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Zum Autor



Josef Einwanger, 1935 in Bachham in Niederbayern
geboren, holte nach 14 Jahren Berufstätigkeit als Industrie- kaufmann das Abitur nach, studierte in München Pädagogik, war Volksschul- und Sonderschullehrer, lebt als freier Schriftsteller im Chiemgau.

Zum Buch



Toni gehört die Welt am Fluss und in den Auen. Mit seinem Hund Strupp streift er herum, in der Goldbucht sucht er nach Gold. Das alles neiden ihm Beil Hans und seine Freunde. Nur die stumme Elfi vom Waisenhaus und der Kaplan halten zu ihm. Der große Kampf bleibt nicht aus.
Als auch noch das Hochwasser das Goldwascherhaus überflutet, gerät Toni in höchste Gefahr.
Hinreißend, spannend und detailgetreu wird hier eine Kindheit in den fünfziger Jahren erzählt.

Pressestimmen



Über dieses Buch schrieb die Süddeutsche Zeitung:
Ganz in der Tradition klassischer Kinderromane wie `Krieg der Knöpfe´ oder `Tom Sawyer´ geschrieben, beweist der Autor, dass man heute noch Abenteuerbücher verfassen kann, wie alle Kinder sie lieben.
Wie pflegt Toni zu sagen: Alles picobello!




Leseprobe



Das Goldwascherhaus stand als Einziges unten im
Tal. Seit Toni laufen konnte, hüpfte er um das Haus herum und hatte so viel Platz wie kein anderes Kind. Die Tage waren ihm lang und der Sommer dauerte eine Ewigkeit. Es kam ihm vor, als sei er schon immer auf der Welt. Seine Mutter nannte er Mams und er wusste natürlich mit seinen elf Jahren, dass sie ihn geboren hatte und er also doch nicht immer auf der Welt war. Vor ihm lebte sein Vater hier. In Gedanken nannte er ihn Paps. Aber er konnte sich an ihn überhaupt nicht erinnern. Paps war im Krieg umgekommen.

Im Hof des Goldwascherhauses wimmelte es von Enten, Hühnern und Tauben. Die Katze Mick putzte und räkelte sich. Der Hund Strupp lag vor seiner Hütte.
„Du hast Strupp an Stelle eines Bruders“, hatte die Mutter einmal gesagt, „du hast Strupp, weil du keine Geschwister hast.“

An einem Maitag hockte Toni wie hundert Mal zuvor an der Goldbucht am kleinen Inn. Der kleine Inn war ein Neben- arm des großen Inn, vom Haus nur durch ein paar Wiesen getrennt. Toni stocherte mit einem Holzstock im Sand herum, fand aber nichts, was nach einem Goldkrümel aussah. Strupp lag an seiner Seite.

Er schob eine Hand in Strupps Fell, schaute auf das Wasser. Der Wind blies am anderen Ufer durchs Schilf und wehte ihm Sand in die Augen, so dass er wischen musste, was ihm die Augen noch wässriger machte.

Er glaubte sich aber trotzdem nicht zu täuschen. Er hatte sich einen Stein am Ufer gemerkt, der am Tag zuvor ganz frei dagelegen war. Jetzt schwappte zum ersten Mal eine kleine Welle darüber. Kein Zweifel, das Wasser war im Steigen.

Strupp sprang auf und schüttelte den Sand aus dem Fell. Toni steckte die drei Pfeile, die er nicht gebraucht hatte, in den Köcher, hängte den Bogen um und sah, dass drüben im Schilf ein Blässhuhn brütete.

Er war keine fünf Minuten zu Hause, da platschte ein Frosch in den Hof. Durch die Luft kam er geflogen und landete vor seinen Füßen und hinterher jaulte das Geschrei: „Toni Frosch, Toni Frosch.“

Er vermutete gleich, dass Beil Hans dabei sein würde, vielleicht auch der weinerliche Pelle Paule und natürlich Sigi und die anderen vom Unterdorf.
Er kannte ihren grässlichen Reim. Sie standen oben an der Bergkante und brüllten:

„Toni Frosch, Toni Frosch
sitzt unten im Tal,
das Wasser kommt mal,
es macht einen Schwupp
und fort ist der Strupp.“



Einen krebsroten Kopf hatte Toni bekommen.
„Ihr blöden Affen“, schrie er und spuckte auf den Boden, „ihr ekligen Schufte.“

Beil Hans hieß so, weil er einmal im Zorn auf einen Buben mit einem Hackbeil losgegangen war. Und Toni musste sich von diesem Raufbold einen Frosch vor die Füße schleudern lassen. Ein hinterlistiger Mistkerl war für ihn Beil Hans obendrein. Toni fluchte noch ein paar weitere Schimpfnamen vor sich hin, dann war ihm etwas wohler.

Er lief ins Haus und zum Dachboden hinauf, stieg auf eine Kiste, drückte eine Ziegelplatte hoch, reckte sich auf die Zehenspitzen und sah durch die Luke. Es war wirklich Beil Hans. Sigi und die anderen standen um ihn herum. Sie hatten eine Brettwippe gebaut und auf die hintere Brettseite einen Frosch gesetzt. Der dicke Beil Hans war auf das talseitige Brettende gesprungen und der Frosch wurde wie ein Geschoss durch die Luft geschleudert.

Toni kannte das grausige Spiel. Sie schossen Frösche zum Goldwascherhaus hinab, ihm vor die Füße, und nannten ihn Toni Frosch. Sie leierten gerade wieder los:

„Der Toni sitzt im Loch,
im Brunnen sitzt er doch,
wie ein Frosch im Weiher
und da bleibt er.“



„Hört auf“, schrie Toni durch die Dachluke. Er ließ sie zufallen, lief die Treppen hinunter und schubste im Hof mit einem Stock den Frosch zur Seite.

„Ich werde es euch schon zeigen und meinem Strupp könnt ihr nie etwas antun.“ Der Hund war längst aufgesprungen und unruhig geworden. „Strupp, beiß sie in den Hintern, die Dreckskerle, los, fass sie.“

Strupp bellte, legte die Ohren flach, setzte mit einem mächtigen Sprung über den Bach und rannte den Berg hoch. In dem Augenblick tauchte auf der Bergkante der Herr Kaplan mit dem Fahrrad auf. Und Strupp hüpfte dem Kaplan ins Rad.
„Strupp“, schrie Toni, „Strupp, du sollst doch die anderen beißen. Die anderen sollst du in den Hintern und in die Waden zwicken.“

Der Kaplan fiel mit dem Rad um, stöhnte, weil er sich weh getan hatte, und stieß, auf dem Boden liegend, einen Schuh gegen Strupp.

„Du garstiger Kerl rennst mich um und ich hab dir überhaupt nichts getan“, schnauzte er den Hund an.

Und zu Toni schrie er hinunter, „hol deinen Köter gefälligst zurück.“
Beil Hans, Sigi, Pelle Paule und die anderen hüpften vor Vergnügen und Schadenfreude. Den Falschen hatte Strupp gefasst, den Kaplan, der sich nun unter seinem Rad aufrappelte. Sie rannten lachend und grinsend davon und hörten kaum noch, was er ihnen nachrief: „Ihr Tierschinder, schert euch zum Teufel. Wehe, wenn ich euch noch einmal erwische.“

Das Eisengitter der Friedhofstür, die Beil Hans hinter sich zugeworfen hatte, schepperte. Quer durch den Friedhof sausten sie davon, an Kirche, Krämerladen, Schule und Waisenhaus vorbei, in Richtung Unterdorf.

Strupp hatte den Schwanz eingezogen, war den Berg hinabgesprungen und zu Toni geschlichen.
„Toni“, rief der Kaplan, „ich will mit dir reden.“
Toni stand im Hof, den Frosch vor den Füßen. Strupp kroch in die Hütte. Die Katze Mick miaute, sprang zum Taubenhaus und krallte sich an die Stange. Die Tauben schreckten auf und flatterten davon.
„Toni, ich helfe dir und du hetzt mir deinen Hund nach“, meckerte der Kaplan, bückte sich und klatschte mit beiden Händen den Dreck von seinen Hosenbeinen. Das Rad lag immer noch auf dem Boden.
„Komm rauf, ich muss mit dir reden.“

Toni stieß mit dem Fuß ein paar Steinchen über den Hof.
„Ein richtiger Sturkopf bist du“, knurrte der Kaplan und schwang sich aufs Rad. Ohne viel Bedenken schoss er den steilen Weg hinab und war in Gefahr, in den Bach zwischen Berg und Goldwascherhaus zu stürzen.

Toni lief ihm schreiend entgegen.
„Du musst die Brücke erwischen, die kleine Bachbrücke.“
Der Kaplan, aufgebuckelt, riss den Lenker herum und kam gerade noch auf die Brücke, bremste und sprang vom Rad.
„Jetzt hätte es mir beinahe einen Fluch herausgewürgt“, schnaubte er. „Zuerst hetzt du den Hund nach mir und dann breche ich mir deinetwegen fast noch den Hals.“

Toni sagte nichts.
„Redest du heute nicht mit jedem?“
„Ich hab Strupp nicht nach dir gehetzt. Sie haben wieder einen Frosch herabgeschossen.“
„Ich weiß es schon“, sagte der Kaplan und winkte mit der Hand ab. „Denk dir deshalb nichts. Sie sind bloß neidisch.“
„Auf was denn?“
„Weil du Strupp hast und weil dir die Goldbucht gehört und du Toni Goldwascher bist.“
„Aber ich bin kein echter Goldwäscher. Ich finde nichts.“
„Ah, da bist du vielleicht selber daran schuld. Hast du nie mehr nach Gold gegraben?“
„Doch. Es gibt keines. Das sagt auch die Mutter. Der Großvater hat das letzte gefunden.“
„Na, du darfst bloß den Glauben ans Glück nicht verlieren. Es schwemmt immer wieder welches an.“

Toni knurrte noch etwas Unverständliches, dann schwieg er. Der Kaplan bückte sich und rieb wieder den Dreck aus seinen Hosenbeinen. Das Rad hatte er an seinen Hintern gelehnt.
Tonis Mutter kam aus dem Haus und begrüßte ihn.

„Grüß Gott, Frau Goldwascher“, sagte der Kaplan, „es geht um Toni. Ich könnte ihn als Messbuben brauchen.“
Die Mutter schaute Toni an. Er sie.
„Toni? Messbub?“
Sie schüttelte den Kopf. „Er hat es nicht mit dem Früh- aufstehen. Das erste Glockenläuten verschläft er immer.“
„Was meinst du, Toni?“, fragte der Kaplan und klingelte mit der Fahrradglocke, um ihn an die hellen Glöckchen in der Kirche zu erinnern.

„Ich mag nicht“, murrte Toni und hielt nach Strupp Ausschau, aber es sprang nur Mick vom Taubenhaus herunter.
„Pelle Paule will“, sagte der Kaplan.
„Ich bin nicht der wehleidige Pelle Paule. Mit einem Unterdörfler mag ich sowieso nichts zu tun haben“, setzte Toni nach.
„Pelle Paule ist kein Unterdörfler. Er wohnt zwischendrin. Sogar näher am Oberdorf. Und du gehörst doch zum Oberdorf. Euer Haus liegt gleich unterhalb der Kirche.“

Die Mutter mischte sich ein. „Toni hat den Hund und das Fischen im Sinn und sonst nichts. Sogar die Schule ist ihm ziemlich gleichgültig.“

Toni schubste verlegen mit den Schuhspitzen den Frosch vor sich her und stieß ihn dann unter den
Reisig- haufen.
„Komm mit in die Kirche“, lockte ihn der Kaplan. „Ich zeige dir alles. Vielleicht hast du dann mehr Lust darauf.“

Die Mutter verabschiedete sich vom Kaplan. Toni kettete Strupp an die Hütte neben der Haustür.
„Gern tu ich es bestimmt nicht“, knurrte er.
„Was tust du nicht gern? Mitgehen oder ministrieren?“
„Beides nicht. Sie werden hinter der Friedhofsmauer versteckt sein, die Mistkerle, und mich verspotten. Wenn ich Strupp nicht dabei hab, trauen sie sich.“
„Du hast ja mich dabei. Hör jetzt auf mit dem Zähne- knirschen, komm.“


II

Toni trottete über die Bachbrücke und den Bergweg hoch. Der Kaplan schob das Rad hinterher und kam Toni so nahe, dass er mit dem Vorderrad seine Ferse streifte und es ihm den Schuh auszog.

Er wollte eigentlich einen Spaß machen, aber Toni meckerte etwas Unverständliches, warf einen ärgerlichen Blick zurück, hockte sich ins Gras, zog den Schuh an und tapste wortlos weiter.
„Ach, entschuldige, bitte“, sagte der Kaplan.
Oben lehnte er das Fahrrad an die Friedhofsmauer.
Von genau dieser Stelle aus hatten Beil Hans und die anderen den Frosch hinabgeschossen. Das Brett lag noch da. Toni packte es und schleuderte es zornig hinters Gebüsch.

Um die Kirche, die mächtig emporragte, reihten sich die alten Gräber. Der Kaplan blickte zur Turmspitze hoch und sagte: „Siehst du die Schwalben? Sie kreisen um den Turm, verschwinden in den Fensterluken.“

Toni hob nur ganz kurz den Kopf.
„Sie wohnen gern so hoch oben. Sie heißen auch nicht umsonst Turmschwalben“, sagte der Kaplan.
„Du willst mich ja bloß ärgern“, schmollte Toni.
„Warum sollte ich dich ärgern wollen?“
„Weil ich so tief unten wohne.“

„Ach nein, was bist du für ein empfindliches Seelchen. Ich hab es nur so gesagt.“
Unterm Gewölbe der Kirche hallte die Stimme des
Kaplans, als er „steig mal auf die Altarstufen und klingle mit dem Glöckchen“ sagte.

Toni trat auf den roten Teppich, beugte sich nieder, klingelte ohne viel Begeisterung und stellte das goldgelbe Glöckchen wieder auf die Stufe.
„Komm mit“, sagte der Kaplan, als er Tonis Missmut sah.
Sie durchschritten die Kirche nach hinten. In der Glocken- stube hingen vier Seile von der Decke. Der Kaplan zog kurz an jedem Strang und erklärte die zugehörigen Glocken. Toni zupfte an den ausgefransten Strickenden herum.

„Probier´s mal“, lockte ihn der Kaplan wieder. Und Toni hing dann wie ein Püppchen am Strang,
zog, stieß sich mit den Füßen ab und zappelte. Der Kaplan half nach, weil Toni die dickste Glocke in Bewegung bringen wollte. Endlich spürte er ihr Schaukeln und Gewicht in den Händen. Sie riss ihn vom Boden weg, lupfte ihn hoch, und während er sich so wunderte, hörte er von oben das mächtige Bumbam, den tiefen Schlag und Schall, der über das ganze Oberdorf hinweg lärmte, hinunter bis zum Goldwascherhaus, aber auch bis zu den Unterdörflern.

Der Kaplan griff in das Seil und bremste Tonis Auf- und Abhüpfen.
„Wir dürfen die Leute nicht erschrecken“, sagte er.
„Aber das hat dir jetzt Spaß gemacht?“
„Das schon“, japste Toni ganz außer Atem, „wirklich picobello.“

Es fiel ihm nun leichter, dem Kaplan einen weiteren Gefallen zu tun. In der Sakristei, in der es nach ab- gebrannten Kerzen roch, schlüpfte er in einen roten Ministrantenrock und stülpte sich ein weißes Spitzenhemd über. Da packte ihn aber wieder das ganze Unbehagen. Wie ein Mädchen sah er aus. Und als ihm dann unterm Rock die Kniestrümpfe hinunterrutschten, was ihn an die stumme Elfi mit dem langen Zopf erinnerte, war es aus mit seinen Zugeständnissen.

Der stummen Elfi rollten nämlich auch immer die Strümpfe hinunter und sie grinste dann beim Hochziehen und das kam Toni ganz blöde vor.
Er bückte sich, griff unten den Rock und schob die Kniestrümpfe hoch.
„Gefällst du dir so?“, fragte der Kaplan.
Toni sah an sich hinab, schüttelte den Kopf und schwieg. Er wollte sagen, die Strümpfe jucken mich plötzlich und Beil Hans würde sich krumm lachen, wenn er mich so sehen könnte. Und Sigi, das Rossgesicht, auch.

Er wollte gerade den Rock fallen lassen und heraussteigen, als ihn der Kaplan drängelte, „warte noch, das Schönste kommt erst.“
Er holte aus einem geschnitzten Schrank einen goldenen Kelch, der über und über mit bunten Edelsteinen besetzt war. Toni durfte ihn berühren.

„Ist es deiner?“
„Nein, er gehört zum Kirchenschatz.“
„Und du hast keinen eigenen?“
Der Kaplan nickte, machte eine erwartungsvolle Miene und zeigte ihm einen kleineren Kelch, ohne
Verzie- rungen.
„Das ist meiner. Ganz und gar aus Gold. Halte ihn vorsichtig.“
„So viel Gold hast du?“, platzte Toni heraus und machte große staunende Augen und blies die Backen auf. „So viel Gold. Da bist du ganz schön reich.“
„Nein, nein, der ist für die Heilige Messe. Aber ich nehme ihn gar nie her.“
Toni packte den Kelch wie einen Bierkrug undstemmte ihn über den Kopf.
„Wirklich picobello, echtes Gold. Und ich finde keines an meiner Bucht.“
„Heb ihn nicht so“, bat der Kaplan. „Ehrfürchtig musst du ihn halten, vor der Brust.“
„Nein“, sagte Toni und strampelte nun den Rock von sich, während der Kaplan die Kelche in den Schrank stellte und „du kannst es dir ja überlegen“ sagte.

„Es hat auch andere Vorteile. Du bist in der Kirche ganz
vorne, die Leute schauen auf dich.“
„Beil Hans, die Schweinebacke, würde sich eins grinsen.“
„Siehst du, um die Freundlichkeit untereinander geht es in der Kirche auch. Wenn du schon davonläufst, könntest du wenigstens Elfi im Waisenhaus besuchen.“
„Ich will zum Inn. Das Wasser steigt.“
„Wirklich?“
„In den Mulden ist es schon kniehoch.“
„Das Schmelzwasser vom Gebirge ist es“, sagte der Kaplan, „es schwemmt vielleicht wieder Gold an. Nimm doch Elfi mit.“
„Sie kann ja kein Wort reden“, murrte Toni, „und ihren blöden langen Zopf mag ich nicht. Und die Strümpfe rutschen ihr immer hinunter. Da bin ich lieber mit Strupp allein.“
„Sie hat ein schreckliches Unglück erlitten, die Eltern hat sie verloren“, sagte der Kaplan, „und seitdem ist sie verstummt. Eine große Freude könnte sie vielleicht wieder zum Sprechen bringen.“

Toni grüßte und ging. Viele nannten sie Elfi Stumm. Er nannte sie Elfi Glück. Wer es gut mit ihr meinte, nannte sie Elfi Glück. Aber niemand mehr wusste, warum das so war.

Ein kurzer Pfiff heulte durch den Friedhof. Toni zuckte zusammen. Von drei Seiten überfiel ihn ein spöttisches Gekicher und er sah dann auch vier über die Friedhofs- mauer linsende Köpfe. Paules Mausgesicht war auch dabei. Also von wegen, dass der nicht auf der Seite der Unterdörfler stand. Sigi lugte hervor und der runde Kopf des Beil Hans. Auch Herbert vom Waisenhaus war dabei, der längste, den sie Leiter nannten, der froh war, wenn er überhaupt zu jemandem gehörte, der an Fallsucht litt und deshalb nicht herumtollen und sich nicht aufregen sollte.

„Lauter dumme Gesichter“, schrie Toni und lachte so laut, dass es schon ein Gebrüll war.
Der Kaplan kam aus der Kirche.
„Alles picobello?“, rief er Toni zu.
„Nichts ist picobello.“

Picobello fand Toni die Welt, wenn alles gut ging und er sich glücklich fühlte. Jetzt sträubten sich ihm die Haare. Aber er wollte unbedingt zum Inn, zum steigenden Wasser. Er ging barfuß, steckte in den Köcher einige Pfeile, hängte den Bogen um und ließ Strupp auf dem Wiesenweg frei laufen. In der Goldbucht wühlte er dann gleich mit Händen und Füßen im noch trockenen Sand herum. Es war nicht lange her, da hatte er sich geschunden und die halbe Bucht umgeschaufelt, aber kein Körnchen Gold gefunden.

Jetzt wollte Strupp tollen und ins Wasser springen, doch Toni befahl ihn an seine Seite. Sie wanderten am kleinen Inn entlang, auf den Pfaden, die er zwischen Gebüsch und Fluss ausgetreten hatte. Ein paar Aitel und Rotaugen schnellten durchs Wasser und aus dem Uferdickicht stoben Fasanhennen hervor. Strupp setzte einer nach, Toni pfiff ihn sofort zurück. Sie gingen über die Brücke und bogen in den Auwald ein.

„Bleib da“, befahl Toni dem herumschnüffelnden Strupp. „Das Staudenzeug links gehört nicht mehr uns. Es riecht doch schon nach Grenze und stinkt nach Beil Hans.“
Auch im Froschtümpel war das Wasser angestiegen.
Früher hatte Toni Frösche gern gemocht, aber seit ihm die Unterdorfbuben Frösche vor die Füße schleuderten und ihn Toni Frosch nannten, hasste er sie.

Der trübe Weiher lag still da, voll fettigen Wassers. Weidenstöcke mit ihren dicken Köpfen und hängenden Armen griffen in den Tümpel. Irgendwo hatten die Leute sogar Tierknochen hineingeschüttet. Pelle Paule hatte er dabei einmal überrascht. Seine Mutter kochte nämlich aus Tierknochen Seife. Und das Allerstinkigste schmiss dann Mauspaule in den Tümpel.

Jetzt hockten Frösche auf schwimmenden Blättern
und pumpten ihre Schallblasen mit Luft voll.
„Hört auf, ihr Quakmäuler“, beschimpfte sie Toni.
Das Wasser rann schon über die Wegsenken. Toni
war neugierig, ob im großen Inn die Kiesbänke bereits weggeschwemmt waren.

Am Libellenweiher, in einer Sandmulde, freute er sich über die herumschwirrenden grünen und blauen Libellen. Vierflügelig waren sie, pfeildünn und blitzschnell. Der Kaplan hatte ihm ihre Namen gesagt. Königslibelle, Teufelsnadel, Raubjungfer und Schönjungfer. Am besten gefiel ihm Teufelsnadel.
Kein Mensch kann so schnell laufen, wie Libellen fliegen. Mit ihren gläsernen Flügeln steuern sie, mit jedem einzeln, schwirren im Zickzack und sogar rückwärts. Räuber sind sie, jede Beute erwischen sie. Und vor Millionen Jahren gab es Riesenlibellen, hatte ihm der Kaplan erzählt, mit Flügeln weit wie eine Armspanne.

Toni warf einen Stein in den Weiher und sogleich liefen Wellenringe auseinander und die Wasserspringer und Teichläufer kamen ins Schaukeln. Strupp sprang dem Stein hinterher, zerstörte die schönen Ringe. Er tapste durchs Wasser, schnappte nach den pfeilschnellen Libellen, erwischte aber keine.

Im großen Inn waren alle Kiesbänke überflutet. Das Wasser schwappte schon über den Uferweg ins
Unterholz. Toni war der Weg abgeschnitten. Er schlug sich quer durch.
Plötzlich bellte Strupp, ein Holzknüppel sauste durch die Luft und krachte neben Toni an einen Baumstamm.

Toni hüpfte zur Seite, Strupp sprang ins Gebüsch, in die Richtung, aus welcher der Prügel geflogen kam. Toni riss einen Pfeil aus dem Köcher und spannte ihn in den Bogen.

„Fass ihn, Strupp“, zischelte er, „fass ihn.“
Jemand schrie und Strupp zerrte im nächsten Augenblick Beil Hans am Hosenbein aus dem Gestrüpp. Ein Rascheln und Schreien verriet, dass Sigi flüchtete.
„Lass ihn los, Strupp“, befahl Toni, „lass den feigen Schleicher los. Aber merkt euch. Ihr habt hier nichts zu suchen.“
Beil Hans knirschte mit den Zähnen. Er hatte, als sich Strupp in sein Hosenbein verbiss, die Hände hochgerissen, brachte kein Wort heraus und verschwand, kaum hatte ihn Strupp losgelassen, fluchend im Unterholz.

„Ihr hinterlistigen Schleicher, haut ab“, schrie ihnen Toni nach.
Er war sich sicher, dass sie ihm beim Froschtümpel auflauern würden, unsichtbar hinter Stauden. Deshalb stieg er, Strupp eng bei sich, quer durch den Auwald und durch knietiefe Wasserpfützen. In der Nähe der Goldbucht kamen sie auf der Schilfseite an den
kleinen Inn. Das Nest des Blässhuhns war weggespült.

Sie mussten flussaufwärts zum Steg.
Im Grasweg trat Toni auf ein Schneckenhaus, das
unter seinem Fuß zerbrach. Das Glitschige und die feinen Schalenscherben kitzelten. Er bückte sich und steckte ein leeres Häuschen in den Köcher.

Zu Hause spielte Elfi im Hof. Toni tippte mit einem Finger in die Luft, was einer Begrüßung gleichkommen sollte. Elfi lehnte an der dicken Stange mitten im Hof, auf der das Taubenhaus saß.
„Geh doch da weg“, nörgelte Toni, „der Taubenmist fällt runter und beißt dich in den Augen.“

Sie zog verlegen ihren Zopf vors Gesicht, rückte ein Stückchen zur Seite und schob die Strümpfe hoch.
„Ich mag das nicht“, brummte Toni.
Mick, kohlschwarz, keinen weißen Fleck irgendwo,
streckte sich aus dem Schlupfloch im Stadel und lief schnurrend auf Elfi zu, duckte sich und erwartete, ge- streichelt zu werden. Elfi legte sich auf den Boden und die Katze fiel gleich auf den Rücken und räkelte sich. Elfi kraulte sie dann hinterm Kopf. Toni kniete sich dazu. Mick schlug die runden grünen Augen auf,- mit Pupillen wie schwarze Glassplitter, dünne Striche im Licht, dehnte sich behaglich, streckte die Pfoten von sich und zeigte die Krallen. Und als Elfi mit den Fingerkuppen die weichen Ballen berührte, stellte Mick die Krallen noch weiter auf.

„Wenn sie die Krallen zeigt, heißt das, streichle mich gefälligst“, sagte Toni.
Als dann Elfi und Toni aufstanden, war sie beleidigt, legte die Ohren zurück, tat erschreckt und sprang mit ge- bogenem Schweif davon.
„So sind Katzen“, sagte Toni, ging in die Stube und legte das Schneckenhaus auf den Tisch.
Strupp trottete hinter ihm her.

„Nimm doch das Schneckenhaus hier weg“, mäkelte
die Mutter, „was hast du denn damit im Sinn?“
„Ich brauche es.“
„Elfi ist draußen. Hast du sie gesehen?“
„Ja, sie spielt mit der Katze und schaut den Tauben zu.“
„Geh jetzt bloß nicht mehr in die Au. Überall kommen die Wasserzungen hervor. Die Tiefen laufen eher voll als das Land drum herum. Und schon ist dir der Rückweg ab- geschnitten.“
„Ich weiß es, ich kann doch schwimmen.“
„Im vorigen Jahr ist der Haller Willi ertrunken“, sagte die Mutter.
„Das war im großen Inn.“
„Ja, aber die Strömung ist überall stark. Sie reißt sogar die kräftigsten Männer mit.“
„Haller Willi war einer vom Unterdorf“, bemerkte Toni geringschätzig.
„Das macht doch nichts, ein junges Leben war´s.“
„Wie ist er denn eigentlich umgekommen?“
„Über den großen Inn war er geschwommen und wieder zurück. Die Strömung hatte ihn weit abgetrieben, aber er hatte das Ufer erreicht. Das Wasser war im Steigen wie heute. Er ist heimgelaufen und hat voller Begeisterung der Mutter erzählt, dass er sich zum ersten Mal getraut habe, über den reißenden Inn zu schwimmen. Sie solle ihm zuschauen.“
„Ich könnte auch über den reißenden Inn schwimmen“, prahlte Toni.
„Tu es nicht. Ein Unglück könnte geschehen. Willis Mutter ist wirklich mitgegangen. Und der Bub springt in die Flut und ruft noch: Mama schau, wie ich es kann. Und dann treibt es ihn vor ihren Augen ab. Die Flussmitte reißt ihn fort. Er kommt nicht hinüber und nicht zurück. Die Mutter schreit verzweifelt am Ufer, rauft sich die Haare und kann nicht helfen.“
„Ich schwimm schon nicht über den großen Inn,
höchstens über den kleinen.“
„Nein“, befahl die Mutter, „du bleibst jetzt da. Wenn wirklich das Wasser kommt, musst du mir helfen. Räum um das Haus herum auf, das ist wichtiger.“
„Hat man den Haller Willi nie mehr gefunden?“
„Doch. Weit von uns weg, angeschwemmt.“

Toni starrte eine Weile nachdenklich vor sich hin. Dann steckte er das Schneckenhaus in den Schulranzen und strich genüsslich süße Erdbeermarmelade auf eine Scheibe Brot.
„Elfi sitzt noch immer draußen im Hof“, sagte die Mutter, „hast du denn gar nichts für sie?“
Sie gab ihm ein Himbeerbonbon. Elfi, unterm Taubenhaus kniend, guckte nach oben.
„Augen zu. Da fliegt dir bloß Taubenmist rein“, befahl Toni. „Mund auf.“
Er steckte ihr das Bonbon in den Mund. Sie sprang auf, rannte über die Bachbrücke und den Berg hoch und Toni sah noch, wie der Zopf auf ihrem Rücken hüpfte und wie sie sich oben bückte und die Strümpfe hochschob.


© Josef Einwanger, Edition Octopus
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Impressum

Texte: ISBN 978-3-86582-570-4
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
erschienen im Verlagshaus Monsenstein & Vannerdat

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