugte den Hasen misstrauisch, nur um dann mit seiner geplanten Erklärung fortzufahren. "Das so genannte Dilemma ist, wenn du's genau wissen willst, sogar deine Schuld. Eigentlich hättest du weder meinen Schatten noch meine wahre Gestalt sehen dürfen... Ich habe schon von mehreren Fällen gehört, in denen dasselbe eingetroffen ist, aber meine Schützlinge waren bisher eigentlich keine Seher..."
"Seher?", fragte Leia, mehr neugierig als geschockt. Gewisser maßen war sie sogar aufgeregt, dass der erste Junge, mit dem sie so lange sprach, so interessant war. Sie wusste zwar immer noch nicht, was er in ihrem Haus zu suchen hatte, aber wenn sie seinem Verhalten eines abnehmen konnte, dann, dass er nicht in Eile schien. Darum hatten alle weiteren Fragen Zeit.
"Schützlinge, die ihre Engel sehen können. So wie du eben. In meinem Menschenleben hieß ich Darius, darum entschied ich mich auch in meinem Schutzengelsdasein für diesen Namen..."
"Was ist mit den Leuten, die ihre Schutzengel- wenn ich das richtig verstanden habe- nicht sehen können?"
"Arme Schweine", erwiderte Darius und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Leias Kindermädchen hätte sich wahrscheinlich Sorgen gemacht, wenn sie mit solch einer Person Umgang pflegte. Aber sie war viel zu anfällig für den Gedanken, ihren persönlichen Schutzengel kennen zu lernen! Dennoch hatte sie noch so viele Fragen, wie etwa, warum sie Darius Schatten erst jetzt sehen konnte, warum er keine Angst hatte, sich ihr zu offenbaren. Neben ihren anfänglichen Bauchschmerzen konnte sie nun auch fühlen, wie ihr Kopf sich scheinbar aufblähen zu schien, je mehr Gedanken sie sich um Darius machte.
"Warte Mal...aber du hast gar keine Flügel und sowas..."
Darius brummte wenig begeistert und motzte: "Ich hasse diese Klischeebesserwisser. Engel haben Flügel. Engel in Ausbildung nicht. Tut mir ja jetzt unbeschreiblich leid, dass du nur an einen blutigen Anfänger wie mich geraten bist, aber du bist auch nicht gerade der Hauptgewinn in uns'rer Losbude"
"Kannst du irgendwelche Tricks?" Bei ihrer Frage schien einer von Darius' Gedultsfäden zu reißen. Er machte ihr deutlich klar, dass er kein Zirkuspony war und gab dann zu, dass er die eine oder andere Fähigkeit hatte, die jedoch nicht so ausgeprägt war, da er noch in Ausbildung war.
Dann schloss er die Augen, als habe er ein Geheimnis, dass er ihr nicht zeigen wollte und im nächsten Moment fühlte Leia, wie sich etwas in ihren Armen bewegte. Es war Glöckchen, der sich seine Beine ausschüttelte, hustete und von ihr heruntermarschierte.
Leia verkniff sich ein Lachen und fragte anstelle dessen: "Du kannst Stofftiere lebendig machen?"
Darius plusterte sich auf und nahm Glöckchen auf seine Hand, bevor er von Leias Bettgestell fiel. Er streichelte sein Köpfchen, innerlich geschockt über Leias Zurückhalten, obwohl er gerade ihrem treuesten Freund Leben geschenkt hatte, woraufhin Glöckchen ihn mit den Worten "Du bringst nichts als Unglück!" begrüßte.
Darius ignorierte ihn geflissentlich und erklärte dem Mädchen, das mittlerweile auf den Knien hockte, als sei sie bei einer Märchenstunde, die Sache mit Glöckchen. "Nicht nur deinen Hasen kann ich menschlich machen. Ich kann jedem Gegenstand, jedem Menschen- wenn auch nur für einen kurzen Moment- und jedem Tier Leben einhauchen. Das ist meine Gabe. Und bevor du fragst: Nicht alle Engel haben Gaben. Zumindest nicht alle Bedeutende. Die meisten haben einfach die typischen Veränderungen: Schönheit, gewisse Intelligenz und gewisse Schnelligkeit, denn auch bei den letzten beiden Punkten gibt es Differenzen"
Nun sprach Leia die Verwirrung aus dem Gesicht. Darius sah ihre starren Augen, hinter denen eine ganze Werkstatt die neuen Informationen zu verarbeiten schien.
"Unglaublich, dass du mir so leicht glaubst. Ich könnte auch ein Pädophiler sein, weißt du?" Darius schüttelte den Kopf über ihre Leichtgläubigkeit.
"Was, ein pädophiler Schatten?", fragte Leia entrüstet und brachte ihn zum Grinsen, "Ich mag es, wenn du lachst und religiös war ich schon immer. Ich vertraue dir."
Er nickte und beschloss, dass er ihr genug für einen Tag gelehrt hatte, da sie in Zukunft noch viel Zeit hatten. Schließlich hatte er eine Aufgabe zu erfüllen, welche sich durch ihre Sehergabe viel schneller erledigen würde, als er gedacht hätte.
"Das wichtigste: Du darfst Niemandem über meine Existenz erzählen! Sonst werd' ich ausradiert, wenn du verstehst, was ich meine. Versprich mir das, Leia!", erklärte er ihr mit fester Stimme und wollte gerade in die Hände klatschen, um sie zurück ins Bewusstsein zu ziehen, da antwortete sie.
"Versprochen", sagte sie benommen, betäubt von dem Klang ihres Namens aus seinem Mund. So klang er gar nicht fremd, alt und hässlich, sondern eher mystisch und besonders. Der Name schien schnell und rund von seiner Zunge zu gehen. Das Kindermädchen sprach Leia immer kantig und pausierend vor dem letzten Buchstaben aus.
"Warte Mal kurz, du musst wieder weg?", fragte Leia, als er Anstalten machte zu gehen und Glöckchen von seiner Hand in ihren Schoß gleiten ließ.
"Das nicht. Aber ich schätze, du wirst nicht begeistert sein, wenn ich neben dir im Bett liege, wenn du aufwachst. Ich geh' nur zu meinem Wachposten. Engel brauchen keinen Schlaf."
Letztes quittierte er mit einem Zwinkern. Darius legte Leia eine Hand auf ihr rabenschwarzes Haar und und verabschiedete sich kurz, bevor er sich wieder in einen Schatten verwandelte und auf seltsame Weise mit ihrer Zimmerwand verschmolz.
Sein Verschwinden fand Leia etwas korrupt, aber sie machte sich keine weiteren Sorgen darüber und teilte ihre Verwirrung mit Glöckchen. Obwohl er zugeschaut hatte, erzählte sie ihm von Neuem was gerade geschehen war, um auch sich selbst von der Richtigkeit zu überzeugen.
In Glöckchens großen runden Knopfaugen fand sie dennoch eine Frage, die auch sie die ganze Zeit über quälte: Warum sehe ich dich erst jetzt, wenn meine Gesundheit sich immer weiter verschlechtert?
Da Darius Glöckchen das Leben anscheinend nicht entzogen hatte, machte sie sich einen Spaß daraus, endlich Antworten von ihm zu bekommen.
Nun konnten sie alle zwölf Jahre nachholen, auch wenn es Leia beschäftigte, dass sie nicht ganz bei der Sache war. Denn eine Kleinigkeit lenkte den Hauptspeicher ihrer Aufmerksamkeit auf sich.
Als Darius gegangen war, hatte Leia in ihrem Ohr eine zarte Glockenmelodie gehört.
Die Tage zogen vorbei, in denen Darius sich nicht blicken ließ.
Mehr und mehr fühlte Leia sich wie ein Roboter, dem man eine Schraube gezogen hatte. Ohne dieses winzige Teil ihrer Selbst konnte sie sich nicht bewegen und war nichts weiter als ein Haufen Schrott.
Wann immer Jemand den Kopf zu ihrer Tür hineinsteckte, antwortete sie mit mürrischen knappen Sätzen, die sonst nicht für sie sprachen.
Leia konnte zwar jede Nacht seinen Schatten in ihrem Garten sehen, der sich wie eine Puppe keinen Zentimeter rührte, aber doch traute sie sich nicht, ihn zu bitten, zu ihr zu kommen. Manchmal versuchte sie sich einen eigenen Reim über die geschehenen Dinge zu machen. Dann verlor sie sich aber so in ihren Anläufen, dass es Anfänge ohne ihr Ende waren, die unbeantwortet abstarben.
An manchen Tagen hörte Leia ein leises Klopfen an ihrer Balkontür- dann, wenn sie stundenlang wach und mit offenen Augen in ihrem Bett lag- und dieser Wink seiner Seite beruhigte sie um einzuschlafen. Mehr kam von ihm nicht.
Seltener ließ Darius sich gar nicht blicken. Sie schätzte, dass er durch die Stadt schlenderte ohne ein wirkliches Ziel zu haben. Ob Engel menschliche Bedürfnisse zu stillen hatten, wusste sie nicht.
Der Gedanke daran, ihm Kekse und ein Glas Milch nach draußen zu stellen beschämte sie, da er schließlich kein streunendes Kätzchen oder dergleichen war.
Wenn ihre Sehnsucht nach dieser Fülle, die sie bei seiner Anwesenheit gespürt hatte, Leia in den Wahnsinn trieb, sprach sie mit Glöckchen darüber. Noch immer konnte er mit ihr reden. Er sagte dann Dinge wie: "Tut mir leid, aber unsinnige Mühen führen zu nichts", oder: "Das nächste Mal musst du ihn eben anleinen".
Komischerweise befahl Leia ein warmes Gefühl, wenn sie daran dachte, Darius für immer als ihren Schutzengel zu wahren. Vielleicht konnte eine seiner Gaben ihr Leben verlängern. Wieso nicht gleich ihre Seele in einen anderen Körper verfrachten? Obwohl dieser Gedanke sie doch ein wenig gruselte.
Auch ihr Umfeld merkte, wie sich Leias Stimmung von Tag zu Tag schlechterte wie eine lästige Grippe. Noch war ungewiss, ob sich ihr Problem auch irgendwann heilen ließ.
Das Kindermädchen schaute häufig sogar einmal mehr als nötig in ihr Zimmer, um ihren Wohlbestand zu überprüfen und wechselte ab und an ein paar belanglose Worte mit ihr. Sie redeten dann über den Wetterumschwung, über Leias Eltern, die bald schon wiederkommen würden und über Umweltkatastrophen wie die Klimaerwärmung.
Leider ließ Dr Kitson sie nicht wie alle Anderen ein wenig nachhängen, sondern schien sie absichtlich mit noch mehr Lernstoff vollzupumpen, wie als wolle er sie damit ausfüllen, um das leere Gefühl in ihrem Körper zu verdrängen. Der Unterricht war eine Leichtigkeit für Leia, die ihre Lehrbücher mittlerweile wie ihr Mittagessen verschlang. Dennoch wünschte sie so manches Mal, dass Dr Kitson sie nicht wie einen Hund einem Knochen nach dem nächsten nachjagen ließ ohne jemals wirklich etwas dabei zu gewinnen. Es war wie ein ewiger Sprint auf dem Laufband, ohne abzunehmen oder sich andersrum Muskelmasse anzutrainieren. Nutzlos.
An dem Sonntag vor der Rückkehr ihrer Eltern wurde es besonders schlimm.
Leia schien wie auf Entzug und hatte nicht einmal die Konzentration um ihr Tagesjournal über die Vorgehen in der Stadt zu schreiben. Glöckchen hielt sie mit flachen Witzen am Ball, auf die sie jedoch spärlich oder gar nicht reagierte. Erst ein kleines Klopfen weckte sie aus ihrem Trance ähnlichen Fernweh.
Diesmal kam es Leia näher vor und stammte anscheinend nicht von der Balkontür. Rasch schaute sie sich draußen nach einem Schatten um, wurde jedoch nicht fündig.
"Ich habe noch nie eine so blinde Seherin kennen gelernt", verhöhnte sie eine bekannte Stimme. Leia war beinahe ein wenig traurig, Darius nach so langer Zeit so nah zu sein. Mit dem bekannten Flimmern nahm er seine wahre Gestalt an und sie bemerkte, wie er die ganze Zeit auf ihrem Nachttisch gesessen und scheinbar auf das feste Holz geklopft hatte.
"Nie warst du für mich da. Jetzt tauchst du auf. Was soll ich davon halten?", fragte Leia und sah ihm direkt in die Augen. Und warum kann ich dich als Seherin nur in bestimmten Momenten sehen?
Darius schreckte nicht vor ihrem Blick zurück, sondern schien ihr sogar zu antworten. Das Grau seiner Iris erinnerte sie heute an Regenwolken. Bei ihrem ersten Treffen hatte sie sofort an die Farbe des Himmels gedacht, kurz bevor die Sonne aufging. Eine Mischung aus weiß und beige und dann gleisende hellgelbe Sonnenstrahlen.
"Es gibt einen Grund warum es für mich in Ordnung ist, dir meine wahre Gestalt zu zeigen. Warum ich mich in der Küche hab' mitziehen lassen. Die Aufgabe eines Schutzengels ist es, die Zeit seines Schützlings auf dieser Erde zu verbessern, bis... Nun, nicht nur das. Aber dies ist der hauptsächliche Grund für unser Erscheinen. Bevor du mich kennen gelernt hast, habe ich aus weiter Ferne wenige kleine Eingriffe in deinem Leben übernommen. Indem ich zum Beispiel die Menschen manipuliert hab', die dir deinen Hasen zum Geburtstag geschenkt hatten. Aber auch bei der Suche eines Kindermädchens hatte ich meine Finger im Spiel. Unwichtige aber entscheidende Dinge eben."
"Ist das hier deine Definition von besser? Außerdem erklärt das nicht, wo du dich rumgetrieben hast. Ich nehme ja nicht an, dass du einkaufen gegangen bist", erwiderte Leia säuerlich und spielte auf Darius' Kleidung an. Es war immer noch die selbe zerknautschte Kombi aus Kapuzenpullover und Shorts. Es gab keinen Deut, dass Darius so etwas wie ein Engel war, wenn auch nur einer in Ausbildung.
"Ist ja nicht so, als würd' ich hier mit Geld verdienen. In wenigen Jahren werd' ich einen neuen Schützling haben. Dennoch... Ist es nicht strafbar, so arrogant zu sein?" Leia spürte, wie sie rot anlief vor Wut und auch Peinlichkeit.
Sie hatte sich tatsächlich Sorgen um Jemanden gemacht, der wieder nur aufgetaucht war, um sie schlecht zu machen. Am liebsten hätte sie sich im Bett rumgedreht und wäre wie Dornröschen in einen tiefen Schlaf gefallen.
"Wurdest du nie für einen Kinderschönder gehalten und festgenommen?", konterte sie und presste die Lippen verbissen aufeinander. Darius ging nicht darauf ein und sagte leise: "Ich hatte andere Dinge zu tun", während er die Beine überkreuzte.
Diese Worte überraschten Leia. Sie hatte mit einer feixenden Antwort gerechnet, die nur so vor Ironie triefte. Stattdessen bekam sie... das.
Sie wusste nicht ganz, wie sie diese Reaktion einordnen sollte. Gerne wollte Leia an den Darius glauben, der ihr Haar streichelte und sie ehrlich ansah. Aber es schien, als wollte der ignorante und überhebliche Darius ihr dazu keine Chance geben.
"Ich war einsam", gestand Leia, die zu ihren Empfindungen stehen wollte. Sie schloss die Augen. Wie aus dem Nichts befahl sie die Angst, dass er nun wieder zu seinem anderen Ich werden könnte, dass sie glatt auslachen und abhauen würde.
Stattdessen fühlte sie eine samtweiche Berührung an ihrem Schlüsselbein und zuckte leicht zusammen.
Darius strich ihre Haare nach hinten und als Leia blinzelte, sah sie sein zufriedenes Lächeln. Sie war froh es noch einmal sehen zu können, bevor er wieder diesen so genannten anderen Dingen nachgehen würde.
"So. Sitzt perfekt!" Stolpernd stieg sie von ihrem Bett und trat an ihre Spiegelkommode, in der eine blasse Leia erstaunt die Augen aufriss und eine hübsche Kette an ihrem Hals baumeln sah.
Der Anhänger zeigte ein kleines silbernes Glöckchen, das jedoch keinen Ton zu machen schien.
"Das ist eine magische Halskette. Den Klang des Glöckchens kann nur ich hören. Wenn du die Kette trägst werde ich immer wissen, wo du zu finden bist. Also keine Angst" Wieder lächelte Darius.
Leia erinnerte sich an das Geräusch, dass sie vernommen hatte, als Darius gegangen war. Als sie ihn darauf ansprechen wollte, kam er ihr zuvor und erklärte: "Schau. Das ist die Magie in dem Gegenstand, die übrigens ich eingepflanzt habe. Du erinnerst dich an meine Gabe, Leben zu schenken? Ähnliches habe ich hier gemacht. Eine Art Schicksalszauber, der die durch das Schicksal an mich gebundene Kette auch nur an mich bindet."
Neugierig betrachtete Leia den Anhänger. Nun schien er viel wertvoller als auf den ersten Blick.
Der Gedanke, dass sie ein rohes Stück Magie um ihren Hals hängen hatte, machte sie ganz nervös. Doch wenn die Kette an ihn gebunden war, warum hatte sie ihre Stimme dann das letzte Mal wahrnehmen können?
"Darius...", setzte sie an, doch der Moment war vorbei und er war wieder der alte Idiot, der nun gelangweilt beobachtete, wie sie sich vor dem Spiegel wandte. Gähnte.
"Übrigens macht es dich auch nicht schöner, wenn du dich noch drei Mal vor dem Spiegel drehst", erklärte er ihr. Dann ließ er sich auf ihr Bett plumpsen. "Ach ja, hast du ein Fernrohr?"
***
Er war froh darüber, dass ihr Schlaf nach seinem zweiten Erscheinen einen regulären Anschein machte.
Vielleicht war sein Dasein wie ein Heilmittel gegen ihre Sorgen.
Er rief sich wieder vor Augen, dass sie erst zwölf Jahre alt war, praktisch noch in den Kinderschuhen. Natürlich hatte sie furchtbare Angst alleine, die er mit einem Schlag wegzaubern konnte, da Alles in der heutigen Zeit so schrecklich beeinflussbar war, ohne dass er seine Magie in einer Weise anwenden musste.
Er durfte ebenfalls nicht vergessen, dass er nicht hergekommen war, um Spaß zu haben.
In Wahrheit wusste er nur noch nicht, wie er Leia auslegen sollte, dass er gekommen war, um sie tot zu sehen. Theoretisch hätte es nicht einmal... unter keinen Umständen und...keinerlei Probleme geben können, doch etwas war Anders.
Im normalen Falle wussten Schutzengel instinktiv Alles über ihre Schützlinge, auch über ihre Gaben. Wieso also hatte Leia ihn erkennen können?
Wenn er seine wahre Gestalt einem Menschen ohne eine gewisse magische Affinität offenbart hatte...
Dennoch. So wie sie sich verhielt, so ahnungslos und unschuldig, schien sie nicht nur ihn sondern auch die Osteogenesis imperfecta merklich zu unterschätzen. Das war der Nachteil dieser Krankheit: Sie breitete sich ganz langsam im Körper aus und brach dann von Innen alle Knochen. Schritt für Schritt in einen qualvollen Tod, den er Leia lieber erspart hätte.
Im Grunde genommen hatte sie ein erfülltes Leben. Sie wurde unterrichtet wie eine Erwachsene und wusste auch genau so viel über das, was im Universum vor sich ging, ohne es wirklich wahrzunehmen.
Leia wusste, dass jeder Mensch einen Stern besaß und dieser seinem Leben ein Ende bereiten würde. Doch diese Geschichte war unkomplett.
In Wahrheit waren die Sterne am Himmel lediglich Engel, die noch keinen oder wieder keinen Schützling zugeteilt bekommen hatten.
Leias wahrer Todesstern war er, in diesem Moment, zu dieser Zeit- jetzt.
***
Für Leia waren die frustrierendsten Momente im Leben diese, in denen man im Ungewissen wartete und seltener nicht einmal wusste, worauf. Beim Warten verlor man meist jegliches Zeitgefühl.
Fakt Nummer eins war, dass diesen Montag Leias Eltern von ihrer Geschäftsreise nach New York zurückkommen würden, von der sie ihr mehrere Postkarten mit Aufdruck des Time Squares und ein schönes Kleid für den Sommer-, dass die Niemandem zeigen konnte, da sie das Haus so gut wie nie verlassen durfte- geschickt hatten.
Fakt Nummer zwei und somit der wesentlich wichtigere Fakt war, dass sie sich wie bei Allem wirklich Wichtigen (wenn man sie fragte) verspäteten und Leia sich wohl eine Erkältung zuziehen würde, wenn sie noch länger auf der kalten Haustreppe sitzen würde.
Doch bisher hatte sie sich eisern dagegen gewehrt von dem Kindermädchen reingetragen zu werden. Irgendwann hatte es aufgegeben und wachte nun mit Adlersaugen durch das Wohnzimmerfenster über sie.
Nach einer Weile des Sitzens schmerzte Leias Rücken. Wenn ihre Mutter sehen könnte, was für einen Buckel sie machte, müsste sie an diesem Abend ohne Essen ins Bett gehen. Nicht, dass es Leia etwas ausmachen würde. Sie hatte sich schon oft damit gestraft, einen ganzen Tag lang das Essen zu fasten, doch von der eigenen Mutter geschalt zu werden, war doch eine andere Sache.
Meist hatten ihre Eltern gar keine Zeit um sich mit Dingen wie Regeln und Konsequenzen auseinanderzusetzen, wofür auch das Kindermädchen da war. Es war kein Ersatz für elterliche Disziplin, aber ein Notstopfen, wenn es hart auf hart kam. Und solange die Bezahlung gut war, tat die alte Frau so ziemlich Alles.
Als Leia den schwarzen Cadillac, auf den sie gehofft hatte, die Einfahrt hinauffahren sah, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Einen Moment lang hatte sie geglaubt, ihre Eltern seien in einen Unfall verwickelt gewesen oder anderweitig aufgehalten worden. Bestimmt handelte es sich nur um eine simple Verspätung.
Nachdem Leias Vater das Auto geparkt hatte, stieg er aus und öffnete die Beifahrertür ihrer Mutter, um diese nach draußen zu geleiten.
Früher hatte Leia immer beteuert, dass sie ihren Vater irgendwann heiraten würde, da sie niemals einen so gut erzogenen und freundlichen Mann wie ihn gesehen hatte. Dann hatte ihre Mutter immer entsetzt zwischen den Beiden hin und her gesehen und war beleidigt in das Schlafzimmer verschwunden. Früher waren er und sie unzertrennlich gewesen. Eine normale kleine Familie mit einer behinderten Tochter, die an Silvester Bleigießen machten und Luftschlangen um den Buffettisch legten.
Dann hatte sich die Karriere ihrer Eltern in den Weg gestellt, die einen abrupten Aufstieg genommen hatte.
Ihre Eltern arbeiteten als erfolgreiches Autorenpärchen, das mit seinen Bestsellern genug Geld für einen Cadillac, einen Hausanbau, ein Kindermädchen und häufige Reisen zu den Schauplätzen ihrer neuen Romane verdiente.
Auch wenn Leia sich mehr gemeinsame Zeit mit ihnen wünschte, so war sie doch stolz darauf, sich Teil ihrer Familie zu nennen.
Als Leias Eltern die Haustür erreicht hatten, hielten sie erschrocken die Luft an, so synchron, dass es ihr bestimmt einstudiert vorgekommen wäre, wenn sie es nicht besser wüsste.
"Leia, deine Haut ist ja schneeweiß!", stellte ihre Mutter fest.
"Sie ist unterkühlt", bejahte ihr Vater, der ihre Wange sanft in seine große Hand nahm. Leia schwieg und wartete auf eine Begrüßung, die wohl ausbleiben würde.
Zusammen gingen sie ins Haus, um sofort überschwänglich von dem Kindermädchen bewirtet zu werden, das sich auch sofort für Leias Zustand entschuldigte. Sie sagte, dass Leia sich ihren Anweisungen widersetzt und von Alleine gehandelt habe. Danach würdigten ihre Eltern Leia keines Blickes und so beschloss sie nach dem Mittagessen sofort in ihr Bett zu gehen und zu schlafen.
Sie würde nicht einmal mit Glöckchen reden, der sich bestimmt Sorgen um sie machte.
Wahrscheinlich war sie einfach zu enttäuscht, dass ihre Eltern ihr Postkarten und Geschenke schickten, Briefe voller gefälschter Liebe, aber es nicht einmal über sich brachten, ihre Tochter anständig zu begrüßen. In ihrem Kopf hörte sie Darius' Glocke an ihrem Hals eine kleine Melodie spielen. Und während sie sich mit ihren Eltern an den gedeckten Tisch setzte, spürte sie nicht mehr als diese Noten, die sie in sich aufzusaugen und wie einen Anker daran festzuklammern schien.
Das Besteck fühlte sich schwer in Leias Hand an. Ihre Eltern wechselten kein Wort mit ihr, schauten sie nicht einmal an. Das war ihr ganz recht, denn wenn sie es getan hätten, hätten sie bestimmt den großen Sturm gesehen, der sie mit sich in die Tiefe zog.
Sie fühlte sich wie in einem schlechten Film, auch wenn sie schon an die Manier ihrer Familie gewöhnt sein sollte. Die Zacken ihrer Gabel kratzten auf dem Porzellan, aber sie hörte es kaum.
"Iss deinen Salat anständig", beschwerte sich das Kindermädchen. Gehorsam legte Leia die Gabel beiseite und aß mit einem Löffel weiter. Sie hatte eigentlich keinen Hunger und länger als nötig mit ihren Eltern an einem Tisch zu bleiben hörte sich an wie eine Kampfansage.
"Der Löffel zum Mund, nicht der Mund zum Löffel!", erinnerte die alte Frau sie abermals und legte ihr Besteck gradlinig auf die unbenutzte Serviette. Wenn sie vier zusammen aßen war es, als würde Leia von allen Seiten beobachtet. Wenn sie nur mit der alten Frau aß, durfte sie die Arme vom Tisch nehmen und sich mit dem Handrücken den Mund abwischen. Jetzt wirkte es, als hätte Leia irgendetwas wichtiges verpasst, was sie schon elf Jahre lang gelernt hatte.
Ihr Vater hatte scheinbar keinen Hunger mehr, denn er überkreuzte Gabel und Löffel und erhob sich. Keiner wagte sich zu sagen, dass dies unhöflich war, bevor nicht Alle fertig waren, doch sie war sich sicher, dass es Jemand angemerkt hätte, wenn sie ohne Entschuldigung aufgestanden wäre. Als sie klein war, hatte ihre Mutter ihr die Tischbedeck Regeln beigebracht. Wenn man das Besteck überkreuzte, das wusste sie, dann hieß es, dass es Einem nicht geschmeckt hatte. Dabei hatte Leia sich sehr viel Mühe gemacht, dem Kindermädchen so gut wie möglich zur Hand zu gehen.
"Familienkomplexe?", fragte Darius, der an der offenen Tür zum Speisesaal lehnte und die Szenerie schweigend betrachtet hatte. Leia glaubte, dass sie dank ihm nicht schon längst aufgegeben hatte, auf irgendeine liebevolle Geste von ihren Eltern zu warten. Auch wenn sie nicht verstand, wie ihre Eltern fühlten, war sie sich sicher, dass sie sich vielleicht nur gegenseitig missverstanden.
Ihr Vater war im ganzen Haus zu hören, als er die knarrende Treppe hochstapfte und der Schlüssel zu seinem Schlafzimmer im Schloss knackte.
Ihre Mutter sah ihre Tochter an und kämpfte mit den Gefühlen der Liebe und des Hasses. Es war nicht so, dass sie Leia verabscheute. Wann war sie so geworden? War sie nicht immer die Erste gewesen, die protestieren würde, wenn sie ohne ihre Tochter irgendwohin reisen müsste? All diese Versprechen hatten sich geändert, als Leias kurze Lebensspanne definiert wurde. Viele Jahre waren sie und ihr Mann voller Hoffnung gewesen, doch die Diagnose schwarz auf weiß zu sehen... Es war ein Niederschlag für ihre Mühen. Von da an hatte sich ihr Mann in seine Arbeit geschmissen, als müsste er sich selbst darin verlieren um den Schmerz auszuschalten. Doch wie hatte sie jemals dieses Gefühl mit Hass verwechseln können? Sie wusste, dass es kein Hass war und doch war sie unfähig mit ihrer Tochter anders umzugehen als momentan. Würde Alles besser werden, wenn Leia ihren Frieden gefunden hatte? Leia war so voller Energie und endloser Kraft.
Konnte sie denn nicht verstehen, dass es für ihre Mutter viel leichter war, wenn sie einfach den Mund halten würde? Sie machte es nur noch schwerer, denn..wenn sie wieder anfangen würde ihre Tochter bedingungslos zu lieben, welch große Abgründe würde es dann in ihr Herz reißen, wenn sie diesen Teil von sich verlieren würde?
Leia spürte Darius' Hand auf ihrer Schulter. Seine Berührung sandte ein weiches Donnergrollen bis hin zu ihren Zehen. Die Glöckchen an ihrer Kette, die sie seit jenem Tag gewissenhaft trug, heiterten sie mit ihrer Musik auf.
Leia hatte nur eine Mutter, nur einen Vater. Der Gedanke daran, dass sie diese jemals alleine lassen könnte, war verrückt. Das könnte sie nicht über sich bringen. Darum gab Leia ihr bestes, sich niemals unterdrücken zu lassen. Eines Tages würden diese Gefühle ihre Familie erreichen. Hoffentlich. Dafür musste sie jeden Tag beten.
"Sieh dir ihre Augen an. Du kannst hier nichts mehr tun", sagte Darius und sie sah auf. Er sprach die Wahrheit. In den Augen ihrer Mutter- die so identisch mit den ihren waren, dass sie keinen Moment daran gezweifelt hätte, wenn ihr Jemand erzählen würde, dass sie ein Klon war- glitzerte Etwas, das Leia nur als eine Reue einordnen konnte, die Menschen in den Wahnsinn trieb. "Lass los. Du hast sie verloren.. Für heute", flüsterte Darius.
Leia ließ los. Sie wusste zwar nicht was, aber sie ließ los, legte einen Schalter in ihrem Kopf um.
Möglicherweise legte er sich auch von selbst um.
"Leia-Schatz!", rief das Kindermädchen erschüttert aus, das Leia völlig ausgeblendet hatte. Das Rasseln der Glocke um ihren Hals wurde mit einem Mal unerträglich laut. Wollte es ihr den Verstand rauben?
"WAS!", kreischte Leia und spürte, wie die ersten Tränen ihre Wangen hinunter rannen.
"WAS! Antworte! Soll ich wieder schlafen gehen? Soll ich wieder in die Rolle einer verstummten Puppe springen?"
"Setz dich hin, Leia. Es ist unhöflich aufzustehen, wenn Andere noch am Essen sind" Der selbe Zauber der ihre Denkweise umgeschüttelt hatte, sorgte dafür, dass sie wie auf unsichtbare Kommandos reagierte. Sie holte aus, beugte sich über den fein gedeckten Tisch und schlug ihre Mutter mit der offenen Hand. Ein roter Abdruck bildete sich auf deren Wange. Ihre Mutter schwieg.
Leia stemmte ihre Hände, die unentwegt zitterten, auf der Tischplatte auf und schrie: "WARUM ist deine LIEBE so schwer zu VERSTEHEN?!"
Als sie keine Antwort bekam, rauschte sie aus dem Speisesaal. Am Treppenabsatz wurde sie von Darius festgehalten, doch das erste Mal wollte sie seinen Beistand nicht, darum schüttelte sie ihn ab und kämpfte sich die Stufen nach oben. Als Leia in ihrem Zimmer angekommen war, schaffte sie es nicht auf ihr Bett. Sie brach auf dem Boden in die Knie und hustete. Danach weinte sie. Vielleicht tat sie auch Beides gleichzeitig, da war sie sich nicht sicher.
Die Welt verschwamm mit einem wässrigen Schleier vor ihren Augen. Sie nahm wahr, wie Glöckchen unbeholfen auf sie zutapste. Sie wollte die Hände um seinen kleinen Stoffhals legen und drücken.
Sie wollte die Tränen loswerden und die Schreie, die sie gefangen hielt, in ihrem Kissen ersticken, bis sie vergingen.
Glöckchen erreichte sie und Leia wehrte ihn mit einem Fingerschnipsen ab. Schwerfällig purzelte er davon.
Leia weinte, bis sie sich wie ausgelaufen fühlte und legte dann den Kopf auf den harten Teppichboden. Sie hörte ihren eigenen aufgeregten Herzschlag.
"Ich werde ihm sein herz nicht entnehmen. Ich dachte, dass er dir helfen kann, wenn ich nicht da bin", erklärte Darius, der auf leisen Sohlen hinter ihr in der Tür ausgetaucht war, ruhig.
Er machte keine Anstalten sie zu berühren oder mit ihr über ihren Wutausbruch zu reden. Leia wartete, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte, dann kniete sie sich aufrecht hin.
Darius starrte ihren Rücken an, der nur von einem orangenen Sommerkleid bedeckt wurde, obwohl es längst Herbst war.
"Das war nicht ich", sagte sie.
"Ich weiß."
Darius konnte ihr nicht sagen, dass er sie auf seinen Willen heraus hatte handeln lassen.
Er hatte nicht geahnt, dass sein Eingriff solch einen Ausschlag nehmen würde. Für einen kurzen Augenblick konnte er sogar eine gewisse Mordbereitschaft in Leias Augen funkeln sehen. Dann war sie vor alldem in ihr Zimmer geflüchtet.
Darius wusste, was er Leia gerade angetan hatte, aber all das war nur zu ihrem Besten.
Als Entschädigung hob er ihren kleinen Körper auf seine Arme und wog sie darin. Leia protestierte halbherzig, und stoppte erst als sie die Berührung seines Fingers auf ihren Lippen spürte.
"Manchmal ist es in Ordnung, getragen zu werden", lehrte er sie und streichelte über ihr seidiges Haar.
Sie schloss die Augen und lehnte sich an ihn.
Leia strahlte eine angenehme Wärme aus, die in sein Blut zu fließen schien. Es war angenehm, sie zu halten und sie zu beruhigen. Es fühlte sich so an, als hätte er ihr nie etwas Schlimmes getan.
Als sei Darius immer noch ein normaler Mensch.
Darius machte sich einen Spaß daraus, einen von Leias Stiften nach dem Anderen zu brechen, die, solange sie in seinen Händen lagen, ebenfalls unsichtbar waren.
Dr Kitson erschreckte sich jedes Mal, wenn er das Nerven aufreibende Knacken des Holzes hörte. Obwohl sie wusste, dass es unsinnig war, machte sie sich Sorgen, dass Dr Kitson doch einen kleinen Schimmer von Darius erkennen konnte. Selbst wenn ließ der Doktor sich Nichts anmerken.
Er beschäftigte sie bis zum Ende ihrer Unterrichtsstunde mit der selben Tonlage: Als müsste er sie in den Schlaf einlullen.
Schon oft war Leia sich vorgekommen, als wollte er sie mit seinen Worten hypnotisieren.
Nach ihrem Wutausbruch gestern war Darius nicht von ihrer Seite gewichen. Als sie die Augen abends geschlossen hatte, saß er auf ihrem Nachttisch und als sie wieder aufgewacht war, fand sie ihn in genau der selben Position.
Erst hatte er nicht auf ihre Rufe reagiert, dann hatte er gelächelt und gesagt, dass er sich darauf freue, sie heute zu ihrer Privatschule begleiten zu dürfen. Auch das Tempo der Glöckchen hatte sich wieder beruhigt.
Es war bereits als sei der vergangene Tag im Nebel verschwunden, als hätte er niemals existiert. Unangenehme Dinge verschwanden in diesem Haus wie von selbst.
"Bis zur nächsten Stunde lernst du den heutigen Stoff. Sei dir einer Überprüfung sicher", erklärte Dr Kitson ihr und entließ sie mit einer Kopfbewegung, bevor er seine Nickelbrille zurechtrückte und etwas in sein Notizbuch eintrug.
"Ja, Sir", verabschiedete Leia sich. Darius folgte ihr langsam in den Garten vor dem Haus. Er sprach nicht mit ihr, bis sie an ihrem Ziel angekommen war: Der alten Schaukel ihrer Kindheit.
Leia wusste nicht, wie lange sie nicht mehr auf ihr gesessen hatte und befürchtete, dass sie unter ihrem jetzigen Gewicht einbrechen könnte. Damals war sie so klein gewesen, dass sogar Armstützen außen rum um die Kinderschaukel angebracht waren, damit sie nicht rausfiel.
Das letzte Mal, als sie in ihrem Garten gespielt hatte, war vor einer Ewigkeit gewesen. Genau so lange war es her, seit eine Freundin bei ihr zu Besuch war. Ihre Mutter fand Gäste konzentrationsstörend und riet Leia stets genau das selbe zu empfinden.
Dazu wusste sie auch nicht, wen sie außer Darius hätte einladen sollen und dieser folgte ihr seit jenem Tag, an de er ihr die Kette geschenkt hatte, beinahe überall hin.
Sie vermisste die Sommertage, in denen sie mit ihrem Vater nach Schmetterlingen gejagt hatte.
In ihrem Rücken hörte sie Darius seufzen. Er setzte sich vorsichtig in die Schaukelvorrichtung, um Nichts kaputt zu machen, und klopfte auf seinem Schoß. Gleichzeitig begann seine Haut zu flimmern und er wurde zu einem Menschen.
"Setz dich", bot er ihr an.
Leia nahm das Angebot nur zu gerne an, auch wenn sie sich dann wie seine Tochter vorkam. Ein komisches Gefühl, wie sie fand.
Darius legte seine Arme behutsam um ihren dünnen feingliedrigen Körper und hielt sie fest, bevor seine Füße sie anstießen. Im ersten Moment dachte Leia, sie würde fallen und verkrampfte sich. Dann verstärkte Darius seinen Griff und es fühlte sich an wie ein Bisschen Schwerelosigkeit.
Es war kein Vergleich dazu, wie sie früher allein geschaukelt hatte- Ebenfalls glaubte sie nicht, dass es mit jemand Anderem außer Darius so viel Spaß gemacht hätte.
"Ist es nicht gefährlich, wenn meine Eltern oder die alte Frau dich sehen?"
"Dann hauen wir ab", erwiderte er, als sei es das Normalste für ihn ein behindertes Mädchen zu entführen.
Außerdem war Leia noch nie in Londons Innenstadt gewesen.
Sie hörte den Glockenschlag des Big Ben, kannte den Weg zu ihrer alten Grundschule, zu ihrem Kindergarten und dem Arzt in der Stadt, zu dem sie einmal in der Woche für einen Gesundheitscheck gefahren wurde. Einerseits war sie gespannt, welche Geschäfte es in der Stadt gab und wie die Straßen aussahen. Sie wollte die Menschenmengen sehen, die bunten Klamotten, die überall getragen wurden, sie wollte mit einem Riesenrad auf dem Festplatz fahren und Zuckerwatte essen, ohne gesagt zu bekommen, wie genau man sie mit Tischmanieren aß.
Und am meisten wollte sie dies Alles mit Darius zusammen tun.
Neben ihren freudigen Erwartungen waren allerdings auch die Sorgen. Wenn sie erst einmal weg wären, was wäre der nächste Schritt? Könnte sie Darius wieder sehen, oder müsste sie ihn für immer hergeben? Was würde aus Leia selbst werden?
Möglicherweise würden ihre Eltern ihre Bewegungsfreiheit noch weiter eingrenzen, als sie es bereits taten und sie dürfte nicht einmal raus in den Garten gehen.
"Ist London schön?", fragte Leia Darius flüsternd, der seinen Schwung verlangsamte und zum Stehen kam. Er strich ihr von hinten eine pechschwarze Haarsträhne hinter ihr Ohr, als sei sie tatsächlich seine Tochter. Er tat es vorsichtig, als habe er Angst Leia zu zerbrechen, wenn er zu schnell agierte.
"Ja", antwortete Darius ihr, "Du wirst in deinem Leben niemals etwas Schöneres sehen."
"Dann lass uns gehen. Ich kann nicht warten, bis irgendetwas uns zu meinem Glück zwingt. Ich möchte einmal in meinem Leben selbstsüchtig sein!"
"Du könntest dich verletzen", erinnerte er sie und hob sie vom seinem Schoß, bevor auch er aufstand und ihr vom Wind zerzaustes Haar richtete.
"Ich weiß"
Darius nickte über ihre Worte und zog mit seinem Finger einen Kreis in der Luft, woraufhin ein lebendiger Glöckchen durch eine Spalte in der offenen Haustür sah und langsam auf sie zu stolperte.
"Wirst du mich wieder zurückweisen?", fragte Glöckchen abwartend und hielt ein paar Meter Abstand von Leia. Als Antwort kniete diese sich trotz ihres weißen Kleidesn auf den erdigen Wiesenboden und hielt ihre Hände auf, damit er sich hineinfallen lassen konnte.
***
Ihr Gewicht auf seinem Schoß hatte sich angenehm angefühlt.
Es hatte bei ihm warme Blitze durch Mark und Bein gehen lassen.
Nun wollten sie gemeinsam in die Londoner Innenstadt flüchten. Es war seltsam, Leia unter den Armen zu packen und sich mit ihr in die Luft zu heben. Sie staunte dabei wie ein kleines Kind und augenblicklich erinnerte er sich, dass sie immer noch so jung war.
In wenigen Wochen, die sich an einer Hand abzählen ließen, wurde sie dreizehn Jahre alt. Oft vergaß er wie schnell die Zeit auf der Erde verging.
Kaum blinzelte man, war man schon verheiratet und hatte ein Kind zusammen. Wenn man die Augen nochmal öffnete, saß man bei der Abschlussfeier seines Kindes und beim dritten Mal fand man sich drei Meter unter der Erde, während an der Oberfläche für einen die Tränen vergossen wurden.
Für ihn und die Seinesgleichen war es jedoch zu spät.
Sie Alle hatten weggeworfen, was sie mit einem Schlag hätten haben können. Er würde ewig in diese Körper feststecken ohne jemals zu altern. Er konnte sich momentan kaum vorstellen Leia irgendwann zu verlieren und einen neuen Schützling zugeteilt zu bekommen.
Lieber wollte er sie selbstsüchtigerweise zu einem Suizid in den Tod treiben, damit sie zu einem Schutzengel wurde und für immer an seiner Seite bleiben konnte. Er merkte, wie diese Gedanken ihn traurig stimmten. Auf diese Weise hatte auch er seinen Weg zu dem hier gefunden.
Der Lauf zur Klippe, der strömende Regen, noch ein Schritt weiter und er schwebte in der Luft, nichts als Luft, die um seine Ohren wehte. Sein Körper, der durch eben diese Luft schnitt. Der Schmerz, der große Schmerz. Der Tod. Warum er Suizid begannen hatte, wusste er nicht mehr. Er konnte sich an gar nichts mehr vor dem Tag erinnern, an dem er gesprungen war.
Er spürte eine federleichte Berührung an seinem Arm, der Leia festhielt. Sie sah nicht zu ihm hinauf oder sprach ein Wort, sie legte nur ihre kleine Hand auf seine. W
enn sie gefragt hätte, was los war, hätte er sie zurückgewiesen. Wenn sie besorgt zu ihm aufgeschaut hätte, hätte er eine spöttische Bemerkung abgelassen, die sie traurig gemacht hätte. Und jetzt, egal wie viel sie selbst leidete und innerlich direkt vor seinen Augen abstarb, war sie immer da, wenn er sich umdrehte.
Dieses kleine 12-jährige Mädchen konnte direkt auf sein Herz blicken.
***
Leia legte ihre Hände auf den Mund und hielt die Tränen zurück.
Das hier war nicht ihre Heimatstadt, das konnte nicht sein. Es fühlte sich unglaublich falsch an, Bürgerin dieses Ortes zu sein und Nichts von seiner Schönheit und seinen Geheimnissen zu wissen.
Leia wollte Alles über London wissen, sie wollte von Darius' Lieblingsplätzen wissen, von der Eisdiele, die den besten Bananensplit machte und wollte die Preise für die Kleider in den teuren Boutiquen auswendig können.
"Das hier ist London, richtig?", hakte sie nach und warf Darius einen fragenden Blick zu. Dieser war während dem Flug ein Schatten gewesen und hatte sich nun wieder zum Menschen verwandelt. Er nickte und griff nach ihrer Hand.
Leia hatte in ihrem Leben noch nie so viele Menschen auf einem Fleck gesehen. Massen tümmelten sich in den Geschäften, Restaurants und auf den Bänken um die wenigen Statuen in der Innenstadt. Wie sie es geträumt hatte sah es aus wie ein Karnevalsumzug.
Die Straßen waren voller bunter Kleider, Röcke, T-Shirts und Hosen, die im Wind hin und her zerrten.
Leia fühlte sich farblos in ihrem einteiligen weißen Kleid, das nichts weiter als eine rosa Schleife am Kragen hatte. Darius spürte ihre unbehaglichen Blicke und schlug vor, ihr ein neues Kleid zu kaufen.
Auf Knopfdruck verbesserte sich ihre Laune, als sie in den ersten Laden, den sie fanden, eintraten.
Im Inneren wartete ein Paradies auf sie. Jacken, Schals, Mützen, Gürtel, Ohrringe, Ketten, Kleider, Schuhe, Haarreifen und Strumpfhosen. Alles bunt koloriert auf tausenden von Regalen und über zwei Stockwerke verteilt. Leia wühlte sich durch die Kleiderbügel, probierte ein Teil nach dem Anderen an und fragte Darius nach seiner Meinung, der jedes einzelne Kleid mit einem Lächeln und den Worten "Sieht gut aus!" abtat.
Dann fand Leia das Kleid. Ihr Kleid.
Es war grau, unten in einen dunklen Schwarzton einfließend, trägerlos und hatte aus Stoff einen Gürtel an der Taille angenäht, den eine ebenso schwarze Stoffrose zierte.
Mit eben diesem Kleid verschwand sie in ihrer Umkleide, während Darius sich wahllos im Geschäft umsah. Als Leia in voller Montur vor ihrem Spiegel stand, fand sie sich das erste Mal in ihrem Leben schön. Sie löste ihre Haare von den Gummis, die sie zu zwei Zöpfen banden, und ließ sie mit dem Grau verschmelzen. Das Kleid ließ ihre Augen wie zwei echte Saphire erstrahlen, wie ihre Mutter sie immer genannt hatte.
Damals.
Beinahe kamen ihr die Tränen in die Augen. Es war lange her, dass sie sich so wohl in einer Klamotte gefühlt hatte.
Als sie barfuß aus dem Vorhang trat, wartete Darius auf der Bank im Warteraum und war sichtlich geschockt von ihrem Auftritt. Peinlich berührt stellte Leia fest, dass er sogar schnell den Kopf abwand, als sie ihn erneut fragte: "Wie sehe ich aus?"
Diesmal antwortete er nicht mit seinem Standardsatz, sondern meckerte: "Ich dachte, du wolltest was Buntes. Außerdem füllst du das Kleid nich' aus. Vergebene Liebesmüh'."
Leia ließ sich nicht behindern und lächelte unentwegt weiter.
"Und?", fragte sie.
"Passabel", murrte er und erhob sich. Darius wies sie an, in dem Kleid zu bleiben und ihre Sachen zusammen zu suchen, solange er es bezahlen würde. Er wartete auf sie an der Kasse, während er versuchte seinen Kopf klar zu machen.
Die Kassiererin nahm den Code des Kleides und er legte ein paar belanglose Scheine auf die Theke. Leia machte Anstalten zu protestieren, doch er legte ihr die Hand auf den Mund und zog sie mit nach draußen.
Es dämmerte bereits, als sie an dem letzten Programmpunkt für diesen Abend ankamen. Dem Rummelplatz.
Als Erstes kaufte Darius ihr eine Zuckerwatte, nicht ohne anzumerken, dass sie sich die Zähne ruinieren würde, dann wanderten sie einmal um den Platz herum.
"Woher nimmst du eigentlich das ganze Geld?", wollte Leia auf einmal wissen, woraufhin Darius antwortete, es sei gestohlen. Als sie ihn entgeistert ansah, erklärte er ihr, dass die Besitzer nie etwas merken würden.
"Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es gestohlen ist!", tadelte sie, "Ist das überhaupt erlaubt?!"
"Nein." Darius zuckte mit den Schultern, nahm wieder ihre Hand und führte sie zu dem Ticketstand.
Er kaufte zwei Stück: Zwei Stück Plastik verziert mit einem goldenen Aufdruck, zurecht gestanzt zu einem Oval. Leia hatte noch nie ein mächtigeres Plastikteilchen gesehen. Sie hütete es in ihrer freien Hand wie einen Schatz und drehte es zwischen den Fingern. Das Ticket war leicht, es könnte gut herunterfallen...
"Warten wir bis zur nächsten Runde", schlug Darius vor und zog sie mit auf eine von drei Bänken, die sich um eine Statue reihten. Wie in Leias Garten gehabt setzte sie sich wieder auf seinen Schoß und starrte abwesend vor sich hin, bis Darius auf einmal ein unterdrücktes Lachen von sich gab.
Er zeigte auf die Statue.
"Sieht aus wie du."
Er schmunzelte belustigt. Die gemeißelte Figur zeigte einen Mann und eine Frau, die ein kleines Kind in ihrem Arm trug: Die Frau war sehr klein, hatte ihr Haar zu zwei Zöpfen gebunden und schaute ihrem Lebenspartner liebevoll in die Augen. Dieser hatte zotteliges Haar und ein Lächeln im Gesicht.
"Und der da sieht aus wie du!", konterte sie und wurde sich im selben Moment bewusst, was sie gesagt hatte. Sie wollte eine gestotterte Entschuldigung von sich geben, als Darius hörbar die Luft einzog.
"Leia...", setzte er an, doch sie rutschte von seinen Beinen und zog ihn schnell weiter.
"Wir sind dran", sagte sie und es klang fremd. Monoton, falsch, unecht.
Die Fahrt in ihrem Wagon des Riesenrades wurde zur Horrortortur. Leia sah aus ihrem Fenster, während Darius an seinem klebte.
"Leia, wir dürfen keine Beziehungen mit Menschen haben", griff er das Thema von eben wieder auf, als sie beinahe am höchsten Punkt angekommen waren.
"Es ist nicht so, als würde mich das interessieren." Leia hoffte, dass sie den spöttischen Unterton in ihrer Stimme gut von Darius' nachahmte- zumindest erwiderte er darauf nichts, sondern stützte nur den Kopf auf seine Hand. Von dort oben konnte sie den Big Ben und beinahe ganz London sehen. Ihre alte Schule zum Beispiel, den Wald nicht weit entfernt von ihrem Haus, der große Klotz selbst.
Aber Darius Worte hatten es ihr unmöglich gemacht, die Fahrt zu genießen. So passierte die Zeit vorbei, als sie ihre Runde beinahe beendet hatten.
"An diesem Punkt geht meine Riesenradfahrt dahin", seufzte sie ehrlich enttäuscht, obwohl sie ihm eigentlich keine Schuldgefühle einreden wollte. Darius war doch ihr Freund, genau wie Glöckchen, der die ganze Zeit über in Darius' Handtasche geschlafen hatte. Sie hätte ihm gerne die Aussicht gezeigt.
Leia könnte heute Abend Alles detailgetreu erzählen und er würde gespannt auf ihrer Decke hocken und ihren Worten lauschen. So wie es immer war, so wie sie Glöckchen immer Alles erzählt hatte. So, wie es auch vor Darius Erscheinung schon gewesen war.
"Leia", sagte Darius nur und holte sie zurück in die Realität. Leia wollte ihn gerade anschnauzen, doch als sie ihm den Kopf zu wandte, hatte er nur die Arme ausgebreitet.
Tat nichts weiter, wartete nur auf sie.
Der selbe Schalter, der sich auch bei dem Mittagessen mit ihren Eltern umgelegt hatte, schien sich auch jetzt in ihrem Kopf zu bewegen. Doch diesmal war Leia sich hundertprozentig sicher, dass sie es war, die ihn betätigte.
Sie schmiss sich in Darius' Arme und weinte, ohne genau zu wissen wieso sie das tat. Er ließ sie weinen und sprach die ganze Zeit kein Worte mit ihr. Die Tränen flossen, ohne, dass Leia sie hätte aufhalten können.
Ein reißener Strom, der den Damm durchbrach und nicht gestoppt werden konnte.
"Regeln sind schrecklich", wisperte sie.
Er antwortete nicht.
"Irgendwann bin ich frei."
Er erwiderte nichts.
"Dann hauen wir Beide zusammen ab. Nicht nach London, ganz weit weg. Ein Neustart."
Und diesmal legte er sein Kinn auf ihren Kopf und schloss die Augen.
Der langweilige Alltag schlich sich irgendwann selbst in das Leben eines Osteogenesis imperfecta erkrankten Mädchens und ihres Schutzengels.
Es war, als befolgten sie einen unsichtbaren Stundenplan, den sie zwar nicht genau kannten, aber in ihren Kopf gebrannt hatten.
Wenn sie Unterricht bei Dr Kitson hatte, zerbrach Darius ihre Stifte, die das Kindermädchen wöchentlich neu für sie kaufen musste. Standen ihre Arztbesuche an, blieb Darius zu Hause und beschäftigte sich damit, Leben in verschiedene Gegenstände ihres Zimmer zu füllen und es danach wieder zu entziehen. So kam es zu interessanten Gesprächen mit ihrem Schreibtisch, Glöckchen und dem Kissen, wobei das Kissen Darius' Lieblingsobjekt war, was er wie so vieles nicht zugab. Es roch nach Leia und manchmal hingen ein paar ihrer schwarzen Haare daran.
Nachmittags gingen Darius und sie hinaus in den Garten, der seit ihrem Besuch in London strengstens bewacht und eingezäunt wurde, oder direkt in ihr Zimmer.
Leias Knochen begannen immer stärker zu schmerzen.
Es war offensichtlich, dass sie bald in einen Rollstuhl verlegtt werden würde. Wenn dieses Thema auf den Tisch kam, sah Darius nach unten. Er wusste, dass er mit dem Tag in der Londoner Innenstadt den Stoß über die Planke gewagt hatte, der Leias Gesundheit über ihre Grenzen tragen würde.
Doch Leia lächelte weiterhin ihr gewohntes Lachen.
Darius wunderte sich oft, wie sie das schaffte. Trotz Allem, was ihrer Zukunft bevor stand, in ihrer Gegenwart passierte und in ihrer Vergangenheit geschah immer die Selbe zu bleiben.
Er selbst hatte sich vor vielen Jahren verloren, versucht, sich in der Menschenwelt zu ertränken, unterzutauchen. Und doch hatte er immer neue Schützlinge zugeteilt bekommen, Einer erbärmlicher als der Andere. Kein Einziger war so stark wie Leia gewesen. Je näher ihr Tod, der noch Ende dieses Jahres kommen würde, folgte, desto stärker wurde Darius' Wunsch, Leia in den Suizid zu treiben.
Wenn sie loslassen könnte, loslassen von dieser Welt, hätte er sie schon längst befreit. Doch aus irgendeinem verfluchten Grund hielt sie an einer Realität fest, die verletzend und schmerzvoll war. Darius wusste, dass er als ihr Schutzengel keinen Einfluss auf ihre Entscheidungen bezüglich ihres Todes haben konnte, aber verstehen konnte er es auch nicht.
War es nicht viel Schöner, fliegen zu können? Frei in der Sphäre, Kinder in ihren letzten Minuten zum Lachen bringen, alten Menschen Erinnerungen zurückbringen. All diese Momente, für die es sich zu leben lohnte-immer und immer wieder daran teil zu haben? War das nicht durchaus delikater als der Gedanke als ein Leben ohne Bewegungsfreiheit, voller Schmerz und Dunkelheit?
Gelegentlich wurde er so wütend darüber, dass er mit dem Gedanken spielte, Leia ihr kleines Herz zu entziehen, wie er es jeden Moment bei ihrem Hasen Glöckchen hätte tun können. Ihr Herz immer bei sich zu tragen. Ihr Herz zu lieben, ihr Herz zu wahren. Aber es fühlte sich falsch an, das war es, was ihn krank machte.
Es war die Erkenntnis, dass er die Kraft hatte Alles zu tun, Liebe zu erzwingen, zu morden, zu schöpfen, zu geben und zu nehmen, aber er konnte es nicht über sich bringen, es bei ihr zu tun.
Bei Leia.
Als sie gestern Nacht nicht einschlafen konnte und er sich zu ihr auf das Bett gesetzt hatte, hatte sie ganz leise geflüstert, so dass er sich gefragt hatte, ob es bloß seine Einbildung gewesen war: "Ich glaube, ich habe dich schon lange geliebt, bevor ich dich kannte."
Diese Worte hatten sein Herz beflügelt und es war in seiner Brust so doll angeschwollen, dass es weh getan hatte. Doch er war nur zu einem Schatten geworden und hatte sie zugedeckt. Es war wahr, dass er sehr mächtige und große Gefühle für Leia empfand, aber er wusste nicht, ob er die Kraft hatte, sich gegen den Himmel zu stellen.
Es beängstigte ihn, dass kein Schutzengel dieser Welt wusste, woher sie kamen. Wer sie schickte. Sie wussten nur, dass sie irgendwann und immer wieder auf einen Schützling geprägt wurden, dessen Bild sie nicht loslassen würde, ehe sie ihn nicht an ihrer Seite hatten und letztendlich in den Tod schickten.
Heute war das erste Mal, dass er Leia zu ihrem Arzt begleitete.
Nur, weil sie heute die letzte Untersuchung hatte, bevor sie in einen Rollstuhl geschickt werden würde. Es machte ihn wütend, die Absichten des Arztes in dessen Augen zu lesen. Jemand, der sich an Kindern vergriff.
Darius war nur froh, dass die Krankenschwester die Röntgenbilder machen würde. Leia wurde in den Saal geschickt. Sie entledigte sich ihrer Kleider, wie sie es aus Gewohnheit schon kannte und bekam die Anti-Strahlungs Bandagen an ihrem Bauch und ihren Armen und ihrem Hals befestigt.
Der Saal war grau, kahl und kalt, genau wie der Klotz, den sie ihr Zuhause nannte. Das war der Grund, wegen dem sie sich nicht vor den großen Maschinen, den merkwürdigen Blicken ihres Arztes und den vielen Werkzeugen an ihrem Körper fürchtete, Alles hier sah aus nach ihrer Familie.
In Wahrheit waren all die Dinge, die sie laut Darius stark machten, nichts als günstige Gelegenheiten, die sie nutzte um ihre Ängste und Schmerzen abzuschütteln.
Sie schloss die Augen und die Rötgenblitze erhellten das Schwarz hinter ihren Lidern wie Sterne, die explodierten. Wie Feuerwerke an Silvester, die sie vor langer Zeit mit ihrer Mutter gemacht hatte. Vor einer Ewigkeit. Darius Schatten wartete im Wartezimmer auf sie. Er fragte sie mit seinen Augen, ob sie in Ordnung war und Leia nickte ihm zu.
Sie schämte sich dafür, die Glöckchenkette in den Momenten des Rönchen ausgezogen zu haben. Allerdings war dies die Vorschrift.
Leia erinnerte sich daran, Darius bei Gelegenheit zu fragen, weshalb sie die Glockentöne hören konnte. Aber dies wollte sie irgendwann anders tun. Wenn sie zwei allein waren. Vielleicht wieder einmal in der Londoner Innenstadt.
Sie wollte noch eine Chance haben mit Darius auf die Statue am Rummelplatz zu sehen und dabei seinen Arm um ihre Taille zu spüren.
Sie wusste nicht genau, was Liebe definierte, da sie vorher noch nie verliebt gewesen war. Doch wenn Liebe einem das Herz vor Sehnsucht zerriss, wenn man den Partner nicht sehen konnte und es vor Freude explodieren ließ, wenn Derjenige auftauchte, dann liebte sie Darius.
Es war verrückt und alles Andere als das, was an als vernünftig bezeichnen würde.
Aber solange er bei ihr war, genügte ihr das. Sie wusste nicht wie er fühlte, aber sie hoffte, dass er einen Teil der Gefühle, die sie befielen mit ihr teilte.
Ihr Kindermädchen wechselte ein paar Worte mit ihrem Arzt. Dann verabschiedeten sie sich. Als sie und das Kindermädchen das Krankenhaus verließen, nahm Darius ihre Hand und verschränkte seine Finger etwas zu fest mit ihren.
Aber es machte ihr bewusst, dass sie noch am Leben war und dass Alles in Ordnung war. Alles okay.
Sein Händedruck war besser als jedes Medikament.
Diesen Mittag wollte Darius es besser machen. Er wollte Leia endlich zur Rede stellen, über die unsichtbare Mauer zwischen ihnen, die zwar dünn aber vorhanden war. Irgendetwas, das spürte er, verheimlichte sie vor ihm und es machte ihn verrückt nicht zu wissen, was.
Darum ergriff er den Moment, als sie heil in Leias Haus angekommen waren und sich wieder einmal in ihrem Zimmer einschlossen.
"Hast du Angst vor mir?", fragte Darius gerade heraus, was Leia zum Stutzen brachte.
Nein, das hatte sie nicht. Noch nie hatte sie sich einer Person so nahe gefühlt, wie ihm. Er machte ihren langweiligen Alltag zu einem Abenteuer, das nur sie Beide bestritten. Jeden Tag aufs Neue.
Sie war sich nicht sicher, ob sie die Wirklichkeit aushalten würde, wenn Darius wieder verschwinden würde.
Aber war es ihr auch möglich, diese Dinge in Worte zu fassen? Sie hatte ihm bereits ihre Liebe gestanden, neulich nachts. Leia wusste genau, dass, wenn sie sie ihm nun noch einmal gestehen würde, könnte sie sich nicht mehr zum aufhören zwingen. Sie würde sich ihr Herz bis zum Ende zerstückeln und im Liebeskummer ertrinken.
"Ja."
Darius wirkte nicht verletzt. Leia ließ ihn stehen und ging raus auf ihren Balkon.
Sie sah in den Himmel, von dem ihre Mutter einst gesagt hatte, dass er wunderschön sei. Dass sie immer unter dem selben Himmel lebten, dass der Mond irgendwo dort draußen war, unsichtbar für sie. Leia fragte sich, ob es schön war im Himmel. Sie konnte es ganz leicht wagen, musste nur ein Bein über das Geländer schwingen, das Andere...
Leia könnte das letzte Mal getragen werden, noch einmal vor dem Ende, vom Wind.
"Ich will Antworten", sagte Darius in ihrem Rücken.
Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, da er sich genau so wie sie fühlte: Voller Angst, die sie nur schwer rauslassen konnte und auch zugestopft mit Fragen, die ihr den Atem nahmen.
"Ich gebe sie dir, wenn du mir entgegenkommst."
Er ließ sich auf dem Bett nieder und starrte Leia unverhohlen an. Sie fühlte sich wie ein Gutachtungsobjekt in einem Museum, verzichtete aber darauf sich umzudrehen.
Glöckchen hockte still auf der Oberfläche ihrer Spiegelkommode, ohne sich einzumischen.
"Hast du Angst vor mir?"
"Ja."
"Leia, hast du Angst vor mir?", wiederholte Darius.
"Ja."
Leia schloss die Augen und bemühte sich nicht würgen zu müssen.
Sie konnte spüren, wie ihr die Übelkeit und die Galle den Hals hochkroch.
"Wer ist deine Mutter?"
"Ami Strader, Bestsellerautorin, schwarzhaarig, blauäugig, zwei Köpfe größer als ich, einen größer als du", antwortete sie. In Steckbriefen war sie geübt, da sie von erwachsenen Fanatikern der Strader-Romane oft solche Fragen gestellt bekam. Wenn diese früher die seltene Gelegenheit bekommen hatten, sie auf ihrem Schulweg abzupassen.
"Wer ist dein Vater?"
"Sly Strader, Bestsellerautor, braunhaarig, grauäugig, zwei einhalb Köpfe größer als ich, ein einhalb größer als du."
Darius schwieg für einen kleinen Augenblick. Leia drehte sich zu ihm um und klammerte ihre Hände an den Eisenstangen des Balkongeländers in ihrem Rücken fest.
Die Kälte fuhr durch ihren Körper.
"Magst du mich?"
Es war die Frage, vor der sie sich insgeheim gefürchtet hatte. Die, die sie beim besten Willen nicht mit Worten erklären konnte. Es gab nur Eines, das ihr Herz vom kollabieren retten konnte, davon, ihren Brustkorb mit seinen heftigen Schlägen zu sprengen. Es machte ihr keinen Spaß, machte sie nicht glücklich, erleichterte sie nicht. Ließ sie sich nur unendlich elend fühlen.
"Leia...", fing Darius an und kam langsam auf sie zu. Sie wusste nicht wie alt er war, aber er war ein ganzes Stück größer und intellektueller als sie, auch wenn er es nicht gerne zeigte, und sie hatte Angst. Denn wenn er noch näher kommen würde, wusste sie nicht, ob sie es ertragen konnte, ihn anzulügen.
"Nein", wehrte sie ab. Bereitete dem Ganzen ein Ende, bevor es anfangen konnte.
"Nein, ich mag dich nicht. Hab ich nie. Werde ich nie. Du nennst mich doch immer wertlos, ich sei kein Hauptgewinn. Bin ich hässlich? Dann sag es nur. Aber ich liebe dich nicht."
Darius lachte zur Antwort in ihr Ohr. Leia war nicht aufgefallen, dass er sich so schnell bewegt hatte.
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie einfach nur.
Egal wie oft und in wie vielen verschiedenen Versionen Leia sich das ins Gedächtnis rief, es wollte nicht in ihr drin bleiben. Alles was sie dachte verschwand wieder, als könnte sie die Gedanken nicht festhalten. Als würden sie wieder aus ihr hinausfliegen und ihre leere Seele zurücklassen: Leerheit in jedem ihrer Knochen, nichts hörte mehr auf ihre Befehle.
Und dann, endlich, setzte der Schmerz der vergangenen Tage voller Liebeskummer ein, als habe diese federleichte Berührung etwas in ihr ausgelöst hätte, dass sie nicht mehr einholen konnte. Mit voller Wucht traf er auf sie und Leia war zu schwach um ihn stand zu halten.
***
Voller Sehnsucht hatte er sich an Leia geklammert und versucht, sich an ihr festzuhalten.
Er dachte, sie würde ihn retten und sie würde sein Anker sein. Gleichzeitig hatte er sich vor ihr verstecken wollen.
Es beängstigte ihn, dass Leia dazu fähig war, erkennen zu können, wie traurig und verletzt er war, egal wie breit er lächelte...was war dieses Lächeln wert, wenn es seine Augen nicht erreichte?
Der Kuss dauerte lange, solange, bis er keinen Atem mehr fand und Luft holen musste. Doch gleichzeitig als er sie losließ, spürte er, dass er das Einzige gewesen war, dass sie noch auf den Füßen gehalten hatte.
Leia sackte bewusstlos vor ihm zusammen, so wie er sie zuletzt gesehen hatte. Mit roten Wangen, einem verräterischen Glitzern in den saphirblauen Augen und Tränen in den Augenwinkeln, die wie kleine Eiszapfen an ihrer Stelle verweilten.
Er schloss ihre Lider mit seinem Zeigefinger und hob sie auf seine Arme.
Sie war so leicht wie ein Neugeborenes und schien nach außen hin unschuldig zu schlafen. Er könnte es tun. Ihr das kleine Herz aus der Brust reißen, jetzt. Doch etwas Anderes hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Wenn Leia tatsächlich eine Seherin war, dann mussten entweder ihre Mutter oder ihr Vater, wenn nicht gleich Beide, diese Gabe ebenfalls besitzen. Die Kraft, Engel zu sehen war etwas, das durch das Blut der Familie und nur so weitergegeben werden konnte. Doch Keiner der Beiden hatte irgendwelche Symptome gegeben.
Wenn Darius die höhere Macht des Himmels kontaktieren könnte, würde er vielleicht seine Erklärungen finden. Aber kein lebendiger Engel wusste, wer diese Fäden zog und welche Gründe er oder sie hatte.
Entschlossen stieg er auf das Balkongeländer und stieß sich ab. Sie würden noch vor Mitternacht wieder zu Hause sein, also war es in Ordnung. Er flog auf direkten Kurs zu einem Krankenhaus und musste am hellichten Tag so hoch steigen, dass er die Wolken berühren konnte.
***
Leia erwachte in einem Krankenhausbett.
Sie hatte das Gefühl, dass ihre Lungen aus Blei waren und ihr Gewicht bald durch die Halterung brechen würde.
Sie wollte aufgeben, wenn da nicht noch so viel zu erreichen war. Nur, um ihre Mutter und ihren Vater noch ein einziges Mal lächeln zu sehen. Um nicht zu bereuen, überhaupt zu existieren und um stolz auf das zu sein, auf das sie so viele Jahre hingearbeitet hatte.
Sie musste bei Darius sein, wenn er es schaffte, über seine Vergangenheit zu springen und sich ihr gegenüber ganz zu öffnen. Bevor Leia dies tat.
Und am wichtigsten war die Abmachung mit Glöckchen. Sie musste ihren Geburtstag mit ihm verbringen. Kerzen ausblasen und in Gedanken schwelgen, während die Musik der Glockenkette sie in ihre Träume lullte.
Als Leia sich umsah, erkannte sie, dass Darius nicht anwesend war. Es war ganz anders und plötzlich so fremd, ihn nicht um sich zu haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde Leia sich ihre Gesundheit ruinieren, wenn sie nun voreilig aus dem Bett schlüpfte. Doch sie wollte es einmal in ihrem Leben tun.
Langsam schwang sie die Beine aus der Vorrichtung und glitt sofort auf den Boden. Ihr ganzes Rückrat schmerzte, als würden tausend Nadeln hinein stechen, sobald sie sich bewegte. Was blieb ihr dennoch anderes übrig?
Leia krabbelte ächzend auf allen Vieren zu dem hüfthohen Fenster, richtete sich auf. Vorsichtig, um sich nicht zu überanstrengen, stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen, die gefährlich bei dieser Belastung knacksten.
Dann schob sie den Riegel von dem Knauf und öffnete das Fenster.
Vielleicht, wenn sie groß genug war... Vielleicht, wenn sie die Arme hob und sich an dem Rahmen festklammerte... Vielleicht war es unmöglich.
Doch sie wollte es einmal in ihrem Leben tun: Den Mund öffnen und so laut sie konnte nach ihm schreien.
"DARIUS!"
Es klang nicht einmal wie Leias Stimme. Kurz fürchtete sie, Darius könnte sie gar nicht wieder erkennen, da sie sich so seltsam anhörte. Während Leia wartete, kroch die Kälte in ihre Zehen, suchte sich einen Weg in ihren Bauch. Ein Kribbeln durchfuhr sie und sie erschauderte.
Leia trug nicht mehr das schöne schwarze Kleid, das sie in London gekauft hatte. Darius' Geschenk war weg.
Anstatt dessen klebte ein schwitziger und dünner Krankenhauskittel an ihrem Leib wie eine widerliche zweite Haut, die sich nicht abschrubben ließ. Aus irgendeinem Grund war sie dennoch glücklich. Ja, auch wenn Leia nur kleine Schritte machen konnte, so kam sie ihre Ziel Tag für Tag näher.
Und ehe sie sich versah, war Leia auf das Fenstersims geklettert und hielt mit großen blauen Augen Ausschau nach ihm. Sie beugte sich ein Stück weiter nach vorne und wollte ihm erneut entgegenrufen, da verlor sie den Halt.
Wie eine Feder fiel Leia nach vorne. Ihr Haar peitschte ihr ins Gesicht und benebelte ihre Sicht.
Würde es wehtun, aus drei Stockwerken Höhe zu fallen?
Leias Kittel löste sich erleichternder Weise von ihrer Haut. Sie wollte die Arme ausbreiten und lachen, weil es so einfach war zu leben und das einzige Schwere daran die Umwege waren, die viel lustiger aussahen, als der Weg gerade aus. Umwege ins Nichts. Und obwohl Leia lächelte, fühlte sie lauwarme Tränen aufkommen. Sie beschloss noch nicht aufzugeben. Da war so vieles, vor dem sie sich noch fürchten und eine Menge, das sie noch erleben wollte.
Auch ihr Tod war nur ein Umweg.
***
Er hielt sich den Kopf. Ein Brennen fuhr durch seine Glieder, als würde er von innen angezündet. Er ließ einen Fluch los und suchte seine Orientierung. Der Saal, in dem er sich befand, war ausschließlich von einem perlenden weiß; um die Säulen, die die Decke hielten, wanden sich bunte pastellfarbene Ranken, die zu den Sternen am oberen Ende hinauf wucherten und sie hinunter zerren wollten.
Eine geschwungene Tür wies ihm den Weg.
Entfernt konnte er leise Stimmen hören, die unzusammenhängende Worte zu murmeln schienen. Als er sich umdrehte, sah er die körperlosen Schatten, die an den Wänden tanzten wie zu einem Fest und durcheinander redeten, ohne Jemanden wirklich zu Wort kommen zu lassen.
Als er dieses Bild so sah, erinnerte er sich an etwas: Bilder, die in ihm aufblitzten wie eine Diashow.
Diese Schatten, sie waren Engel, die sich einer der Regeln widersetzt hatten- Verstoßene. Kein Engel dieser Welt wusste, wer ihn dazu angeordert hatte, seine Verpflichtungen zu tun und woher die Informationen erschienen. Doch all diese Dinge waren scheinbar in ihren Köpfen drin wie in einer Speicherkarte.
Dinge, die sie wissen sollten, aber nicht wussten.
"Darius Milner", sprach eine dunkle Gestalt, die zwischen den Flügeln der offenen Tür erschien.
Der Unbekannte sprach ihn mit seinem Menschennamen an: Darius Milner.
Darius drehte sich zu der Stimme um und erstarrte. Ein fremdes Mädchen, dessen Haar dunkel wie die Nacht war- vergleichbar mit Leias- und dessen Augen wie Smaragde leuchteten hielt ihm ihre bleiche Hand hin. Sie war überirdisch schön: Zwei seichte gelbe Flügelpaare zierten ihren Rücken; ihre Miene war kühl und dynamisch wie ein gemaltes Portrait; ihre Ponyfransen kringelten sich unter ihren Ohren und die Locken wirbelten wild umher.
Sie wirkte wie eine Banshee, eine Todesfee, aus der modernen Zeitetappe. Sie verschwand, ohne irgendein Zeichen von ihm zu erwarten.
Resigniert folgte Darius ihr.
Hinter dem Saal lag ein unerklärbar langer Flur, ebenfalls wie in weiße Farbe getränkt, durch den die Fußschritte seiner Selbst jedes Mal wie Bombeneinschläge wiederhallten. Die Fremde hingegen schwebte geradezu über den Boden, lautlos, ohne jegliche Form von Aufmerksamkeit zu erregen.
"Ich habe Fragen...", begann er, in der Hoffnung, sie würde sich zu ihm rumdrehen.
"Aber ich keine Zeit."
Sie schien seine Worte wie lästige Fliegen weg zu scheuchen. Schon waren sie vergessen und die unbequeme Stille hing wieder in der Luft.
Selbst für seine Verhältnisse war es seltsam, einer Unbekannten so einfach zu folgen. Irgendetwas sagte ihm, dass sie ihm Nichts anhaben würde. Obwohl Darius kurz mit dem Gedanken gespielt hatte, ihr Herz an sich zu nehmen und sie zum Antworten zu zwingen, so wusste er doch, dass es nicht richtig gewesen wäre.
Es war eine lange Tortur, bis sie endlich das Ende des Flures erreichten und grelles Licht durch den Raum fiel.
Es war eine Art Observatorium, ein Zimmer, in dem die Decke abgehoben worden war und es somit freien Blick auf die Sterne gab. Ebenfalls waren unsauber Löcher in die Wände gemacht worden, anstelle von Fenstern.
Doch als Darius seine Augen schweifen ließ, entdeckte er nichts als schwarze Nacht. An allen Seiten. Der Mond schien unaufhaltsam und blendete ihn beinahe. Keine Sterne.
Als Darius sich wieder nach Vorne richtete, wollte er zu Eis gefrieren.
Dort auf dem Boden, schwach und zerschunden, lag Leia, deren Blut unaufhaltsam in mehrere Druckverbände sickerte. Er wollte ihren Namen schreien, zu ihr hinüber eilen und ihr sagen, dass nun Alles gut würde. Dass er sie nach Hause bringen würde, zu Glöckchen. Dass er für immer bei ihr bleiben würde.
Doch dann fiel ihm ein, dass sie all diese Dinge längst aufgegeben zu haben schien, so, wie er sie nun sah. Seine Kehle war wie ausgetrocknet, nur kleine Krächzlaute wollten ihr entweichen.
Ebenso konnte er sich wie durch Magie keinen Schritt rühren. "Darius Milner", sagte eine raue Stimme. Wieder und wieder, nicht hörbar für Alle, sondern tief in seinem Kopf drin.
Es war unverkennbar nicht die von der Fremden, doch sie hatte den selben tiefen Ton.
Erst jetzt bemerkte er die ganze Szenerie. Ein Stück weit entfernt von Leia kniete eine schwarzhaarige, grünäugige Frau, die genau so starr und steif wie der erste Engel aussah. Alles in ihr sah ausgeglichen aus.
Vor ihm schien nichts als ein riesiges weißes Nichts zu schweben. Er wusste nicht, ob es eine Frau oder ein Mann war. Aber es sah aus wie ein uraltes Wesen, mit perlenden langen Haaren und grauen Augen, irgendwo unter den gleisenden Lichtstrahlen. Es war Derjenige, der gesprochen hatte.
"Ist es richtig, dass du eine Beziehung mit der als Strader geborenen Leia eine Beziehung eingegangen bist?"
"Was?", schnaubte er, "Wer sind sie überhaupt? Und wo sind wir, Leia und ich?"
"Die Engel haben mir über die Jahrzehnte so viele Namen gegeben. Doch Keiner hat sich je durchgesetzt. Schutzengel Darius. Streitest dudein vergehen ab?"
"Nein", antwortete Darius und starrte das Wesen an. Er wusste nun, weshalb Leia und auch er hier waren, doch weshalb war Leia verletzt und was hatten die zwei schwarzhaarigen Engel damit zu tun?
"Damit sei über dein Schicksal entschieden. Du hast im Saal der Schatten gesehen, was mit deinem Körper geschehen wird", sprach das Wesen. Darius schluckte. Er würde zu einem tanzenden Schatten in dem weißen Saal werden. Tanzend, tanzend, Diejenigen anschreiend die das selbe Unglück wie ihn befahl.
"Was wird mit Leia geschehen?"
"Ich bin sicher, du wirst es schon gemerkt haben. Eine Seherin kann nicht existieren, ohne diese Gabe über das Blut geerbt zu haben"
Er nickte. Ja, das wusste er bereits. Er musterte Leia und stellte fest, dass sie vor Schmerz bewusstlos war, oder schlief, und ihr Kopf mittlerweile auf dem Schoß der älteren Frau lag, die sich auf den Boden gekniet hatte. "Leia wird keinerlei Zorn treffen. Wie du hier siehst, ist ihre richtige Familie anwesend. Ihre Mutter ihre Schwester Sherrie. Du wirst ihre wahre Gestalt erahnen können."
Darius glaubte, in einer Ecke zusammensinken und sein Gesicht in den Händen vergraben zu wollen.
Nicht nur, dass er seinen Schützling liebte. Sein Schützling war ein Engel. Kein Schutzengel wie er, und schon gar keiner in Ausbildung, sondern ein richtiger Engel.
Tausend Fragen strömten durch seinen Kopf; Was war mit Leias menschlichen Eltern?; Was war mit Leia selbst geschehen?; Was würde mit ihm geschehen?; Ging es ihr gut?
"Ich sehe die Verwirrung in deinem Gesicht, Darius Milner. Das Gericht wird morgen über deinen Fall entscheiden. Wie du bestimmt schon gemerkt hast, befinden wir uns hoch in den Lüften. Sei mein Gast für diese Nacht, Darius Milner und seist du ein Gast für die Ewigkeit fort an."
Bei den letzten Worten lenkte das Wesen seine Aufmerksakeit auf Leia, die inzwischen benommen blinzelte, den Körper anhob und sich dann zurückfallen ließ. So wie sie aussah, war ihre Energie vollkommen aufgebraucht, selbst für einen Engel.
"Was ist mit Leias Gestalt? Wenn sie ein Engel ist, dann...?"
"Sie ist momentan noch gefangen in ihrer Menschenform. Doch um Mitternacht wird sie eine von uns sein, wieder vereint.", erläuterte das Wesen.
Es war fremd, sich eine Leia mit wunderschönen Flügeln vorzustellen, eine, die federleicht im Wind segelte und ihm ein unbeschwertes Lächeln zuwarf, das sein Herz allein bei der Vorstellung beschleunigen ließ. Der jüngere Engel- Leia's Schwester, erinnerte er sich- erhob sich und warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
Dann hob sie Leia auf ihre Arme und schritt voran. Als Darius ihren Rücken betrachtete, während er ihr folgte, erkannte er die Ähnlichkeit der Geschwister.
Beide hatten das selbe schwarze, wallende Haar, dass jedoch glatt anstatt lockig an Leias Kopf anlag. Auch ihre Augenfarbe schien sie von ihrem Vater zu haben. Er wurde in ein Gewirr aus Fluren und Zimmern geführt und schließlich zu einer kleinen versilberten Tür gewiesen.
"Wenn du erlaubst, bringe ich meine Schwester nun auf das ihre Zimmer. Ich wünsche eine angenehme Nacht."
Ohne ein Wort des Abschieds drückte Darius die Türklinke hinunter und sah sich in seinem Raum um. Das spärliche Mobiliar bestand aus einer Kommode, einem Bett, einem Spiegel und einer Fensterwand, die genau auf das Zimmer der anderen Seite zeigte, wo ebenfalls eine Fensterwand angebracht war. In seinem Zimmer roch es nach Verwesung und Staub. Darius unterdrückte den Drang eifersüchtig zu werden, wenn er daran dachte, dass Leias Zimmer bestimmt nach Rosen duften würde. Andererseits war Leia schwer verletzt und mehr machte er sich Sorgen um sie.
Was zum Teufel war in der Menschenwelt geschehen, dass sie so hätte zurichten können? Oder eher: Wieso war er nicht dort gewesen um sie zu retten? Seine Erinnerungen waren spärlich.
Während er über Leia nachdachte, fühlte er eine bekannte Spannung am anderen Ende des Zimmers. Als er aus der gläsernen Wand sah, erkannte er Leia in ihrem Zimmer dem seinen gegenüber.
Ihre Augen waren weit aufgerissen und wach. Obwohl sie noch mehrere Verbände um sich trug, stand sie nur mit geknicktem Fuß und ansonsten aufrecht vor ihm. Dann, ganz langsam, bildete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, das ihm den Atem raubte. Es war seltsam, sie zu sehen.
Einen Engel, der lächelte, obwohl er beinahe verblutet wäre.
Einen Engel, der bis eben noch keine Ahnung von sich selbst und seiner Familie hatte.
Egal, wie oft er es sich sagte. Wenn er sie ansah, war Leia doch nur ein glückliches Mädchen in einer unglücklichen Welt. Darius starrte sie an und wollte dieses letzte Bild von ihr in sich einsaugen.
Er würde sie nie wieder so fröhlich sehen, das wusste er. Darum wollte er sie so in Erinnerung behalten. Mit Saphiraugen und rabenschwarzen Haar, halb tot, aber fröhlich. Sie sah ihn an und legte ihre kleine Hand auf das Glas. Er tat es ihr nach.
Trotz der weiten Entfernung konnte er es spüren.
Wie ihre Hand an der seinen lag und sie lächelte, während er schreien wollte.
***
Leia war so nervös, dass sie am ganzen Körper in Schweiß ausgebrochen war und ihre Füße am Boden klebten, als sie sich aus ihrem Zimmer auf den Korridor schlich.
Vor ihr erstreckte sich ein langer Gang mit vielen Gemälden, die den Himmel zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten zeigte. Wolkig, sonnig, regnerisch, verschneit, verhagelt, stürmisch. Jedes der Bilder war mit Ölfarben gemalt, das wusste Leia genau. An einem Nachmittag, an dem ihr und Darius besonders langweilig gewesen war, hatte er ihr alle Sorten von Malutensilien und die verschiedenen Zeichentechniken erklärt.
Ihr schwirrte der Kopf, wenn sie nur daran dachte. Aber sein Blick war so weich und verträumt gewesen, dass Leia mehr darauf geachtet hatte, als auf das, was aus seinem Mund kam. Sie wusste, dass Darius in seinem früheren Leben ein Künstler gewesen war, mehr hatte sie jedoch nicht aus ihm heraus bekommen, egal wie oft sie fragte. Gerne hätte sie mehr über seine Vergangenheit gewusst.
Das war nicht, was nun zählte. Gerade jetzt wollte sie ihn noch ein letztes Mal sehen, bevor...
Es gab so viele Dinge, die Leia Darius noch beichten musste. Niemals hatte sie Zeit dafür gefunden, die ihr nun umso schneller davon lief. Wenn sie nicht aufpasste, was, wenn sie Leia dann überholte und hinter sich ließ, verwirrt, ohne eine Ahnung, alleine?
Sie beschleunigte ihren Schritt und lauschte auf das leise Tappen ihrer Zehen, wenn sie auf dem Marmor aufkamen.
Leia rannte. Nicht davon, aber genau auf es zu.
Schwer atmend kam sie an Darius' Zimmertür an, die blank und perfekt aussah, so wie ihre eigene.
Genau drei Mal klopfte Leia mit der geballten Faust auf das Holz, ehe ein leises Geräusch von ihnen die Tür aufsperrte. Seine Silhouette tauchte vor ihr auf. Obwohl sie Darius in seinem Zimmer von ihrem Platz am Fenster aus hatte sehen können und ihm ihr Lächeln geschenkt hatte, war es unendlich erleichternd ihn in seiner natürlichen Form zu sehen.
Das Grau seiner Pupillen schien eine Stufe dunkler geworden zu sein, während sein Gesicht bleich war wie das einer Puppe.
Leia fand keine Worte.
Sie sagte das erst beste was ihr in den Sinn kam und hoffte, das er Alles verstehen würde, was sie versuchte zu sagen. Darius schloss die Augen, als sie tief Luft holte.
"Ich vermisse Glöckchen. Bitte bring ihn zu mir."
"Sag mir bitte, dass ich kein Schlaflied für dich singen muss, Leia", antwortete er nüchtern und versuchte scheinbar mit aller Kraft das letzte Bisschen seiner Fassade vom Zerbröckeln zu bewahren. Aber Leia hatte schon so oft ihre Löcher in die Wand gegraben, dass diese nicht mehr fähig war, stabil zu bleiben.
Sie hatten nicht die Zeit so zu tun, als wäre Nichts so wie es nun einmal war.
"Hast du keine Fragen?" Darius sah weg.
"Ich habe viele Fragen", erwiderte Leia, "Ich will wissen, wer du bist. Ich will über deine Vergangenheit wissen. Ich will mehr über diese Schicksalsglocken-Kette erfahren, mehr über Glöckchen. Mehr über Schutzengel und Engel allgemein. Über dieses Lichtwesen und über meine Familie: Meine Mutter und meine Schwester."
"Und wie lässt du all das verstummen?", fragte er.
"Ich stelle mir vor, wie viele Dinge in deinem Kopf rumschwirren müssen und wie schlimm das Ganze für dich ist. Dann denke ich, dass wir Beide das gemeinsam überkommen könnten. Dann werde ich stärker. Weil ich weiß, dass ich nicht alleine, nicht die Einzige bin die damit zu kämpfen hat. Wir haben uns und das ist mehr, als wir brauchen um zu leben, richtig?"
Als Antwort öffnete er ihr einen Spalt und ließ sie in sein Zimmer flüchten.
Als Leias Zehen den flauschigen Teppichboden berührten, wurde ihr wieder warm. Zuhause in ihrem Klotz war Alles mit Laminat ausgelegt, so dass sie immer gezwungen war Schuhe zu tragen, um keine Erkältung zu bekommen.
"Wie geht es deinem Körper?", erkundigte Darius sich und sah weg, als sie sich flach auf sein Bett fallen ließ.
Leia war erstaunt, wie konstant er versuchte, seine Gefühle zu verstecken. Auch sie selbst war geübt darin. Aber es machte keinen Sinn so viel Aufwand in Etwas zu stecken, das morgen nicht mehr als eine verblassende Erinnerung sein würde, die Nichts mehr mit ihnen Beiden zu tun hatte.
Keiner von Ihnen erwartete, dass es gut für sie lief.
Dort wo keine Hoffnung wachsen konnte, würde keine blühen.
Leia rollte sich auf die Seite und stellte überrascht fest, dass ihre Hüfte und ihr Nacken schmerzte.
"Mir geht es gut", antwortete sie mit einem Lächeln. Das Schöne war, dass es stimmte. "Die Osteogenesis Imperfecta scheint mit jeder Sekunde erträglicher und angenehmer zu werden. Ich war schon lange nicht mehr so aktiv und beweglich, weißt du?"
"Leia, du kannst dich auf mich verlassen. Du darfst Fragen stellen und meine Hilfe erwarten."
Leia setzte sich auf. Ihr Haar war zerzaust, kein Scheitel war mehr erkennbar. Sie hielt ihre Hände auf und formte sie zu einer Schale, als wolle sie sie offen halten um Glöckchen ein weiteres Mal aufzufangen, wie damals vor ihrem Besuch in London.
"Morgen ist mein Geburtstag", berichtete sie, teilweise auch sich selbst. Ja, sie hatte gut durchgehalten und sie würde bis zu ihrem Geburtstag am Leben bleiben, doch... "Was glaubst du, soll ich da ohne dich und Glöckchen machen? Lass mich bloß nicht allein!"
Leia lächelte und bei diesem Mal spürte Darius, dass dies ihr richtiges Leia-Lachen war. Sie meinte es Ernst, sie wollte die Sache vergessen, sich einfach nur hinlegen und einschlafen.
"Was möchtest du für einen Kuchen haben?", hakte er nach und betrachtete sie mit ehrlichem Interesse. Leia blinzelte kurz verwirrt, ließ sich zurück in die Decken sinken und warf ein Kissen nach ihm. Sie schien in vollen Zügen zu genießen, wie bewegungsfrei sie nun war- Darius konnte sich nicht vorstellen, wie eingeschränkt sie sich all die Zeit vorgekommen sein musste.
Er fing das Kissen auf und sagte: "Nur ein Scherz, ich bin grottig im Backen..."
"Darius?", fragte Leia. Sie starrte an die weiße Decke. "Du sagtest einmal abends, dass man zum Schutzengel verdonnert wird, wenn man sich selbst umbringt. Heißt das, ich habe Suizid begonnen, bevor ich zurück in meine menschliche Gestalt verbannt wurde?"
Er maß sie mit traurigen Blicken, welche sie nicht zu bemerken schien.
"Du bist ein Engel, kein Schutzengel. Das ist etwas völlig anderes. Auch wenn ihr Titel in die Irre führen kann, die Aufgabe eines Schutzengels ist es, seine Schützlinge in den Tod zu führen. Ich hätte auch dich mit nach 'oben' nehmen müssen."
"Ich habe mich in meinen Tod verliebt?", lachte Leia und spürte warme Tränen auf ihren Wangen.
Verliebt. Verliebt hatte sie sich. Es erneut so öffentlich zuzugeben, wenn sie sich schon morgen gegenseitig vergessen würden, war eine Torheit.
"Ein Schutzengel zu sein, Anderen Verderben zu bringen, ist die Vergeltung dafür, so dumm gewesen zu sein und sein Leben freiwillig weggeworfen zu haben", fuhr Darius unbeirrt fort und fühlte sich gleichzeitig mehr als leer. Er wollte ihr die schönste Gutenacht-Geschichte erzählen, zu der er fähig war, doch was Schönes gab es mehr zu erzählen?
"Versteh mich nicht falsch: Menschen, die durch Unfälle vor Züge oder in einen Killer gelaufen sind, sind völlig ausgenommen. Um auf dich zurück zukommen... Engel und Schutzengel sind verschiedene Gegenteile. Ein Engel wäre wohl für die Menschen die wahre Bezeichnung eines SCHUTZengels. Engel sind die guten Feen bei diesem Spiel. Sie beschützen ihren Schützling und begleiten ihn auf seinem ganzen Weg, sie verhindern seinen Tod. Und wenn es dann irgendwann so weit ist, dann... sorgen sie dafür, dass du mit einem Lächeln auf den Lippen Lebewohl sagst."
"Das klingt schön", flüsterte Leia und schloss die Augen. "Gute Nacht, Darius."
Bevor er reagieren konnte, hatte sie sich auf die Seite gedreht und die Deckenborde über ihr Gesicht gezogen. Er unterdrückte ein Seufzen, zog den Stuhl des Schreibtisches in die Mitte des Raumes und setzte sich, um dem Engel beim Schlafen zuzusehen.
Ganz anders wie er, hatte Leia bis Mitternacht immer noch ihre menschlichen Bedürfnisse, mit denen sie kämpfen musste. Träume.
Er hingegen hatte seit den 20 Jahren seiner Ausbildung nicht mehr geträumt. Aber er wünschte, er könnte in ihre Träume sehen und wie ein tatsächlicher guter Engel Alles gut zaubern für sie.
***
In ihren Träumen sah Leia ihre Mutter. Ihre Schwester und Darius waren auch da.Aber er saß so furchtbar weit von ihr weg, dass sie Angst bekam.
Auch der Kopf des Engels schmerzte bestialisch. Nicht nur das, auch hörte sie diese Stimmen, die sie nicht einordnen konnte. Sie schienen Jemand Anderem als ihr Anweisungen zu geben.
"Beschütz' Leia. Frag Leia über die Glocken. Frag sie. Dann überlebt zusammen und kontaktiert Remo. Und auf keinen Fall darfst du das hier vergessen. Vergiss es nicht. Hör nicht auf, zu leben, selbst wenn du tot bist."
Es war der Tag, an dem Darius für immer von ihrem Leben verschwinden würde und es regnete in Strömen.
Es passte nicht. Darius war nicht er selbst ohne seine zerfetzten Klamotten, die frechen Akzente. Diese Art von Umgebung schien viel zu schwer und erwachsen für seine Persönlichkeit.
Andererseits war es vielleicht geeignet, seine Gefühle zu kontrollieren und in eine Rolle zu schlüpfen, für den Moment konnte jede Möglichkeit über sein Leben entscheiden.
Ihre Schwester warf Leia Blicke zu, in denen weder Besorgnis noch Wut steckten. Zuvor war ihr derartige Aufmerksamkeit niemals unangenehm gewesen, jetzt fühlte sie sich wie eine Angeklagte. Vielleicht hatten die Personen, die sie bis jetzt immer für ihre Eltern gehalten hatte und überhaupt alle Menschen ihres Umfelds recht gehabt: In einer selbstsüchtigen Welt konnte man nur mit selbstsüchtigem Herzen überleben. So war sie nicht.
Wie könnte sie so sein, mit einer Zukunft, die keinen Gedanken an Genuss zuließ, wie ein schwarzes Loch, das Alles in sich aufsaugte? Dafür war es Leia vergönnt den Augenblick zu leben.
Und sie würde heute dafür gerade stehen, geträumt zu haben dies in Zukunft mit ihrem Schutzengel tun zu können.
Sie dankte dem Heiligen, der ihr diesen Traum schenkte, in dem sie die Chance hatte das Ende zu kontrollieren. Ihre Lider wurden schwer, die Augen taub. Doch die Worte wurden lauter.
"Du hast bereits einmal dein Leben vergeudet. Du bist bereits dabei es ein weiteres Mal zu tun. Der hohe Rat soll dir nicht vergeben für deine Sünden, Darius Milner", sagte ein männlicher Engel mit wunderschönen mildblauen Flügeln. Darius schüttelte im Einklang den Kopf und suchte in der Menge nach Leias Gesicht.
"Schuldig", sprach die Menge, während sich eine kalte Faust um Leias Herz schloss.
Darius...klang als hätte er aufgegeben. Aber das konnte nicht sein. Sie war bei ihm gewesen, diese Nacht.Sie war sogar in seinem Bett eingeschlafen.
Er konnte sie nicht anlächeln und dann einfach aufgeben, damit war sie nicht zufrieden! Das hier war ihr Traum, nicht seiner!
"Beschütz' Leia. Frag Leia über die Glocken. Frag sie. Dann überlebt zusammen und kontaktiert Remo. Und auf keinen Fall darfst du das hier vergessen. Vergiss es nicht. Hör nicht auf, zu leben, selbst wenn du tot bist."
***
Und endlich öffneten Leia und Darius die Augen und sahen den selben endlos langen Saal vor sich und die Zukunft, die endgültig war. Und wollten schreien, doch kein Ton entwich ihren Kehlen. Und wollten laufen und wussten nicht wohin. Denn sie liebten sich und lieben war etwas, das sie sich in diesem Leben niemals würden leisten können.
***
Im Gegensatz zu ihren Erwartungen streckte sich die weitere Verhandlung nicht. Leia wünschte, es wäre ein zäher Kaugummi in ihrem Mund, kaum hatte sie geblinzelt, war Darius jedoch schon im Inbegriff zu verschwinden.
Die Flügel ihrer echten Existenz- ihres Engeldaseins- wollten sich ausbreiten und sich um sie und ihn legen und sie beide von der Welt abschirmen. Jedoch war dies nicht diese Welt, in der ihre Liebe nichts weiter als eine Option war.
Darius schenkte ihr ein liebevolles Lächeln, ein letztes, bevor er sich vor ihrem Augen auflöste.
"Wohin geht er? Was geschieht mit ihm?", fragte sie laut und wunderte sich zugleich, wie all die Worte nun so leicht über ihre Lippen kamen.
"Fort", sagten Alle, die Leias Stimme erreicht hatte unisono.
Wieder waren da all die Dinge, die sie ihm noch beichten wollte in ihrem Kopf und brachten sie um den Verstand.
Was war Liebe? Liebe war, wenn Alles was man sich gewünscht hatte in Erfüllung ging und es noch nicht genug war. Nie genug war ohne die Person, die man liebte. Wenn man seine Fingerspitzen ausstreckte und brach und den Schatten der Person niemals zu fassen kriegte. Wenn plötzlich keine Tränen mehr da waren um zu beschreiben, was das Herz verloren hatte.
Und Leia erhob sich, verließ dicht gefolgt von ihrer Mutter und ihrer Schwester den Saal, die ihr folgten, bis sie ihnen ihre Zimmertür vor der Nase zuschlug. Ihre Familie gab auch keine Widerworte mehr.
In ihrem Zimmer zog Leia die Vorhänge zu, die sie zu sehr an letzte Nacht und Darius' Kabine gegenüber erinnerten und betrachtete ihre Fußspitzen angewidert. Enttäuscht.
Rollte sich in ihrer Decke ein und fror darin, schrie in die Daunen bis sie heiser war.
Schlief ein, während sie doch gleichzeitig hellwach war um sich mit bleiernem Herzen an seine Wärme zu erinnern, damit sie nicht ohne ihn erfror.
Und als sie am nächsten Tag aufwachte war die Glockenmelodie, die sie immer begleitet hatte seit sie Darius kennengelernt hatte, ganz plötzlich verschwunden.
[ENDE DES ERSTEN BANDES. FORTSETZUNG: "LEIA'S FLÜGEL"]
Texte: Mareike Dlugosch
Bildmaterialien: Mareike Dlugosch
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für einen guten Freund.
Ich hoffe, irgendwann sehe ich dich wieder.