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Über den Autor:



Jakob Anderhandt

wurde 1967 in Bonn geboren. Nach dem Abitur reiste er mit dem Frachtschiff von New York nach Neuseeland und mit dem Fahrrad von Trondheim bis zum Nordkap. Er studierte Philosophie, Slawistik und Skandinavistik in München, Bonn und Berlin. Mit Abschluß seines Studiums wurde er freier Schriftsteller. Von 1998–2003 lebte er in der chinesischen Hauptstadt Beijing. Zur Zeit ist sein Hauptwohnsitz in Sydney.

Über das Buch:



IM REICH DER MITTE China im Herbst 1965: Robert Fensson zieht es nach der Trennung von seiner Frau mit seinem kleinen Sohn in das Reich der Mitte. Er will dort nach seinem verschollenen Bruder suchen, der kurz vor Ende des 2. Weltkrieges dort untergetaucht sein soll. Gleich nach der Ankunft erfährt Robert, dass sein Bruder in China als "revolutionärer Märtyrer" verehrt und gefeiert wird. Doch anstatt mit Hilfe der vermeintlichen Lorbeeren des Verblichenen ein neues Leben beginnen zu können, finden Robert und sein Sohn sich plötzlich an der Pekinger Universität wieder, wo die Kulturrevolution ihren Anfang nimmt.

Was kennen wir vom kommunistischen China? Mao Zedong. So gerade noch. Und wie sieht die kommunistische Realität in einem Land mit einer Jahrtausende alten Hochkultur aus? Wie sah sie in den Sechzigern aus, als der Kalte Krieg seinen Höhepunkt erreichte?

Jakob Anderhandt, der lange in China lebte, gelingt es mit seinem Werk "Rote Schatten", diese Wissenslücken zu schließen. Er bringt dem "normalen" westlichen Leser das Reich der Mitte auf dem chaotischen Weg zwischen Tradition, Ideologie und Aufbruch näher.

Kölner Stadtanzeige




Leseprobe



Erstes Kapitel




Es hätte ein einfaches Leben werden können, wenn Robert Fensson nicht der gewesen wäre, der er war. Ein Deutscher mit schwedischem Namen (sein Urgroßvater war Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus Skandinavien aus- gewandert), ein tatkräftiger Mann mit Veränderungswille, der aufgewachsen war in Essen-Kettwig, einem Stadtteil, in dem alles zu eng war, die Wohnungen, die Hinterhöfe, die Straßen, die Blicke der Menschen.

Als Robert jung war, lagen draußen die Trümmer des Krieges, aber an nicht wenigen Stellen wuchs auch die unfaßliche Freude, dem Schrecken entsprungen zu sein, und er selbst konnte sich Weite schaffen, indem er streunte und von seinen Umzügen etwas mit nach Hause brachte. Anfangs waren es Kaulquappen aus dem Baggersee, Vögel, die im Stadtpark aus dem Nest gefallen waren, später Reptilien aus der Zoohandlung, bei deren Anblick die Mutter drohte, das Taschengeld zu streichen, wenn die Untiere nicht zurückgebracht würden.

Dank derjenigen, die schließlich blieben, war das Leben in dem Zimmer von Robert vielfältig. Es hüpfte, sang und machte jede Menge Mist, besonders die beiden Wellen- sittiche Schopenhauer und Hegel, die, wenn sie mit- einander um die Wette kreischten, ihre Körner bis auf die Bettdecke spritzten. Als Robert zwölf war, wurde ihm der Mist allmählich zuviel, weil er nur noch selten zu Hause war, und wenn er es war, weil er dann auf dem Bett lag und las. Waagerechten Reisen in ferne Zeiten folgten solche in fremde Länder, und unterdessen verschwanden seine Tiere auf zweierlei Art: Sie starben oder sie wurden verschenkt.

Bald nach dem Aus für Schopenhauer und Hegel muß es gewesen sein, daß es eines Abends einen Riß gab in einem Buch; beim Blättern platzte die Bindung unversehens auf, und zwischen den Hälften hindurch sah Robert auf dem Dach gegenüber den einäugigen Herrn Wellrich, der an
einer Metallkonstruktion herumschraubte, die sich für Robert als Kurzwellenantenne entpuppte.

Da erkannte Robert, daß seine Tür zur Welt nicht mehr die neueste war, er hatte bloß an ihr festgehalten, nicht zuletzt in Erinnerung an seinen Bruder Karl, der in den letzten Kriegsjahren fort war wegen eines Buches, das Roter Stern über China hieß, eines Berichtes zu den Anfängen der Kommunisten im Reich der Mitte, einem Buch, dem Robert magische Kräfte zuschrieb, um zu verdrängen, daß man Karl zum Flak hatte einziehen wollen, der sich aber nicht hatte ziehen lassen, sondern abgehauen war in Nacht und Nebel, ohne Abschiedsbrief und auf Nimmerwiedersehen.

Fortzuwollen, wenn es eng wurde, hatte Tradition bei den Fenssons spätestens seit dem Urgroßvater, wobei sich zum Mann immer eine Frau gesellt hatte, die ihm in diesem Zuge gleichkam. Reptilien waren für Roberts Mutter »Untiere«, weil zu ihnen die Schlangen gehörten, und die schnürten laut Christa Fensson ihre Beute allesamt ein wie die berüchtigte Anakonda, so daß es keinen Ausweg mehr gab, höchstens noch den in den Tod.

Beharrlich stritt Christa Fensson ab, daß es auch Schlangen gebe, die sich einer anderen Beutetechnik bedienten; ihr Würgen im Hals und ihr Zittern beim Anblick einer Schlange waren für sie überzeugender als jener trockene Satz im Duden-Lexikon, der die Allmacht ihrer Erfahrung bestritt. Aber gut, so lange man ihr keine Reptilien mehr mit nach Hause brachte, tat sie gern alles schweigsam, schaffte sogar Ordnung in Roberts schwin- dendem Zoo und lenkte nach einigen Protesten selbst dann wieder ein, als Robert in der Woche nach dem Abend, als das Buch zerriß, sein Zimmer mit Kupferdraht zuzuflechten begann, aktiv wie eine Spinne in der Vorfreude auf neue Opfer. Das Ende des Kupferdrahtes mündete in einen Diodenempfänger.

Polizeifunk, internationales Radio, das waren nächste Stationen, über die sich Robert einem Grashüpfer gleich in die Welt hinaus bewegte. Für jemanden, der keine Ruhe kennt, aber eine Form gewinnen möchte, gibt es dabei nur eines: sich im Unterwegs eine Richtung zu suchen. Von allen Richtungen, die sich auf Roberts biographischem Kompaß fanden, besaß, als er achtzehn wurde, nur noch eine einzige für ihn Wert. In Gedanken nahm er sein Taschenmesser, ritzte über der Richtung eine Kerbe in das Glas, so tief es nur ging, und schwor sich, daß, was immer auch geschehen würde, er weiter dorthin ginge. Die Richtung hieß Zukunft.

Dann war er zweiundzwanzig und studierte Wirtschaft in Bonn. Man schrieb das Jahr 1956. Es war ein wolkiger Tag. Robert Fensson und seine Verlobte Cornelia saßen in der »Lese.« Vor ihnen standen zwei Tassen Kaffee. Cornelia
wirkte abwesend. Robert dachte nach. Geld, dachte er, ist die einzige Munition, mit der man in die Zukunft schießen kann und immer ins Schwarze trifft. In einem Jahr heiraten
wir. In zwei Jahren bekommen wir unser erstes Kind. In zehn Jahren geht Cornelias Vater in Rente. Dann beginnen neue Zeiten für die Mager-Glas. Dann beginnt unser Leben.

Cornelia dachte daran, wie sie Robert kennengelernt hatte. Es war in der Vorlesung über Recht gewesen. Schon mit seinen ersten Worten hatte er sie aus der Bahn geworfen.
»Du siehst überhaupt nicht aus wie die anderen.«
»Ich male«, hatte Cornelia gesagt, »aber etwas Recht kann doch nicht schaden, oder?«
Robert hatte gelacht.
»Ab morgen hole ich dich ab in der Kunstgeschichte!«
Es war sein Humor, mit dem er sie bis heute einsperrte.
Außer, es ging um ihre Bilder. Denn vor ihnen hatte Robert Achtung wie vor einer Religion. Und bei kaum jemand, erinnerte sich Cornelia, hatte sie von Anfang an so viel Verständnis gespürt für die Mühe, die es sie gegenüber ihrem Vater gekostet hatte, am Fabriktor der Mager-Glas das kleine Schild »Atelier« anzubringen. Ein Pfeil auf dem
Schild wies zum Mühlbach. Dort, im Fachwerkhaus am Ufer, hatte es mit der familieneigenen Firma angefangen. Heute stand dort Cornelias Staffelei.

Roberts Humor, dachte Cornelia weiter, war seine Waffe. Er brauchte ihn wie ihr Vater jene Schreckschußpistole, die dieser ständig bei sich trug. Sie selber hatte nichts von der
Art, und deshalb brauchte sie Robert. Bis der seine Waffe einmal ablegte. Dann würde sie ihn nicht mehr brauchen, sondern lieben. Denn Cornelia ahnte, nein, sie glaubte und hoffte, daß Robert und sie sich nach etwas Gleichem sehnten – einem Morgen, an dem man sagte: Jetzt. Einem Morgen, an dem eine Tasse Kaffee eine Tasse Kaffee war, ein Tisch ein Tisch und ein Stuhl ein Stuhl.

Dieser Morgen, dachte Cornelia, würde ein Geschmack auf der Zunge sein, ein Gefühl im Bauch, ein Kribbeln in den Armen, den Händen und den Beinen. Jetzt, würde sie zu Robert sagen, jetzt fangen wir an. Ich fange an zu malen. Und du fängst an, auf daß die Mager-Glas wieder schwarze Zahlen schreibt. Es ist klar, bis hierhin war alles nur Vorspiel. Aber jetzt fangen wir an. Und Robert würde etwas Ähnliches sagen; und beide wären sich vollkommen einig, was sie meinten.

Ein Blick zerstörte diese Sehnsucht. Robert und sein Schwiegervater standen im Garten. Es war ein Samstag. Man schrieb das Jahr 1964. Perlweiß leuchteten die Apfelblüten. Jonathan, Roberts und Cornelias Sohn, hatte gerade seinen sechsten Geburtstag gefeiert. Cornelia war mit ihm nach Bonn zum Einkaufen gefahren, ein paar Hemden und Hosen für den Sommer. Über dem Tal leuchtete ein Fetzen Himmel. Robert nahm Maß, um immer wieder zum selben Ergebnis zu kommen.

»Zu klein«, sagte er zu Ludwig Mager.
Ludwig Mager schwieg.
»Du mußt expandieren, aber du weißt nicht, wohin. Du könntest auslagern, aber das willst du nicht. Sag nicht, was nicht geht, sondern nenn mir eine Lösung.«
»Der Name Mager steht für Glas. Er steht für Qualität.«
»Kunstglas? Du könntest Cornelia fragen, ob sie dir ein paar Vasen oder Karaffen entwirft.«
»Nein, Chemieglas. Meiner Kundschaft bleibe ich treu. Ich habe Prinzipien.«
»Deinen Stamm willst du halten? Elektrische Heizgeräte für Reagenzien, die werden kommen. Wenn du darauf umstellst, kannst du mit deinen Abnehmern klein und fein bleiben.«
»Nein, ich bleibe bei Glas. Da kenne ich mich aus.«
Roberts Stimme bekam etwas Bittendes.
»Ludwig, du gehst sonst unter!«
Der Blick von Ludwig Mager wurde spitz.
»Nein«, sagte er und sah Robert an. Es war kaum zu hören: »Denn du gingest ja dann mit unter.«
»Das Versprechen« war ein Gemälde in Öl. Es maß ein Meter mal ein Meter sechzig und entstand in den folgenden Wochen. Rechts, auf einem Felshang, zeigte es zwei Männer. Der eine saß, der andere stand. Der Stehende hatte dem Sitzenden eine Hand auf die Schulter gelegt. Mit der anderen Hand wies er in die Sonne. Die hing rot über einem Meeresarm.

Als Robert das Bild zum erstenmal sah, dachte er an die Zukunft. Er hoffte, daß das Bild einen Morgen zeigte.
»Es geht um die Erfüllung eines Versprechens«, sagte Cornelia.
»Was das Bild zeigt, ist das Ende eines finsteren Traumes.«
»Also ein Morgen«, sagte Robert erleichtert.
»Nein, das ist Mittsommernacht, da geht die Sonne weder auf noch unter.«
Robert lächelte traurig.
»Ein Traum – da ist also dauerhaft Licht in unser Familien- dunkel gekommen.«
Cornelia fuhr herum. Roberts und ihr Blick verstrickten sich.
»Ich habe es satt«, sagte Robert. »Schon lange.«
Der eine Mann erinnerte ihn an den Urgroßvater. Er war der erste, von dem Robert als Kind erzählt bekommen hatte, daß er aus einer unaushaltbaren Situation fort- gegangen sei.
»Wer sind diese Männer?« fragte Robert.
»Das ist doch unwichtig.«
»Unwichtig? Das glaube ich nicht. Außer Jonathan willst du kein Kind mehr. Deine Bilder willst du nicht verkaufen, du willst auch keine Ausstellung. Wozu malst du? An was glaubst du? Was willst du? Sag es mir endlich. Sag es mir
jetzt!«
»Ich weiß es nicht. Noch nicht.«
»Aber was siehst du? Um dich herum ist alles im Aufschwung. Nur ihr, du und dein Vater, ihr steuert zielsicher auf den Abgrund zu.«
»Ja. Ich muß wissen, warum.«
»Dann muß ich fort hier«, sagte Robert.
»Das kann ich sogar verstehen.«
Log sie ihn an?
»Was ist mit dem Jungen?« fragte Robert.
»Jonathan bleibt natürlich hier.«
»Dann glaubst du zumindest an etwas wie die Szene in ›Vom Winde verweht‹«, sagte er langsam.
»Du weißt, die Szene, in der Rhett Butler Bonnie zu Scarlett zurückbringt.
Er sagt: ›Du hast gewonnen. Selbst die schlechteste Mutter ist besser als keine.‹ Womit er meint: besser als ein Vater.«
In Cornelias Augen glänzte es.
»Weißt du«, fuhr Robert fort, »wer hier in Wahrheit die Kinder sind? Ich weiß es nämlich: Kinder verkauft man nicht. Man stellt sie auch nicht aus. Man hütet sie. Man zieht sie groß, bis sie der Welt trotzen. Und ist man vorsichtig, um genau zu sein, ist man ein bißchen zu vorsichtig, dann schickt man sie niemals hinaus in die Welt. Damit ihnen niemand ihr Geheimnis raubt: Jenes Geheimnis, nach dem man selber süchtig ist!«
»Laß mich!«
»Dann laß mir den Jungen. Er ist am wenigsten an allem schuld. Er soll frei atmen lernen.«
Die Tränen liefen; aber Cornelia stimmte zu. Trotzdem war Robert enttäuscht. Er hatte es sich anders vorgestellt. Er hatte auf Fragen gehofft, auf ein Erschrecken über seinen Befreiungsschlag. Er hatte sich Forderungen gewünscht: »Dann nimm uns beide mit!« – nichts davon war gekommen. Was gekommen war, fühlte sich falsch an.

Dieses Falsche regierte jetzt die Zukunft. Robert kannte sich nicht mehr aus. Linsensuppe mit Mettwurst füllte seinen Magen. Sie gab ihm neue Orientierung. Robert war zu seinen Eltern nach Essen gefahren. Das Tischtuch war weiß, die Suppe dampfte. Zu dritt saßen sie in der Küche. Nach der Niederlage gegen Ludwig Mager verstand Robert das Lebensgerüst seiner Mutter: Die Wohnung der Eltern war ordentlich (kein Unrat, keine Untiere), fünf Tage in der Woche gab es Routine, samstags Suppe, sonntags Braten.

Im Mikrokosmos dieser Alltäglichkeiten wußte man immer, wo man war. Seinen Vater verstand Robert jetzt auch. Der hatte eine Sammlung Kriminalromane und schöpfte daraus sein Weltwissen. Jeden Abend brannten auf dem Couch- tisch zwei Kerzen, und im Licht einer Klemmlampe, die die Form eines Pilzes besaß, zerlas der Immobilienverwalter Jonas Fensson sein Universum. Aus dem Schwarzweiß- Fernseher flackerten die Nachrichten, doch in Jonas' sakrale Sphäre der Täter und Opfer drang davon nichts.

Allmählich besserte sich Roberts Laune. Vielleicht, fing er in Gedanken an zu witzeln, würde sein Vater eines Tages sogar einen Heizkessel nach Detektivmanier prüfen lassen - wie das wohl ginge? Cornelia fehlte diese Art Humor; sie konnte über so sinnlose Assoziationen einfach nicht lachen. Dafür, dachte Robert, brauchte sie ihn. Doch sein eigener Vater besaß, was ihm selber fehlte – Intuition. Zum Ende des Krieges hatte Jonas Fensson eine Hundert- schaft aus Rußland nach Deutschland zurückgeführt, ohne ein einziges Mal in Kontakt mit dem Feind zu kommen. In einer Pappkladde verwahrte er einen Brief mit Unterschriften von all jenen auf, die ihm ihr Leben verdankten.

»Stell dir vor«, sagte der Vater zu Robert, als sie beim Nachtisch saßen, »du stehst in einem Schneesturm. Du siehst überhaupt nichts. Wohin gehst du?«
Robert kam ein Gedanke.
»Nach China«, sagte er, »Karl suchen.«
»Nein, jemand wie du, der geht in solch einer Situation überhaupt nicht. Nur dann weißt du nämlich noch, wo du bist, wenn der Sturm vorbei ist.«
»Und Karl?«
»Das ist ein anderes Thema. Ich habe es gut verstanden, warum er damals fort ist. Karl war ein echter Fensson: keine Ideologie, kein Glaube – aber auch keine Treue und keine Vernunft. Jetzt bricht bei dir diese Ader durch. Eine einzige große Enttäuschung, und ein echter Fensson ist für immer aus der Bahn. Wenn du Karl wirklich suchen möchtest, werde ich dich nicht davon abhalten.«
Wieder war das etwas anderes, als Robert erwartet hatte: »Ins kommunistische China geht kein anständiger Mensch. Das wäre Vaterlandsverrat.«
Aber Jonas Fensson schob den Teller beiseite.

Cornelia und Robert einigten sich auf eine Trennung auf Zeit. Es würde für ein Jahr sein, vielleicht für zwei. Die alte Zukunft war verloren, und nach einem Verlust suchte man.
Robert suchte seinen Bruder Karl. Jonathan und er standen im Hamburger Hafen. Robert sah auf die Reihe der Schiffe. Der Himmel über ihnen war grau. Aber für Jonathan war in ihm ein Bild: Es war seine Mutter, die ihn zum Abschied küßte. Zum Kölner Hauptbahnhof waren sie gemeinsam in einem Taxi gefahren.

Auf dem Bahnsteig hatte es die Mutter nicht mehr
ausgehalten; sie hatte sich gebückt, so als wolle sie etwas aufheben, und war dann in dieser Haltung fortgeschlichen. Eigentlich war Jonathan auch lieber mit dem Vater. Der Vater war warm, und er wurde nicht gleich zornig, wenn Jonathan etwas nicht verstand.

»Warum mit dem Schiff?« – das hatte im Bürohaus eine Frau gefragt, die ein warmes Lachen hatte wie der Vater und die dick war wie die Schreibmaschine vor ihr. Sein Vater hatte gesagt, daß sie sparen müßten.
»Na, denn man China!« hatte die Frau gelacht, »da gibt’s nämlich überhaupt kein Geld!« Und dann hatte sie nochmal gelacht und etwas von Schülern erzählt, denen sie ab und zu eine Reise spendierte, »die Küste rauf und runter, aber das is’ ja denn nix für Sie.« Und dann hatte sie wieder gelacht und sie hierher geschickt.

Das Schiff hieß Rosamunde. Sie stiegen die Gangway hinauf. Das Kämmerchen, nach dem sie suchen sollten, befand sich auf dem dritten Aufbaudeck. Die Innenwände des kleinen Liftes waren mit Resopal verkleidet. Darauf waren Flecken, als hätte jemand mit Säure oder Urin um sich gespritzt. In dem Kämmerchen waren ein Tisch, ein Funkgerät und ein Mann. Der rechte Mundwinkel des Mannes hing, und die Pfeife in ihm hing auch. Im Brillenglas spiegelte sich Roberts Nase.

»Pässe?« fragte der Mann.
Robert gab sie ihm.
»… nach China …? Da fahr’n wir zuerst Tianjin an. Von da nach Peking sind’s noch hundertachtzig Kilometa auf’m Landweg. Als nächstes kommt dann Schanghai.«
»Tianjin genügt«, sagte Robert. So einfach hatte er es sich nicht vorgestellt.
»Probleme in der Heimat?«
»Nein.«
»Probleme mit der Frau, wenn ich mal fragen darf?«
Der Kinderausweis kam an die Reihe. Die Hand des Funkers griff nach einem Kasten, der vorn auf dem Tisch gestanden hatte. Robert sah auf ein Dutzend Reisepässe. Er schwieg.
Der Funker sah auf.
»Keine Antwort heißt keine Heuer. Das wär’ dann mein Vorschlag. Du willst nix sagen, aber ich sag’ dir, daß alles im Leben seinen Preis hat. Gegen Arbeit kannst du nach China.«
»Einverstanden«, sagte Robert leicht abwesend, »nach China.«
»… dann bleiben tausend Märker hier oben für dich. Dein Kurzer geht mit fünfhundert durch. Sind zusammen fünfzehnhundert, falls ihr mal Unfug macht. Der Junior kommt in die Kombüse, und du holst dir nach’m Segeln deine Arbeit vom Bootsmann ab. Kammerstunde ist Samstag nachmittag; und samstags um sechs ist dann alles pi-kobello für die Kontrolle durch den Ersten. Von Bord in Tianjin geht ihr am elften September und keinen Tach späta. Wir sind ein Schiff, kein Hotel mit Kiel, merkt euch
das schon mal für die Fahrt!«


© 2005 Jakob Anderhandt, Sydney, Australien,
"Rote Schatten" erscheint im Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster.

Impressum

Texte: ISBN 3-86582-043-3
Tag der Veröffentlichung: 25.01.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
erschienen im Verlagshaus Monsenstein & Vannerdat

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