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Die Tasche fest in beiden Händen, die Beine zusammengedrückt und ihr Blick zum Fenster.
Sie hört nicht das Gespräch der beiden älteren Damen neben ihr, welche sich angeregt über die Schmerzen im Knie unterhalten. Wohl Abnützung und doch zuviel Gewicht, meinen sie.
Ihr gegenüber eine junge Mutter mit quängelndem Kind. Sie warten schon lange. Das Kind wirkt müde und seine Augen glänzen fiebrig und es klagt über Schmerzen beim Schlucken. Immer wieder schlägt das Kind der Mutter die Flasche aus der Hand, das Gesicht verzogen; nicht mehr lange und es folgt wieder ein Weinen.
Rasch, ohne viel Worte zu verlieren, verließ sie heute Mittag das Büro, hoffte auf eine fast leere Praxis zu stoßen und nun dies.
Noch immer sind drei Leute vor ihr. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass sie nicht rechtzeitig zu Arbeitsbeginn im Büro sein wird.
Eine Stunde ist nicht lang, nein...und doch kann sie soviel bedeuten...

Damals, als sie ein junges Mädchen und ihr erstes Date hatte mit Christoph. Sie musste die Mutter überlisten um unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Die Eltern saßen vor dem Fernseher und es spielte gerade *Wetten, dass*. Sie wusste, sie hatte vor Ende der Sendung wieder zuhause sein, wenn sie keinen Streit mit der Mutter wollte.
Wie kostbar war diese eine Stunde. Wie sehr gelebt hatte sie diese. Heute noch spürt sie seine Lippen auf den ihren. Der erste Kuss. Welch eine Erinnerung.

Jäh zuckt sie zusammen, als das Kind in Schwall Richtung ihr erbricht und jämmerlich schluchzt. Die Mutter flüstert sanft auf das Kind ein, entschuldigt sich mehrmals bei ihr. Die alten Damen sind verstummt. Eine davon scheint bereits beim Arzt zu sein. Die Andere blickt von unten durch ihre Brille auf das schluchzende Kind und sucht nervös ein Taschentuch. Hüstelnd hält sie es vor ihren Mund, den Blick auf die Uhr, während die Sprechstundenhilfe das Erbrochene vom Boden entfernt.

Wieder diese nagende Schmerz...seit Tagen nun schon. Ihr Arm, geschwollen ist er, bis zu den Fingerspitzen und in der Achsel, dieser derbe Knoten...
Vor wenigen Monaten hatte sie ihn beim Duschen entdeckt und gehofft, er würde wieder verschwinden...nur...er tats nicht.
Vorgestern begann der Arm anzuschwellen...und auch diese rote Fleck auf ihrer Brust...entzündet wirkts.
Endlich geht die Tür auf und die alte Dame kommt langsam heraus. Ihr Knie macht eindeutig Probleme. Die andere alte Frau erhebt sich und es verlassen beide das Wartezimmer. "Aha, eine Nachbarin oder so", denkt sie. Die Mutter trägt das fiebernde Kind ins Arztzimmer und die Sprechstundenhilfe versichert, dass es nicht mehr lange dauern wird.
Wieder schweift ihr Blick nach draußen...Frühling ist's. Die rosa Blüten der Bäume und das Gezwitscher der Vögel, es tönt an ihr Ohr und der Duft der Blüten dringt durch das geöffnete Fenster in den Raum. Wieviele Frühlinge hatte sie bereits erlebt - vierzig nun, doch niemals so bewusst wie heute.
Als sie vom Büro zum Arzt hetzte, den Mantel geöffnet und der Frühlingswind durch ihr langes Haar
blies, spürte sie die Blicke der Männer auf ihren wohlgeformten Körper. Sie hatte die Figur durch die Geburt der Kinder nicht verloren.
Immer war sie bestrebt gewesen, es nicht als Ausrede gelten zu lassen. Sie trainierte zwei mal wöchentlich im Studio. Nur seit diese Schmerzen im Arm sie heimsuchten, versuchte sie ihn so wenig wie möglich zu belasten, immer noch in der Hoffnung, es würde sich beruhigen.
Wieder das nervige Gebrüll aus dem Arztzimmer. "Der Kleine mag wohl keine Ärzte", denkt sie schmunzelnd.
Die Assistentin ordnet ihren Schreibtisch und lächelt ihr freundlich zu. Plötzlich, öffnet sich geräuschvoll die Tür zum Arztzimmer und das Kind stampft mit hochroten Kopf,
noch vor der Mutter, heraus.
Dr. Rosenkranz steht ruhig am Waschbecken und wäscht seine Hände.

"Ah, ich bin dran", schießt es ihr eisig durch den Kopf -

Impressum

Texte: copyright Text Monika Wilhelm veröffentlicht in der Anthologie "Wartezimmer" WDS-Verlag
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2009

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