2. August – 23:50
Sie schrie vergnügt auf. Lachend landete sie auf dem harten Boden. Aber es störte sie nicht, sie würde die blauen Flecke erst am nächsten Morgen bemerken und sich wahrscheinlich nicht mehr erinnern können, woher sie sie hatte. Genauso wenig würde sie sich daran erinnern können, dass sie nur noch Unterwäsche trug und einen wildfremden Jungen küsste. Ihr Lachen erstickte in einem weiteren stürmischen Kuss. Sie legte ihre Hand an seine Brust und warf ihren Kopf zurück, so dass ihre langen Haare durch die Luft flogen. Es war kalt und dunkel, aber das bemerkte sie ebenso wenig, wie alles andere auch. Ihre Schminke hatte schon lange den Halt verloren, Lippenstift klebte an seinem weißen Hemd, dass seinen Körper nur noch spärlich bedeckte. Und ihre Haarspangen, mit denen sie sich Stunden zuvor die Haare hochgesteckt hatte, würde sie auf dem Waldboden nie wieder finden. Er küsste sie erneut und begann nun ihren ganzen Körper mit Küssen zu bedecken. Ihr BH lag fast zerrissen und völlig verdreckt auf dem Boden, auf dem schon sein Hemd lag. Die Bierdose, die sie bis jetzt mit der linken Hand umkrallt hatte, rollte über den Boden und der herbe Geruch des Getränks verbreitete sich in der kühlen Nachtluft. Sie aber roch nur seinen süßlich Duft und tauchte ein in das Meer aus Farben und Gefühlen.
3. August – 10:15
Ein dumpfer Aufprall. Ein leises Aufstöhnen. Sie kauerte sich auf ihrem Teppichboden zusammen und zog die Decke über ihren Kopf. Ihre Füße waren eiskalt. Sie schauderte und tastete nach dem Nachtkästchen, um das Licht anzuschalten. Ihre Augen behielt sie geschlossen, während sie sich mühselig auf ihr Bett hinauf zog. Sie setzte sich an ihre Bettkante. Dann öffnete sie die Augen und stand im gleichen Moment auf. Obwohl sie die Augen geöffnet hatte und fest davon überzeugt war, dass sie das Licht angeschaltet hatte, sah sie nichts. Plötzlich fühlte sie sich, als hätte ihr jemand einen kräftigen Hieb auf den Hinterkopf verpasst, und sie taumelte nach hinten. Sie stöhnte erneut leise auf und versuchte, ihren Körper unter eigene Gewalt zu bringen. Sie öffnete die Augen und nahm eine verschwommene Version ihres Zimmers wahr. Sie musste lächeln. Trotz des unsäglich lauten Pochens in ihrem Kopf und dem grummeligen Gefühl im Bauch fühlte sie sich erstaunlich gut. Sie beschloss, noch ein wenig liegen zu bleiben. Ihre Mitbewohner schliefen oft bis in den späten Mittag hinein, und somit würde sich niemand nach ihr erkundigen. Sie hatte Zeit.
Als sich ihr Kreislauf wieder beruhigt hatte, stand sie langsam auf und ging ins Badezimmer, wobei sie sich – wie jeden Morgen – den rechten großen Zeh am Türrahmen stieß. Leise fluchend zog sie sich aus und stieg unter die Dusche. Das kalte Wasser tat ihr gut und machte sie wach. Sie wusch sich gründlich die stinkenden, dreckigen Haare, in denen noch das ein oder andere Eichenblatt hing und kratze sich die trockene Erde von Armen und Beinen.
Als sie sich selbst wieder riechen konnte, putzte sie sich die Zähne und kämmte ihr Haar. Ihr langes, schokobraunes Haar ließ sich wie Butter durchbürsten. Sie betrachtete sich im Spiegel und stellte fest, dass sie langweilig aussah. Sie warf einen Blick auf die Nagelschere, die auf der Kommode neben dem Spiegel lag, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Wild schnitt sie drauf los.
Eine dicke Strähne nach der anderen fiel auf die weißen Badezimmerfliesen und mit jeder Strähne, die fiel, fühlte sie sich besser und lebendiger. Als sie die Schere weggelegt hatte, schaute ihr ein freches Mädchen aus dem Spiegel entgegen, das von einem Ohr bis zum anderen grinste. Sie würde diesen Haarschnitt nicht bereuen. Niemals. Wieso sollte sie auch? Sie war jung und hatte Zeit Neues auszuprobieren. Niemand konnte sie dabei stören. Sie öffnete den Spiegelschrank und nahm das Haargel ihres Mitbewohners daraus. Sie nahm sich ein wenig davon und schmierte sich die klebrige Substanz so ins Haar, dass einzelne Strähnen wild vom Kopf abstanden. Sie sah aus wie ein zerrupfter Engel.
Zufrieden mit sich selbst und dem Ergebnis kehrte sie die abgeschnittenen Haare unter den Badezimmerteppich. Morgen war sie sowieso mit Putzen dran und würde es dann ordentlich wegmachen.
Dann ging sie in die Küche und machte sich einen Kaffee. Auf der Fensterbank saß ein Spatzenpaar, das sich liebevoll mit seinen Schnäbelchen neckte. Sie nahm den fertigen Kaffee, umschloss die Tasse mit beiden Händen und roch an ihm. Nach dem ersten Schluck beschloss sie, dass dies ein schöner Sonntag werden würde, legte den Kopf schief und schaute den Vögeln bei ihren Spielchen zu.
28. September – 17:30
Die Tür schlug hinter ihr zu und sie stürzte zur Toilette. Fast im selben Moment, in dem sie den Klodeckel öffnete, schmeckte sie auch schon den sauer-bitteren Geschmack im Mund und ihr wurde noch schlechter. Die Tür ging auf und eine junge Frau mit langen, blonden Locken, die sie mit einem breiten Haarreifen aus ihrem Gesicht hielt, trat ein. Die Frau kniete sich neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter, bis sie fertig gespuckt hatte.
„Danke.“
„Keine Ursache, Mia. Schon wieder zu viel gegessen?“
„Keine Ahnung, was los ist. Mir ist schlecht.“
„Trink erstmal was, und dann gebe ich dir etwas gegen die Übelkeit.“
Ein Gesicht lugte durch den Türspalt.
„Felix verzieh dich! Hier gibts nichts zu sehen!“ Das Gesicht verschwand.
Mia schenkte der jungen Frau ein weiteres dankbares Lächeln, bevor sie sich umdrehen musste und erneut erbach.
29. September – 03:45
Sie lag wach und konnte ums Verrecken nicht einschlafen. Was war los? Sie hatte Stine angelogen, als sie gesagt hatte, sie habe keine Ahnung, was mit ihr los sei. Aber ihr fehlte eine Erklärung für die Ursache. Seit vier Wochen war ihre Regel überfällig. Das war nicht normal. Mit jeder Minute wurde sie unruhiger. Wem sollte sie von ihrem Verdacht erzählen? Sie war doch erst siebzehn, war gerade erst mit der Schule fertig. Viel früher als andere. Sie wollte studieren und reisen und auf Partys gehen.
Wem könnte sie davon erzählen, ohne dass derjenige sie für doof oder schlampig halten würde?
Mit ihren Eltern hatte sie seit über einem Jahr nicht mehr geredet, war ja sogar in diese Wohngemeinschaft in einer anderen Stadt gezogen.
Sie hatte nicht viele Freunde. In der Oberstufe, in die sie nach ihrem Umzug gekommen war, hatte es nicht viele nette Mädchen gegeben. Und die Jungs waren alle versaut und idiotisch gewesen. Umso glücklicher war sie, als sie endlich ihr Abiturzeugnis in der Hand gehalten hatte und fertig war.
Es gab nur einen Menschen, dem sie davon erzählen konnte und wollte. Mia wusste nicht, ob es die richtige Entscheidung war, aber es blieb ihr nichts anderes übrig.
Ihr Großvater hatte in solchen Fällen immer Karl Kraus zitiert: „In zweifelhaften Fällen entscheidet man sich für das Richtige.“
Na hoffentlich, dachte sie und schlief ein.
30. September – 14:11
„Mia? Plus oder Minus?“
„Was… Stine, was davon heißt schwanger?“
Aber sie hörte die Antwort nicht mehr. Sie wusste sie sowieso schon. Es fühlte sich an, als würde sie nie wieder Luft holen können, dabei brauchte sie die nun umso mehr…
2. Oktober – 22:30
Es klopfte an der Tür. Als niemand antwortete trat Stine ein. Sie hatte zwei Tassen Tee dabei, schob die Tür mit ihrer Schulter zu und setzte sich zu Mia aufs Bett.
„Hey, starr nicht so an die Decke. Dein Blick lässt den Putz ja schon bald abbröckeln“, sagte sie. Beide wussten, dass kein Witz der Welt die Situation auflockern konnte. Keiner sagte etwas. Mia rührte sich noch immer nicht.
„Mia, so geht das nicht weiter. Du kannst hier nicht den ganzen Tag rumliegen. Lass uns doch darüber reden. Ich meine… Du musst kein Kind bekommen. Ich unterschreibe die Unterlagen für die Abtreibung. Felix unterstützt dich auch. Ich bin für dich da. Wir sind beide für dich da. Das Geld kriegen wir zusammen und vielleicht zahlt es ja auch die Krankenkasse. Wir regeln das schon. Keiner verlangt von dir den ganzen Aufwand. Wir machen das schon für dich und…“
„Ich behalte es.“
„Oh“, entfuhr es Stine. Sie atmete tief ein und nahm einen Schluck von ihrem Tee. Dann legte sie sich neben Mia aufs Bett.
Mia schaltete das Radio an, sie lauschten der Musik und blieben lange dort liegen.
„I was once like you are now
and I know that it’s not easy
To be calm when you’re found
Something going on,
But take your time, think a lot,
Think of everything you’ve got
For you will still be here tomorrow
But your dreams may not…”
28. Oktober – 17:30
„Und wenn es ein Junge wird?”
„Es wird ein Mädchen, und es wird Eva heißen.“
„Und wenn nicht?“
„Und wenn nicht… Und wenn doch? Stell das nicht in Frage!“
„Ich würde ihn Hans nennen.“
„Du kannst dein Kind ja Hans nennen und ihm später mal Lederhosen anziehen und ihm jodeln beibringen. Meins wird kein Hans.“
„Du bist die Mutter…“, seufzte Stine mit spielerischer Enttäuschung und Mia grinste.
31. Oktober – 23:57
Eine Welle der Gefühle überrollte die andere. Mal fühlte sie sich, als könnte sie Bäume aus dem Boden reißen und dann waren da plötzlich wieder diese Zweifel und die vielen Fragen.
Wer war der Vater? Wie war es passiert? Wann? Wo? Es gab viele Möglichkeiten, doch keine schien richtig zu passen. Sie kannte keinen Jungen, mit dem sie sich einlassen würde. Wahrscheinlich würde sie den Vater ihres Kindes nie kennen lernen. Vielleicht war es besser so. Vielleicht wollte sie gar nicht wissen, wer der Vater war. Ob ihr Kind wohl darunter leiden würde, keinen Vater zu haben? Sie betastete ihren Bauch, der sich schon sehr viel mehr wölbte, als noch letzte Woche. „Männer sind sowieso alle Arschlöcher. Merk dir das, Eva. Wir brauchen keinen Papa für dich.“
Doch sie dachte noch lange nach und schlief erst ein, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Jalousie fielen.
11. November – 21:12
Plötzlich war alles um sie herum ganz langsam. Sie lag auf dem Boden und hatte starke Kopfschmerzen. Etwas Warmes, Feuchtes lief über ihre Stirn. Sie konnte alles ganz deutlich erkennen. Den Mann, der auf sie zugelaufen kam, die Lichter, die überall funkelten und die Nacht erleuchteten. Der Schmerz verschwand, und ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit umgab sie. Sie konnte sich selbst dort unten liegen sehen, das Blut über ihre Stirn rinnend. Doch als sie es wegwischen wollte, gehorchte ihre Hand den Gedanken nicht mehr. Sie blieb reglos liegen, und zum Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit mischte sich Angst. Wie konnte sie so liegen bleiben? Sie begann, gegen das Schöne zu kämpfen, die wunderbaren Gefühle zu verdrängen und sich einen Weg zurück in ihren Körper zu bahnen, indem sie der Angst folgte, die stärker war als die Schmerzen, die sie daran hindern wollten, zurückzukehren.
13. November – 9:43
„Ich glaube, sie wacht auf. Oh Gott, Mia, oh Gott…“ Mia spürte, wie sich jemand laut schluchzend über sie beugte. Sie öffnete die Augen und sah verschwommen, wie Felix Stine sanft zurückzog und sie sich mit bebenden Schultern an seiner Brust ausweinte. Es dauerte eine Weile, bis sie realisiert hatte, wo sie sich befand.
Als ihr der beißende Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase stieg und die verschwommenen Bilder sich zu einem Krankenhauszimmer mit etlichen Blumen auf der Fensterbank zusammensetzten, erinnerte sie sich.
Der Aufprall, wie sie durch die Luft geflogen war, die Scherben und die Schmerzen. Plötzlich war alles wieder ganz nah bei ihr. Mit aufgerissenen Augen starrte sie Stine an, die sich ihr wieder zugewandt hatte.
„Was ist mit…“ Der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken, als Stine den Blick senkte und ihr Kopfschütteln in einen Rhythmus aus Mitgefühl, Trauer und Schmerz verfiel.
Es war Donnerstag, der 13. November und Mia hatte einen kleinen Teil von sich verloren, der ein Teil ihrer Seele und ein Teil ihrer Zukunft gewesen war.
Draußen flog ein Spatzenpaar vorbei, das spielerisch Bilder in den Himmel zu malen schien.
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2009
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