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Engel in der Stadt


© by Aniko Ligeti


Sie warteten schon, als sie sich aus ihrem Körper schälte. Ihre Seele war rein und voll irisierendem Licht. „Sie ist wunderschön!“ hörte sie Stimmen raunen. Und viel mehr war es ein Spüren, als ein Hören. Sie entdeckte funkelnde Lichter, die in etwa reflektierendem Sonnenlicht im Wasser gleichkamen und spürte eine unendliche Güte, die sie freudig empfing. „Da bist du endlich!“ „Schön, dass du endlich wieder bei uns bist!“ wurde sie von zahllosen feinen Stimmen begrüßt, die sie als Schwingungen wahrnahm. Verwundert stellte sie fest, dass nichts mehr schmerzte. Der enge Kokon, in dem sie nur Leid und Kälte empfand, war mit einem Mal fort. So, als hätte es dieses physische Gefängnis nie gegeben, betrachtete sie ihren Schein und den der anderen. Sie fühlte sich unendlich frei und von noch nie da gewesener Liebe umsorgt. Sie freute sich und ihre Helligkeit begann zu strahlen.


Mit den andren Lichtern streifte sie durch die Straßen. Sie schwebte über altes Kopfsteinpflaster, hing über bröselndem Asphalt mit seinen ausgebesserten Teerstellen und betrachtete fast schon ein wenig verwundert, die vorbei hastenden Menschen. Geschäftige Gesichter eilten an ihr vorbei und sie konnte alle deren Gedanken und Emotionen wie ein lautes Stimmengewirr vernehmen. Die zahllosen menschlichen Empfindungen schlugen der neuen Seele überwältigend entgegen. Sie sog das ganze Leid und den Schmerz der engen Gassen der Regensburger Altstadt in sich auf und ihr Licht begann matter zu werden. Die Eindrücke verschluckten sie fast, als eine uralte Seele sie schützend zur Seite nahm. Durch eine Art Telepathie konnten alle miteinander kommunizieren und alles Gesagte, alles Getane der leuchtenden Seelen war stimmig. Erschöpft hielt sie nun auf der steinernen Brücke mit den andren inne und alle warteten, bis sich ihr Schein langsam klärte. „Das war zuviel auf einmal!“ „Wir hätten sie besser vorbereiten müssen!“ „Sie hat vergessen, wie es geht!“ konnte sie den Schwingungen entnehmen. „Was habe ich vergessen? Was soll das hier?“ fragte sie in die Runde und sogleich umhüllte sie ein betretenes Schweigen. Wie hätte man dieser verängstigten Seele ihre neue Aufgabe erklären können, ohne Furcht zu erzeugen?

„Mami!“ schrie mit einem Mal ein Kind so herzzerreißend, dass sich alle Lichter wendeten. „Mami!“ schrie wieder der dreijährige Blondschopf. „Mami, sieh doch! Ein Engel!“ und er zeigte mit ausgestrecktem Finger genau in ihre Richtung. Die Mutter strich erschöpft ihrem Kind liebevoll über die Locken und lächelte müde: „Die gibt es nicht, mein Schatz! Und jetzt weiter, sonst kommen wir noch zu spät zu deiner Dialyse.“ David hielt seine Augen fest auf sie gerichtet und sie wusste nun, was sie zu tun hatte. In ihrem hellsten Schein folgte sie den beiden.

Impressum

Texte: Text und Foto (c) by Aniko Ligeti
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die an Engel glauben.

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