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Susannes Geheimnis
von O.P.L.A. Heine

Rauch wird alles auf Erden
und im Winde muss alles verwehen,
nur die Liebe hält Stand in Gefährden;
ihr Stern bleibt ewig, ihr Stern bleibt bestehen.
Ermanno Wolf-Ferrari / Max Kalbeck:
Il Segreto di Susanna (1909)




»Geschafft!«
Mit einem Seufzer der Erleichterung lässt sich Susanne in ihren Sitz fallen. Während sie sich den Schweiß von der Stirn wischt, versucht sie die missbilligenden Blicke zu ignorieren, mit denen sie die anderen Passagiere bedenken: Haben diese doch alle, alle auf Susanne warten müssen, und kaum ist sie an Bord, meldet sich die ›Boarding complete!‹-Durchsage.
Wenn die wüssten!, denkt sich Susanne. Wenn die wüssten, dass sie immer so spät zum Gate gerannt kommt, oft wortwörtlich in letzter Minute, nachdem man sie bereits ein oder zweimal ausgerufen hat. Aber, oh Wunder, bisher hat sie noch jeden Flug erwischt.
Wie der Airbus dann gen Startbahn rollt, verlieren die anderen Fluggäste aber gleich wieder alles Interesse an der vermeintlichen Bummlerin: Schließlich startet man gleich in den sonnigen Süden; ein paar Minuten Verspätung; was soll’s! Nur ein Passagier beobachtet Susanne noch, wie diese rasch registriert. Der Jet ist zu zwei Dritteln gefüllt; sechs Sitze zählt jede Reihe, und so hat man, wie üblich, die meisten Mittelplätze unbesetzt gelassen. Wie ebenfalls üblich bekam Susanne nur noch einen Gangsitz ab; der Platz neben ihr ist frei, der Fensterplatz vergeben, und auf eben diesem sitzt jener bewusste Passagier, der sie immer noch unverhohlen mustert.
Vorerst ignoriert Susanne dies. Erst als ihr Nachbar auch beim Start nicht zum Fenster hinaus blickt, wendet sie sich ihm zu:
»Was denn? Stimmt was nicht mit meiner Kleidung?«
Der Mann antwortet nicht gleich; er lächelt nur. Es war – auch das entgeht Susanne nicht – kein spöttisches, kein ironisches, sondern ein sehr warmes, offenes Lächeln; höchstens enthält es eine Spur von Nachsicht. Ihr Nachbar mag einige Jahre älter sein als sie, denkt Susanne, um die vierzig wohl; zudem lassen die gebräunte Haut, die vollen, schwarzen Haare und die sehnige Figur vermuten, dass er eher auf dem Weg in die Heimat als in den Urlaub ist. Das bestätigt sich sogleich er endlich antwortet: »Scusi, aber, mein Deutsch ... Nein, Signora: Kleidung ist perfetto, molto elegante; i guanti ... Nur ein wenig ... Wie sagt man?«
»Derangiert?«, schlägt Susanne vor. Das dürfte es ziemlich genau treffen; ihr Rock ist in der Eile ein wenig zu hoch gerutscht, und ihre Seidenbluse weist nun leider schon einige Schweißflecke auf. Sie macht eine etwas ratlose Geste, und sogleich wird das Lächeln ihres Nachbarn noch ein wenig weiter; so kommt eine Reihe perfekter, glänzender Zähne zum Vorschein: »Ein wenig; nur ein wenig! Ich bin sicher, Sie werden trotzdem machen gute Geschäfte mit Ihre ... Ah, Madonna! Wie sagt man?«
Sehe ich also wirklich so wenig nach Touristin, nach Urlauberin aus?, fragt sich Susanne, ehe sie antwortet: »I corrispondenti?«
Der Mann ist merklich verdattert, aber nur für einen Moment; dann lacht er fröhlich auf: »Madonna; Sie sprechen Italiano?«
»Soltanto un poco!«, versichert Susanne. »Gut für’s Geschäft!

So wechselt man ins Italienische, und Susannes Sitznachbar überschlägt sich geradezu vor Komplimenten für ihre Sprachkenntnisse. Sie akzeptiert dies lächelnd, worauf sich der Mann nach ihrem Reiseziel erkundigt. Sie wolle nach Venedig, erklärt Susanne, und dies begeistert den Mann noch mehr: Er sei aus Venedig, ein echter Venezianer, jawohl, und er wolle gerade seine alte Mutter besuchen, die immer noch in Cannareggio lebe.
Susanne kann es sich nicht verkneifen, noch etwas mehr mit ihren Sprachkenntnissen zu protzen: Dass er aus der Lagunenstadt komme, habe sie bereits an seinem Dialekt gemerkt. Das nötigt dem Mann tatsächlich einigen Respekt ab; so legt er auch den letzten, bescheidenen Rest an Zurückhaltung ab und beginnt, wortreich von seiner Vaterstadt zu schwärmen.
Susanne hört lächelnd zu und denkt: Wie ähnlich war das doch seinerzeit bei Rodolfo – wie ähnlich, und doch so anders!
Ist das wirklich schon sieben Jahre her?

»Du fahren nach Italien wegen Geschäfte? In Sommer? Che peccato!«
Auch damals war Susanne in letzter Minute in den Flieger geeilt; auch damals saß sie dann mit durchschwitztem Business-Anzug neben einem gelassenen Italiener, doch in jenem Fall war sein Deutsch erheblich besser als ihr Italienisch.
Rodolfo war seinerzeit einige Jahre jünger als ihr neuer Nachbar, und sie natürlich auch; dennoch, so sagt sie sich: Eigentlich hat sie sich kaum verändert; damals wie heute war sie überdurchschnittlich groß, überdurchschnittlich schlank und überdurchschnittlich blond. Natürlich hatte man sie vor ihrer ersten Dienstreise nach Italien gewarnt, dass sie damit voll in das Beuteschema aller Italiener zwischen acht und
achtzig falle, aber sie hatte nicht erwartet, dass das gleich im Flieger anfangen würde ...
Ihr neuer Bekannter hat sich unterdessen vorgestellt: Marco heiße er; wenig originell für jemanden aus der Stadt von San Marco; das räumt er lachend ein. Auch Susanne lacht, während sie sich doch weiter jene Tage von vor sieben Jahren ins Gedächtnis zurückruft.

Damals war sie auf dem Weg nach Florenz, ansonsten aber erinnerte so vieles an heute: Den ganzen Flug über hatte man geplaudert – seinerzeit eben auf Deutsch –, dann traf man sich in der Stadt, als sie ihren Geschäftstermin hinter sich hatte; man verbrachte einen wunderschönen Tag in der Stadt am Arno – und eine noch schönere Nacht! Und dann noch einen Tag, und noch eine Nacht, und so weiter, solange eben Susanne ihren Heimflug mit allerlei Ausreden hinaus- schieben konnte ...

Man befindet sich schon im Sinkflug, als sich Marco danach erkundigt, was für Geschäfte Susanne eigentlich in die Lagunenstadt führen: Die ist zwar als Handelsstadt reich und mächtig geworden, heute sei sie aber hauptsächlich ein Touristenziel.
Susanne erklärt, dass es bei ihrem Termin auch eher um die Chemieindustrie in Mestre gehe; das Meeting sei aber in der Altstadt.

Seinerzeit musste Susanne nach einer Woche doch heimfliegen, wenn sie nicht ihren Job riskieren wollte; so gab es einen tränenreichen Abschied auf dem Flughafen von Florenz. Das heißt, tränenreich war er nur auf ihrer Seite; Rodolfo gab sich melancholisch, doch souverän. Als letztes versprach Susanne noch, dass sie so bald als möglich zurückkehren würde.
Rodolfo nickte lächelnd; man küsste sich ein letztes Mal, und schon ging er.
Am Flughafen nimmt sich Susanne ein Wassertaxi. Natürlich will Marco bezahlen, doch das lässt sie nicht zu; stattdessen lädt sie ihn ein, doch mitzukommen; schließlich sei ihr Hotel auch in Cannareggio.
Kaum hat man abgelegt, schlägt Marco prompt vor, dass Susanne doch bei ihm wohnen könne: Seine Mutter wohne ganz allein im zwar eher kleinen, aber gut erhaltenen Familien-Palazzo; sie sei über etwas Gesellschaft immer froh, speziell, wenn sie italienisch spreche, und erst recht, wenn sie so gutaussehend und charmant sei ...
Susanne sträubt sich, doch nicht allzu lange. So steuert man die imposante Silhouette des Dogenpalastes an, die im sanften Licht der Morgensonne über den Wassern der Lagune schwebt. Bei der Haltestelle San Zaccaria stoppt man, doch zu Susannes Überraschung steigt man nicht um ins nächste Vaporetto; stattdessen geht Marco gleich auf einen der vielen Gondolieri zu, der neben der Haltestelle auf Kundschaft wartet: »Giovanni! Va bene?«
Nach herzlicher Begrüßung und kurzem Palaver erklärt sich Giovanni bereit, das Pärchen zu einem Freundschaftspreis zu ihrem Quartier zu bringen; so kommt Susanne zu ihrer ersten Gondelfahrt über den Canal grande und durch einige mehr als nur malerische Wasserstraßen in Cannareggio.

Seinerzeit vergingen zwei Monate, bis Susanne wieder nach Florenz jetten konnte. Für ein Wochenende hätte sie sich freilich schon vorher frei machen können, aber nur ein Wochenende, das war es nicht, was sie wollte: Sie wollte, nein, sie konnte ohne Rodolfo nicht mehr leben! So hatte sie ihren alten Job gekündigt und sich in Florenz eine neue Position gesucht. Für die war sie zwar eigentlich überqualifiziert, und der Lohn war auch eher bescheiden, aber das war ihr egal; solange sie nur mit Rodolfo zusammen sein konnte ...
Marcos Beschreibung seines Palazzos erweist sich in allen Punkten als zutreffend – nur in einem nicht: Seine Mamma ist gar nicht da, als man eintrifft. Erst da fällt Marco ein, dass ja Mittwoch ist: An diesem Tag besuche sie immer eine Freundin in Murano; sie dürfte frühestens am Abend wieder da sein.
Susanne lächelt schelmisch: »Mein Meeting ist erst um zwei. Was machen wir denn bis dahin!?«
Marco missversteht das Lächeln und erwidert es sogleich: »Da sollte uns schon was einfallen.«
Und so begibt man sich gleich gen Schlafzimmer.

Susanne wollte Rodolfo überraschen, und das gelang ihr auch: Als er die Tür zu seiner Wohnung in der Innenstadt von Florenz öffnete, stand er in Unterhosen vor ihr – am späten Nachmittag!
»Susanne? Ma perché ...«, begann er zu stottern. Ihr fehlten völlig die Worte; stattdessen meldete sich aus dem Wohnungsinneren jemand anderes: »Rodolfo? Was ist denn?«
»Rodolfo, komm zurück!«
Tatsächlich, die Stimmen sprachen Deutsch, sie kamen aus dem Schlafzimmer, und es waren zwei Stimmen, zwei Frauenstimmen!
Einige Sekunden standen sich Susanne und Rodolfo noch wortlos gegenüber; dann stürzte sie davon.

Es schmerzt Susanne, dass sie all die antiken Möbel, all die alten Bücher und allerlei Nippes zerwühlen, zerschlagen und zerkratzen muss, aber schließlich soll es wie ein Einbruch aussehen.
Nach einer halben Stunde kehrt sie in das Schlafzimmer zurück.
Noch einmal sieht sie sich um, dann nickt sie zufrieden: Die unter- beschäftigten venezianischen Carabinieri würden ihr dankbar sein; endlich mal ein richtiges Verbrechen! Allerdings werden sie zweifellos nach einem Einbrecher fahnden; dieser hatte offensichtlich gerade das Schlafzimmer durchwühlt, als Marco unerwartet heimkehrte und ihn überraschte.
Nach kurzem Handgemenge erschlug der Einbrecher Marco mittels eines massiven silbernen Kerzenständers, den er dann neben der Leiche auf dem Bett zurückließ ...
Erneut nickt Susanne zufrieden: Ja, es passt alles! So glatt lief es noch nie. Gut, Marco war zwei, drei Zentimeter kleiner als sie; dennoch hat sie etwas mehr Gegenwehr erwartet. Freilich, ihr Angriff kam völlig unerwartet, und ihr Nahkampf- Training war auch recht hilfreich. Fingerabdrücke wird man keine finden; noch immer trägt Susanne ihre eleganten weißen Handschuhe, die Marco schon im Flugzeug bewundert hat. Dafür lässt sie einige schwarze Locken von ihrer Echthaar-Perücke zurück, die sie sich seinerzeit in Neapel zugelegt hatte. Eventuell werden die Ermittler den Gondoliere auftreiben, der Marco und sie hergebracht hatte; das würde dem Fall eine neue Wendung geben, doch weiterhelfen wird ihnen das kaum: Schließlich hat Susanne bisher noch jedesmal eine andere Mordmethode angewandt; nichts deutet auf eine Serientäterin hin.

Nach der Rückkehr aus Florenz bat und bettelte Susanne so lange bei ihrem Boss, bis der ihr wieder ihren alten Job gab, und ein Jahr später ließ sie sich zu einer zweiten Dienstreise nach Italien überreden. Schon auf dem Flug nach Neapel machte sich Enrico an sie heran, ein echter Napoletano, und er ließ sich auch in der Stadt nicht abschütteln. Äußerlich gab sich Susanne abweisend; innerlich kochte sie, und beides schien Enrico erst so richtig wild zu machen. Schließlich ließ sie sich zu einem Ausflug nach Sorrent überreden.
Es war ein herrlicher Tag, selbst für diese gottgesegnete Gegend.
So stoppte Enrico sein Cabrio an einem einsamen Straßenabschnitt mit atemberaubender Aussicht. Man stieg aus, doch es war nicht die Aussicht, auf die es Enrico abgesehen hatte: Er wollte mehr, er wollte alles, und er wollte es gleich hier, gleich jetzt. Susanne sträubte sich, sie wehrte sich, und ehe sie so recht wusste, was geschah, strauchelte Enrico, stolperte über die Absperrung, stürzte die Klippen hinab und verschwand in der Brandung. Susanne erschrak, doch erschrak sie vor allem, weil all dies sie so wenig erschreckte. Da erkannte sie: Sie hatte gewusst, dass es so enden würde, nein, sie hatte es gewollt. Und sie würde es wieder tun!
So fuhr sie allein zurück; den Wagen ließ sie am Stadtrand stehen: Ein weiterer Autodiebstahl, ein weiterer Mord; Neapel eben.

Niemand bemerkt Susanne, wie sie den Palazzo verlässt; niemand sieht, wie sie eine Stunde später die ›Beute‹ am anderen Ende der Stadt in einem Kanal versenkt. Niemand bemerkt auch, dass kurz darauf eine schwarzhaarige Frau die Kirche San Pantalon betritt und wenige Minuten später jemand mit blonder Kurzhaarfrisur und randloser Brille sie wieder verlässt.

Nach ihrem Trip nach Neapel fuhr Susanne alle paar Monate nach Italien, mal geschäftlich, doch immer öfter auch zu ihrem Privatvergnügen. Ihr Boss war ihr dankbar, weil sie bald Geschäftsverhandlungen auch auf Italienisch führen konnte, und die Buchhaltung war dankbar, weil sie die Reisekosten stets selber trug. Freilich, letzteres ließ sich kaum vermeiden, da sie nach der Sache in Neapel immer unter fremden Namen reiste und ihr Passphoto eine brillenlose Frau mit langen, schwarzen Locken zeigte. Dies schien ihre Anziehungskraft auf Italiener aber kaum zu vermindern; etwa auf jeder zweiten Reise quatschte sie schon auf dem Hinflug einer dieser allzu charmanten Herzensbrecher an, und nur einmal – ausgerechnet in Palermo! – blieb es dann auch bei Theater- und Museumsbesuchen. Das machte damals mehrere Kostümwechsel zwischen Geschäftstreffen und privaten Terminen notwendig, und einmal wäre sie fast mit schwarzer Perücke in ein Meeting geeilt. Ansonsten aber waren es sehr schöne Tage, und noch immer stand sie in Verbindung mit Vito, jenem gar nicht so feurigen Sizilianer. In allen anderen Fällen freilich – in Bologna, Turin, Verona, dreimal in Mailand und viermal in Rom – wollten ihre Urlaubsflirts mehr.
Und sie bekamen auch mehr – viel, viel mehr, als sie erwartet hatten! Besonders stolz ist Susanne dabei auf ihre Genickbruch-Technik, die sie sich vor fünf Jahren in Hongkong hat beibringen lassen: Unblutig, schnell und effektiv!

Fast enttäuscht es Susanne, dass bisher noch niemand nach der schwarzhaarigen Unbekannten zu fahnden scheint – weder nach ihr, noch nach dem blonden, bebrillten Original.
Dennoch ist sie froh, nach ihrem Meeting mit dem Nachtzug zurückreisen zu können. Wieder ein erfolgreicher Tag!, denkt Susanne zufrieden, als sie den Bahnhof betritt. Kaum aber bleibt sie vor dem Fahrplan stehen, wird sie von der Seite angequatscht: »Ciao, bella! Come stai?«
Susannes Fassade zerbricht. Schon der Hass in ihrem Blick lässt den höchstens zwanzigjährigen Möchtegern-Macho zurückschrecken; ihre Antwort tut ein Übriges: »Zitto, Bastardo!
Wie viele von uns wollt ihr noch unglücklich machen?
Wie viele von euch sind immer noch übrig!?«
»Hat der ein Glück, dass ich auf dem Heimweg bin!«, murmelt Susanne noch, doch da ist der Italiener schon auf und davon. »Nächstes mal ... Es ist noch lange nicht geschafft!«

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Impressum

Texte: ISBN: 978-3938568750 Germanwings Story Award 2008
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2011

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