Es geht alles so schnell… Ich will, nein ich muss in einer der Rettungsboote.
Sie lassen mich nicht durch!
Ich bin doch eine Frau.
Heißt es nicht immer Frauen und Kinder zu Erst?
Aber nicht für uns, die Passagiere der 3. Klasse.
Ich merke wie Panik in mir aufsteigt, sie frisst sich in mich hinein… erst nur ganz langsam dann immer und immer mehr. Ich kann nicht mehr richtig atmen. Von allen Seiten schubsten und drängeln sie.
Ich weiß nicht was ich tun soll!
Ich bin doch erst 22, ich will ein neues Leben, fernab von meinem alten Leben in Dublin. Welche Strapazen habe ich nicht auf mich genommen um an Board dieses wunderbar majestätischen Schiffes zu kommen?
Ich habe alles verkauft bis auf die Kleider die ich am Leib trage, ich habe mich von meinen sechs Geschwistern und meine Eltern verabschiedet und ihnen versprochen sie nach zu holen wenn ich mir eine Existenz aufgebaut habe.
Jetzt aber will ich nur in dieses Rettungsboot!
Sie lassen es zu Wasser… ohne mich!
Es ist das letzte Rettungsboot, ich blicke in die vielen geschockten und verzweifelten Gesichter um mich herum. Was passiert jetzt nur?
Ganz langsam beginnt sich nun das Heck zu heben und ich laufe in die Richtung des Hecks. Wo wäre ich jetzt sicherer, als an der Stelle die am weitesten aus dem Wasser ragt?
Mir ist kalt, der eisige Wind, wenn er auch noch so schwach ist brennt sich in mein Gesicht. Ich schaue an mir hinunter, ich trage nur ein paar Stiefel, ein altes Kleid und einen dünnen Mantel. Die Haut die frei liegt ist durch gefroren und auch das Adrenalin schafft es nicht mich ein wenig zu wärmen.
Ich klammere mich an die Rehling als ein Geräusch ertönt welches ich nicht einmal beschreiben kann, ein Reißen, Ächzen und dann ein Knall. Ich kralle mich so sehr fest das es schon weh tut und das Heck klatscht ins Wasser. Ich bekommen eine gute Ladung des eiskalten Wassers ab und frage mich ob jemand schon jemals so gefroren hat wie ich in diesem Moment.
Dann merke ich wie das Heck sich langsam wieder aufstellt und im Grunde genommen weiß ich tief in meinem Inneren was passieren wird. Der Mann neben mir legt mir seine Rettungsweste an, da ich keine bekommen habe und wünscht mir viel Glück. Ich sehe ihm hinterher wie er versucht das Gleichgewicht zu halten und dann doch in den Atlantik stürzt.
Ich stelle mich auf die Rehling und springe ins eiskalte Wasser.
Welche Wahl habe ich denn?
Das Wasser fühlt sich an wie tausend Nadeln und ich kann für den Moment des Eintauchens nicht atmen.
Ich komme an die Oberfläche, huste das kalte Wasser aus.
Um mich herum sind so viele Menschen.
Sie schreien…
Sie weinen…
Sie wimmern…
Sie rufen…
Ich rudere wild mit meinen Armen und als ich ein paar Meter weit weg bin versinkt auch das Heck. Nichts ist mehr zu sehen. Ich sehe hoch zu den Sternen und beginne zu beten.
Alles was ich jetzt noch tun kann ist Gott anzuflehen mich zu verschonen…
Die Kälte kriecht in meine Glieder, versteift sie…
Ich versuche weiter zu schwimmen. Hin zu den Booten, deren Lichter ich am Horizont sehe. Ich versuche es wirklich, aber meine Arme und Beine schmerzen so sehr.
Immer wieder schlucke ich Wasser und huste es aus. Meine Haare sind vereist, sie tun mir weh wenn sie in mein Gesicht fallen. Es fühlt sich an als würde jemand meinen Kopf in einem Schraubstock gefangen halten.
Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Ich schwimme, nein ich treibe… und niemand kommt und reicht mir seine helfende Hand.
Die Schreie um mich herum werden leiser… das weinen und das wimmern verstummt.
Vorher war alles so laut um mich herum, so viele Menschen...
Jetzt ist es still, nur noch einzelne haben die Kraft zu rufen oder auf sich aufmerksam zu machen.
Wieder bete ich, ich bete zu Gott das er mich erlöst.
Ich will die Kälte nicht mehr spüren, ich will nicht das alles weh tut.
Ich mache meinen Frieden mit Gott, er nimmt mich zu sich und spendet mir die Wärme die ich so sehr brauche…
Mein neues Leben begann nicht als ich die Titanic betrat, ich ließ mein Leben nicht nur hinter mir. Als ich meinen ersten Fuß auf die Titanic setzte ahnte ich nicht das ich mein Leben im Atlantik verlieren würde.
Ich habe es verloren mit so vielen anderen zusammen…
Aber mir ist jetzt warm und das ist alles was zählt.
Ich muss nie wieder frieren!
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2012
Alle Rechte vorbehalten