Dein Leben ist ein Trümmerhaufen, ein Fluss aus Scheiße. Früher war alles toll. Doch dann fing es an. Du bist gezeichnet für den Rest deines Lebens. Du willst es verdrängen, doch du schaffst es nicht. Du willst es verbergen, doch das ist unmöglich. Du willst keine Schwäche zeigen, doch dafür ist es viel zu spät. Tief in deinem Innern wird es immer sein. Egal was du machst, es wird dich immer begleiten. Du wirst es nicht los. Du willst dich nach so langer Zeit den anderen öffnen und ihnen von deinem Schicksal erzählen. Du willst, dass sie es verstehen. Du willst, dass sie dir helfen es zu überstehen. Du willst neues Vertrauen aufbauen können. Doch sie glauben dir nicht. Sie glauben alles was in der Zeitung steht, doch einem Menschen, der mit Tränen in den Augen vor ihnen steht und es sogar beweisen kann, dem glauben sie nicht?! Doch du willst, dass sie dir glauben. Du willst unter allen Umständen, dass sie dich verstehen. Du willst, dass sie wissen, wie es für dich war. Du willst, dass sie wissen, was du gefühlt hast. Du willst, dass sie glauben, verstehen, selbst wenn sie es an ihrem eigenen Körper spüren müssen. Du willst, dass sie wissen wie sich diese Qual anfühlt.
Ich wollte gerade unter die Dusche huschen, als ich ein lautes Knacken hörte. Ich zuckte zusammen. Ich sprang schnell in die Dusche und versteckte mich hinter dem Vorhang. „Da ist niemand, ich bin ganz allein, alles ist in Ordnung“, versuchte ich mir immer wieder einzureden. Ich machte es so lange bis ich glaubte, was ich da sagte. Ich atmete tief ein und aus, dann stellte ich das Wasser an und fing an zu duschen. Während ich mich wusch blickte ich an mir runter. Meine Arme hatten einige tiefe Narben, genau wie meine Beine. Narben von Verbrennungen und Schnitten. Immer wenn ich es sah stieg wieder dieser Schmerz in mir auf, die Vergangenheit kam zu mir, hier in das Jetzt. Jedes mal stiegen mir Tränen in die Augen und ich musste mir auf die Lippe beißen um nicht zu weinen und aufzuschluchzen. Einfach alles erinnerte mich, ich war gezeichnet für den Rest meines Lebens.
Ich stellte ab Wasser ab und trat aus der Dusche. Ich wickelte das Handtuch um meinen Körper und trocknete meine Haare. Von draußen drang ein lauter Schrei in das kleine Bad. Mein Körper verkrampfte sich und ich begann zu zittern. Meine Knie klappten zusammen und ich hockte auf den kalten Fliesen. Der Schrei, der in die Wohnung drang, verwandelte sich in ein lachen und mein Körper lockerte sich wieder. Mein Leben bestand aus Angst. Angst vor allem und vor jedem. Ich rappelte mich wieder auf und schminkte mich. Als ich fertig war ging ich in mein Schlafzimmer und zog mich an. Allerdings nicht ohne geguckt zu haben ob nicht jemand hinter der Tür stand. Ich packte die Schultasche und verließ meine Wohnung.
Auf der Straße sah ich mich panisch zu allen Seiten um; niemand war auf hier. Ich stieg schnell in mein Auto und fuhr los. Ich fuhr von der Bucks Hill Road, in der ich wohnte, auf die Coastal Road, die mitten durch dieses kleine Kaff führte. Dort war schon mehr los. Lkw´s, Pkw´s und mitten drin ich. Ich bog in die Cornfield Hill Road, in der die High School war, und stellte meinen Wagen auf dem Schülerparkplatz ab. Es waren schon mehrere andere Schüler da. Ich atmete tief durch und stieg aus. Ab jetzt musste ich versuchen die Angst so gut wie möglich zu unterdrücken. Ich strich mir die braunen Haare hinters Ohr und ging in das große Gebäude. Aus einer Tür rechts von mir kam mit schnellen Schritten ein Mann auf mich zu. Ich biss mir auf die Lippe um nicht zu schreien. Der Mann grüßte und hastete weiter. Ich schmeckte schon Blut, weil ich so heftig auf die Lippe gebissen hatte - nicht gut. Ich ging weiter Richtung Mensa und stieg ein paar Treppenstufen hoch, dann stand ich im Speisesaal. Hier war schon mehr los. Ich setzte mich an einen Tisch außerhalb von dem ganzen Gemenge. Als ich von hinten angerempelt wurde zuckte ich zusammen. „Sorry“, murmelte die Person und ging weiter. Ich atmete tief durch und versuchte mich zu entspannen.
Als es zur ersten Stunde klingelte, machte ich mich auf den Weg zum Kunstraum. Ich lief durch den Altbau, zwei Treppen hoch und betrat dann den Kunstraum. Ich setzte mich auf meinen gewohnten Platz und holte mein Handy raus. In Kunst war es so, dass eigentlich jeder da saß und mit Kopfhörern seine Lieblingsmusik hörte. Momentan hatten wir das Thema „Schrift“, es war ein cooles Thema. Wir hatten schon unsere Schule mit Graffiti verschönert und Hieroglyphen gelernt. Jetzt fingen wir mit Comics an. Wir durften uns Hauptperson und Handlung selbst überlegen. Vorgeschrieben war nur, dass es aus der Genre Horror sein musste. Ich kannte viele Horrorfilme. Also hätte ich zum Beispiel „Mirros“ oder „Nightmare on Elmstreet“ zeichnen können, doch dazu hatte ich keine Lust. Ich wollte meine Geschichte zeigen, denn es musste ja keiner wissen, dass es stimmte. Ich beschrieb wie meine Mutter gestorben war, wie mein Vater sich verändert hatte und was er dann getan hatte. Ich schrieb und zeichnete. So langsam wurde mir warm unter den langen Sachen, doch ich konnte weder meinen Schal ablegen noch die Ärmel meines Shirts hoch schieben, denn dann würden sie die Narben sehen. Die Narben, die mich für immer zeichneten. Ich müsste alles erklären, aber wahrscheinlich würden sie mir nicht glauben.
Am Ende der Stunde war ich noch lange nicht fertig mit meinem Comic. Ich hatte gerade erst angefangen - angefangen das zu beschreiben, was mir passiert war; das zu zeichnen, was mich mein Leben lang begleiten würde. Das war der Anfang für etwas Großes, für Leid, Qual und Angst. Es tat gut aufzuzeichnen, was ich gesehen hatte. Zu schreiben, was ich gehört hatte und zu wissen, dass niemand es mit meinem Leben in Verbindung bringen würde.
Als es zum Ende der Doppelstunde klingelte ging ich auf den Schulhof. Ich setzte mich auf eine der Bänke und las an meinem Buch weiter. „Dein Wille Geschehe“. Ich fand dieses Buch einfach wahnsinnig gut. Ich las so lange bis es wieder klingelte und ich zu Chemie musste. Ich lief wieder durch den Altbau, aber diesmal musste ich nur eine Treppe hoch. Ich lief durch den Flur und stellte mich dann vor den Chemieraum.
Im Unterricht verstand ich gar nichts, aber meiner Meinung nach musste ein Mädchen auch kein Chemie können.
Nach einer halben Ewigkeit klingelt es endlich zur zweiten Pause. Ich setzte mich wieder auf die Bank und las. Viele denken jetzt bestimmt: ,Hä? Sie hat voll die Angst und liest voll die Psycho Bücher?' Ja, das tue ich, denn, wer schon extrem viel Angst hat, bei dem wird’s auch nicht schlimmer. Ich war völlig im Buch versunken und hätte fast nicht mitbekommen, dass alle rein gingen. Also stand auf und lief quer über den Schulhof, an der Mensa vorbei, durch den Neubau in unser Klassenzimmer. Wir hatten Religion. Bei uns an der Schule konnte man es leider nicht abwählen und so saßen hier auch einige, die das alles für völligen Schwachsinn hielten, so wie ich. „Wie stellt ihr euch Gott vor?“ Okay, scheiß Frage. Und was noch dümmer war, war dass die Frage an mich gerichtet war. Ich überlegte einen Moment. „Er ist eingebildet und egoistisch. Er denkt, er könnte alles machen. Wenn er doch angeblich so mächtig ist, wieso werden dann Kinder vergewaltigt, warum gibt es dann Krieg und Hungersnot? Er denkt doch nur an sich!“, und das war mein absoluter Ernst.
Reli schlich daher, doch alles hatte irgendwann ein Ende, auch das. Ich versuchte vor dem großen Ansturm aus dem Gebäude zu sein, also ging ich mit schnellen Schritten zum Schülerparkplatz. Ich stieg in mein Auto und atmete tief durch. Der schlimmste Teil des Tages war geschafft. Ich machte mich auf den Weg nach Hause. Die Straße war jetzt schon etwas voller. Kinder spielten auf der Straße und ich war froh darüber. Ich stieg aus und beeilte mich schnell in die Wohnung zu kommen. Als ich oben ankam wäre ich fast wieder die Treppe runter gefallen. Da stand eine Person. Vor meiner Tür. Ich zuckte zusammen und wollte schon wieder weg rennen, da drehte sich die Person langsam zu mir um und ich erkannte sie als Mrs. James. Ich entspannte mich wieder ein bisschen und schloss die Tür auf. „Wo warst du?“, fragte die Helferin des Jungendamtes, die einmal im Monat bei mir vorbei kam. „In der Schule.“ Ich legte meine Tasche in mein Schlafzimmer und ging dann zu Mrs. James ins Wohnzimmer. „Wie geht´s dir?“
„Gut“, log ich und ging in die Küche. Ich stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd und ging wieder ins Wohnzimmer. „Wie bist du zurecht gekommen?“
„Ganz gut, so wie die letzten eineinhalb Jahre auch“, antwortete ich während ich zwei Gläser aus dem Schrank holte. Ich schüttete uns was zu trinken ein und setzte mich dann aufs Sofa. „Wie sind deine Noten?“, fragte sie nach einem Schluck. „Ganz in Ordnung.“ Mich nervten ihre Besuche, weil es seit eineinhalb Jahren das gleiche war. „Wie kommst du mit dem Geld zurecht?“
„Auch gut.“
„Mhm“, sie stellte das Glas ab und sah sich einmal um. „Ich denke dann wäre das geklärt. Raus komme ich allein.“ Mrs. James stand auf und ging. Jetzt war ich allein. Ich hörte, dass das Wasser anfing zu kochen und ging in die Küche. Ich kochte mir Nudel und aß dann in Ruhe. Dann stellte ich meinen Teller in die Spülmaschine und setzte mich auf die Couch. Ich konnte hören wie die Kinder draußen rumtobten und ich hörte wie einige Mütter mit ihnen schimpften. Es war eine schöne Gegend in der ich wohnte. So ruhig und heimisch. Ich wollte mir gerade mein Buch holen und weiterlesen als ich von draußen einen lauten Schrei hörte. Auch ich schrie und sank auf den Boden. Mein Körper zitterte und Tränen liefen über meine Wangen. Meine Hände waren irgendwie taub und meine Knie schmerzten von dem Aufprall auf den harten Boden. Mein Körper hatte sich in Embryo-artige Stellung gezogen und ich lag weinend auf den Fliesen. Der Schrei hatte sich angehört wie ich damals. Es erinnerte mich an den ersten tiefen Schnitt, den meine Haut bekommen hatte, gefolgt von tausend anderen. Ich erinnerte mich wie die Klinge durch mein Fleisch fuhr, als wäre es Butter. Ich wusste noch genau wie es anfing zu bluten und mir schwindelig geworden war, ich hatte getaumelt und war zusammen gebrochen. Die Narbe schmückte noch immer meinen Oberarm. Der Schrei verklang und ein lautes Weinen war zu hören. Allerdings nicht das von dem Kind, das wahrscheinlich hingefallen war, sondern von mir. Ich hatte das Gefühl als würde es gar nicht mehr aufhören, denn immer mehr Tränen liefen über meine Wange. Ich setzte mich auf und wischte mir mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Früher war ich taff gewesen, hatte vor nichts Angst gehabt, doch das alles hatte sich geändert. Ich war mittlerweile eine Heulsuse, die vor allem Angst hatte. Ich war so wie ich nie sein wollte. Ich wollte immer ein schönes Leben haben mit Mum und Dad und vielleicht einem Bruder. Doch anscheinend war das nicht das, was für mich geplant gewesen war. Für mich war das geplant gewesen, was sich niemand wünschte. Ein Leben aus Qual, Angst und Trauer.
Ich versuchte mich an der Wand hoch zu drücken, was mir aber erst beim dritten Mal gelang. Die beiden Male davor war ich abgerutscht und schmerzhaft auf die Fliesen geknallt. Jetzt stand ich und bewegte mich langsam zu meinem Zimmer. Ich drückte mich an den Wänden ab und irgendwie kam ich auch an. Ich setzte mich aufs Bett und guckte durch den Raum. Ich war allein nicht nur in diesem Raum oder in dieser Wohnung, nein ich war allein mit meinen Gedanken und Empfindungen. Niemand wusste, was ich für eine Hölle durchmachte. Ich war Mutterseelen allein. Ich ließ mich zurück fallen und knallte voll mit dem Kopf gegen die Wand. Ich schrie auf und schreckte wieder hoch. Ich musste sowieso noch Hausaufgaben machen. Also stand ich auf und setzte mich an den Schreibtisch. In Religion hatten wir so ein komisches Arbeitsblatt bekommen, das wir bearbeiten sollten. „Martin Luther“ war die Überschrift und mein einziger Gedanke war: „Wer ist der Spinner?“ Ich mag ja vielleicht ängstlich sein und so, aber mit Kirche oder so hab ich gar nichts am Hut. Also musste ich, um dieses Blatt zu machen, erst mal den Laptop anmachen und den Kerl googlen. Als ich endlich raus gefunden hatte, wer er war und was er gemacht hatte und so, ging ich in die Küche. Ich schaute in meine „Süßigkeiten-Schublade“ und bemerkte, dass ich gar nichts mehr hatte. Also fuhr ich wieder Richtung Schule, denn hier, in South Broosville, war so ziemlich alles, was man finden konnte - zum Beispiel die Schule oder ein Einkaufscenter - im „South Brooksville Commiuntity Center“ vereint. Ich kaufte schnell ein und versuchte dabei allen Personen irgendwie aus dem Weg zu gehen, was mir größtenteils auch gut gelang.
Wieder zu Hause packte ich meine Einkäufe in die Schränke und setzte mich zum lesen auf die Couch. Am Ende des Kapitels legte ich das Buch weg und ging zum Fenster. Draußen verschwand das Leben langsam von der Straße; die Kinder mussten schlafen, die Erwachsenen saßen vor den Fernsehern und selbst den Vögeln schien es zu dunkel zu werden. Ich drehte mich um, doch in der Bewegung hielt ich inne und schrie. Doch zum Glück erkannte ich recht schnell, dass es Quinnie, meine Katze, war. „Du hast mich aber erschreckt!“ Ich kniete mich auf den kalten Boden und streichelte sie. Die kleine fing an zu schnurren. Als mir dann irgendwann die Knie wehtaten, stand ich auf und ging ins Bad. Ich schminkte mich ab und zog mich dann um. In meinem Schlafzimmer setzte ich mich aufs Bett und sah nach draußen in die Dunkelheit. Der Mond schien hell und Blätter der Bäume tanzten in Rhythmus des Windes. Meine Augen schweiften über den Nachthimmel, der mit Sternen gesprenkelt war. Das Leben könnte so einfach sein. Wenn man vergessen könnte … doch das konnte man nicht, man konnte die Vergangenheit nicht vergessen. Natürlich konnte man versuchen sie zu verdrängen, doch das klappte auch nicht immer. Es war nicht leicht und auch nicht immer ohne Schmerzen, doch irgendwie musste man es akzeptieren, ob man wollte oder nicht, denn es würde einen das ganze Leben lang begleiten und verfolgen. Ich zog die Rollanden runter und legte mich unter die Decke. Eine leichte Brise wehte durch den Raum und ich kuschelte mich ein. Ich versuchte zu schlafen und nach einiger Zeit gelang es mir auch.
Ich stehe mit Angst vor ihm. Sein dreckiges Grinsen läuft mir wie ein kalter Schauer über den Rücken. Doch ich kann nicht nachgeben. Ich kann einfach nicht. Seine kalten Wurstfinger streifen meine Wange. Er geht immer wieder um mich herum und sieht mich an. Jetzt reißt er mir die Kleider vom Leib und schubst mich auf das Bett. Ich schreie, ich trete, ich kratze, doch das alles scheint ihn nicht zu stören. Sein schäbiges Grinsen wird immer breiter. Langsam zieht er irgendwas aus seiner Tasche. Ich kann nicht sehen was es ist, doch es sieht nicht gut aus, denn sein Grinsen wird immer breiter. „Nein!“, schreie ich, doch er reagiert nicht.
„Dich kann hier niemand hören. Und selbst wenn, es würden alle denken du würdest nur schlecht träumen“, seine Stimme ist wie ein Schlag ins Gesicht. Er hat Recht, ich kann nichts tun. Der Gegenstand in seiner Hand kommt näher. Ich schreie, doch er ignoriert es. Er zieht den langen, glänzenden Gegenstand schnell über meinen Arm und ich schreie noch lauter. Ich fühle wie das Blut über meine Arme läuft, und mir wird schwindelig.
Ich wachte schreiend und schweißgebadet auf. Ich wollte weg hier. Ich wollte weg aus meinem Leben, ich wollte allein sein; für den Rest meines Lebens allein. Ich stand auf und ging langsam durch den dunklen Flur. Alles war stockduster; ich sah nicht mal meine Hand. Aber um das Licht anzumachen fehlte mir der Mut. Ich schlich an der Wand bis zum Badezimmer und erst als ich hinter mir die Tür geschlossen hatte, traute ich mich das Licht anzumachen. Ich atmete tief durch und suchte im Schrank nach den Tabletten. Ich nahm eine Hand voll und schluckte sie mit Wasser runter. Ich sah in den Spiegel und wünschte mir, dass das nicht Ich wäre. Ich hatte tiefe Augenringe, meine Haut war blass und meine Augen rot vom Weinen. Gesichtsausdruck konnte man das auch nicht nennen. Es ging mir einfach scheiße und das sah man auch. Ich schlug mit der Hand gegen den Spiegel und dann wurde alles schwarz um mich. Die Tabletten hatten ihren Sinn erfüllt. Ich lag auf dem Boden und war völlig weggetreten.
Ich wachte völlig benebelt auf und mir tat alles weh. Ich lag auf dem Boden im Bad und es schien schon Mittag zu sein. Die Schule hatte ich verpasst, doch das war mir egal. Ich versuchte aufzustehen, doch alles drehte sich. Meine Beine zitterten und ich sah alles nur verschwommen. Von letzter Nacht wusste ich nicht mehr viel. Ich wusste nur noch, dass ich schlecht geträumt hatte. Ich wollte hier nicht liegen. Es war kalt und unbequem doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich merkte wie alles wieder schwarz wurde und der Ruhezustand von vorn begann.
Diesmal wurde ich von einem lauten Schrei wach. Ich sprang auf und drückte mich in eine Ecke. Mein Körper war nicht ganz darauf vorbereitet gewesen und zitterte umso mehr. Meine Augen fühlten sich an als würden sie gleich platzen und meine Kehle war völlig ausgetrocknet. Nach kurzem verschnaufen ging es aber wieder einigermaßen und ich konnte normal stehen und gucken. Ich richtete mich komplett auf und spürte sofort den Schmerz in meinem ganzen Körper. Von den Füßen bis zu den Fingerspitzen tat mir alles weh. Ich schlurfte zum Waschbecken und hielt mein Gesicht in das eiskalte Wasser. Sofort war ich hellwach, aber an den Schmerzen änderte das trotzdem nichts. Ich streckte mich noch etwas mehr und ein lautes Knacken war zu hören. Es ging einmal durch meinen ganzen Körper. Für den Moment tat es weh, doch dann hörte der Schmerz schnell auf.
Ich öffnete die Tür zum Flur und ging in die Küche. Dort öffnete ich die Schublade mit Messern und stand unschlüssig davor. Sollte ich diese Qualen aufhören lassen? Oder lieber weiter leben? Sollte ich wirklich alles so beenden, ohne dass irgendjemand wusste, was mir passiert war? Ohne das jemand wusste, was ich durch gemacht habe? Ohne eine Erklärung? Ohne die Chance, dass alles besser würde? Ohne jemals geliebt zu haben? ... Ich machte die Schublade wieder zu und beschloss es zu verschieben … erst mussten die Anderen wissen, was passiert war. Sie sollten wissen, dass nicht jeder so ein tolles Leben hatte wie sie. Dass es Menschen gab, die in Angst lebten. Und sie sollten wissen, wie es war so zu leben.
Ich setzte mich auf die Couch und sah aus dem Fenster. Es war noch hell, aber nicht mehr lange. Es würde nicht lange dauern bis das Leben wieder eine Pause einlegte und alle schlafen gingen. Es würde schnell gehen. Ein paar Minuten konnten alles ändern. Die Straße wurde von einem Kinderspielplatz zu einem Friedhof und der Himmel von freundlich zu geheimnisvoll. Das Leben würde sich in ein paar Minuten völlig umstellen, von an zu aus… Statt dem Lachen von Kindern würde man das Rascheln von Bäumen hören und statt Liebe und Wärme würde man Hass und Kälte sehen. Wenn die Kinder im Bett waren und schliefen, fingen die Eltern an zu streiten. Sie schrien und manche Männer schlugen ihre Frauen auch. Bei Manchen war es häufig so, bei anderen fast nie. Meistens endete alles damit, dass sie sich hinterher weinend in den Armen lagen. Ich sah wie die Lichter langsam verschwanden und einem Flimmern wie von Fernsehern wichen. Draußen wurde es dunkel und der Tag verschwand und wich der Nacht. Die Sonne wich dem Mond und die Wärme der Kälte. Spatzen wichen Eulen und Hunde wichen Katzen. Früher hatte mich all das fasziniert. Ich hatte gerne zugeguckt wenn der Tag zur Nacht wurde und sich alles änderte. Ich hatte stundenlang am Fenster gestanden und geguckt wie das Leben dem Tod wich. Tränen stiegen mir in die Augen wenn ich an diese Zeit dachte. Die Zeit in der das größte Problem eines Mädchens war wie man Barbie und Ken anziehen sollte. Wo man noch nicht daran gedacht hatte wie grausam und qualvoll dieses Leben sein konnte. Die Zeit wo man von Märchenschlössern und -prinzen träumte, und nicht von Mord und Angst. Ich wollte zurück in die Zeit, wo mein Leben noch ein lebenswertes gewesen war. Ich wollte zurück und alles irgendwie ungeschehen machen. Doch das ging jetzt nicht mehr. Ich musste das Leben so nehmen, wie es war und mehr blieb mir nicht übrig. Ich konnte alles beenden oder weiterführen, das war meine Entscheidung. Die Frage war … würde ich es schaffen mir das Leben zu nehmen? Bei meinem Pech würde ich entweder nicht treffen oder ich würde rechtzeitig gefunden werden … es war schwer zu leben wenn man lieber sterben würde … doch es ging nicht anders. Alle redeten immer über Gott, den Herrn und Meister, doch woher wussten sie, dass es ihn gab? Vielleicht hatte sich vor mehr als tausend Jahren jemand den Spaß erlaubt und so ein Gerücht verbreitet?! Woher wollten alle wissen, dass es diesen Gott wirklich gab? Ich glaubte nicht daran, dafür hatte ich zu viel Scheiße gesehen … denn wenn Gott so wäre wie alle immer behaupten, gäb es dann so was wie Angst, Schmerz und Gewalt überhaupt? Ich war seit Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen. Wieso auch? Ich glaubte weder an Gott noch konnte ich es haben wenn man mich mit Scheiße zu textete.
Ich sah den Mond an, der hell am Himmel leuchtete. Er sah so groß und hell aus. Wunderschön. Ich wollte, dass dieser Moment, ein Moment des Glücks und der Hoffnung, mein Leben bestimmte, doch stattdessen beherrschte ein Moment des Schmerz und des Hasses mein Leben. Mein Leben bestand aus Angst.
Quinnie sprang auf meinen Schoß und fing an zu schnurren. Ich streichelte sie und sie rollte sich auf meinen Beinen zusammen. Ihr rot-weißes Fell war kuschelig und warm. Sie war ein Mix aus Perser und normaler Hauskatze, doch der Vater, der Perser, hatte eindeutig mehr Auswirkung auf ihr Fell gehabt. Vom Körperbau war sie eher die Mama, eine schmale, kleine Hauskatze, was ich aber auch gut fand, denn bei Persern war meiner Meinung nach das Gesicht extrem hässlich. Was ich vor allem an Katzen liebte war, dass sie ihren eigenen Willen hatten. Sie machten nicht das, was sie sollten, sondern das, was sie wollten, und dafür bewunderte ich sie.
Mein Blick wanderte durch den Raum, an dessen einer Seite ein großer Schatten zu sehen war. Ich wäre am liebsten aufgesprungen und weggerannt, doch die Katze auf meinem Schoß hielt mich davon ab. Als ich mich jedoch bewegte sah ich, dass es nur mein Schatten war und entspannte mich. Früher hatte ich immer Scherze darüber gemacht dass mir nie jemand was tun würde, und mich sofort zurück bringen würde, doch jetzt hatte ich Angst. Ich schloss die Augen und hoffte, dass ich morgen rechtzeitig wach werden würde.
Kapitel 3
Ich wurde wach, weil etwas an meinen Füßen kitzelte. Ich zog die Beine ein und machte die Augen auf. Draußen war es noch dunkel, doch ich konnte alles relativ gut erkennen. An meinen Füßen hatte Quinnie sich zusammengerollt und ihr Fell, das meine Füße streifte, kitzelte. Ich streckte mich und stand auf. Ich schlurfte in die Küche und machte die Kaffeemaschine an. Dann öffnete ich den Kühlschrank. Ich sah einen Hundekopf, der mich direkt anguckte. Mit meinem Schrei wich ich einen Schritt zurück. Ich kniff die Augen zusammen und öffnete sie erst langsam wieder. Der Hundekopf entpuppte sich als eine Wassermelone. Ich ging erleichtert wieder nach vorne, übersah dabei aber Quinnie, die sich vor meinen Füßen zusammengerollt hatte. Ich stolperte über sie und mein Kopf knallte auf die Arbeitsplatte der Küche. Meine Schläfe pochte und es fühlte sich an als würde mein Kopf platzen. Mein Körper zog mich immer weiter runter und knalle auf die kalten Fliesen. Mein Kopf prallte auch auf den Boden und ich war froh, dass mein Arm unter ihm lag. Ich fühlte mit der einen Hand nach der pochenden Schläfe und sah dann, dass meine Hand voller Blut war. Mühsam stand auf und trank erst mal den Espresso um richtig wach zu werden. Dann ging ich ins Bad, wo ich die Wunde abtupfte. Ich sprühte Desinfektionsmittel auf meine Schläfe und spürte einen stechenden Schmerz. Schnell duschte ich und putzte mir die Zähne. Dann ging ich in meine Schlafzimmer, zog mich an und packte schon mal meine Schulsachen zusammen.
Ich stieg in meinen Wagen und fuhr Richtung Schule. Dort parkte ich vor dem Gebäude und ging direkt in den Englischraum. Ich setzte mich auf meinen gewohnten Platz ganz hinten in der Ecke, wo mich niemand sah. Hier saß ich und wartete darauf, dass es zum Anfang der Stunde klingelte. Nach einigen Minuten klingelte es dann auch endlich. Nach und nach kamen dann auch alle anderen und der Unterricht konnte beginnen.
Die Stunde verlief wie immer ruhig und ohne irgendeine Beteiligung von mir. Auch die anderen Stunden waren recht ruhig. In der Pause setzet ich mich in die Mensa und las in meinem Buch weiter.
Als sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter legte, hätte ich am liebsten laut los geschrien, doch ich unterdrückte es so gut es ging. Ich drehte langsam den Kopf um zu sehen wer es war und ich war recht erleichtert als ich sah, dass es nur Miss Maiers war.
„Melody, ich muss mit dir reden.“
Ich nickte nur und bot ihr an sich zu setzen.
„Ich habe die Klausur korrigiert und musste leider feststellen, dass du sehr abgefallen bist.“
Ich sah sie an ohne etwas zu sagen, ich wusste dass ich in dieser Arbeit schlecht gewesen war. Denn genau in dem Zeitraum, in dem wir die Klausur geschrieben haben, hatte ich schwere Angstzustände.
„Melody, du musst etwas für die Schule tun, denn noch so eine schlechte Note kannst du dir nicht erlauben.“
Ich nickte nur und hoffte, sie würde dann endlich gehen.
„Ich werde mich natürlich dafür einsetzten, dass du versetzt wirst, aber ich kann nicht alles tun. Du musst dich wirklich steigern“, sagte sie und ging dann glücklicherweise.
Mir war klar, dass ich was tun musste, nur leider war das nicht mein einziges Problem.
Ich packte meine Sachen zusammen und ging wieder in den Unterricht. Auch die letzten Stunden gingen ohne irgendwelche nennenswerten Dinge zu Ende. Jetzt war erst mal Wochenende.
In meinem kleinen Auto fuhr ich zurück nach Hause. Ich musste erst mal hier weg. Immer dieselbe Umgebung, immer dieselben Probleme, immer dieselben Gedanken. Mir war egal wohin ich sollte, wo ich schlafen konnte oder was ich essen sollte, ich wollte einfach nur weg.
Ich stopfte alle möglichen Klamotten in einen Koffer und verfrachtete diesen dann in mein Auto. Das Katzenfutter füllte ich einfach nur auf und machte mich dann auf zu meinem kleinen Kurztrip. Quinnie würde schon alleine klarkommen und ich würde mich ein Wochenende entspannen können. Deswegen fuhr ich einfach los.
Ich hatte mir schon Gedanken gemacht, wo ich hin könnte und mir war das Claremont Hotel, ein Wellness-Hotel, eigefallen. Den Weg dorthin hatte ich im Kopf. Ich fuhr über Blue Hill, Ellsworth, wo ich zirca 100 Kilometer Autobahn fuhr, Trenton, Somesville und durch die Innenstadt von Southwest Harbor, bis ich endlich in die Clarmont Road einbog. Ich parkte vor dem Hotel und ging durch die große Rezeption.
„Guten Tag Miss, kann ich Ihnen helfen?“, fragte die etwas ältere Rezeptionistin.
„Ähm … ja. Ich würde gern für ein Wochenende ein Zimmer haben.“
„Da muss ich schauen.“ Sie tippte irgendwas in ihren Computer ein und sah mich dann wieder an. „Es ist nur noch die große Suite im Dachgeschoss frei.“
Ich grinste. „Okay, soll ich vorher zahlen oder nachher?“
Die ältere Dame sah mich ein wenig verwirrt an, fasste sich dann aber wieder. „Nach dem Wochenende. Hier ist der Schlüssel, soll ich jemanden holen, der Ihr Gepäck hoch bringt?“ „Nein danke“, sagte ich, nahm die Schlüssel und machte mich auf in Richtung Fahrstuhl.
Eine junge Kellnerin bot mir ein Glas Sekt an, doch ich lehnte dankend ab.
Ich stieg in den Fahrstuhl und wollte in meine Suite, doch, was ich eigentlich eine gute Lösung fand, hier musste ich schon den Schlüssel einstecken, damit ich überhaupt bis ins Dachgeschoss kam. Der Fahrstuhl stoppte und die Türen öffneten sich. „Oh mein Gott…“, brachte ich hervor. DAS war wirklich eine Suite. Die würde bestimmt Tausende von Euros kosten, doch das war mir egal. Dieser Ausblick war einfach der absolute Wahnsinn. Ich kam vom Staunen gar nicht wieder weg. Nicht nur der Ausblick, sondern auch die Einrichtung dieses Monsters war einfach der absolute Hammer. Nicht dass hier nur ein Wahnsinniges Himmelbett stand, nein, auch ein riesen großes „Wohnzimmer“ und eine absolut geile Küche.
Ich stellte meinen Koffer neben das „Bett“ und ging ins Bad, was eher einem Schwimmbad ähnelte. Es hatte einen riesigen Whirlpool, eine mega fette Dusche und einfach alles was man sich nur erträumen konnte. Also, ich wusste auf jeden Fall, dass ich hier richtig entspannen konnte.
Ich ging wieder in den Wohnbereich und öffnete die riesige Tür. Hier war ja sogar noch ein wirklich riesiger Balkon. Mein Kiefer war immer noch runter geklappt und meine Augen riesig. „Wow, wow, wow“, stammelte ich vor mir her.
Ich ging wieder in dieses Monster Teil und zog mich erst mal um, denn ich hatte vor Essen zu gehen, und wenn ich in sowas wohnte, konnte ich mich nicht in Jogginghose oder so sehen lassen. Ich zog mir eine Bluse an, aber als ich dann in den Spiegel guckte entschied ich, dass es albern aussah und zog mir einfach ganz normal T-Shirt, Jeans und eine Sweatjacke an. Ich frischte mein Makeup noch schnell etwas auf und fuhr dann wieder in die Lobby.
„Können Sie mir sagen wo ich hier gut essen gehen kann?“, fragte ich die junge Frau vom Personal.
„Natürlich. Beals Lobster Pier“, sagte sie und gab mir eine Karte.
„Danke.“
Das Restaurant war nur einige Straßen weiter. Ich entschied mich zu laufen und war einige Minuten später da.
„Haben Sie reserviert, Miss?“
„Ähm ... nein.“
Der Mann schien genervt, sah aber trotzdem nach, ob etwas frei war.
„Ein Tisch ist noch frei, wenn ich bitten dürfte.“ Er führte mich zu einem kleinen Tisch, und sofort kam ein Kellner. „Was wünschen Sie?“
„Ich … ähm, hätte gerne eine Cola und die Karte.“
Er sah mich an als käme ich aus dem All. „Kein Wein oder Sekt?“
„Nein danke, ich trinke keinen Alkohol“, antwortete ich. So war es, seit mein Vater Alkoholiker geworden war.
„Okay, kommt sofort.“
Ich aß, trank, bezahlte und ging wieder. Zurück im Hotel, fuhr ich mit dem Aufzug hoch in die Suite und setzte mich auf das große Bett. Hier fühlte ich mich freier, nicht so eingeengt wie zu Hause. Denn hier kannte mich niemand und ich kannte auch niemanden. Eine völlig fremde Umgebung und genau das brauchte ich im Moment.
Ich ging zur Fensterfront und öffnete die Tür. Ein kühler Wind wehte durch meine Haare, die leicht um mein Gesicht säuselten. Ich ging auf den Balkon und guckte über die Landschaft. Hier war es anders, es war als wäre ich auf einmal ein anderer Mensch. Ich hatte hier noch keine Angstanfälle gehabt, und ich hatte hier auch noch keine Mord Gedanken gehabt, das war ein gutes Zeichen. Diesen Urlaub hätte ich mir schon viel früher gönnen sollen.
Die Sonne ging langsam unter, ein rot-orangener Himmel blieb. Es sah aus wie aus einem Märchen. Die Bäume raschelten leise und es war als hätte jemand alles genauso geplant, ein Künstler, der sein Gemälde gestaltete. Ich genoss den Moment und als die Sonne untergegangen war, ging ich rein. Ich legte mich schlafen und sank in einen hoffentlich ruhigen Schaf.
Seine eine Hand liegt in meinem Schoß, die andere liebkost meine Wange. Seine Lippen liegen auf meinem Hals. Ich will schreien, doch es geht nicht. Seine Hand fährt immer höher. Ich will sie weg schieben, doch ich habe nicht den Mut. Ich spüre dieses Lächeln, diesen Triumpf, den er gerade macht. Vor ihm ekel ich mich, vor seinem Speichel, vor allem an ihm. Ich bin doch noch so jung, wie kann er so etwas tun? Fühlt er denn gar nichts? Seine Hand fährt immer höher und höher. Tränen laufen über meine Wangen.
„Nein, bitte … nein.“
„Sei leise, sonst wird es nicht schön werden. Sch.“
Immer mehr Tränen laufen meine Wangen runter.
„Nein! NEIN“, schluchze ich, doch alles was das bringt ist der Verlust meiner Stimme. „NAHAHAIIIIN!“
Ich schreckte aus dem Traum hoch und kauerte mich an die Wand hinter mir. Tränen liefen über mein Gesicht. Wieso musste ich immer wieder miterleben was geschehen war? Wieso? Wieso konnte ich nicht einfach vergessen? Ich wollte alles vergessen. Ich wollte einfach alles vergessen. Ich konnte nicht mehr so weiter leben. Ich konnte es einfach nicht.
Ich zog die Decke über meinen Kopf und wollte nur noch schlafen. Schlafen und nie mehr aufwachen. Wenn es wirklich einen Gott geben sollte, dann wär das einzige, was ich von ihm wollte, dass er mich nie wieder aufwachen ließ. Nie wieder. Für immer schlafen.
Wie ich vermutet hatte konnte ich die ganze Nacht nichtmehr schlafen. Immer wieder schreckte ich zusammen als der Wind gegen die Fenster donnerte, jedes Mal wenn auch nur der Ansatz eines Geräusches zu hören war.
Morgens, als die Sonne aufging, setzte ich mich auf den Balkon und sah mir das Farbendprächtige Ereignis an. Es war wunderschön. Irgendwann war es mir etwas zu langweilig nur hier rum zu sitzen. Ich hatte eine mega riesen Suite, das wollte ich auch nutzen. Ich machte mir Frühstück und überlegte währenddessen was ich denn mal machen könnte.
Als ich fertig gegessen hatte, zog ich mir einen Bikini an und entschied mich dafür, den Pool zu testen.
Er war beheizt und ein angenehmes Kribbeln huschte über meine Haut als ich ins Wasser ging. Das warme Wasser wirkte beruhigend. Ich konnte alles um mich abschalten und einfach nur den Moment genießen. Die Aussicht war der Wahnsinn und es wirkte alles so unwirklich. Ich hatte mir nie zuvor auch nur vorgestellt, dass ich einmal so einen Luxus erleben dürfte. Ich schloss die Augen einen Moment und träumte vor mich hin, als plötzlich ein Geräusch hinter mir zu hören war. Ich … ich war doch alleine hier. Wie konnte da ein Geräusch sein? Ich drehte mich langsam um, noch immer im Schock.
„Guten Morgen Miss, ihr Frühstück“, ertönte eine freundliche Stimme.
Das hatte ich völlig vergessen, mein Körper entspannte sich wieder. „Ja ... äh, stellen sie es doch bitte in die Küche“, meinte ich und nickte der älteren Dame zu.
Sie trug graue Uniform und gehörte zum Personal. Ihr Haar war bereits grau und nicht mehr wirklich voll, an einigen Stellen schien es schon fast kahl. Ihre Augen waren hellblau und ihre Nase war riesig, wirklich riesig. Sie nickte auch und tappelte dann in Richtung Küche. Ja, tappelte, laufen oder so konnte man das nicht nennen, denn ihre Füße machten nicht wirklich Schritte. Es war mehr ein voreinander-herschieben der Füße, was wie ein tappeln von Mäusen oder so aussah. Ich nahm ein Handtuch, das am Rand des Pools lag und stieg aus dem Wasser. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie kalt es außerhalb des Wassers war. Ich wickelte das Handtuch um meinen Körper und ging dann zur Küche. Hier würde ich mich wohl maßlos überfressen, ich hatte ja vollkommen vergessen, dass es vom Hotel auch Frühstück gab. Ich würde hier bestimmt 10 Kilo zunehmen und das nur, weil ich immer vergaß, dass das Hotel essen bringen ließ. Das würde ja schön werden, maßlos überfressen und im Pool chillen.
Ich setzte mich an den Tisch und sah das Essen an, das vor mir stand. Lecker. Ich aß das Croissant und trank den Kaffe, am liebsten hätte ich noch mehr gegessen, es sah einfach wahnsinnig lecker aus, doch ich konnte nicht mehr. Das Glas mit dem Sekt schüttete ich weg. So viel hatte ich ewig nicht mehr gegessen. Das würde bestimmt wahnsinnige Bauchschmerzen geben. Ich sah auf meinen Bauch. Im selben Moment hatte ich ein sehr schlechtes Gefühl und sprintete ins Bad. Dort kniete ich mich auf den Boden vor die Kloschüssel und dann begann es auch schon, das große Kotzen. Ich spürte wie der Inhalt meines Magens meine Speiseröhre hinauf kam und musste würgen.
Immer noch hatte ich diesen abartigen Geschmack im Mund und er wollte einfach nicht verschwinden, egal was ich tat. Ich hatte schon Bonbons gelutscht, Tee getrunken und den Mund unzählige Male ausgespült, doch der Geschmack ging einfach nicht weg. Ich steckte noch ein Bonbon in meinen Mund in der Hoffnung, dass dieser Scheißgeschmack endlich weggehen würde, leider vergebens.
Ich warf mich halb aufs Sofa und starrte die Wand mir gegenüber an. Mein Hals fühlte sich immer noch nicht so toll an und mein Kopf tat weh. Mein Nacken war verspannt und mein Rücken knackte wenn ich mich bewegte. Ich überlegte was ich machen könnte. Da fiel mir ein, dass es hier ja auch Saunen und Masseure gab. Ich blätterte ein Prospeckt durch und suchte nach den Angeboten. Nach kurzem Durchblättern stach es mir sofort ins Auge, naja … in die Sauna wollte ich nicht, da waren mir zu viele Leute, aber massiert zu werden war doch auch mal schön, vielleicht könnte ich da ja endlich mal entspannen.
„Bitte kommen Sie herein“, sagte die freundlich wirkende Masseurin, die gerade aus einem Raum herausgekommen war, und deutete auf diesen Raum. Ich nickte und trat herein. Der Raum hatte eine angenehme Größe, an den Wänden standen Schränke und Regale, in der Mitte des Raums war eine Liege. Sie sah nicht wirklich gemütlich aus, aber das war mir jetzt auch egal. An einer Wand, gegenüber des Kopfteils der Liege war ein Fenster. Es war beklebt oder so, damit niemand hinein sehen konnte, was allerdings auch mich daran hinderte hinaus zu sehen. Trotz der verklebten Scheibe fiel angenehm viel Licht in den Raum. Hier konnte man bestimmt gut entspannen.
„Okay, dann legen Sie sich bitte hierher“, meinte die junge Frau und ging dann zu einem der Schränke, ich ging zur Liege und legte mich hin.
Ich schloss die Augen und genoss es, wie die Hände der Frau meinen Rücken durchkneteten. Es war entspannend und ich spürte wie auch mein Rücken , der absolut verspannt gewesen war, sich entspannte. Während ich das alles genoss, versuchte ich die Gedanken in meinem Kopf zu ordnen. Mir ging in letzter Zeit so viel durch den Kopf. Wie würde meine Zukunft aussehen? Würde ich für immer allein sein? Würde ich für immer dieses Geheimnis haben? Würde ich für immer leiden? Würde ich eine der einsamen alten Frauen mit 90 Katzen werden? Würde ich überhaupt so viele Tiere haben können ohne Angst zu haben, sie könnten mir was tun? Sollte ich vielleicht jemanden einweihen? Sollte ich mein Geheimnis verraten? Wenn ja - wie sollte ich es tun? Würde mir überhaupt jemand glauben? Würde mir jemand helfen? Oder würde sie sagen: okay, wissen wir jetzt; wen interessiert´s? Sollte ich mich überwinden? Sollte ich es wagen? Oder sollte ich lieber alles für mich behalten? Sollte ich lieber so weiter machen wie bisher? Sollte ich einfach versuchen zu vergessen? Würde mir überhaupt irgendwas von diesen Möglichkeiten gut tun? Oder sollte ich lieber von irgendeiner Brücke springen? Wenn ich es sagen würde, würden sie mich für verrückt erklären und wegsperren? Vielleicht … alles war möglich. Hatte ich überhaupt noch Kraft? Hatte ich genug Kraft, es zu sagen? Es mit anderen zu teilen? Was würde passieren wenn sie mir nicht glauben würden? Was würde passieren wenn ich nichts sagen sollte? Ich war völlig überfordert.
Mein Kopf fing an zu pochen und ich beschloss, einfach mal an nichts zu denken, einfach im Hier und Jetzt zu leben und mir über nichts Gedanken zu machen. Und es funktionierte. Ich schaltete einfach komplett ab.
Später ging ich zum Essen ins Restaurant des Hotels. Es war nett eingerichtet. Es gab verschiedene Restaurants, ein italienisches, ein mexikanisches, ein chinesisches und so weiter. Ich hatte mich für das italienische entschieden. Es war eine wunderbare Atmosphäre hier, man fühlte sich als säße man wirklich in einem italienschien Dorf in einem der Stammlokale. Das Personal war freundlich und auch die anderen Gäste wirkten nett, trotzdem war ich lieber für mich. Ich saß an einem Tisch etwas abseits des Getümmels. Ich hatte mir Pasta bestellt und wartete nun. Währenddessen sah ich mir die anderen Gäste an. Die Altersgruppe variierte stark, von Anfang 20 bis Ende 70 waren alle Altersgruppen vertreten. Die meisten waren Pärchen, die wahrscheinlich einen romantischen Urlaub verbrachten. Ich entdeckte auch eine Familie mit Kindern, doch auch die waren schon über 12.
Die Pasta hatte gut geschmeckt und ich war nach dem Essen direkt wieder aufs Zimmer gegangen. Doch jetzt, wo ich allein war, fingen die Gedanken wieder an, mich zu erdrücken. Alles schwirrte durch meinen Kopf und am liebsten wäre ich direkt mit dem Kopf gegen die Wand gerannt, damit es endlich aufhörte. Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit. Alles zerdrückte mich. Wieso eigentlich immer ich? Ich verstand es einfach nicht.
Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich an die Wand. Mein Kopf wollte einfach nicht die Fresse halten, also bewegte ich ihn ein Stück vor…
und knallte ihn dann mit voller Wucht gegen die Wand.
Ein stechender Schmerz zuckte durch meinen Kopf und die Gedanken waren erst mal weg. Mein Kopf pochte und pochte, es fühlte sich fast an als hätte ich eine Wunde am Hinterkopf. Ich fasste mit einer Hand an die Stelle, die an die Wand geknallt war. Ich spürte etwas warmes, feuchtes … dann fing der Raum an, sich zu drehen.
Ich kam langsam wieder zu mir, doch meine Sicht war immer noch benebelt. Ich sah alles verschwommen, als läge ein dichter Nebel über mir. Es hatte funktioniert, die Gedanken waren weg, doch das konnte ja keine Dauerlösung sein, ich konnte nicht immer meinen Kopf vor die Wand schlagen. Ich sah durch den Raum und versuchte aufzustehen. Würde ich so weitermachen können? Würde ich damit klarkommen? Oder sollte ich mich so langsam jemandem öffnen? Würde ich weiterleben können ohne durchzudrehen? Wie würde es mit mir weitergehen? Das war doch alles umsonst oder nicht?
Ich stand an die Wand gelehnt und bohrte die Fingernägel in meine Handflächen. Der Schmerz lenkte mich ab und beruhigte mich. So lange, bis das Blut auf den Boden tropfte. Die Tropfen rannen langsam meine Hand hinunter. Es wirkte als schwebten sie durch die Luft, dann prallten sie auf den Fußboden und zersprangen in tausend Teile. Und genau in dem Moment, als die Tropfen zersprangen, wurde ich von dieser Schönheit in das Hier und Jetzt gerissen. Ich wurde langsam verrückt, ich wurde zu einem Fall für die Klapse, man würde mich einweisen können. Ich stand da, ohne zu wissen, was jetzt war. Auf einmal tauchten, wie in einem schlechten Film, ein Engel und ein Teufel auf meiner Schulter auf. „Sag es allen“, flüsterte der Teufel.
„Nein, nein, nein“, schimpfte der Engel.
Das war doch jetzt ein schlechter Scherz oder?! Ich schmiss mich aufs Bett und drückte ein Kissen auf meinen Kopf damit das endlich aufhörte. Ich schloss meine Augen und fiel in die Traumwelt.
Die Erde unter mir war kalt. Der Himmel war fast schwarz und ein eisiger Wind wehte. Als ich auf den großen Stein vor mir sah schreckte ich zurück, ich kroch auf den Rasen und starrte nur auf die Erde, auf der ich vorhin gelegen hatte. Das war sein Grab, hier lag er in Ewigkeit. Ich atmete tief durch und versuchte mich zu beruhigen, schließlich war er tot, er würde mir nichts mehr tun können. Ich schloss kurz die Augen und sah dann wieder zu dem Grab. Die Erde begann zu wackeln.
„Du wunderschönes Mädchen, du kommst mich besuchen?“, hörte ich seine Stimme, die wie der Wind durch meine Haare, durch die Bäume und durch die Nacht wehte.
Mein Körper verkrampfte sich und mein Atem ging schnell. Die Erde wackelte noch mehr und ich rutschte noch ein Stück zurück. „Nein, nein“, schluchzte ich mit Tränen in den Augen.
Der vergammelte Körper stieg aus der Erde und kroch zu mir. Ich wollte rennen, schreien, irgendwas tun, doch ich konnte nicht, ich konnte nichts tun. Eine vermoderte, stinkende Hand näherte sich meiner Wange. Da wurde es mir klar, das war nur ein Traum, er könnte mir nichts mehr tun, wieso hatte ich also solche Angst? Er war tot, und das war nur eine Fantasiegestalt, die mir absolut nichts anhaben konnte. Er würde mir nie wieder etwas tun können, nie wieder. Mein Atem wurde wieder normal und ich sah ihm direkt in die ekeligen Augen.
„Du tust mir nichts mehr! Du bist tot! Du wirst mir nie wieder was tun!“, sagte ich mit fester Stimme.
Ein Lächeln zuckte über seine vergammelten Lippen: „Ich kann dir immer etwas tun, solange du an mich denkst werde ich alles tun können was ich will. Alles!“
Seine Stimme war rau und ich konnte fast seinen Atem auf meiner Haut spüren. Ich konnte spüren, wie er beim sprechen spuckte. Ich spürte, dass er immer noch Macht über mich hatte. Die knochige Hand knallte auf meine Wange und Schmerz durchfuhr mich. Ich fiel zu Boden und Tränen rannen über meine Wangen. Er hatte mehr Macht als ich es hatte. Er war in meinem Inneren. Er war es, der mir die Kraft raubte. Sein Gesicht war dicht vor meinem und sein fauler Atem streifte über meine Wange und meinen Hals.
Schweißgebadet öffnete ich die Augen und drückte mich gegen die Wand. Ich hatte immer gedacht, sein Tod wäre meine Befreiung gewesen, doch ich war immer noch gefangen; gefangen in Erinnerungen. Es konnte doch nicht einfach so weiter gehen. Sonst würde ich irgendwann an Erinnerungen sterben … wenn ich nicht schon längst tot war. Ich zerquetschte das Kissen und starrte in die Luft. Ich hatte keine Wahl, ich musste mit den anderen reden, ich musste ihnen endlich sagen, was los war. Wieso ich so war, wie ich war. Ich konnte mich nicht mehr davor drücken. Es ging einfach nicht. Jetzt musste ich, ob ich wollte oder nicht.
***
Das Wochenende war vorbei, ich war wieder zu Hause und saß auf der Couch. Meine Katze nahm es mir immer noch übel, dass ich übers Wochenende weggewesen war. Aber ich verstand sie. Immerhin wusste ich, wie es war allein zu sein. Sogar sehr gut. Katzen hatten ein wundervolles Leben. Einfach essen, schlafen, kacken und selbst wenn man trotz dieser Dreistigkeit noch genervt war, nahm es einem niemand übel. So ein Leben wollte man führen.
Tausend Gedanken schwirrten in meinem Kopf. Sie gingen einfach nicht weg. Ich war überfordert; überfordert mit dieser Situation, mit meinem ganzen Leben. Ich war vollkommen am Ende.
Plötzlich stand er vor mir. „Kind, wir hätten das zusammen geschafft! Du hättest nie diese Angst haben müssen“, sagte er mit seiner ruhigen Stimme und sah mich an.
Ich konnte nicht sprechen, es war als versperrte ein Stein meinen Mund.
„Alles wäre gut geworden!“
Alles wäre gut geworden? In welcher Welt lebte der denn? Nur wegen ihm hatte ich doch solche Angst. Er war der Auslöser für das alles! Und wenn er noch hier wäre, wär alles nur noch viel schlimmer! „Du bist doch schuld!“, schrie ich ihn an. Woher kam denn jetzt auf einmal diese Kraft? Eigentlich war es mir auch egal. Ich wollte nur dass er endlich ging! „Lasst mich doch endlich in Ruhe! Verschwinde einfach! Geh!“
Er bewegte sich nicht. Nicht ein bisschen. Seine Lippen bewegten sich nicht, und trotzdem drangen seine Wort zu mir durch. „Du bist es, die mich hier hält. Du bist diejenige, die mir die Macht gibt. Nur durch dich existiere ich weiter. Du ermöglichst es mir hier zu sein und zu sehen wie du zu Grunde gehst.“
Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. „NEIN!“
Er verpuffte und ich war wieder allein. Was, wieso, warum? Ich war vollkommen fertig. Das alles, es sollte nicht so sein. Ich wollte vergessen. Ich legte mich hin und starrte an die Decke. Hoffentlich würde es eine traumlose Nacht werden, hoffentlich.
Ein Bluttropfen prallte auf den Boden. Ich folgte ihm mit meinem Blick und war erstaunt wie wunderschön Blut sein konnte. Es war einfach faszinierend. Noch ein Tropfen prallte auf. Ich suchte den Ursprungspunkt des Blutes und wanderte mit meinem Blick nach oben. Im Hintergrund sah ich verschwommene Bäume, Büsche, einen dunklen Himmel. Die Schärfe war abgeschwächt durch eine Fensterscheibe. Mein Blick blieb an einem Fetzen Haut hängen. Von dort kam das Blut. Der Hautfetzen hing an einem dünnen Arm. Und der Arm gehörte zu einem kleinen Mädchen. Das Mädchen kam mir bekannt vor. Sie weinte, ein Weinen, das man nur von kleinen Kindern hörte. Es war nicht zurückhaltend und halb unterdrückt. Nein, man hörte den Schmerz, man konnte ihn beinahe selbst fühlen. Man konnte spüren, dass dieses Mädchen schon viel durchgemacht hatte, denn ihre Tränen waren schon fast getrocknet. Sie schien nicht mehr die Kraft zu haben zu weinen. Sie schien schon so viele Tränen verbraucht zu haben, dass keine mehr übrig waren. Ich konnte nicht sagen, ob es wirklich so war, doch es schien so. Ich wusste auch nicht, woher ich dieses Mädchen kannte, doch sie tat mir leid. Ihr Gesicht war geprägt von Leid und Schmerz, es war erstaunlich wie sie diese Last trug; offen, ohne sie zu verstecken.
Die Szene wechselte. Wieder sah ich dieses Mädchen, doch von der Angst und dem Schmerz sah man ihr nichts an. Was ich eben noch bewundert hatte, das sah ich nun nicht mehr. Sie versteckte den Schmerz hinter einer Maske. Sie lachte und ließ sich nichts anmerken. Sie tobte mit den anderen Kindern, sang, tanzte, spielte. Doch wenn man genau hinsah - wenn man in ihre kleinen Augen guckte -, sah man wie sehr es sie verletzte. Man sah wie weh es ihr tat, diese Maske zu tragen. Sie wollte es eigentlich nicht, doch sie hatte keine andere Wahl. Es schmerzte tief in ihr, zu sehen, wie glücklich die anderen Kinder waren, ohne irgendwelche Sorgen. Die anderen waren einfach nur Kinder, doch sie war schon lange keins mehr. Sie kannte den Schmerz der Welt. Sie wusste nur allzugut wie es war furchtbaren Schmerz zu erleiden. Sie war schätzungsweise neun und trotzdem hatte sie schon so viel erlebt. Es klingelte zum Pausenende und sie ging gemeinsam mit den anderen Kindern in die Klasse. Sie erledigte ihre Aufgaben und man konnte sehen, wie sehr sie sich nach einem Lob sehnte. Nur ein kleines Lob dafür, dass sie die Aufgaben so gut erledigt hatte.
Doch es gab kein Lob, nicht für sie. Trotzdem blieb sie stark und machte einfach weiter; passte im Unterricht auf, machte gut mit und versuchte keine Fehler zu machen. Doch niemand beachtete sie wirklich. Dieses kleine Mädchen kam mir immer bekannter vor. Wenn ich sie ganz genau betrachtete ... konnte ich sehen, dass ... dass … sie ich war. Als kleines Mädchen. Deshalb kam mir das alles auch so bekannt vor, ich selbst hatte all dies erlebt, nur aus einer anderen Sichtweise, und zwar aus der des kleinen Mädchens.
Ich wachte auf und starrte an die Decke über mir. Es war komisch, diese Szenen aus einer anderen Perspektive gesehen zu haben. Nicht aus der Perspektive eines Opfers, sondern aus der, eines Beobachters. Jetzt ärgerte ich mich über mich selbst. Damals hätte ich was ändern können. Ich hätte nur etwas sagen müssen. Ich hätte die Zuwendung bekommen, die ich gebraucht hatte. Er wäre weggekommen. Doch ich hatte nichts gesagt. Ich hatte nicht ein Wort gesagt und lieber eine Maske getragen, eine Maske, hinter der ich alles verborgen hatte.
Jetzt war es zu spät. Jetzt konnte ich nichts mehr ändern. Ich konnte nur noch von damals berichten. Doch ich musste damit leben. Ich musste akzeptieren, dass ich zu feige gewesen war, etwas zu sagen und jetzt musste ich die Konsequenzen aushalten. Ich musste mit dieser Angst leben.
Regen prasselte an das Fenster. Es war ein beruhigendes Geräusch. Ich sah nach draußen. Alles war dunkel, ich konnte nichts erkennen, außer den Umrissen von dunklen Wolken am Himmel. Ein Blitz zuckte über das Schwarz. Alles erstrahlte in grellem Licht und ich meinte auf der Straße zu sehen. Derjenige stand im Regen und sah hoch zu meinem Fenster. Ich zuckte zurück und unterdrückte einen Schrei.
So schnell, wie es hell geworden war, wurde es auch wieder dunkel. Wieder konnte man nichts sehen. Ich versuchte auf der Straße irgendjemanden, irgendetwas auszumachen, doch es gelang mir nicht. Ich konnte nichts erkennen. Langsam fing ich an, an meinem Verstand zu zweifeln.
Am Morgen weckte mich das Klingeln meines Weckers. Ich öffnete meine Augen und blinzelte einige Male. Draußen war es noch recht dunkel. Ich stand auf und reckte mich, sodass mein Rücken einmal knackte. Dann schlurfte ich müde in die Küche und machte mir einen Kaffee. Quiennie streifte um meine Beine.
„Guten Morgen, Kleine“, ich lächelte sie an und stellte die Tasse ab, damit ich sie streicheln konnte. Ich strich ihr ein wenig über den Kopf und nahm sie dann auf den Arm. Mein Gesicht vergrub ich in ihrem weichen Fell und atmete ihren wundervollen Duft ein. Mit einem Mauzen forderte sie mich auf, sie herunterzulassen. Ich beugte mich nach unten und ließ sie von meinem Arm springen. Dann füllte ich ihren Wassernapf auf und gab ihr etwas zu fressen. Ich selbst wollte heute Morgen nichts essen, sogar der Kaffee war mir zu viel. Deswegen schüttete ich den Rest in den Abfluss und ging ins Bad.
Ich saß in meinem Wagen, den Blick auf die Fahrbahn gerichtet, doch in Gedanken ganz weit entfernt. Die Erinnerungen an meine eigenen Monologe am Wochenendes ließen mich nicht los. Sollte ich den Schritt wirklich wagen? Ein Knoten bildete sich in der Magengegend und ich wusste, dass es sehr viel Überwindung kosten würde.
Als ich mein Auto auf dem Parkplatz der Schule abstellte und zu dem großen Gebäude sah wusste ich, dass es jetzt an der Zeit war. Ich musste es einfach tun. Es ging nicht anders. Ich musste diesen Schritt einfach gehen. Ich war alt genug, um es jetzt zu tun. Und wenn ich es jetzt nicht tat, dann würde ich es niemals tun. Ich nahm meine Tasche und stieg aus. Mit schnellen Schritten ging ich zum Schulgebäude, dort durch die Flure zu meinem Klassenzimmer. Vor der Tür verharrte ich einen Moment. Ich atmete tief durch, legte meine Hand um die Klinke und drückte sie herunter. Jetzt musste ich es tun. Ich trat in den Raum. Die anderen saßen alle schon auf ihren Platz.
Ich sah zu Miss Moonshade und ging zu ihr hin. „Dürfte ich vielleicht kurz etwas sagen? Also…zu der ganzen Klasse?“
Sie nickte nur, gesprächig wie immer, und ich biss mir auf die Zunge, bis ich Blut spürte.
Es war an der Zeit.
Jetzt.
„Ich … ich muss euch was sagen“, stotterte ich und wandte mich der Klasse zu, „ihr … ihr wisst ja alle … dass ich sehr … schreckhaft bin.“ Ich schloss einen Moment die Augen. Verdammt, jetzt reiß dich zusammen! Du hast jetzt keine andere Wahl, Mädchen! Jetzt beiß die Zähne zusammen und sag es ihnen, verdammt nochmal!, dachte ich zu mir selbst. Als ich sie wieder ansah nickten alle und waren sichtlich gelangweilt.
„Und … das liegt daran, dass“, ich schluckte. Meine Hände begannen zu zittern. Ich richtete meinen Blick auf die Wand, damit ich keinen von ihnen direkt ansehen musste. Plötzlich sah ich sein Gesicht. Ich bohrte meine Fingernägel in die Handflächen. Du wirst nie wieder Macht über mich haben! NIE WIEDER! „Dass mein Vater mich früher vergewaltigt hat.“ Meine Stimme klang kräftig, anders als ich es erwartete hatte.
Ich sah weiter in sein Gesicht und tackerte ihn mit meinem Blick an die Wand. „Er hat mich misshandelt und vergewaltigt, nachdem meine Mutter gestorben war.“ Sein Gesicht an der Wand verblasste, er verschwand.
Jetzt hatte ich die Kraft in die Gesichter der anderen zu sehen. Sie sahen belustigt aus. Fast so … als würden sie mir nicht glauben.
Ich schluckte. Dann nahm ich meinen Schal ab, damit man die Narben an meinen Hals sehen konnte. Ich sah auf meine Arme und schob auch meine Ärmel hoch.
Wieder sah ich in ihre Gesichter. Sie grinsten immer noch. Verstanden sie denn gar nicht? Meine Hände begannen wieder stark zu zittern und Tränen stiegen in meine Augen.
„All das hat er mir angetan und noch mehr.“
Die Belustigung war nicht aus ihren Gesichtern zu bekommen.
„G-glaubt ihr … glaubt ihr mir etwa nicht?“ Meine Beine begannen nun auch zu zittern.
Jetzt begannen alle schallend zu lachen. Sie glaubten mir nicht. Sie glaubten mir einfach nicht. Das konnte doch nicht wahr sein!
„Wieso glaubt ihr mir nicht?“, meine Stimme zitterte und Tränen rannen über meine Wangen.
„Hast du dich mal angeguckt? Was sollte man dir bitte glauben? Du bist ‘ne Verrückte, die nur Aufmerksamkeit braucht“, klang es aus der hintersten Reihe.
Plötzlich tauchte sein Gesicht wieder auf. Er lachte. Er lachte mich aus. Er hatte es gewusst.
Ich sah weg von ihm und ging zu meinem Platz. Ich ließ mich auf den Stuhl fallen und versteckte mein Gesicht hinter meinen Händen. Ich hätte es nicht tun sollen. Es war doch klar gewesen, dass sie mir nicht glauben würden. Es war von Anfang an klar gewesen. Doch ich dummes Stück hatte tatsächlich gedacht, sie würden mir glauben.
Sofort begann der Unterricht, doch ich hörte nicht zu. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mir Vorwürfe zu machen. Wie konnte man mir schon glauben? MIR. Das war doch lächerlich. Niemand glaubte mir. Niemand würde mir je glauben. Es war zwecklos.
Vor mir erschien abermals sein Gesicht. Er hatte immer noch diese Macht. Hätte mir nur einer von ihnen geglaubt, dann wär es endlich vorbeigewesen.
Wut stieg in mir auf. Sie glaubten doch sonst alles, was sie hörten. Wieso glaubten sie mir nicht? Sie mussten! Ich hatte ihnen doch sogar Beweise gezeigt! Was fiel ihnen eigentlich ein? Sogar solche dämlichen Meldungen in der Zeitung glaubten sie! DOCH MIR NICHT?
Ich kochte innerlich vor Wut.
Oh, sie würden mir glauben.
Sie würden wissen wie ich gefühlt hatte.
Dann würden sie verstehen.
Sie würden glauben.
Und sie würden leiden.
Genauso, wie ich gelitten hatte.
Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Sie hatten verloren. Sie hätten gewinnen können, wenn sie mir geglaubt hätten. Doch das hatten sie nicht, also hatten sie schon verloren.
Sie hatten keine Chance gegen mich. Ich war ihnen um einiges Überlegen.
Als es klingelte stand ich auf, nahm meine Tasche und verließ den Raum. Alle sahen mich an und lachten. Ja ja, noch lachten sie. Doch das würden sie nicht mehr lange. Blad schon würde sich ihr Lachen in Schreien verwandeln. Wundervolles, qualvolles Schreien.
Egal ob ich in den Pausen durch das Schulgebäude ging oder während dem Unterricht im Klassenzimmer saß, alle sahen mich an und lachten. Es hatte sich schnell rumgesprochen. Ich war Lachnummer und Gesprächsthema Nummer 1. Ich versuchte nicht aufzufallen, hielt mich zurück und versuchte so wenig wie möglich gesehen zu werden. Doch ich würde mich nicht mehr lange zurück halten. Nein. Ich würde ihnen zeigen, dass es die Wahrheit war. Sie würden es begreifen.
Als ich die letzte Stunde überstanden hatte, lief ich in Richtung meines Autos. Doch kurz vor dem Verlassen des Schulgebäudes fiel mir ein, dass ich heute noch Chemie hatte. Nicht als Unterrichtsfach, sonders als freiwilligen Zusatzkurs. Geleitet wurde er nicht von einem Lehrer, sondern die Mitglieder selbst organisierten alles. Dort besprachen wir Fragen, die wir hatten, führten Versuche durch oder saßen einfach zusammen und redeten. Die Mitglieder des Kurses gehörten nicht zu der Highsociety unserer Schule. Es waren alles mehr Außenseiter und sie waren froh, wenn nicht allzu viel mit ihnen geredet wurde. So wie ich. Deshalb mochte ich es dort. Es war schön ruhig und wenn man nicht mit den anderen reden wollte war man nicht dazu gezwungen. Man konnte dann einfach allein in den separaten Raum gehen und dort Versuche durchführen. Außerdem mochte ich Chemie. Was man alles damit anstellen konnte war faszinierend.
Ich ging über den langen Korridor und klopfte dann an der Tür zum Chemieraum, die sich nur von innen öffnen ließ.
Tommy ließ mich hinein. Er war groß und schlaksig, seine dunkelblonden Haare vielen ihm in die Stirn und seine blauen Augen waren auf den Boden gerichtet. Hinter mir fiel die Tür wieder zu. Tommy ging sofort wieder zu einem der Tische und beschäftigte sich mit irgendetwas. Er war nicht wirklich gesprächig, doch eigentlich ging er nie einfach ohne irgendetwas zu sagen. Er arbeitete gemeinsam mit Lucy, die nicht einmal aufblickte. Neben Tommy wirkte Lucy wie ein Zwerg. Ihre braungefärbten Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden und ihre grünen Augen waren starr auf den Versuch gerichtet, der vor ihr aufgebaut war. Tommy und Lucy waren ein perfektes Team, sie war sehr klug und er war immer fleißig. Lucy war ein schüchternes Mädchen, doch das war nicht weiter schlimm, denn Tommy mochte es, wenn beim Experimentieren nicht zu viel geredet wurde.
Jeremy arbeitete mit Nicola zusammen. Sie war mittelgroß, ein wenig größer als ich, hatte blondes Haar und braune Augen, die immer freundlich strahlten. Sie war eine sehr nette Person, doch auch sie war eher zurückhaltend. Jeremy hatte einen Schokoladenfarbenen Teint in der Haut, schwarze Haare und braune Augen. Von ihm wusste ich so gut wie nichts, denn auch er redete nicht viel und ich hatte noch nie mit ihm zusammen gearbeitet.
Niemand blickte zu mir auf. Das war ungewöhnlich. Eigentlich wurde ich hier immer freundlich begrüßt, doch nun schien es fast, als wäre ich nicht anwesend. Vielleicht hatten sie schon gehört, was ich heute Morgen erzählt hatte und glaubten mir auch nicht. Wenn es wirklich so war, dann würde es mich enttäuschen. Denn eigentlich hatten sie alle ein offenes Ohr, wenn jemand Probleme hatte. Und nun eine solche Reaktion? Es machte mich traurig. Aus irgendeinem Grund konnte ich aber nicht sauer auf sie sein. Immerhin lachten sie mich nicht aus. Sie verspotteten mich nicht, waren nur nicht ganz so freundlich wie sonst.
Die Tür zum Chemikalienraum öffnete sich und David kam auf mich zu. Er musterte mich mit einem verachtenden Blick. Was bildete er sich denn ein? Seine blonden Haare fielen über seine Augen, trotzdem konnte ich sehen, wie er mich mit seinen braungrünen Augen musterte. Ich hatte mich immer so gut mit ihm verstanden, er war immer freundlich gewesen. Ich hatte oft mit ihm hier gesessen und einfach nur geredet. Er war der einzige Mann, bei dem ich keine Angst hatte.
Und jetzt sagte er nichts und guckte mich nur komisch an. „Ist was?“, fragte ich und sah ihn an.
„Wir wollen hier keine Leute, die Scheiße erzählen.“ Er war Gründer und Leiter der AG und ich hatte gehofft, er würde wenigstens ein bisschen von dem Glauben, was ich erzählt hatte.
„Aber es stimmt!“
Er drehte sich nur kopfschüttelnd um und stellte zwei Gefäße auf einem der Tische ab. „Bitte geh.“
Ich schüttelte den Kopf, ich würde nicht einfach gehen. Er würde verstehen müssen, dass es wirklich so gewesen war. Ich ging zum Chemikalienraum und trat hinein. „Was machst du da?“, hörte ich David rufen, dann schlug die Tür hinter mir zu.
In der Mitte des Raumes war ein großer Tisch, an dem Experimente durchgeführt werden konnten. An den Seiten standen große Schränke, mit verglaster Front. Ich ging an den Schränken entlang und strich dabei mit einem Finger über die Scheibe. Innen standen Gefäße mit Chemikalien, alle hatten Etiketten und meine Blicke wanderten über sie. Nichts von Interesse. Ich ging weiter und blieb irgendwann stehen. Mitten im Schrank stand ein Gefäß, das mein Interesse geweckt hatte. BROM stand in großen Buchstaben auf dem Etikett. Ich lächelte und öffnete den Schrank. Währenddessen hörte ich, wie die Tür hinter mir aufging. Ungehalten davon holte ich das Gefäß mit der Chemikalie aus dem Schrank und öffnete es. ‚Ätzend, giftig oder sehr giftig, umweltschädlich‘ – diese Kennzeichnungen zierten gemeinsam mit dem Namen des Inhalts und dessen Abkürzung ‚Br‘ das Gefäß.
„Was auch immer du vorhast, lass es!“ David kam von hinten näher, ich konnte es an den Schritten hören. „Ich will nur, dass du mir glaubst. Es war wirklich so! Ich habe gelitten, und ich leide immer noch.“
Ich konnte beinahe sehen, wie er die Hände über dem Kopf zusammenschlug und an mir fast verzweifelte, obwohl ich mit dem Rücken zu ihm stand. „Jetzt hör zu. Du brauchst das nicht sagen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich mag dich, wirklich! Aber das ist doch nur Blödsinn. Bitte, hör auf mit dem Mist. Wir alle wissen, dass das nicht so war.“
Ich habe dir doch gesagt, dass niemand dir glauben wird, du dummes Kind, hörte ich meinen Vater zu mir sprechen. Das dämliche Grinsen auf seinem Gesicht reizte mich.
SIE WERDEN GLAUBEN!
Schwungvoll drehte ich mich um und goss David somit das Brom über den Arm. „Ich habe gelitten, verdammt nochmal! Es hat wehgetan! Und es tut immer noch weh!“
Er schrie. Das Brom brannte auf seiner Haut und auf eine abartige Art gefiel es mir, zu sehen wie er litt. Er rannte zum Waschbecken und wusch die Chemikalie ab. Trotzdem hatte er Tränen in den Augen. Ich trat neben ihn. „Es tat so weh und nun sagst du mir, es sei alles nur Lüge. Das ist nicht schön. Ich hoffe es ist dir eine Lehre… Und schhh“, ich legte einen Finger an meine Lippen, „kein Wort! Ich hoffe für dich, dass du mir jetzt nicht mehr sagst, es sei nur Blödsinn.“
Ich wusste, dass es für ihn nicht so schlimm gewesen war. Klar, es hatte gebrannt, wehgetan, doch wirklicher Schmerz war etwas anderes. Ich hatte nur gewollt, dass er mir glaubte. Und irgendwie hatte ich das Bedürfnis verspürt, ihm wehzutun. Nicht wirklich Schmerzen zu fügen - schließlich mochte ich ihn -, aber ohne irgendeine Strafe hatte ich ihn nicht gehen lassen wollen. Jetzt ekelte mich das an. ICH ekelte mich an. Wie konnte mir so etwas gefallen? Das … das war doch abartig! Krank!
Ich saß in meinem Auto und fuhr nach Hause. Zumindest hatte ich vor, nach Hause zu fahren. Doch irgendetwas ließ mich zum Park fahren. Dort parkte ich meinen Wagen und stieg aus. Ich lief ein wenig auf dem Weg entlang, bis ein kleiner Trampelpfad sichtbar wurde, der in ein Waldstück führte. Mit diesem Pfad hingen viele Erinnerungen zusammen. Immer, wenn mein Vater mir etwas angetan hatte, war ich hierher geflüchtete. Ich war den Weg entlanggelaufen, auf der Flucht vor dem Abgrund, der nach mir rief. Egal ob es mitten in der Nacht oder am hellen Tag gewesen war, ich war immer hierher gekommen. Ich war gerannt, ohne mich umzudrehen. Ich hatte nicht einmal auf den Boden sehen müssen, ich hatte jeden Stein, jede Wurzel auswendig gekannt. So war ich mit geschlossenen Augen, aus denen Tränen ausgetreten waren, hierher gelaufen. So wie jetzt.
Ich hatte nicht bemerkt, wie ich angefangen hatte, zu weinen, ebenso wenig wie ich gemerkt hatte, dass ich angefangen hatte, zu rennen. Nun stand ich vor einer kleinen Höhle.
Wie oft ich mich in ihr versteckt hatte. Weinend hatte ich hier Stunden verbracht, manchmal Tage.
Wie damals kroch ich in den kleinen Unterschlupf, der mit Moos ausgepolstert war. Ich rollte mich zusammen und ließ die Tränen einfach fließen. Ich war schon so lange nicht mehr hier gewesen. Immer hatte ich zu viel Angst gehabt, dass die Erinnerungen mich hier einholen würden. Doch es hatte nichts gebracht, die Erinnerungen hatten mich auch so gefunden. Und jetzt wurde mir bewusst, dass ich hier nichts zu fürchten hatte. Es war immer ein Ort der Zuflucht gewesen, denn in der Zeit, wo ich hier gewesen war, war nichts Schlimmes passiert.
Es tat gut, hier zu liegen, zu weinen, geschützt zu sein. Geschützt vor dem Leid, geschützt vor meinem Vater, geschützt vor dem Abgrund, der mich so sehnlich wollte. Ich erinnerte mich, wie ich in einer Nacht blutüberströmt, weinend und durchgefroren bis hierher gerannt war. Ich hatte nur mein Nachthemd getragen, welches vom Blut pitschnass gewesen war. Ich war gerannt, barfuß, einfach immer weiter gerannt. Es war eine klare und stille Nacht gewesen. Wenn man aufmerksam gewesen wäre, hätte man mich schreien hören. Doch es war niemand aufmerksam gewesen. Ich war einsam gewesen. Doch hier, hier hatte ich mich wohlgefühlt. Es hatte so gut getan. Ich wusste nicht einmal, wieso. Es war nicht wirklich geschützt, trotzdem war es ein Ort der Wärme. Ich liebte es.
Als ich meine Augen wieder öffnete war es schon dunkel geworden. Ich war wohl eingeschlafen. Meine Wimpern waren verklebt, meine Hände zittrig. Es war eiskalt. Ich lief aus dem Waldstück raus und als ich gerade zwischen den Bäumen hervorkam schlug mir der kalte Wind ins Gesicht und ich begann, noch mehr zu zittern. Ich zog die Jacke enger um mich und ging mit langsamen Schritten zu meinem Auto.
Der Mond warf ein kühles Licht auf die Wiese und ermöglichte es mir, noch ein wenig zu sehen.
Am Auto angekommen schloss ich auf und setzte mich hinein. Aber ich fuhr nicht los, ich saß einfach nur drin und starrte nach draußen. Ich hätte mir so viel Leid ersparen können. Ich hätte lediglich etwas sagen müssen. In diesem Punkt konnte ich ihm nicht die Schuld geben, dass war allein meine.
Irgendwann war ich dann nach Hause gefahren. Nun lag ich in meinem Bett und schloss die Augen.
Ich sah ein kleines Mädchen. Sie saß am Frühstückstisch und grinste ihre Mutter an. „Bringst du mich heute zur Schule, Mami?“
Ihre Mutter schüttelte lediglich den Kopf.
„Aber wieso denn nicht?“, sie sah ihre Mutter mit großen, traurigen Augen an.
„Ich muss heute früher zur Arbeit, tut mir leid, Liebling.“
Man konnte die Enttäuschung im Gesicht des Mädchens deutlich erkennen. „Aber dafür werde ich dich abholen, Kleine“, sagte ihre Mutter und strich durch ihr Haar.
„Versprochen?“, murmelte das Mädchen mit einem Bissen im Mund.
„Versprochen.“
Sie schluckte schnell runter und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange.
Als sie das Haus verließ, waren ihr Vater und ihre Mutter schon längst bei der Arbeit. Sie lief zur Schule, wie sie es jeden Morgen tat. Es war nebelig und kalt. In der Nacht hatte es gefroren und die Anwohner hatten noch nicht gestreut, weshalb sie sehr aufpassen musste, um nicht auszurutschen.
Ihrer Ansicht nach, dauerte die Schule viel zu lange, denn sie wollte endlich, dass ihre Mutter sie abholte. Als sie dann endlich das erlösende Klingeln der Schulglocke hörte, packte sie schnell ihre Tasche und sprang auf. Sie rannte aus dem Gebäude und blieb dann stehen.
Ihr Blick schweifte über die Schaar an Eltern, die sich vor der Schule versammelt hatten, um ihre Kinder abzuholen. Die anderen Kinder strömten an ihr vorbei zu den Bussen und zu ihren Eltern. Die Kleine hatte ihre Mutter immer noch nicht entdeckt und blieb stehen um weiter nach ihr Ausschau zu halten. „Melody, hier!“, hörte sie eine männliche Stimme rufen. Sie drehte den Kopf und sah ihren Vater. Ihre Mutter hatte sie doch abholen wollen?!
Sie trottete betrübt zu ihrem Vater und sah ihn dann an. „Daddy, was machst du hier? Mami wollte mich heute abholen!“
Ihr Vater schluckte schwer und nahm sie dann an der Hand. „Komm Kleine, ich erzähl dir alles, wenn wir Zuhause sind.“
Das Mädchen verstand nicht, nickte aber trotzdem und ging mit ihrem Vater nach Hause.
Schweißgebadet wachte ich auf und setzte mich an den Rand meines Bettes. Ich strich durch meine Haare und atmete tief durch. Ich erinnerte mich genau an diesen Tag. Zuhause hatte mein Vater mir dann erzählt, dass meine Mom tot war. Sie hatte an diesem Morgen einen Unfall gehabt, war auf der vereisten Straße ins Schleudern gekommen und vor einen Baum gefahren.
Ich hatte sie unbedingt sehen wollen. Ich hatte das Bedürfnis gehabt, mich von ihr zu verabschieden. Jeder normale Mensch hätte es mir verboten. Doch mein Vater war selbst so fertig gewesen, dass er es mir erlaubt hatte.
Ich hatte sie also gesehen. Die entstellte Leiche meiner Mutter. Ich hatte wochenlang nicht schlafen können. Hatte ständig Albträume gehabt, mich in den Schlaf geweint. Mein Vater hatte getrunken, viel zu viel getrunken und Drogen genommen. Und dann, als ich endlich über den Tod meiner Mutter hinweg gewesen war, hatte er angefangen, mich zu vergewaltigen.
„Dreckskerl“, war alles, was mir jetzt gerade dazu einfiel.
Ich stand auf und ging ins Bad. Das kalte Wasser, welches ich mir über das Gesicht strich, tat gut.
Ich vernahm einen merkwürdigen Geruch. Männerparfum mit einer leicht muffigen Note, ich richtete mich ganz auf und sah in den Spiegel. Ich erkannte das Spiegelbild meines Vaters, der ungefähr einen Meter hinter mir stand. Es war merkwürdig, doch ich hatte in diesem Moment nicht die geringste Angst. Es war fast so, als hätte ich mich an seinen Anblick gewöhnt.
„Was willst du schon wieder hier?“, sprach ich zum Spiegel.
Er legte den Kopf schief und grinste. „Du hast von mir geträumt“, sagte er mit einer Stimme, die anscheinend sexy klingen sollte.
„Nein, nicht direkt von dir. Von Mom.“
Er stellte sich gerade hin, und sah mich durch den Spiegel direkt an. „Sie war eine wundervolle Frau, ich habe sie geliebt.“
Über meine Lippen huschte ein verächtliches Lächeln. „Du hast sie geliebt? Hättest du sie wirklich geliebt, hättest du deine dreckigen Finger von mir gelassen. Immerhin war ich ihr einziges Kind. Ich war ihr Ein und Alles, hättest du sie geliebt hättest du mich in Ruhe gelassen!“ In anderen Situationen wäre ich nun wahrscheinlich auf Hundertachtzig gewesen, doch nun war ich ganz ruhig, beunruhigend ruhig.
Ich konnte es nicht gut erkennen, doch es wirkte beinahe so, als hätte er Tränen in den Augen. „Ich wollte dich nicht anfassen, nur … du sahst ihr schon damals so unglaublich ähnlich, so hübsch und reif. Und nun … schau dich an, du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, ich konnte einfach nicht anders.“
Ich betrachtete mein Spiegelbild. Es stimmte, ich sah genauso aus wie meine Mutter. Und darauf war ich immer sehr stolz gewesen. Sie war meine Heldin gewesen, ich hatte sie über alles geliebt und dass ich ihr ähnlich sah, war für mich immer ein Segen gewesen. So hatte ich sie einfach nicht vergessen können, so hatte ich sie immer irgendwie bei mir gehabt. Doch nun war ich stark am Zweifeln, ob es wirklich ein Segen war oder ob alles ohne diese Ähnlichkeit anders verlaufen wäre.
Aber es war nicht meine Schuld, auch wenn er es darauf hinauslaufen lassen wollte. Es war allein seine. Er hatte mir das angetan, er hatte mich angefasst, mich vergewaltigt und misshandelt. Er allein war es gewesen. Ich hatte nie etwas getan, das in eine solche Richtung ging. Er hätte mich nicht anfassen müssen. Nein, er hätte sich einfach wegdrehen können, hätte mich weggeben können, hätte mir all das Elend ersparen können. Es war nicht fair, nun die Schuld auf die Ähnlichkeit zu schieben.
„Jetzt tu nicht so, als hättest du es nicht genossen, mich zu Quälen, du perverses Schwein! Du hättest es auch getan, wenn ich ihr nicht ähnlich gesehen hätte!“
Sein Bild löste sich langsam auf und alles, was ich konnte, war lachen. Ich sank auf den Boden herunter und lachte. Ich lachte über meinen Vater, weil es einfach lächerlich war. Meine Angst, die Leute, die mir nicht glaubten, einfach alles. Ich lachte über all das. Über Gott und die Welt.
Irgendwann ging das Lachen in Weinen über, alles Fröhliche hatte sein Trauriges. Und so auch die Dinge, über die ich eben so herzlich gelacht hatte. Ich weinte darüber, dass mein Vater mich verletzt hatte, über meine Angst, die mir das Leben so schwer machte, über die Leute, die mir nicht glaubten, und mich damit zu tiefst verletzten.
Als alle Tränen versiegt waren, fühlte ich nichts. Alles war wie fort geblasen. Ich fühlte mich leer. Benommen stand ich auf und ging in die Küche. Ich holte eine Flasche Wein aus der hintersten Ecke des Schrankes und schenkte mir ein Glas ein. Mit Flasche und Glas ging ich dann zurück ins Badezimmer und stellte mich vor den Spiegel.
Während ich jeden Millimeter meiner Haut aufs genauste Inspizierte trank ich den Wein. Er schmeckte fürchterlich, doch das war mir egal.
Ich trank die Gläser immer schneller aus und nahm dann statt des Glases, die Flasche. Mein Blick wurde benebelter, mein Inneres wurde durcheinander geworfen. Mit der Flasche in der Hand wankte ich in den Flur und zog einen Mantel an. Er ging mir bis über die Knie und kratzte auf meiner nackten Haut. Barfuß und nur mit einem Mantel bekleidet verließ ich die Wohnung und wankte weintrinkend zum Friedhof.
Als ich an seinem Grab ankam war die Flasche leer. Unkraut wucherte aus der Erde und der Grabstein war voll mit Moos. Ich war zum ersten Mal hier. Nicht einmal an seiner Beerdigung war ich hier gewesen. „Hier bin ich.“ Ein kalter Wind peitschte über den alten Friedhof und schaffte ein bedrückendes Gefühl. Ich warf die Flasche auf den Grabstein und sie zersprang klirrend in tausend Teile. Der Wind heulte auf und ich blickte an den bedeckten Himmel. Dann ließ ich den Mantel fallen und guckte wieder runter zu ihm. „Nimm mich, nimm mich ein letztes Mal“, schrie ich und ging auf die Knie, die Sträucher bohrten sich in meine Haut und ein mir nur allzu bekanntes Gefühl durchflutete meinen Körper. Schmerz. Ich ließ mich fallen und schloss die Augen.
Tag der Veröffentlichung: 21.09.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
ich widme diese Buch allen verrückten Horror und Psycho freaks die sich die Zeit nehmen das zu lesen;)