Prolog
Ein wenig müde starrte ich durch die Fensterscheibe des Autos und beobachtete die vorbeiziehende Landschaft. Es war bereits dunkel und am Himmel waren unzählige Sterne zu erkennen, von denen einer heller als der andere zu funkeln schien. Obwohl ich diesen Anblick sehr beruhigend fand, konnte ich nicht einschlafen. Das Motorgeräusch des Autos und meine Eltern - die sich gelegentlich unterhielten -, hinderten mich daran. Meinem kleinen Bruder hingegen, machte das Ganze überhaupt nichts aus. Seelenruhig saß er in seinem Kindersitz, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und die Augen fest geschlossen. Ich musste schmunzeln, als ich ihn da so liegen sah. Man konnte fast meinen, er sei das liebste Kind der Welt!
Während ich meinen Blick wieder nach vorne wand, hörte ich wie Dad mit Mum über das bevorstehende Wochenende sprach. Wir fuhren gemeinsam nach Chicago, um dort ein paar alte Verwandte zu besuchen. Am liebsten hätte ich auf diesen Trip verzichtet, aber da ich noch nicht volljährig war, musste ich – zum Leidwesen aller - mitkommen. Doch das Schlimmste war, dass sich die Fahrt dorthin ins unermessliche zog, was komischerweise keinem außer mir etwas ausmachte.
Ein wenig genervt versuchte ich es mir erneut bequem zu machen, um die restliche Fahrt unbeschwert zu überstehen.
Ich schloss meine Augen und stellte mir eine große Blumenwiese vor. Mum hatte mir einmal gesagt, dass ihr so etwas immer beim Einschlafen half. Ich bezweifelte zwar, dass das auch bei mir klappte, aber ich tat es trotzdem.
Auf der Wiese gab es die verschiedensten Blumen, in all ihren prachtvollen Farben. Bienen und Schmetterlinge flogen herum und entfachten ein leises Summen, welches sich plötzlich in einen großen Knall verwandelte. Ich hörte die panischen Stimmen meiner Eltern und das entsetzliche Weinen meines kleinen Bruders. Doch obwohl ich wusste, dass das nicht zu meinem Traum gehörte – oder vielleicht auch gerade deshalb –, traute ich mich nicht meine Augen zu öffnen.
Ich hielt sie fest geschlossen und hoffte, dass das alles möglichst schnell vorbei ging. Doch das Auto wollte einfach nicht zum Stillstand kommen. Erst als ich schließlich mit dem Kopf gegen etwas Hartes stieß, verschwanden auch meine letzten Wahrnehmungen. Ohnmächtig und verletzt lag ich nun dort, ohne zu wissen, dass mir das Schlimmste noch bevorstand.
Kapitel 1
– Today my life begins
Schwer atmend riss ich meine Augen auf. Zitternd und völlig durchnässt saß ich in meinem Bett und versuchte mich zu beruhigen.
Nur ein Traum. Du hast das nur geträumt
, dachte ich und spürte nach wenigen Minuten schließlich, wie sich mein Herzschlag wieder normalisierte. Obwohl mich dieser Albtraum schon seit 6 Jahren heimsuchte, konnte ich mich einfach nicht daran gewöhnen. Es fühlte sich jedes Mal so an, als würde ich das Ganze noch einmal durchleben. Auch wenn ich mittlerweile glaubte, damit abgeschlossen zu haben – manchmal quälten mich noch immer die schrecklichen Erinnerungen. Stück für Stück versuchten sie mich auf zu fressen, aber jedes Mal kämpfte ich mit aller Macht dagegen an. Ich wollte endlich vergessen oder zumindest verdrängen, was damals passiert war.
Mit neu gewonnenem Optimismus stieg ich schließlich aus dem Bett und machte mich auf den Weg ins Bad. Eine kalte Dusche brachte mich schnell auf andere Gedanken und machte mich gleichzeitig fit für den Tag.
Heute würde ich zum ersten Mal auf das neue College gehen und ich war gespannt, ob es mir genauso gut wie in Columbia gefallen würde. Dort hatte ich nämlich vor einer Woche noch zusammen mit meinem Bruder und meiner Oma gewohnt. Da ich aber endlich auf eigenen Beinen stehen wollte, hatte ich mich schließlich dazu entschlossen nach Summerville – einer kleinen Stadt in South Carolina – zu ziehen. Hier war alles ruhiger, gelassener, aber auch langweiliger. Doch dass es mir mit meinen neuen WG-Mitgliedern jemals langweilig werden würde, bezweifelte ich.
Schon wieder blockierte jemand das Bad.
„Wer auch immer da drin ist. Brauchst du noch lange?“ Ich klopfte zaghaft gegen die Tür, als Kayla mit einem Lächeln hinausgelaufen kam.
„Schon fertig“, sprach sie und überließ mir mit einem Handzeichen das freie Bad. Kopfschüttelnd bedankte ich mich bei ihr und betrat den kleinen Raum, in dem nur Platz für eine Dusche, eine Toilette und ein Waschbecken war. Weder eine Badewanne, noch eine Waschmaschine hätten hier je rein gepasst. Aber ich war zufrieden mit dem, was wir hatten. Niemand zog direkt beim ersten Mal in eine Villa, außer, es handelte sich um diese reichen Promikinder und zu denen wollte ich gewiss nicht gehören.
Als ich nach einer halben Stunde fertig war, lief ich noch einmal in mein Zimmer, um meine Tasche zu holen und machte mich dann auf den Weg zur Haustür. Währenddessen hörte Kayla fragen: „Willst du nicht noch mit uns Frühstücken?“
„Danke für das Angebot, aber ich bin leider schon etwas spät dran“, sprach ich, während ich noch schnell einen Blick in die Küche warf. Kayla und Tyson saßen zusammen am Frühstückstisch und hielten Händchen. Als sie jedoch bemerkten, dass ich am Türrahmen stand, zogen sie ihre Hände schnell wieder weg. Ich verstand zwar nicht, warum sie mir ihre Liebe verheimlichten, aber ich wollte auch nicht aufdringlich sein und nachfragen. Stattdessen schnappte ich mir kommentarlos ein Brötchen und ließ die beiden wieder allein.
Draußen wehte mir der kalte Winterwind entgegen, sodass ich meine Jacke automatisch bis oben hin zuknöpfte. Ich mochte diese Jahreszeit nicht besonders, aber sie hinderte mich trotzdem nicht daran glücklich zu sein. Seit dem Tod meiner Eltern war ich zum ersten Mal wieder zufrieden mit meinem Leben. Ich hatte das Gefühl endlich abschließen zu können, auch wenn mich nachts noch häufig Albträume heimsuchten. Tagsüber konnte ich diese Bilder verdrängen und nach vorne schauen, ohne ständig an die Vergangenheit denken zu müssen. Das war damals passiert war würde ich zwar nie richtig vergessen können, aber zumindest lernte ich endlich damit umzugehen.
Die Hände in den Taschen meines Mantels versteckt, lief ich nun in Richtung College. Heute begann ein neuer Lebensabschnitt, auf den ich mich schon seit Monaten freute. Endlich war ich eine unabhängige Person, die ihre Entscheidungen selbst treffen durfte. Keiner, der einem Ratschläge gibt oder in die Schranken weißt
, dachte ich und begann vor Glück zu lächeln. Zum ersten Mal nach langer Zeit kam dieses Lächeln von Herzen. Ich spürte es. Spürte – trotz der Kälte, der ich ausgesetzt war -, die Wärme in meinen Körper fließen. Völlige Entspannung und Gelassenheit.
Mein Blick fiel schließlich auf einen Starbucks Coffee Shop, der sich ganz in der Nähe des College befand. Es war wie ein Geschenk des Himmels, denn ich liebte Starbucks – ganz besonders zur Weihnachtszeit!
Vorsichtig betrat ich den Laden und sofort wurde ich von einer angenehmen Wärme umhüllt. Die Kälte von draußen schien längst vergessen und so gesellte ich mich zu den Leuten, die alle sehnsüchtig auf ihren Kaffee warteten.
Ein Mann mittleren Alters stand hinter mir und wippte nervös von einem Bein auf das andere, während seine Begleitung genervt die Augen verdrehte. Schnell sah ich nach vorne, um einen anderen Punkt im Raum zu fixieren. Mein Blick fiel auf einen Jungen Mann mit dunkelblonden Haaren, der gerade sein Getränk entgegen nahm. Irgendetwas an ihm kam mir verdammt bekannt vor, obwohl ich mir sicher war, ihm noch nie begegnet zu sein. Die Art wie er sich bewegte und sich dabei immer wieder umschaute, war mir auf unerklärlicher Weise vertraut. Als er plötzlich bemerkte, dass ich ihn beobachtete, bildete sich ein zaghaftes Lächeln auf seinen Lippen. Ehe ich diese Geste erwidern konnte, spürte ich auf einmal wie jemand zaghaft meine Schulter berührte. Erschrocken drehte ich mich um und starrte in das Gesicht des nervösen Mannes, der immer noch von einem Bein auf das nächste wippte.
„Würden Sie bitte aufhören zu träumen und endlich Ihre Bestellung abgeben“, sprach seine Begleitung wütend. Am liebsten hätte ich ihr die Meinung gesagt, doch stattdessen drehte ich mich freundlich zur Bedienung um und bestellte endlich meinen heiß ersehnten Kaffee.
„Darf es sonst noch etwas sein?“
„Nein, danke“, murmelte ich und machte mich auf den Weg zur Anrichte, um dort mein Getränk abzuholen.
Mit meinen kalten Händen umfasste ich den warmen Becher. Ein angenehmer Kaffeegeruch stieg mir in die Nase und ließ mich für einen Augenblick all die Menschen im Raum vergessen. Erst als plötzlich wieder das Gesicht des dunkelblonden Mannes vor mir erschien, wurde ich zurück in die Realität gezogen.
„Man sollte einen Kaffee nie ohne Zucker genießen“, sprach er und hielt mir ein kleines Beutelchen entgegen. Da ich nicht so recht wusste, was ich antworten sollte, nahm ich es dankend an. Wieder umspielte ein Lächeln seine Lippen, während seine blauen Augen mich neugierig beobachteten. Noch immer hatte ich das Gefühl ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben.
„Du hast recht, mit Zucker schmeckt es viel besser“, entgegnete ich und nahm erneut einen Schluck des Getränkes zu mir.
„Sag ich doch“, zwinkerte er. „Ich bin übrigens Chris.“
Chris.
Ich dachte ein paar Sekunden über seinen Namen nach, konnte ihn aber mit niemand Bestimmtes in Verbindung bringen. In Columbia gab es viele Jungs die so hießen, aber für keinen von ihnen hatte ich mich bisher sonderlich interessiert.
„Emily.“ Ich erwiderte seinen Händedruck, ließ jedoch ganz schnell wieder von ihm los. Die Berührung hatte ein Gefühl in mir ausgelöst, was ich nicht kannte. Ich empfand weder Angst, noch Zuneigung. Es war reine Vorsichtsmaßnahme, weil er mir – trotz dieser Vertrautheit – fremd erschien.
„Schöner Name“, sagte er schließlich und nippte an seinem Kaffee.
Ich räusperte mich verlegen und warf einen auffälligen Blick zur Eingangstür. „Danke. Ich muss dann jetzt auch los. Man sieht sich bestimmt noch mal.“
„Ja, hoffentlich“, murmelte er leise, während ich so schnell wie möglich an ihm vorbei lief. Erst als ich wieder draußen in der Kälte stand, begann ich über die Begegnung mit den jungen Mann aus Starbucks nachzudenken. Eigentlich war es offensichtlich gewesen, dass er ein Gespräch mit mir anfangen wollte und trotzdem hatte ich ihn auf eine stille Art und Weise abblitzen lassen. Ich wusste, dass allein dieses komische vertraute Gefühl daran Schuld war. Wenn ich nicht die ganze Zeit damit beschäftigt gewesen wäre, zu überlegen woher ich ihn kannte, dann wäre ich womöglich auf seine Unterhaltung eingegangen. Doch irgendwas in mir hatte mich davon abgehalten.
Kopfschüttelnd lief ich nun die letzten Meter zum College. Wäre er früher in Columbia auf meiner Highschool gegangen, dann hätten ihn wahrscheinlich alle Mädchen toll gefunden.
Er sah aus, wie einer dieser Männer aus den Modekatalogen
, dachte ich, während ich noch immer meinen Starbucks Coffee in den Händen hielt.
Warum war ich nicht näher auf sein Gespräch eingegangen? Auch wenn ich mich jetzt ein wenig über meine schlechte Taktik ärgerte, versuchte ich mich nicht weiter daran zu stören. Der erste Tag auf dem College stand mir noch bevor und ich war mir sicher, dass es dort ebenfalls ein paar nette Jungs geben würde.
Kapitel 2
– A whole new world is waiting
Langsam zog ich den WG Schlüssel aus meiner Hosentasche und hielt ihn ein paar Sekunden in meiner Hand. Noch einmal ließ ich den Tag in Gedanken Review passieren. So viele neue Eindrücke waren auf mich niedergeprasselt und ich konnte mich immer noch nicht entscheiden, welcher Moment mir davon am besten gefiel. Das College war viel kleiner als daheim in Columbia, dennoch hatte es sofort mein Herz erobert. Es schien wesentlich familiärer zu sein, weil sich hier fast alle untereinander kannten. Auch wenn ich an diesem Tag noch keine festen Freundschaften geschlossen hatte, wusste ich, dass ich mich dort wohl fühlen würde.
Mit einer gekonnten Handbewegung führte ich den Schlüssel in das Schlüsselloch, um endlich die warme Wohnung zu betreten. Doch als ich gerade dabei war die Tür zu öffne, kam mir schließlich Kayla zuvor. Mit einem Dauergrinsen im Gesicht, ließ sie mich herein. Sofort stieg mir ein angenehmer Kerzenduft in die Nase.
„Habt ihr es euch gemütlich gemacht?“, fragte ich schelmisch, während ich dabei war den obersten Knopf meines Mantels zu öffnen.
„Wie kommst du darauf?“ Kayla starrte mich völlig verdutzt an, was mich zum Kichern animierte.
„Na, der Kerzenduft?“, half ich ihr auf die Sprünge.
Und dein Dauergrinsen.
„Ach so, das. Ja, also...“
„Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ich habe schon verstanden“, sprach ich mit einem Augenzwinkern, während ich noch immer mit dem Öffnen meines Mantels beschäftigt war – das doofe Dingen klemmte mal wieder! „Keine Angst, ich werde euch natürlich nicht stören.“
„Warte!“ Sanft aber bestimmend hielt mich Kayla an der Schulter fest. „Du kannst den Mantel ruhig anlassen. Hier hast du ein bisschen Geld. Mach dir einen schönen Abend im Kino oder so.“ Sie wollte gerade die Haustür öffnen, doch ich konnte mich noch rechtzeitig davor stellen und sie fragen was das Ganze sollte.
„Ich habe gerade geschafft den letzten Knopf meines Mantels zu öffnen und jetzt soll ich ihn extra wieder anziehen, nur weil ihr beiden eure Ruhe haben möchtet?!“
„Ich weiß, du hast ein Recht darauf hier zu bleiben, aber können wir heute nicht mal eine Ausnahme machen? Hier hast du auch noch Geld für eine Tüte Popcorn.“
Während ich den Schein schließlich widerwillig annahm und ein paar Minuten betrachtete, spürte ich noch immer Kaylas Blick auf mir ruhen.
„Na gut“, sagte ich schließlich. „Aber bitte hört endlich auf eure Beziehung vor mir zu verheimlichen.“
„Tut mir Leid. Wir wollten nicht, dass du einen falschen Eindruck von uns bekommst. Zuerst waren wir nur gute Freunde, aber dann...“
„Ja ja, ich verstehe“, sagte ich lächelnd und knöpfte wieder meinen Mantel zu. Mit einer leichten Umarmung verabschiedete ich mich von Kayla und trat wieder hinaus in die Kälte.
Als ich mich ein paar Schritte von der WG entfernt hatte, wurde mir bewusst, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte, wo sich hier ein Kino befand. Ich kannte lediglich den Weg zum College und den sich daneben befindenden Starbucks Coffee Shop.
Sollte ich einfach jemanden nach den Weg fragen oder den Abend gleich dort verbringen?
Da ich mir noch nicht wirklich sicher war, beschloss ich mich einfach spontan zu entscheiden. Es war noch früh und wer weiß, was mich an diesem Tag noch erwartete.
Als ich Starbucks an diesem Abend betrat, war es wesentlich leerer als am Morgen. Keiner wippte nervös von einem Bein auf das andere. Niemand wurde von jemand anderem angefaucht, nur weil er sich falsch in die Schlange eingereiht hatte. Lediglich zwei Leute standen an der Anrichte und genossen ihren Kaffee. Einer davon war Chris, der dunkelblonde Mann mit den blauen Augen. Sofort entdeckte er mich und strahlte mir entgegen. Zaghaft nickte ich ihm zu, ehe ich zur Bedienung ging und mir mein Getränk bestellte.
„So sieht man sich wieder.“ Grinsend kam Chris auf mich zugelaufen und drückte mir erneut ein Päckchen Zucker in die Hand. „Nur für den Fall, dass du es wieder vergisst.“
„Danke, aber heute Abend möchte ich keinen Zuckerschock mehr erleiden.“
„Hattest du etwa schon mal einen?“ Mit weit geöffneten Augen starrte er mich an.
„Nein, aber nur für den Fall, dass ich einen bekomme.“
„Sehr witzig.“ Er legte das Päckchen zurück auf die Anrichte, woraufhin ich es mir sofort schnappte und in meinen Kaffee goss.
„War nur Spaß“, sagte ich schließlich.
„Hast du nach unserem Treffen noch einen Clown gefrühstückt oder wie kommt es plötzlich zu dieser Verwandlung?“, fragte er mich und schien gespannt auf eine Antwort zu warten. Seine blauen Augen funkelten und schon wieder überkam mich das Gefühl, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben.
„Du kennst mich halt nicht richtig. Heute morgen war ich einfach noch ein bisschen müde. Außerdem hat mich dieser nervöse Mann mit seiner unfreundlichen Begleitung genervt.“
„So so, du bist also ein Morgenmuffel.“ Chris begann zu lachen, was dem älteren Herrn neben uns nicht zu entgehen schien. Böse starrte er ihn an, als habe er ihn gerade bei etwas Wichtigem gestört.
„Vielleicht ein klitzekleines bisschen“, gab ich schließlich zu und fuhr dann auch gleich fort. „Aber sag mal; was machst du eigentlich schon wieder hier? Zu viel Kaffee ist nicht gut für die Gesundheit.“
„Genau dasselbe könnte ich dich fragen. Also...?“
Ich seufzte. Warum sollte ich mich ständig zuerst rechtfertigen, wenn er den Anfang genauso gut machen könnte. Doch als er mich – die Lippen zu einem Schmollmund verzogen – anblickte, konnte ich nicht widerstehen. Dieser Mann hatte mich bereits in seinen Bann gezogen, obwohl ich kaum etwas über ihn wusste – nur, dass er gerne Kaffee bei Starbucks trank!
„Na ja, wo soll ich anfangen? Eigentlich wollte ich nach der Uni nach Hause gehen und mich ausruhen, aber dann ließ sich mein blöder Mantel mal wieder nicht öffnen. Der letzte Knopf – es ist immer der letzte Knopf, der sich nicht öffnen lässt!“, schrie ich etwas zu laut und fuhr schnell in meiner normalen Tonlage fort. „Jedenfalls stand dann plötzlich meine WG Nachbarin vor mir und drückte mir einen Geldschein in die Hand. Sie hat mich aufgefordert noch ein bisschen fort zu bleiben. Und da ich nicht weiß, wo sich das Kino befindet, bin ich schließlich hier gelandet.“
„Wieso möchte deine WG Nachbarin dich loswerden?“, fragte Chris etwas verwirrt, nachdem ich meiner Erzählung beendet hatte.
„Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie verheimlicht mir etwas, weil sie Dreck am Stecken hat oder sie ist frisch verliebt in unseren WG Nachbarn. Und da ich Kayla und ihn schon erwischt habe, kommt wohl die zweite Möglichkeit eher in Frage.“
„Hm... und was machst du, wenn sie doch Dreck am Stecken hat? Immerhin scheinst du sie noch nicht wirklich gut zu kennen.“ Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Aber nein, das traute ich ihr nicht zu.
„Wieso interessiert dich das? Du könntest auch ein gefährlicher Dealer sein, schließlich kenne ich dich genauso wenig.“
„Stimmt“, gab er nach einer Weile des Schweigens zu.
Wie machte dieser Typ das bloß? Am Morgen war mir seine Nähe noch unheimlich gewesen und jetzt wollte ich ihn auf einmal nicht mehr missen?! Auch wenn mir diese Situation äußerst merkwürdig erschien, wollte ich nicht länger darüber nachdenken. Ich sah vielleicht nicht wie einer dieser Topmodels aus, aber trotzdem hieß das noch lange nicht, dass ich von all den gut aussehenden Männern ignoriert wurde. Okay, früher hatte ich es meist nur mit den durchschnittlichen Typen zu tun gehabt.
Doch hatte nicht jeder einmal Glück im Leben verdient?
Summerville war anders als Columbia, das spürte ich.
„Also?“
„Was also?“
Leicht genervt verdrehte ich meine Augen. „Was machst du heute Abend hier? Und jetzt komm mir nicht mit einer Kaffeesucht.“
„Und wenn das die Wahrheit ist? Na ja, gut, vielleicht bin ich nicht süchtig, aber ich liebe Starbucks. Hier ist es immer so schön warm.“
„Bist du ein Obdachloser?“ Die Frage ging so schnell über meine Lippen, dass ich mich gleich darauf schämte. Meine Wangen fingen an zu glühen und ich starrte verlegen auf mein Getränk.
„Du kommst auf Ideen. Vielleicht sehe ich nicht aus wie einer dieser reichen Schnösel von der Upper East Side, aber deshalb lebe ich noch lange nicht auf der Straße. Ich gehe auf eine Musikschule! Und um mir das leisten zu können, muss ich halt auf ein paar Sachen verzichten.“
Nein, du bist kein reicher Schnösel, aber dafür siehst du wesentlich besser aus
, dachte ich, während ich erneut an meinem Kaffeebecher nippte.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragte Chris und wedelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. Diese Geste brachte mich so durcheinander, dass ich mich plötzlich an dem heißen Getränk verschluckte und zu husten begann.
„Alles in Ordnung?“ Während ich noch immer damit beschäftigt war, laut nach Luft zu schnappen, war Chris mir schon zur Hilfe geeilt und klopfte mir nun sanft auf den Rücken. Nach ein paar Minuten konnte ich wieder frei durchatmen, was den Mann neben uns nicht sonderlich zu freuen schien.
„Kann man hier nicht mal seine Ruhe haben“, meckerte er und lief schnellen Schrittes an uns vorbei. Mit einem lauten Knall fiel die Eingangstür in Schloss und sofort fingen wir beide an zu lachen.
„Wenn er seine Ruhe haben möchte, soll er doch ganz einfach zu Hause bleiben“, sprach ich, während ich aus dem Augenwinkel sah, dass Chris mir nickend zustimmte. „Starbucks ist einfach nichts für alte verbitterte Leute.“
„Ey, meine Oma ist auch alt, aber nicht verbittert“, murmelte ich.
„Ausnahmen bestätigen die Regel.“
„Das stimmt. Und zu der Obdachlosen Sache: Ich habe dich keinesfalls für einen gehalten! Im Gegenteil! Ich frage mich viel mehr, warum so ein netter gut aussehender Typ an mir interessiert ist?“ Jetzt war es raus und ich war gespannt, was er nun antworten würde.
„Nett? Gut aussehend? Glaubst du nicht, du verwechselst mich da mit jemanden? Ich bin nur ein einfacher Musikschüler. Ein Wunder, dass du dich mit mir abgibst.“
„Sehr witzig.“ Ich räusperte mich ein wenig verlegen. Immer diese ständigen Angewohnheiten.
„Aber sag mal: Wie ist es so auf einer Musikschule?“
„Musikalisch.“
„Spielst du irgendein Instrument?“
„Gitarre“, platzte es sofort aus ihm heraus.
„Was für ein Zufall. Ich spiele auch Gitarre.“
„Jetzt echt? Dann musst du mir unbedingt mal etwas vorspielen. Kannst du auch singen?“
„Ja, aber nicht besonders gut“, gab ich leise zu und stellte den mittlerweile kalt gewordenen Kaffee auf die Anrichte.
„Das sagen alle Sänger am Anfang. Warum gehst du nicht auch auf die Musikschule?“
„Weil ich lieber Kunst studieren möchte.“
„Ach so, dann musst du mir unbedingt mal etwas zeichnen“, sprach er lächelnd und schon wieder überkam mich ein Gefühl der Vertrautheit. Obwohl wir uns an diesem Tag das erste Mal begegnet waren, schien es als würden wir uns schon Jahre lang kennen. Diese Erkenntnis machte mir jedoch keine Angst mehr. Im Gegenteil! Ich fand es schön hier bei ihm zu sein.“
„Ich studiere zwar Kunst, aber das heißt noch lange nicht, dass ich auch zeichnen kann. Es geht dort viel mehr um kulturelle Dinge, verstehst du?“
„Hm... also doch die Musik.“
„Das ist nur ein Hobby.“ Leicht genervt verdrehte ich meine Augen und dabei fiel mein Blick auf die große Wanduhr. Schon 22:30 Uhr.
„Ich glaube, ich gehe dann jetzt auch mal langsam. Es ist schon spät und ich muss morgen früh raus.“ Dass ich insgeheim auf seine Handynummer hoffte, verschwieg ich absichtlich.
War es nicht die Aufgabe der Männer, den ersten Schritt zu machen?
„Ja, du hast Recht. Ich habe ganz die Zeit vergessen.“ Er stellte ebenfalls seinen Becher auf die Anrichte und musterte mich noch einmal eingehend.
Wie verabschiedete man sich von einem Typen, den man erst seit einem Tag kannte? Es war eine äußerst komische Situation.
„Eigentlich würde ich dir jetzt meine Handynummer geben und dir sagen, dass ich mich so schnell wie möglich bei dir melden werde, aber da das schon unser zweites Treffen ist, halte ich es für angemessener, wenn wir es auf ein Drittes ankommen lassen.“
„Getreu nach dem Motto: Wenn das Schicksal will, sehen wir uns wieder?“ Verwirrt schüttelte ich in Gedanken meinen Kopf. Mit so einem Spruch hätte ich jetzt nicht gerechnet.
„Ja, so in etwa.“ Da ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte, ließ ich die kurze Umarmung mit ihm schweigend über mich ergehen.
Nur ein leises „Tschau“ brachte ich noch heraus, ehe er schließlich aus der Tür verschwand und mich alleine ließ.
Na toll. Was für ein genialer Plan.
Kapitel 3
– Leave the past behind me
Als ich zu Hause ankam und die WG betrat, war es verdächtig ruhig geworden. Die Kerzenlichter waren erloschen und es herrschte eine unheimliche Atmosphäre. Schnell lief auf mein Zimmer und schaltete dort das Licht ein.
Schon viel besser
, dachte ich, während ich mich erschöpft auf mein Bett fallen ließ. Zwar war dieser Tag sehr interessant gewesen, trotzdem wollte ich jetzt nur noch schlafen. Über die Erlebnisse konnte ich auch noch morgen in der Uni nachdenken und das Umziehen würde ich ebenfalls auf den nächsten Tag verschieben.
Müde schloss ich meine Augen und sofort sah ich Chris in Gedanken vor mir.
Was hatte er sich bloß bei dieser Schicksalssache gedacht? Glaubte er wirklich, dass wir uns noch einmal durch Zufall treffen würden?
Auch wenn ich seine Idee für absurd hielt, hoffte ich inständig, dass er Recht behielt und wir uns schon bald wieder sahen.
„Mami? Papi?“ Weinend umschlang er mit seinen kurzen Armen den großen Teddybären. Man konnte ihn kaum noch erkennen. Nur seine Hilfeschreie verrieten ihn. Langsam ging ich in die Hocke und zog an dem Teddybären. Seine tränen überstömten Augen musterten mich ängstlich.
Was sollte ich ihm jetzt sagen? Wie konnte man einen kleinen Jungen - der seine Eltern verloren hatte - beruhigen?
Ich schlang meine Arme um ihn und wiegte ihn einfach hin und her. Das Schaukeln beruhigte uns beide, dennoch spürte auch ich die Tränen in meinen Augen brennen. Sie wollten an die Oberfläche gelangen, an meinen Wangen hinunter fließen – doch ich kämpfte dagegen an! Ich durfte vor ihm keine Schwäche zeigen! Ich musste Stärke beweisen! Ein Vorbild für ihn sein!
„Bist du nicht traurig?“, fragte er mich plötzlich und wischte mit seinem Ärmel die kleinen Tränchen beiseite.
„Doch, natürlich bin ich das“, gab ich leise zu.
„Und wieso weinst du dann nicht?“
„Weil...“ Was sollte ich jetzt darauf antworten? Wie machte man seinem kleinen Bruder begreiflich, dass man für ihn da sein wollte? „Ich weiß es nicht.“
„Ich möchte, dass sie wiederkommen.“ Er begann erneut zu weinen und sofort nahm ich ihn in die Arme.
„Ich doch auch. Ich doch auch“, murmelte ich und wiederholte immer wieder diese drei Worte.
Nach einer Weile erschien eine Krankenschwester, die mich aufforderte wieder zurück auf mein Zimmer zu gehen. Seit ein paar Tagen waren wir nun in diesem Krankenhaus und schon bald würden wir entlassen werden. Keiner von uns beiden hatte größere Schäden davon getragen. Wir würden beide wieder gesund werden, während unsere Eltern den Unfall nicht überlebt hatten.
Wimmernd saß ich in meinem Bett. Die Arme hatte ich dabei um mich selbst geschlungen, was mir eine Art Sicherheit verschaffte. Dieser Traum, dieses Erlebnis war einer der schlimmsten Dinge in meinem Leben gewesen. Der Tod meiner Eltern hatte mich unbewusst verändert. Ab diesem Zeitpunkt musste ich Verantwortung übernehmen! Ich musste für meinen kleinen Bruder da sein, damit er nicht an dem großen Verlust zerbrach. Doch dass auch mich Nacht für Nacht Albträume quälten, wusste niemand. Selbst meiner Oma zeigte ich nicht, wie es mir wirklich ging.
Langsam hörte das Zittern in meinen Gelenken auf und ich konnte wieder tief durchatmen. Nach einer Weile warf ich einen Blick auf die Uhr und musste feststellen, dass es schon früh am Morgen war. In einer Stunde müsste ich an der Uni sein und somit lohnte es nicht mehr liegen zu bleiben. Doch bevor ich mich ins Bad begeben würde, entschloss ich mich dazu, meine Oma und meinen Bruder aus Columbia anzurufen. Aus irgendeinem Grund bereitete der Traum mir immer noch Sorgen, sodass ich mich vergewissern wollte, ob es den beiden gut ging.
„Hallo, Joshua hier“, hörte ich die zarte Stimme meines Bruders. Wie oft hatte ich ihm schon gesagt, dass er sich beim Nach- und nicht beim Vornamen melden sollte. Doch anstatt ihm eine Standpauke zu halten, begrüßte ich ihn lieber freundlich.
„Hey, Bruderherz. Ich wollte nur mal nachfragen, wie es euch geht?“
„Um 7:00 Uhr morgens?“, brummelte er, während ich mir vorstellte wie er sich verschlafen durch die dunklen Haare fuhr. Das tat er nämlich jeden Morgen!
„Na ja... Ich muss gleich zur Uni, und bevor ich es wieder vergesse und Oma sich aufregt, dass ich mich nicht genug bei euch melde...“
„Ja, ja, ich verstehe schon“, unterbrach mich Joshua leicht genervt. „Uns geht es gut, obwohl ich keine Lust auf Schule habe. Die Lehrer nerven!“
Ich begann zu lachen. Das war so typisch für meinen kleinen Bruder. Mit seinen mittlerweile 11 Jahren, kam er gerade in ein schweres Alter. Ich hoffte inständig, dass unsere Oma damit fertig werden würde.
„Was ist so lustig daran?“, fragte er.
„Nichts. Es freut mich einfach, dass es euch gut geht.“
„Und wie geht es dir?“ Ich konnte hören, wie er mit seinen nackten Füßen über den Paketboden lief – wahrscheinlich in Richtung Küche.
„Ganz gut. Der erste Tag war...“ Ich hielt kurz inne, weil mir nicht die richtigen Worte dafür einfielen.
„War was?“
„Sehr interessant gewesen“, beendete ich nun meinen Satz, woraufhin ich ein leises Kichern am anderen Ende der Leitung vernahm.
„Warum lachst du?“
„Du bist irgendwie komisch drauf.“
„Ich muss mich erstmal an die neuen Dinge hier gewöhnen“, gab ich ehrlich zu, während Joshua nur ein leises „Mhm“ von sich gab.
„Isst du gerade?“
„Oma ist noch am Schlafen und bevor ich hier verhungere...“ Laute Kaugeräusche waren zu hören, was für mich ein Zeichen war, das Telefongespräch nun zu beenden. Meinem Bruder ging es gut. Ich brauchte mir also keine Sorgen um ihn zu machen.
„Dann möchte ich dich auch nicht länger stören“, sprach ich schließlich und wieder gab er ein leises „Mhm“ von sich. „Also mach's gut.“
„Du auch“, murmelte er und dann war die Verbindung auch schon weg. Ein paar Minuten starrte ich noch auf den Hörer, ehe ich es schmunzelnd beiseite legte.
Was für ein kleiner süßer Wirbelwind.
- Eine Woche später -
Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge, sodass es mittlerweile schon Anfang Dezember war und die Weihnachtszeit sich nun vollends entfacht hatte. Überall sah man bunte Lichterketten an den Fenstern hängen, während vor den Haustüren unzählige kleine Weihnachtsdekorationen standen. Ich mochte diese harmonische Atmosphäre, denn in dieser Zeit schien die Welt völlig friedlich zu sein - als gäbe es keinen Krieg, keine Krankheiten und auch keine Tragödien.
„Zum Glück können wir uns gleich mit einem leckeren Glühwein aufheizen“, durchbrach Kayla plötzlich meine Gedanken. Nickend lächelte ich ihr zu und hackte mich bei ihr unter. Wir waren auf den Weg zum Weihnachtsmarkt, der sich ganz in der Nähe des College befand. Dort würden wir endlich einmal Zeit zum Quatschen haben, denn obwohl ich bereits seit über einer Woche in der WG wohnte, hatten wir noch keine richtige Zeit zum Reden gehabt. Ich wusste nur, dass Kayla und Tyson nun ein Paar waren, und dass sie auch keine Probleme mehr damit hatten, es mir offen zu zeigen. Oft erwischte ich sich knutschend in der Küche oder im Wohnzimmer, was mir häufig den Alltag erschwerte. Ich konnte mir ja schlecht einen Kaffee kochen, wenn sie gerade dabei waren Zärtlichkeiten miteinander auszutauschen.
„Hallo? Ist jemand anwesend?“
„Hm...“, brachte ich nur hervor und sah, wie Kayla mit ihren lila Handschuhen vor meinem Gesicht herumwedelte. „Was hast du gesagt?“
„Ob du vorher noch nach Starbucks möchtest?!“ Sie deutete auf mein Lieblingscafé, was in mir plötzlich ein alt bekanntes Gefühl hervorrief. Vor einer Woche hatte ich dort Chris kennengelernt, der mir gezeigt hatte, dass man seinen Starbucks Coffee nie ohne Zucker genießen sollte.
Ich musste schmunzeln, doch gleichzeitig verspürte ich einen leichten Stich in meinem Herzen. Seitdem war ich ihm nicht mehr begegnet!
„Ja, warum nicht“, antwortete ich nach einer Weile des Schweigens und wir betraten den warmen Laden. Der vertraute Kaffeegeruch stieg mir in die Nase und sofort fiel mein Blick auf die lange Warteschlange. Es waren noch mehr Leute als sonst anwesend.
„Möchtest du dich da wirklich anstellen?“, fragte Kayla mich. „In der Weihnachtszeit kann man besser andere Cafés besuchen gehen.“
Obwohl ich wusste, dass sie Recht hatte, wollte ich mich kurz in die Reihe eingliedern. Irgendwo muss er doch sein.
„Hast du mir überhaupt zugehört? Hier kommst mindestens erst in einer halben Stunde dran.“
„Ja, ich weiß“, murmelte ich.
„Und warum hast du dich dann angestellt?“ Ich spürte Kaylas misstrauischen Blick auf mir ruhen, doch daran ließ ich mich nicht stören. Wieder wanderte mein Blick durch die Menge, aber nirgendwo war eine Spur von ihm.
Dabei sticht er doch aus jeder Menschenmasse heraus
, dachte ich, während ich mir eingestehen musste, dass er wahrscheinlich gar nicht hier war. Tz, von wegen alle guten Dinge sind drei!
„Na gut. Dann mach, was du willst. Ich warte draußen auf dich.“ Meine WG Nachbarin entfernte sich von mir und sofort folgte ich ihr hinaus in die Kälte.
„Ich dachte, du wolltest dir einen Starbucks Coffee kaufen.“
„Ich hab es mir anders überlegt“, sprach ich achselzuckend, was Kayla nur noch mehr zu verwirren schien. Dennoch fragte sie nicht weiter nach und wir machten uns auf den Weg zum Weihnachtsmarkt.
Der Geruch von Glühwein und frischen Plätzchen stieg mir in die Nase. Überall standen Leute herum, unterhielten sich oder betrachteten einfach nur die wunderschön geschmückten Stände.
„Schau mal!“ Kayla zeigte auf einen Schmuckstand und lief auch sogleich freudig darauf zu. In den Händen hielt sie eine überdimensionale Kette, die eigentlich nur junge Leute aus der Hip-Hop-Szene trugen.
„Gefällt es dir nicht?“, fragte sie schließlich, da ich anscheinend keine sonderlich begeisterte Miene aufgesetzt hatte.
„Ist Geschmackssache, würde ich sagen.“
„Hm... Ja, du hast Recht. Ist auch viel zu teuer“, sprach sie und legte das gute Stück wieder zurück auf seinen Platz.
Ich seufzte. Meine WG Nachbarin war zwar ganz nett, aber richtig enge Freunde würden wir wahrscheinlich nicht werden. Bei Chris war das anders gewesen. Trotz dieser kurzen Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, spürte ich eine viel stärkere Verbindung zu ihm. Er fehlte mir.
„Alles in Ordnung?“ Wieder sah Kayla mich aus einer Mischung von Besorgnis und Misstrauen an.
„Ja, es ist nur...“, wollte ich sagen, als mein Blick auf einmal auf das Kino am Ende des Weihnachtsmarktes fiel. Warum war ich da nicht eher drauf gekommen?
„Ja?“
„Weißt du, ob das Kino heute geöffnet hat?“
„Ich denke schon. Warum? Willst du etwa einen Film schauen?“
„Nein, nein“, sprach ich leicht nervös. „Ich möchte nur eben was nachschauen gehen. Bin gleich wieder da.“ Ich ließ eine völlig verdutzte Kayla dort stehen, aber das war mir in diesem Moment egal. Vielleicht befand sich Chris in diesem Kino, denn immerhin hatte ich es kurz in seiner Gegenwart erwähnt. Es war absurd, doch es konnte ja sein, dass er mich diesmal dort antreffen wollte.
Aber aus welchem Grund
, dachte ich und blieb abrupt vor dem Eingang stehen. Seit einer Woche hatte ich nicht mehr Starbucks betreten, weil mir morgens einfach die Zeit dafür fehlte. Wahrscheinlich hat er jeden Tag auf mich gewartet und war es heute einfach Leid noch einmal her zu kommen.
Traurig starrte ich auf das große Kinoschild, als plötzlich jemand meine Schulter berührte und ich mich erschrocken zu dieser Person umdrehte.
Kapitel 4
– The first time
Erschrocken drehte ich mich zu der Person um, die mir soeben zaghaft auf die Schulter getippt hatte. Ich rechnete fest damit, dass es sich um Kayla handelte, die mir unauffällig gefolgt war, weil sie unbedingt wissen wollte, was es so Interessantes im Kino zu sehen gab. Doch zu meiner großen Verwunderung stand jemand völlig anderes vor mir. Seine blauen Augen strahlten mir fröhlich entgegen und stellten alles andere in den Schatten – sogar den hell beleuchteten Weihnachtsmarkt, der sich hinter uns befand. Seine Lippen formten sich erst zu einem leichten Lächeln und als ich dieses langsam erwiderte, begann er schließlich breit zu grinsen. Es war genau dasselbe Lächeln, was er mir vor einer Woche bei Starbucks geschenkt hatte. Mein Herz begann ganz plötzlich schneller zu schlagen.
„Du hier?“, brachte ich schließlich mit piepsiger Stimme hervor.
„Nicht nur ich. Anscheinend hatten wir beide denselben Gedanken, was?“ Seine Worte brachten mich zum Schmunzeln, denn diese Antwort war so typisch für ihn.
„Ja, dabei hab ich gedacht, ich würde dich eher im Kino vorfinden.“ Ich deutete mit der Hand auf das Gebäude vor uns, während Chris nicht so recht zu wissen schien, was ich damit meinte. Es war ja auch absurd gewesen, zu glauben, er könnte dort auf mich warten.
„Klingt bescheuert, oder?“
„Nein, ganz und gar nicht.“
„Na ja, jedenfalls...“ Ich hielt inne, weil ich nicht wusste, wie ich ihm das Ganze erklären sollte, ohne dass er mich hinterher für bescheuert hielt. „Ich hab dich ja letztens gefragt, ob es hier auch ein Kino gibt und weil du heute nicht bei Starbucks warst, dachte ich...“
„Da dachtest du, ich könnte eventuell im Kino auf dich warten, stimmt's?“
Zur Bestätigung nickte ich nur mit dem Kopf, denn zu mehr war ich in diesem Moment nicht fähig gewesen. Ich spürte schon wieder wie mir die Röte ins Gesicht stieg, doch zum Glück konnte ich mich mit meinem großen Schal ein wenig verstecken.
„Das ist irgendwie... süß von dir.“
„Tut-tut mir leid, dass ich die ganze Woche nicht bei Starbucks war. Ich hatte so viel zu tun, wegen der Uni und so.“
„Ach, macht doch nichts. Obwohl ich am Anfang schon ein bisschen enttäuscht war. Ich dachte nämlich, du seist genauso Kaffee süchtig wie ich.“ Chris begann zu lachen, was mich noch ein bisschen mehr verunsicherte. Aus irgendeinem Grund bekam ich in seiner Nähe plötzlich weiche Knie.
„Ja, das bin ich wahrscheinlich auch“, gab ich kleinlaut zu.
„Wir können uns ja einen Kaffee holen, um unsere Sucht ein wenig zu stillen.“
Ich wollte noch etwas erwidern, als ich sah wie Kayla und Tyson auf uns zugelaufen kamen. Eng umschlungen schlenderten sie durch den Schnee, der unter ihren Schuhen leise knirschte. Es war ein Geräusch, das ich mochte, denn es erinnerte mich an meine Kindheit. Damals – als meine Eltern noch lebten!
„Hey, ihr beiden.“ Kayla ergriff zuerst das Wort – so wie sie es meistens tat – und redete dann unbeirrt weiter. „Ich hoffe, wir stören euch nicht. Ich hatte mir ein bisschen Sorgen gemacht, weil du solange weggeblieben bist, aber wie ich sehe gab es dafür keinen Grund.“ Sie musterte erst mich und dann Chris, ehe sie schließlich zu Grinsen begann. „Ich bin Kayla.“
„Chris.“
„Nett dich kennenzulernen. Das ist mein Freund Tyson.“ Während die beiden Männer sich die Hand gaben, fing meine WG Nachbarin schon an mich mit Fragen zu löchern. „Seit ihr ein Paar? Du hast mir gar nicht erzählt, dass du einen Freund hast.“
„Er ist nicht mein Freund!“
„Er sieht ziemlich gut aus.“
„Ja, aber trotzdem sind wir nicht zusammen“, sprach ich leicht genervt, versuchte mich aber zu beherrschen, da ich keine unnötige Diskussion hervorrufen wollte.
„Keine Sorge, ich hab ja Tyson. Aber zu dir würde er gut passen.“
„Wir sind kein Paar!“
„Was nicht ist, kann ja noch...“, wollte Kayla sagen, ehe sie auf einmal von ihrem Freund unterbrochen wurde. Ich hätte ihn in diesem Moment dafür knutschen können. Manchmal konnte seine Freundin ganz schön neugierig sein.
„Wie wärs, wenn wir einen Glühwein trinken gehen?“
„Oh ja, Schatz, das ist eine gute Idee.“
„Na dann, mal los.“ Chris und ich folgten den beiden, hielten währenddessen jedoch ein bisschen Abstand. Ich hoffte inständig, dass er keinen falschen Eindruck bekam.
„Tut mir Leid. Ich habe dir ganz vergessen zu sagen, dass ich nicht alleine auf dem Weihnachtsmarkt war. Also eigentlich waren nur Kayla und ich dort... Tyson ist wahrscheinlich nachgekommen.“
„Das macht doch nichts. Ich mag deine WG Mitglieder. Nicht so sehr wie dich, aber ich mag sie.“ Seine Worte kamen nur als ein Flüstern herüber, deshalb glaubte ich zuerst mich verhört zu haben. Doch als sich unsere Blicke trafen, wusste ich, dass ich mir den letzten Satz nicht eingebildet hatte. Er meinte es wirklich ernst.
„Warte erstmal ab, bis ich was getrunken habe, dann änderst du deine Meinung bestimmt wieder. Selbst ein Glühwein steigt mir schon zu Kopf.“
„Tatsächlich?“ Skeptisch sah er mich an. „Das kann ich mir bei dir gar nicht vorstellen.“
„Du kennst mich halt noch nicht gut genug“, zwinkerte ich und gesellte mich nun zu meinen WG Nachbarn, die sich bereits ein Getränk bestellten.
„Dann erzähl mir von dir.“
„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, antwortete ich achselzuckend. Auch wenn das nicht ganz stimmte, versuchte ich so wahrheitsgemäß wie möglich zu klingen. Er sollte nicht wissen, dass ich mit 14 Jahren meine Eltern verloren hatte und seitdem unter ständigen Albträumen litt. Vielleicht würde ich ihm irgendwann davon erzählen, aber heute war einfach nicht der richtige Tag dafür.
„Na schön, dann werde ich dich einfach solange mit Fragen löchern, bis ich alles über dich in Erfahrung gebracht habe“, sagte er und reichte mir den Glühwein. Dankend nahm ich das heiße Getränk entgegen und nippte daran. Ich war es nicht gewohnt, dass sich ein Mann so für mich interessierte. Die meisten Dates, die ich gehabt hatte, endeten schon nach einer Stunde mit den Worten „Ich werde mich bei dir melden“. Jedoch ging dies schlecht, wenn sich keiner dieser Männer vorher meine Handynummer notiert hatte.
Ich seufzte leise. Wer garantierte mir, dass es bei Chris nicht genauso war? Schließlich wollte er meine Nummer bisher auch noch nicht haben.
„Was denkst du gerade?“
„Wie bitte?“
„Na, was du gerade denkst?“
„Das möchtest du gar nicht wissen“, flüsterte ich und sah beschämend zur Seite. Kayla zwinkerte mir aufmunternd zu und widmete sich dann wieder Tyson. Manchmal bewunderte ich es, wie locker sie mit den Dingen umging.
„Wenn ich es nicht wissen wollen würde, hätte ich dich nicht gefragt.“
„Stimmt!“
„Also?“
„Ich... ich hab mich gewundert, warum du heute noch nicht nach meiner Handynummer gefragt hast. Immerhin ist das bereits unser drittes Treffen“, murmelte ich unter zusammengebissenen Zähne und nahm schnell wieder einen Schluck des Glühweins zu mir.
„Ist dir das etwa so wichtig? Ich dachte ihr Frauen mögt es nicht, wenn wir Männer direkt aufs Ganze gehen?“
„Da muss ich ihm recht geben“, mischte Kayla sich plötzlich ein, was mich nur noch mehr in Verlegenheit brachte. Auch wenn ich gerne etwas mit ihr unternahm, manchmal konnte sie ganz schön anstrengend sein.
„Verbündet euch nur.“ Schmollend drehte ich mich um und verschränkte die Arme vor der Brust - da hörte ich Tyson auch schon lachen. „Jetzt habt ihr sie verärgert.“
„Ach, Quatsch. Emily weißt genau, wie wir das meinen.“ Ja, das wusste ich und trotzdem wollte ich die beiden ein bisschen zappeln lassen. Was hätte ich in dieser Situation auch sonst machen sollen?
„Du bist doch nicht wirklich verärgert, oder?“ Chris hatte sich zu mir gewandt und eine Hand auf meine Schulter gelegt. Warum brachte er mich heute so durcheinander?
„Nein, natürlich nicht. Es ist nur... Noch nie hat ein Mann nach meiner Handynummer gefragt. Ich dachte, ich sei dir egal.“
„Wenn du mir egal wärst, dann wäre ich wohl kaum hier. Um ehrlich zu sein, war ich die ganze letzte Woche bei Starbucks und habe auf dich gewartet. Ich wollte heute wieder dorthin, doch dann habe ich dich ja zufällig vor dem Kino getroffen.“
„Tz... und da sag noch einmal, du vertraust dem Schicksal.“ Gespielt beleidigt verdrehte ich meine Augen, ehe Chris mich etwas näher zu sich heranzog. Noch nie hatte ich ihm so genau ins Gesicht gesehen wie jetzt. Er war schön – wunderschön!
„Dem Schicksal vielleicht nicht, aber dir. Ich wusste, dass du noch einmal herkommen würdest.“
„Nur leider eine Woche zu spät.“
„Sag so etwas nicht. Wir haben uns immerhin heute wiedergesehen.“
Ein Lächeln bildete sich auf meinen Lippen. „Ja, das stimmt.“
Mit einer großen Popcorntüte bewaffnet, lief ich durch den überfüllten Kinosaal. Es dauerte eine Weile, bis ich meinen Platz endlich gefunden hatte und mich dort erleichtert niederlassen konnte. Auch Chris war froh, dass wir jetzt endlich saßen und den Film genießen konnten.
Nachdem wir unseren Glühwein leer getrunken hatten, hatten wir uns von Kayla und Tyson verabschiedet und beschlossen noch ein wenig ins Kino zu gehen. Es war bereits früher Abend und zu dieser Zeit konnte man sich – laut Chris – am besten Filme anschauen. Ich selbst fand es für diese Uhrzeit zwar noch ein bisschen voll, aber das war keine Sache, die mich besonders stark störte. Das einzige, was mich manchmal nervte, waren kleine Kinder, die jede Szene mit einem „Ah“ oder „Oh“ kommentieren mussten. Zum Glück befanden sich in unserem Kinosaal hauptsächlich erwachsene Leute.
„Hoffen wir mal, dass deine Auswahl die Richtige war“, durchbrach Chris schließlich die Stille und griff nach ein paar Popcorn, die er sich genüsslich in den Mund schob.
„Natürlich oder denkst du etwa, wir Frauen haben keinen Filmgeschmack?“
„Na ja...“
„Das ist so typisch. Finger weg“, zischte ich leise, während ich die Tüte ein wenig nach links schob, sodass Chris nicht an die Popcorn herankam.
„Du bist gemein.“ Er machte einen Schmollmund und setzte seinen Dackelblick auf. Es war schwer ihm zu widerstehen und nach wenigen Sekunden wurde ich auch schon schwach. Was machst du nur mit mir? All die Jahre habe ich unter einer Maske gelebt. Ich habe nur dann gelacht, wenn es nötig war - habe den Menschen nie meine wahren Gefühle offenbart. Und jetzt? In deiner Nähe bin ich so anders. Ich fühle mich irgendwie... glücklich!
„Alles in Ordnung?“ Chris plötzlich Frage brachte mich wieder zurück in die Realität. Er hatte sich die Popcorntüte geschnappt und wedelte damit vor meinem Gesicht herum.
„Ja, ich denke schon.“
„Das klingt aber nicht gerade überzeugend.“
„Es ist kompliziert.“
„Möchtest du drüber reden?“ Ich wusste, dass ich ihm vertrauen konnte, aber dieser Ort war einfach nicht der Richtige für ein derartiges Gespräch.
„Später vielleicht.“
„Kein Problem. Ich kann warten.“ Mit diesen Worten ließ er sich tiefer in den Sitz sinken und starrte auf die Leinwand. Eine Weile beobachtete ich ihn dabei, ehe auch ich meine Aufmerksamkeit schließlich dem Film widmete.
Während der gesamten Zeit hatten wir kein einziges Mal ein Wort miteinander gewechselt. Schweigend hatten wir in unseren Sitzen gesessen, den Kopf zur großen Leinwand geneigt und gelegentlich ein paar Popcorn zu uns genommen. Es lag nicht daran, dass mich die Geschichte des Filmes so sehr fesselte. Eigentlich wusste ich noch nicht einmal, worum es dort überhaupt ging. Nein, es war viel mehr Chris, an den ich die ganze Zeit denken musste. Seine Anwesenheit brachte mich völlig durcheinander und es gab nichts, was ich dagegen hätte tun können.
Als sich der Film schließlich dem Ende zuneigte, hörte ich Chris erleichtert seufzen. Sofort wanderte mein Blick zu ihm, doch komischerweise starrte er immer noch gebannt auf die Leinwand. Machte er das etwa absichtlich oder bemerkte er nicht, dass ich ihn beobachtete? Für einen Moment fühlte ich mich wie gelähmt – unfähig mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Erst als er sich schließlich zu mir umdrehte, konnte ich wieder richtig durchatmen. Unsere Blicke trafen sich so unverhofft, dass wir beide ganz schnell wieder woanders hinsahen. War es möglich, dass ihn die ganze Situation genauso überforderte wie mich?
Ich schüttelte in Gedanken meinen Kopf. Dieser Mann wurde doch bestimmt täglich von jungen Frauen umgarnt. Warum sollte ihn also ausgerechnet ein so unscheinbares Mädchen, wie ich es war, aus der Fassung bringen?
„Der Film...“, wisperte ich schließlich mit krächzender Stimme, „war ganz okay, oder?“
„Wenn man davon absieht, dass es ein reiner Frauenfilm war, dann schon. Ja.“ Aus irgendeinem Grund kam es mir so vor, als habe er den Film ebenfalls nicht richtig wahrgenommen. Natürlich konnte ich mich auch täuschen, aber seine unsichere Art machte ihn ein wenig verdächtig.
„Schade, dass es schon vorbei ist.“
„Findest du?“
„Ja, eigentlich schon.“ Seine Frage verwirrte mich ein wenig, aber ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. „Also wenn man von dem ganzen Frauenzeugs absieht.“
„Ehrlich gesagt, hatte ich die ganze Zeit nur eine Frau vor Augen“, sprach er, woraufhin ich angestrengt darüber nachdachte, wer denn noch mal die Hauptdarstellerin in dem Film gewesen war. Leider kam ich einfach nicht drauf.
„Ja, sie hat ihre Rolle wirklich gut gespielt.“
„Von wem redest du?“
„Na, von der Schauspielerin. Wie hieß sie gleich noch mal?“
Plötzlich begann Chris zu lachen – so laut, dass sich einige Leute aus der vorderen Reihe zu uns umdrehten. Doch diese Tatsache schien ihm völlig egal zu sein. „Was ist bitteschön so witzig daran?“
„Du bist einfach zu süß. Dir ist schon klar, dass ich von dir gesprochen habe.“
„Von mir?“, fragte ich leicht irritiert.
„Ja, von dir.“
„Aber...“ Ich wollte noch etwas hinzufügen, doch plötzlich hatte Chris sich zu mir geneigt. Seine Lippen waren nur ein paar Zentimeter von meinen erfährt. Ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren. Überall breitete sich eine angenehme Gänsehaut bei mir aus.
„Schweig.“ Er hatte seinen Finger auf meinen Mund gelegt, während er ganz langsam seine Augen schloss. Automatisch tat ich dasselbe und wenige Sekunden später konnte ich seine Lippen auf meinen spüren. Auch wenn wir uns erst seit einer Woche kannten – und uns in dieser Zeit nur drei Mal gesehen hatten – fühlte es sich richtig an. Wenn ich ehrlich war, wollte ich ihn schon beim ersten Treffen küssen. Nicht, weil ich mich sofort in ihn verliebt hatte, sondern, weil ich mich bei ihm einfach nur sicher fühlte. Er war mir von Anfang an so vertraut gewesen, als wären wir uns vor vielen Jahren schon einmal begegnet.
Kapitel 5
– Winter Wonderland
Es war Sonntagmittag und ich saß in meinem Zimmer, um für die Uni zu lernen. Draußen hatte es angefangen zu schneien und sofort musste ich an meinen Bruder denken, der bei diesem Anblick wahrscheinlich sofort zum Fenster gelaufen wäre. Seit er klein war, mochte er den Schnee. Er liebte es Schneemänner zu bauen und Rodeln zu gehen. Auch wenn ich mich damals oft über die Kälte beschwert hatte, freute ich mich jedes Mal aufs Neue, wenn wir hinaus in die weiße Winterlandschaft traten. Genau das vermisste ich zurzeit am meisten. Seine kleinen Schneeengel und die glühend roten Wangen, wenn es wieder zurück ins Warme ging. Oma hatte für uns dann immer einen heißen Kakao bereitgestellt, den wir genüsslich zu uns nahmen.
Nie hätte ich gedacht, dass die Sehnsucht nach zu Hause so schmerzlich sein könnte. Doch jetzt, zur Weihnachtszeit, war es fast unerträglich.
Ich vermisse dich, Bruderherz.
Da ich mich nur mit größter Mühe auf die Arbeit konzentrieren konnte, stand ich schließlich auf und lief zum Fenster. Ich machte es mir auf dem Fenstersims gemütlich und beobachtete die fallenden Schneeflöckchen. Einige waren so klein, dass es für mich schwer zu begreifen war, wie daraus eine so riesige Schneelandschaft werden konnte. Schon gestern Abend, nach dem Kinobesuch, hatte es ein wenig zu schneien begonnen und jetzt schien so, als würde es nicht mehr aufhören - als wolle jemand dafür sorgen, dass wir dieses Jahr endlich einmal wieder weiße Weihnachten bekamen. Augenblicklich musste ich an gestern denken. Chris, wie er mir einfach so einen zärtlichen Kuss auf die Lippen gedrückt hatte, ohne, dass ich mich dagegen wehren konnte. Doch hätte ich das überhaupt getan? Nein! Ich wollte ihn in diesem Moment genauso sehr spüren wie er mich und trotzdem bereute ich diesen Kuss jetzt ein wenig. Wir kannten uns kaum, waren einander völlig fremd.
Warum fühle ich mich zu ihm so hingezogen?
Auch wenn ich diese Frage nicht beantworten konnte... der Abend gestern war schön gewesen. Der schönste seit langem!
„Es...“ Chris hatte seine Lippen von meinen gelöst und starrte mich völlig verblüfft an. Wahrscheinlich wusste er selbst nicht so genau, was da eben mit uns geschehen war. Es gab auch keine Erklärung dafür, denn es war einfach passiert.
„Wir sollten jetzt besser gehen, meinst du nicht?“ Erst jetzt hatte ich bemerkt, dass der Großteil der Zuschauer den Kinosaal schon verlassen hatte. Nur in der letzten Reihe saßen noch ein paar Mädchen, die sich kichernd unterhielten.
„Ja, du hast recht. Gehen wir!“, antwortete Chris mit belegter Stimme und ich folgte ihm zum Ausgang.
Draußen wehte uns ein kalter Wind entgegen und als wir hinauf zum Himmel blickten, sahen wir, dass es schneite.
„Wie schön das ist“, murmelte ich, während ich automatisch meine Hand öffnete, um ein paar Schneeflocken zu fangen. Wenige Sekunden später waren diese jedoch geschmolzen.
„Ich liebe den Schnee.“
„Mein Bruder auch.“
„Du hast einen Bruder?“ Ich nickte. Diese Frage bestätigte mal wieder, wie wenig wir eigentlich voneinander wussten. „Er ist jetzt 11 Jahre. Früher – als er noch kleiner war – sind wir immer zusammen Rodeln gegangen.“
„Und das hat dir nichts ausgemacht?“
„Nein, er ist immerhin mein einziges Geschwisterchen.“
„Und dein Dad? Ich mein... so etwas ist ja meistens eine Vater-Sohn-Sache.“ Ich musste schlucken, als er dies sagte. Wie recht er doch hatte, und trotzdem konnte ich ihm den wahren Grund nicht erzählen. Zumindest jetzt noch nicht!
„Joshua – so heißt er – unternahm lieber etwas mit mir.“
„Ach so, verstehe.“ Einen Moment schwieg Chris, ehe er schnell mit einem anderen Thema fortfuhr. Auch wenn er keine Ahnung hatte, dass unsere Eltern nicht mehr lebten, so verstand er dennoch, dass ich noch nicht bereit war über dieses Thema zu reden. „Ich hoffe, ich habe dich vorhin im Kino nicht überrumpelt. Ich wollte keinesfalls aufdringlich sein.“
„Nein, das hast du nicht. Es war wirklich schön... also der gesamte Abend, meine ich.“
„Ja, das fand ich auch.“ Chris sah kurz hinauf zum Himmel, ehe er sich wieder an mich wand und sagte: „Schade, dass heute keine Sterne zu sehen sind.“
„Dafür schneit es doch.“
„Ja, das stimmt.“
„Man kann nicht alles haben, weißt du. Es gibt keine perfekten Dinge. Mal läuft es so und im nächsten Augenblick wieder so. Wir müssen das akzeptieren“, sprach ich traurig, versuchte mich jedoch zusammenzureißen.
„Wenn alles perfekt laufen würde, wäre das Leben auch viel zu langweilig.“ Ich konnte in Chris Blick ebenfalls ein Hauch von Traurigkeit sehen. Vielleicht hatte auch er schon einmal etwas schlimmes durchgemacht. Etwas, was uns beide verband.
„Emily?“ Kaylas schrille Stimme riss mich aus meiner Tragträumerei. Ich saß noch immer auf dem Fenstersims und starrte hinaus auf die Winterlandschaft.
„Ja?“, rief ich zurück.
„Ich habe dir jemanden mitgebracht.“
„Wen denn?“, fragte ich etwas verwundert, doch als ich sah, wer da an der Tür stand, wurde meine Verwunderung nur noch größer.
„Woher wusstest du den Weg zur WG?“
„Kayla hat ihn mir gezeigt.“ Chris kam langsam ins Zimmer gelaufen und setzten sich auf den Stuhl, auf den ich noch vor wenigen Minuten selbst gesessen hatte, um für die Uni zu lernen.
„Ich hab ihn unterwegs getroffen. Vor Starbucks“, rief Kayla, während sie die Einkäufe in die Küche trug.
„Du warst schon wieder bei Starbucks? Du bist echt ein Kaffeejunkie“, sprach ich lachend.
„Ja, da hast du wahrscheinlich recht, obwohl der Kaffee eher Nebensache war.“
„Tatsächlich?“ Ich zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn scharf. Warum ging man(n) nach Starbucks, wenn es nicht um den Kaffee ging? „Bist du jetzt auf Kakao umgestiegen?“
„Hehe... nein, aber sollte ich vielleicht mal versuchen. Der eigentliche Grund, warum ich dort war, warst du.“
„Ich?“ Das Ganze wurde immer merkwürdiger, bis ich schließlich zu begreifen schien, was er meinte. „Dachtest du etwa, ich wäre dort?“
„Na ja... Ich konnte dich ja leider nicht erreichen, weil ich dir gestern ganz vergessen habe meine Handynummer zu geben.“
„Weißt du was?“
„Hm?“
„Das ist mir gar nicht aufgefallen.“
„Du hast doch auf dem Weihnachtsmarkt noch drauf bestanden“, beteuerte Chris, während ich ihm nickend zustimmte.
„Ja, schon, aber im Kino habe ich nicht mehr dran gedacht.“
„Wenn du mich nicht hättest.“
„Ja, was würde ich wohl ohne dich tun“, wisperte ich und wand meinen Blick schnell zur Fensterscheibe, um meine Tränen zu verbergen. Ich verstand nicht, warum sie ausgerechnet jetzt an die Oberfläche dringen mussten. Ich wollte nicht weinen – nicht vor ihm!
„Alles in Ordnung?“, fragte er schließlich vorsichtig nach.
„Tut mir leid.“
„Das muss es doch nicht.“
„Ich bin heute etwas sentimental.“ Mit dem Ärmel wischte ich meine Tränen beiseite. Dann sprang ich vom Fenstersims und lief auf meinen Schreibtisch zu.
„Solche Tage hat jeder mal.“
„Mag sein. Ich sollte jetzt weiter für die Uni lernen.“
„Und die Handynummer?“ Chris zog einen Zettel aus seiner Hosentasche und legte ihn mir auf den Tisch. „Hier, bitte.“
„Danke. Dann werde ich mich mal an die Arbeit machen“, sprach ich unter zusammengebissenen Zähnen. Schon wieder war ich den Tränen nahe.
„Glaubst du wirklich, dass du so in der Lage bist zu lernen?“
„Ich muss es tun! Etwas anderes bleibt mir gar nicht übrig, wenn ich nicht schon nach dem ersten Semester versagen möchte.“
„Das wirst du bestimmt nicht“, beteuerte Chris und legte mir eine Hand auf die Schulter. Sofort durchströmte mich wieder das Gefühl von Geborgenheit.
Wie macht er das bloß?
„Ich möchte einfach nichts riskieren, verstehst du?!“
„Das tust du aber, wenn du dich überarbeitest. Wie wäre es, wenn wir nach draußen gehen und du erstmal einen klaren Kopf bekommst? Glaub mir, eine Schneelandschaft kann da manchmal Wunder bewirken.“
„Ich weiß nicht.“
„Bitte.“ Chris setzte wieder seinen Dackelblick auf und machte einen Schmollmund. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er sich damit schon des öfteren durchgesetzt hatte. Wer widerstand auch schon so einem unwiderstehlichen Blick? Ich jedenfalls, würde wohl nie dagegen immun sein. Im Gegenteil! Jedes Mal schien er mich mehr in seinen Bann zu ziehen.
„Na gut. Lass uns hinaus gehen und einen Schneemann bauen.“
„Schneemann?“
„Warum nicht?“ Ich zuckte die Achseln.
„Und was ist mit den Schneeengeln?“, fragte er mit gespieltem Entsetzen.
„Die machen wir auch.“
Fröhlich begann er zu pfeifen. „Klingt gut.“
„Perfekt!“ Ich betrachtete unseren Schneemann, der nur wenige Zentimeter kleiner war als ich. Wir hatten ihm zwei Steine für die Augen gegeben und einen Stock als Nase benutzt. „Jetzt fehlt nur noch eine Mütze“, sprach ich lächelnd und warf einen unauffälligen Blick zu Chris, der heute eine auf dem Kopf trug. Doch ehe ich mir seine Mütze schnappen konnte, hatte er sich schon ein paar Schritte von mir entfernt.
„Kommt nicht in Frage.“
„Warum denn nicht?“, fragte ich und versuchte mich ebenfalls an einen Dackelblick, woran ich jedoch kläglich scheiterte.
„Wozu braucht ein Schneemann bitteschön eine Mütze?“
„Damit er nicht friert“, protestierte ich.
„Sehr witzig.“
„Na, warte.“ Schnellen Schrittes folgte ich ihm durch den Schnee. Hinter uns bildete sich eine Reihe von Fußabdrücken, doch es würde nicht lange dauern, bis sich eine neue Schneedecke darüber gebildet hatte. Mein schwarzer Mantel war überall mit weißen Punkten versehen und auch Chris Kleidung konnte man kaum noch erkennen. Es war fast so, als wären wir ein Teil dieser wunderschönen Landschaft.
„Leg ihm doch ein paar Blätter auf dem Kopf“, sagte Chris schließlich leicht außer Atem.
„Siehst du hier irgendwo welche? Wir haben Winter, du Trottel“, antwortete ich lachend, während ich unauffällig in den Schnee griff. Mit meinen Händen formte ich behutsam eine Schneekugel, um meinen Gegenüber im nächsten Moment damit zu bewerfen. „Uups.“
„War das etwa gerade eine Attacke auf mich?“ Ich musste schlucken, als ich sah wie Chris ebenfalls eine Ladung Schnee scheffelte. „Das kriegst du zurück!“
Schützend hielt ich meine Hände vor das Gesicht, ehe ich mich aus meiner Starre löste und ein paar Meter weg rannte. Ich formte noch ein paar Schneekugeln und lief damit auf Chris zu. Zuerst wurde ich von ein paar Schneekugeln getroffen, doch als ihm schließlich der Vorrat ausging, begann ich zu werfen – eine nach der anderen, bis er sich plötzlich fallen ließ.
„Wir haben die Schneeengel vergessen“, sprach er mit kindlicher Stimme, woraufhin ich leise kichern musste. Dieser Anblick – wie er da im Schnee lag und die Flocken langsam sein Gesicht bedeckten. Ich hatte noch nie so etwas Schönes gesehen.
Ein wenig sprachlos ließ ich mich auf den Boden sinken. Jetzt wurde auch mein Gesicht von den Schneeflöckchen bedeckt. Sie waren kalt und kitzelten auf der Haut.
„Bist du bereit?“, fragte Chris und ich nickte. „Jap, bereit.“
Fast gleichzeitig begannen wir unsere Schneeengel zu formen. Wir mussten aussehen wie zwei erwachsene Menschen, die im Kindesalter zurückgeblieben waren. Doch all das war mir in diesem Moment egal. Es gab kaum etwas schöneres, als hier mit Chris zu liegen und die Winterlandschaft zu genießen.
Erschöpft hielt ich nun inne und starrte empor.
Ich hoffe, ihr könnt uns sehen. Ihn und mich...
„Alles in Ordnung?“ Chris Stimme ertönte ganz nah an meinem Ohr. Ich hatte nicht gemerkt, dass er sich von seinem Platz entfernt hatte. Jetzt lag er genau neben mir und wir sahen uns tief in die Augen. „Ist dir kalt?“
„Ein bisschen“, gestand ich und sofort legte er seinen Arm um mich.
„So besser?“
„Hm.“
„Willst du immer noch die Mütze?“
„Nein“, murmelte ich leise.
„Warum nicht?“
„Du hast recht: Schneemänner können überhaupt nicht frieren. Du aber schon.“
„Ach...“ Er hielt inne, nahm die Mütze ab und setzte sie mir auf. „Du brauchst sie mehr als ich.“
„Danke“, flüsterte ich und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund.
„Wofür?“
„Einfach... weil du hier bei mir bist.“
Er begann zu lächeln. „Ich mag dich halt.“
„Ich dich auch.“ Nachdem ich diese Worte gesagt hatte, begannen wir uns erneut zu küssen. Es war viel intensiver als beim letzten Mal. Die Umgebung um uns herum schien zu verschwinden. Da waren nur noch wir beide – vereint!
Nach einer Weile wand ich mich schließlich von ihm ab.
„Soll ich dir von ihnen erzählen?“
„Von wem?“
„Meinen Eltern“, flüsterte ich, während ich ein wenig traurig zur Seite sah.
„Wenn du das möchtest. Ich werde dich zu nichts zwingen.“
„Ich weiß jetzt, dass ich dir vertrauen kann.“
„Das ist schön“, sprach er und strich ein paar Schneeflocken aus meinem Gesicht.
„Alles begann vor 6 Jahren.“ Ich schluckte schwer, ehe ich mit leiser Stimme fortfuhr. „Wir waren auf den Weg nach Chicago, als es passierte.“ Die nächsten Sätze glitten wie in Trance über meine Lippen. Es war so, als ob ich das Ganze noch einmal durchleben würde. (Siehe Prolog)
Kapitel 6
- Strange reaction
Seit mindestens 20 Minuten erzählte ich Chris von meinem Leben. Meinen Eltern, die vor 6 Jahren an einem tragischen Autounfall gestorben waren, meinem kleinen Bruder, der das damals alles noch nicht wirklich verstanden hatte und meiner Oma, die sich seitdem rührend um uns kümmerte. Der Schmerz des großen Verlustes brannte noch immer in meiner Brust, aber ich konnte mittlerweile damit umgehen. Ich hatte akzeptiert, dass meine Eltern tot waren und der Unfall sich nicht mehr rückgängig machen ließ. Der Glaube – dass sie von da oben auf mich herab sahen und mich beschützten –, gab mir Kraft.
„Na ja... und den Rest kennst du ja. Ich wollte endlich auf eigenen Beinen stehen und deshalb habe ich mich dazu entschlossen, hier nach Summerville zu ziehen“, beendete ich meine Erzählung. Ich war gespannt, was Chris von meiner Lebensgeschichte hielt. Würde er mir überhaupt glauben? Vieles klang nämlich mehr wie ein schlechter Film und nicht wie das wahre Leben.
Doch als ich mich zu ihm umdrehte, starrte er einfach nur empor zum Himmel.
„Ich weiß, das klingt alles ziemlich abgefahren“, murmelte ich. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie er nickte und dabei seine Augen schloss. So eine Reaktion hatte ich nicht von ihm erwartet. Er schien wie ausgewechselt.
„Du glaubst mir nicht, stimmt's? Vielleicht hätte ich das einfach für mich behalten sollen. Es tut mir leid.“
„Wieso entschuldigst du dich bei mir?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, aber trotzdem wollte ich ihm eine Antwort geben.
„Weil du dich auf einmal ganz merkwürdig verhältst. Ich habe nie jemanden davon erzählt, weil ich immer Angst hatte, dass die Leute so reagieren könnten wie du es gerade tust“, sprach ich traurig, während ich mich langsam aufsetzte. Erst jetzt bemerkte ich meine eingefrorenen Hände, die sich wie Eiszapfen anfühlten.
„Wie soll ich denn deiner Meinung nach reagieren? Soll ich dir etwa in die Arme fallen und sagen: dass wird schon wieder?“
„Das wäre zumindest eine Möglichkeit gewesen“, gab ich kleinlaut zu.
Chris schüttelte energisch seinen Kopf und setzte sich ebenfalls auf. Sein Blick war ein anderer geworden. So kannte ich ihn nicht und das machte mir ein wenig Angst.
„Nein, wäre es nicht! Jemand der dich in dieser Situation in den Arm nimmt und dir nur das Beste verspricht, ist ein Heuchler! Was du erlebt hast, kann man nicht wieder gut machen.“
„Ich dachte, du glaubst mir nicht“, rief ich wütend. Schon wieder brannten die Tränen in meinen Augen, aber ich versuchte sie mit aller Macht herunter zu schlucken.
„Wie kommst du darauf?“
„Weil es die einzig logische Erklärung für dein Verhalten ist. Du hältst mich wahrscheinlich für ein armseliges Mädchen, was vergeblich nach Aufmerksamkeit sucht.“
„Du verrennst dich da in etwas.“
„Ach ja?“, meckerte ich und bemerkte dabei nicht, wie meine Stimme immer lauter wurde. „Du kennst mich doch gar nicht richtig. Ich brauche kein Mitleid! Von niemanden!“
„Dann ist ja gut.“ Chris stand auf und stellte sich vor mich hin. Trotz dieser Diskussion schien er noch immer gelassen zu sein. Er hatte seine Hände in die Hosentaschen gesteckt und blickte in die Ferne.
„Ich verstehen dich nicht. Warum bist du auf einmal so komisch? Habe ich irgendetwas falsch gemacht?“
„Hör auf dir ständig Vorwürfe zu machen!“
„Was soll ich denn sonst tun?“ Mit zitternden Beinen stand ich nun vor ihm. Die ersten Tränen flossen bereits an meinen Wangen hinunter, aber das schien ihn nicht zu stören. Wahrscheinlich hatte er es noch nicht einmal bemerkt.
„Es ist besser, wenn ich jetzt gehe“, sagte er mit ruhiger Stimme. Ich nickte nur stumm und strich mit dem Ärmel meine Tränen beiseite. „Wir sollten uns wegen so etwas nicht streiten.“
„Du hast doch damit angefangen“, wisperte ich und erst jetzt schien Chris zu bemerken, dass ich weinte. In seinen Augen flammte ein Hauch von Reue auf, aber noch immer überwog die Kälte darin. Dieser Blick war mir fremd, wodurch mir zum ersten Mal klar wurde, wie wenig wir uns eigentlich kannten.
Wie konnte ich auch so naiv sein und dir sofort mein Vertrauen schenken?
„Wahrscheinlich hast du recht: Du hättest mir einfach nicht davon erzählen sollen! Ich bin nicht der Richtige für derartige Gespräche. Es tut mir leid.“ Mit diesen Worten wand er sich von mir ab und lief davon – durch die weiße unschuldige Winterlandschaft.
Mit Tränen überströmten Gesicht kramte ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche heraus, um ihn im nächsten Moment ins das Schlüsselloch zu stecken. Meine Finger waren jedoch so eingefroren, dass es ein paar Minuten dauerte, bis ich die Haustür auf bekam. Erleichtert trat ich schließlich in die Wohnung und schloss mit zitternden Händen die Tür wieder zu. Eine Weile blieb ich so stehen, ehe ich mich mit schnellen Schritten auf mein Zimmer begab.
„Was ist los?“ Kayla bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Obwohl sie sich nur Sorgen machte, hätte ich mir jetzt am liebsten eine eigene Wohnung gewünscht. Ich brauchte kein Mitleid. Von niemanden!
„Lass mich einfach in Ruhe.“
„Hat es mit deinem neuen Lover zu tun?“
„Ich möchte nicht darüber reden, okay“, rief ich mit heiserer Stimme.
„Ist in Ordnung. Aber wenn du es dir doch anders überlegst: ich bin in der Küche.“ Ich konnte hören, wie sie sich langsam von meinem Zimmer entfernte, bis nur noch mein leises Schluchzen zu hören war.
Chris hatte mich mit seinen Worten verletzt. Es schien, als habe er zum ersten Mal sein wahres Gesicht gezeigt. Diese Seite an ihm war nicht liebevoll und vertraut, sondern beängstigend und fremd gewesen. Seine soeben noch da gewesen Wärme hatte sich in eine bittere Kältewelle verwandelt. Aber warum?
Ich versuchte angestrengt eine Erklärung für sein Verhalten zu finden, doch es gab keine. Fakt jedoch war, dass es an meiner Lebensgeschichte lag. Irgendwas daran schien ihm nicht gefallen zu haben und irgendwie konnte ich mir den Grund dafür schon denken.
Wütend riss ich seine Mütze von meinem Kopf und schmiss sie mit voller Wucht durch mein Zimmer. Sanft und geschmeidig landete sie auf meinem Schreibtisch.
Wahrscheinlich hast du keine Lust dich um ein psychischen Wrack wie mir zu kümmern
, dachte ich und begann wieder leise zu wimmern. Das Schlimmste war, dass ich ihn verstehen konnte. Es gab Tage, da wollte ich manchmal selbst nichts mehr mit mir zu tun haben.
Oma machte mal wieder einen Mittagsschlaf, während ich mich um den Abwasch kümmerte. In diesem Augenblick wünschte ich mir nichts sehnlicher als eine Spülmaschine, aber aus irgendeinem Grund hielt die ältere Gesellschaft so etwas nicht für nötig. Wahrscheinlich, weil es früher auch nicht so einen Schnick-Schnack gab.
Seufzend schrubbte ich den großen Topf sauber und machte mich dann an die letzte Pfanne zu schaffen. Gleich würde ich Joshua ins Bett bringen und danach Hausaufgaben machen. Ein mittlerweile alltägliches Ritual, da Oma schon genug mit dem Tod ihrer Tochter zu kämpfen hatte. Dass Mama nicht mehr da war, machte sie sehr schläfrig.
Ich unterdrückte aufkommende Tränen und drückte mit dem Schwamm so feste gegen die Schmutzreste, dass er mir plötzlich aus der Hand rutschte und ich gegen das harte Stahl stieß. Ein aufkommender Schmerz breitete sich in meinen Fingern aus. „Autsch!“
„Emily?“ Die Stimme meines kleinen Bruders ließ mich sofort verstummen. Er kam mit einem Blatt Papier in die Küche gelaufen und hielt es mir entgegen.
„Ich komme gleich, ja? Ich muss nur eben noch zu Ende spülen.“
„Ich möchte dir etwas zeigen.“
„Wenn ich fertig bin, schaue ich es mir an, okay?“, sprach ich, doch Joshuas Augen füllten sich bereits mit Tränen. Schnell tapste er aus dem Raum.
„Mist“, fluchte ich leise vor mich hin und begann schnell die Pfanne ab zu schrubben. Währenddessen konnte ich meinen Bruder im Nebenzimmer leise schluchzen hören. Es brach mir das Herz und trotzdem musste ich erst meine Hausarbeit erledigen. So hatte es Mama schließlich auch immer getan, denn sie war der festen Überzeugung gewesen, dass auch Kinder lernen mussten sich zu gedulden.
Als ich endlich fertig war, lief ich sofort ins Kinderzimmer. Joshua saß an seinem Spieltisch und kritzelte mit einem schwarzen Stift auf sein gemaltes Bild herum.
„Was machst du da?“, fragte ich leicht schockiert und setzte mich zu ihm.
„Das ist doof“, schniefte er.
„Ich nahm ihm das Blatt aus der Hand und starrte auf das Bild. Vier Strichmännchen waren darauf zu erkennen. Daneben befand sich ein kleines Häuschen und am Himmel schien die Sonne. Da waren auch noch ein paar andere Sachen, aber die konnte man kaum noch erkennen, da sie von der schwarzen Farbe überdeckt wurden.
„Hast du das gemalt?“ Ich wusste, dass diese Frage eigentlich völlig überflüssig gewesen war, aber irgendwas musste ich ja dazu sagen.
Joshua nickte nur stumm und starrte mit verheulten Augen auf den Tisch.
Ich machte mir Sorgen um ihn.
„Das hast du schön gemacht.“
„Ich will zu Mami und Papi.“ Er begann wieder zu weinen und zum ersten Mal traute ich mich nicht ihn in den Arm zu nehmen. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich nur seine Schwester war. Unsere Eltern, die konnte ich ihm nicht ersetzen.
Komischerweise beruhigte mich die Erinnerung an damals ein wenig. Es war eine schwere Zeit gewesen, an die ich nicht gerne zurück dachte, die aber dennoch zu meinem Leben gehörte. Mein kleiner Bruder musste damals zu einer Kinderpsychologin, damit ihm jemand half das Ganze auf kindgerechte Weise zu verarbeiten. Als Schwester konnte ich ihm dabei nicht helfen. Ich hatte versagt!
Schnell schluckte ich den Schmerz von früher herunter. Er gehörte der Vergangenheit an und war nicht mit dem Streit von Chris und mir vergleichbar. Ja, ich hatte ihm mein Herz geöffnet, aber trotzdem gehörte es noch mir. Ich würde nicht zu lassen, dass er darauf herumtrampelte. Vielleicht wirkte ich auf ihn klein und zerbrechlich, aber das war ich schon lange nicht mehr. Nach alldem, was ich durchgemacht hatte, konnte mich so schnell nichts mehr erschüttern – zumindest dachte ich das.
Kapitel 7
- and suddenly everything seems different
Am nächsten Morgen wurde ich von dem schrillen Piepen meines Weckers geweckt. Jedes Mal nahm ich mir vor sofort aufzustehen, aber die Müdigkeit hinderte mich daran, sodass ich meistens noch ein paar Minuten liegen blieb und den bevorstehenden Tag zu planen versuchte. Zuerst würde ich mich fertig machen und eine Kleinigkeit frühstücken, dann wäre es Zeit für die Uni und gegen Nachmittag müsste ich noch ein bisschen lernen. Doch komischerweise kam mir das alles plötzlich sichtlich langweilig vor. Ich wusste, dass heute nichts spannendes passieren würde und deshalb fiel es mir noch schwerer aufzustehen.
So so, du bist also ein Morgenmuffel.
Chris Worte kamen mir so unverhofft in den Sinn, dass ich nicht anders konnte und mich unter der Bettdecke versteckte. Es war albern, aber ich wollte auf diese Weise vor seiner Stimme fliehen. Sein Lachen erklang in meinen Ohren – erst leise und dann immer lauter, bis es schließlich unerträglich wurde und ich mir die Ohren zuhielt. Das Gespräch von gestern ließ mich plötzlich zweifeln, ob er das alles wirklich ernst gemeint oder mir die ganze Zeit nur etwas vorgespielt hatte. Sein Lächeln, die funkelnden Augen, wenn er mich ansah und unser erster Kuss im Kino schien sich auf einmal in einen Albtraum zu verwandeln. Als hätte ich mich von seiner Schönheit blenden lassen und nicht bemerkt, was sich hinter der Fassade verbarg – ein kaltherziges Monster!
Innerlich schüttelte ich meinen Kopf, um meine wirren Gedanken so loszuwerden. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ich ihm nichts bedeutete. Nein! Sein Verhalten hatte etwas mit meiner Lebensgeschichte zu tun und ich war bereit es herauszufinden.
Mit neu gewonnenem Optimismus stieg ich schließlich aus dem Bett und lief auf meinem Schreibtisch zu. Dort lag noch immer seine Mütze, die ich gestern aus Versehen mitgenommen hatte. Vorsichtig nahm ich sie in meine Hände und entdeckte auch sogleich den Zettel, der sich darunter verbarg. Es war seine Handynummer, die er mir auf den Schreibtisch gelegt und die ich gestern am liebsten entsorgt hätte. Doch jetzt war ich dankbar, dass ich es nicht getan hatte. Bevor es zur Uni ging, wollte ich die Sache mit ihm klären, denn sonst – das spürte ich – könnte ich mich nicht auf den Lernstoff konzentrieren.
Mit aller Macht versuchte ich meine Sorgen und Ängste hinunter zu schlucken, damit ich gleich am Telefon gefestigt klang und nicht wieder in Tränen ausbrach.
Er hält mich bestimmt schon für eine Heulsuse
, dachte ich, während ich mir mein Handy schnappte und seine Nummer eintippte. Eine ganze Weile hörte man nur das Tuten am anderen Ende, was mich noch nervöser werden ließ. Seine Mütze noch immer in meiner Hand haltend, lief ich durch das kleine Zimmer. Auf und ab.
„Ja?“
„Chris?“, platzte aufgeregt aus mir heraus.
„Bist du es Emily?“
„Hast du etwa schon vergessen, wie sich meine Stimme anhört?“ Genervt verdrehte ich die Augen. Ich wollte nicht wissen, wie viele Mädchen ihm an Tag anriefen. Es waren bestimmt eine Menge.
„Nein... Quatsch. Wie kommst du darauf?“
„Vielleicht, weil du dir gerade nicht ganz sicher warst, mit welcher Verehrerin du sprichst?“
„Hä?! Sorry, aber ich weiß nicht wovon du redest. Ich bin gerade erst aufgestanden, wahrscheinlich liegt es daran.“ Ja, mit Sicherheit.
„Ist ja auch egal. Eigentlich rufe ich sowieso wegen etwas ganz anderem an“, sprach ich und hoffte inständig, dass Chris das Thema von selbst anschneiden würde. Doch das schien er nicht vorzuhaben, denn stattdessen fragte er nur: „Und, worum geht’s?“
„Das kannst du dir ja wohl denken.“
„Wenn du meine Mütze meinst: die kannst du ruhig behalten!“ Er sagte dies mit so einer Gelassenheit, dass sich mir die Frage stellte, ob ich ihn überhaupt je wichtig gewesen war?! Plötzlich hatte ich das Gefühl, nur eine billige Affäre gewesen zu sein. Jemand, den man ganz leicht austauschen konnte.
„Was soll das, Chris? Bin ich dir etwa so egal? Glaubst du wirklich, hier geht es um deine blöde Mütze“, schrie ich, während ich mich schnell an meinem Schreibtisch abstützte, damit ich nicht das Gleichgewicht verlor. „Du hast mich gestern verletzt, aber das scheint dir ja völlig egal zu sein. Gib doch einfach zu, wenn dir das alles zu viel geworden ist. Es haben mir schon viele Leute den Rücken gekehrt, weil sie mit meiner Lebensgeschichte nicht klar kamen – weil sich dachten ich könnte ihnen zur Last fallen.“ Am anderen Ende war es still geworden und im ersten Moment kam es mir so vor als hätte er aufgelegt, doch dann begann er plötzlich leise zu seufzen.
„Was redest du denn da für einen Schwachsinn? Du warst und bist mir nicht egal! Mag sein, dass ich gestern etwas komisch drauf war – und dafür möchte ich mich auch ausdrücklich bei dir entschuldigen -, aber das hat keinesfalls etwas mit dir zu tun. Als du von deinen Eltern gesprochen hast, musste ich an meine eigene Familie denken. Wie sehr ich sie vermisse...“
Ich wusste nicht, ob er die Wahrheit sprach. Das Ganze war plötzlich so verwirrend, dass mir schwindelig wurde.
„Und das soll ich dir jetzt glauben?“, rief ich noch immer leicht aufgebracht.
„Entweder du vertraust mir oder eben nicht.“
„Das würde ich ja gerne, aber warum hast du mir das nicht schon gestern erzählt?“
„Ich... ich wollte dich nicht auch noch mit meinen Sorgen belasten“, gestand er.
„Hör zu: Ich bin kein psychisches Wrack, das auf Mitleid von anderen Leuten aus ist. Der Tod meiner Eltern war ein tragischer Unfall und das habe ich akzeptiert! Ich habe gelernt damit umzugehen.“
„Bist du dir sicher?“ Chris Frage brachte mich zum Nachdenken. War es wirklich so offensichtlich, dass ich nachts noch immer unter Albträumen litt?
„Ja, bin ich. Summerville ist ein Neustart und seitdem geht es mir auch schon viel besser.“
„Tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu Nahe treten.“
„Ist schon gut“, sprach ich traurig, während ich nervös an seiner Mütze zupfte. „Am besten vergessen wir das Ganze einfach.“
„Ja, das ist eine gute Idee. Wahrscheinlich wird uns der Abstand voneinander auch ganz gut tun.“
„Abstand?“
„Ja, ich werde Weihnachten bei meiner Familie verbringen. Mein Flieger geht heute Abend.“
„Schon?“, brachte ich entsetzt hervor. Der Drang ihn noch einmal in den Arm zu nehmen nahm ganz plötzlich zu. Ich wollte ihn riechen, schmecken und fühlen – wollte vor dem Abschied noch einmal ganz nah bei ihm sein.
„Wenn ich ehrlich bin, war das eine spontane Entscheidung.“
„Ach so“, murmelte ich.
„Passt gut auf dich auf, ja?“
„Ja.“ Jetzt konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie liefen ganz still und heimlich über meine Wangen. Ich war froh, dass Chris mich nicht sehen konnte. „Ich... ich werde dich vermissen.“
„Ich dich auch. Hab schöne Weihnachten.“ Nach diesen Worten legte er einfach auf. Eigentlich wollte ihn noch so viel sagen. Ihn fragen, wo er wohnte und ob es nicht möglich wäre, dass wir uns vorher noch verabschiedeten. Doch seine monotone Stimmlage hatte mich daran gehindert. Auch wenn es jetzt eine Erklärung für sein gestriges Verhalten gab - er war immer noch distanziert gewesen.
Wie in Trance hielt ich nun seine Mütze an mein Gesicht. Ein angenehm vertrauter Geruch stieg mir in die Nase. Es erinnerte mich an die schöne kurze Zeit mit ihm. Auf einmal hatte ich das Gefühl ihm ganz nah zu sein. So absurd die Situation auch war, in diesem Augenblick wollte ihn nicht mehr loslassen.
Als ich am Nachmittag von der Uni kam, sah ich Kayla in der Küche herumwerkeln. Sie war gerade dabei ein paar Pfannkuchen zuzubereiten und hatte die Fertigen schon auf einen Teller gelegt. Ein paar Minuten beobachtete ich sie dabei, ehe ich mich schließlich zu ihr gesellte und zu Lächeln begann. „Mhm... das riecht wirklich sehr lecker.“
„Findest du?“ Sofort drehte sich Kayla zu mir um und musterte mich neugierig. Es sah ein wenig lustig aus, wie sie mit ihren – vom Teig verschmierten Händen – und ihrem pudrigen Gesicht vor mir stand. Die Arbeit schien ihr sichtlich Spaß zu machen.
„Ja“, kicherte ich.
„Wieso lachst du?“
„Du hast da Puderzucker auf der Nase.“
„Tatsächlich?“ Etwas beschämt nahm sie sich ein Tuch von der Anrichte und säuberte damit ihr Gesicht. „Weg?“
Ich nickte nur und nahm auf einem der Stühle platz.
„Wenn du möchtest, kannst du dir auch einen Pfannkuchen nehmen. Es sind genug für alle da.“
„Danke, aber ich glaube, ich habe keinen Hunger“, gestand ich kleinlaut.
„Ist es immer noch wegen...“ Kayla hielt inne – wahrscheinlich, weil sie seinen Namen vergessen hatte.
„Wenn du Chris meinst, dann ja.“
„Entschuldigung. Ich wollte nicht wieder damit anfangen.“
„Ist schon in Ordnung“, sprach ich, während ich etwas verlegen auf den Tisch starrte. Kayla war zwar nicht meine beste Freundin, aber sie war auch keine fremde Person. Eher etwas dazwischen.
Eine gute Mitbewohnerin.
Ja, so konnte man es nennen.
„Möchtest du heute darüber reden?“ Mit einer eleganten Bewegung schwang sie den letzten Pfannkuchen auf einen neuen Teller und setzte sich damit zu mir an den Tisch.
„Eigentlich haben wir das ja schon wieder geklärt.“
Klingt aber nicht gerade überzeugend“, murmelte sie.
„Na ja... Ich weiß nicht, ob ich ihm glauben soll. Er verhält sich immer noch sehr merkwürdig.“
„Tyson ist genauso, glaub mir. Bei Männern dauert das wohl länger, bis sie etwas verarbeitet haben.“
„Vielleicht hast du recht.“
„Natürlich habe ich das.“ Ich war sichtlich überrascht, als sie nicht weiter nachfragte. Schweigend nahm sie den Rest ihres Pfannkuchen zu sich, während ich ihr gedankenverloren dabei zuschaute. Vor meinem inneren Auge erschien Chris, der mit Sicherheit bereits auf den Weg zu seiner Familie war.
In diesem Moment kam mir eine Idee.
Mit den Worten „Ich muss kurz was erledigen“ stand ich auf und verließ noch mal die Wohnung. Eine Welle von Glückshormonen durchströmte mich.
Warum hatte ich daran nicht schon früher gedacht?
Kapitel 8
- Dancing the night away
Glücklich und zufrieden drückte ich mein Flugticket an die Brust. Morgen früh würde mein Flieger nach Columbia gehen und ich freute mich schon riesig meine kleine Familie wieder zu sehen. Joshua und Oma rechneten zwar erst in einer Woche mit mir, aber so könnte ich sie wenigstens überraschen und ein bisschen mehr Zeit als geplant mit ihnen verbringen. Dass ich dafür ein paar Vorlesungen am College sausen ließ, störte mich in diesem Moment überhaupt nicht. Es war kurz vor Weihnachten und da sollte man sich bekanntlich um seine Liebsten kümmern.
Ich lächelte in mich hinein und begann den Rest des Weges leichtfüßig zu tanzen. Mir war es egal, was die Leute aus meiner Umgebung davon hielten, denn wenn es mir gut ging, dann hatte ich auch keine Probleme damit dies der ganze Welt zu zeigen.
Nach ein paar Minuten hatte ich schließlich unsere WG erreicht, während Kayla und Tyson gerade Hand in Hand das Haus verließen.
Etwas verdutzt blieb ich stehen, denn ich war es noch immer nicht gewohnt, die beiden so eng beieinander zu sehen. Doch ich musste feststellen, dass sie echt süß zusammen aussahen. Sie strahlten dieses unbeschreiblich tolle Gefühl aus, was nur frisch verliebte Pärchen versprühen konnten. Augenblicklich kam mir Chris in den Sinn, doch ich schob diesen Gedanken schnell beiseite.
„Hey. Wo wollt ihr denn noch so spät hin?“, versuchte ich etwas beiläufig zu fragen, aber meine Neugierde war deutlich herauszuhören.
„Wir haben doch erst 8:00 Uhr“, sprach Kayla, während sie einen Blick auf ihr Handy warf. „Okay, 8:15 Uhr, aber trotzdem!“
„Hm... irgendwie war ich im Glaube es wäre schon später.“ Ich zuckte die Achseln und spürte, wie mir plötzlich mein Flugticket aus der Hand glitt. Schnell hob ich es wieder auf und drückte es – wie eine Mutter ihr Neugeborenes - gegen meine Brust.
„Was war das denn?“ Tyson klang belustigt.
„Na ja, ich war doch heute morgen so schnell verschwunden.“ Kayla nickte schmunzelnd. Wahrscheinlich hatte ich wie ein aufgescheuchtes Huhn ausgesehen, als ich völlig überdreht die Wohnung verlassen hatte. „Ich bin vor dem College noch schnell zu einem Reisebüro gegangen, um die hier zu besorgen.“ Ich hielt ihnen die Flugtickets entgegen und sofort begriffen sie, worum es ging.
„Wow... und diese Erleuchtung kam dir heute morgen beim Frühstück? Ich mein, ich freue mich für dich.“ Sie drückte ihrem Freund die Tickets in die Hand, um mich gleich darauf in eine stürmische Umarmung zu nehmen. Etwas überrascht ließ ich mich darauf ein. Es war das erste Mal, dass wir uns freundschaftlich umarmten und obwohl sie keine enge Freundin von mir war, fühlte es sich gut an.
„Dein Flug geht schon morgen?“ Tyson studierte kurz den Umschlag und gab ihn mir gleich darauf wieder zurück.
„Ja, hab ich euch das nicht erzählt?“
„Nein. Ich dachte, du fliegst erst nächste Woche zu deiner Familie. Was ist denn mit dem College?“
„Ach, das kriege ich schon hin“, antwortete ich mit einer abwinkenden Handbewegungen, doch die beiden schienen von diesem Plan nicht sonderlich begeistert zu sein.
„Also ich weiß nicht, Emily. Findest du das nicht ein wenig unvernünftig? Du studierst doch erst seit kurzem hier und ist es da nicht besser, wenn du keine Lesungen verpasst?“
„Das werde ich alles mit Leichtigkeit nachholen. Ihr kennt mich nicht! Ich war schon damals in der Schule gut gewesen!“ Ich versuchte so überzeugend wie möglich zu klingen, auch wenn das, was ich sagte, nicht wirklich stimmte. Nach dem Tod meiner Eltern hatten sich meine Noten rapide verschlechtert und seitdem musste ich doppelt so viel lernen wie andere.
„Wahrscheinlich hast du recht. Es ist ja auch Weihnachten und da sollte man das Ganze nicht so ernst nehmen“, sprach Kayla lächelnd und sofort atmete ich erleichtert aus. Sie verstand mich.
„Und, wo geht's jetzt hin?“
„Wir wollten noch ein bisschen feiern gehen. Hier um die Ecke ist ein Club und da läuft meistens sehr angesagte Musik. Hast du Lust mitzukommen?“
„Ich glaube nicht. Ihr Flug geht doch schon morgen früh“, mischte sich Tyson ein, ehe ich auch nur ein einziges Worte dazu sagen konnte. Was hatte er plötzlich gegen mich? Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber es kam mir so vor als wollte er mich nicht dabei haben.
„Er hat recht. Außerdem bin ich müde.“
„Ach, komm schon! Das wird bestimmt lustig.“
„Ich weiß nicht.“ Kaylas warf mir einen bettelnden Blick zu. Zwar ließ sie mich damit längst nicht so schwach werden wie ich es bei Chris immer wurde, aber sie konnte mich immerhin umstimmen. „Na, gut. Ein bisschen Party kann ja nicht schaden.“
„Natürlich nicht.“ Sie zog mich erneut in eine Umarmung, während ich aus dem Augenwinkel sah wie Tyson genervt die Augen verdrehte.
Dröhnende Musik kam uns entgegen, als wir den kleinen Club um die Ecke betraten. Es war erst das dritte Mal, dass ich ich eine Disko betrat und im Vergleich zu Columbia war dieser Schuppen eine ziemlich miese Absteige. Aber dafür schien hier alles wesentlich familiärer zu sein, denn fast jeder kannte sich.
Ein hübsche Blondine nahm unsere Jacken entgegen und wünschte uns einen schönen Abend. Ich hoffte inständig, dass es einer werden würde, denn noch immer spürte ich Tysons Blick auf mir ruhen. Es machte mich richtig nervös, weil er mich die ganze Zeit ansah, als hätte ich irgendein schlimmes Verbrechen begangen.
„Das wird toll“, quiekte Kayla vergnügt. „Siehst du da vorne den Barmann? Das ist ein sehr guter Kumpel von Tyson. Er spendiert uns bestimmt ein paar Drinks.“
Kommentarlos lief ihr Freund an uns vorbei und tatsächlich – der Barmann begrüßte ihn freundschaftlich. Dann deutete er auf uns beide und sofort zog Kayla mich mit sich.
„Jeffrey.“
„Hey, meine Lieben. Was darf es denn für euch sein?“
„Für mich bitte einen Sex on the Beach und für meine Mitbewohnerin dasselbe.“
„Ach, du bist die Neue in der WG?“ Er beugte sich zu mir herüber und musterte mich eingehend. Ich hasste diese Art von Bekanntschaften. Jeffrey sah aus wie ein Bodybuilder und er verhielt sich auch so. „Freut mich dich kennen zu lernen. Kayla hat nicht zu viel versprochen.“ Er reichte mir seine freie Hand, die ich nur widerwillig entgegen nahm.
„Ich bin Emily.“
„Schöner Name. Ich heiße Jeffrey, aber das hat deine liebe Mitbewohnerin ja gerade schon verraten“, zwinkerte er, während ich mich plötzlich an den Abend bei Starbucks zurückversetzt fühlte. Chris hatte mir bei unserer ersten Begegnung genau dasselbe Kompliment gemacht.
„Ich bin übrigens Chris.“
„Emily.“
„Schöner Name“, sagte er schließlich und nippte an seinem Kaffee.
Ich räusperte mich verlegen und warf einen auffälligen Blick zur Eingangstür. „Danke. Ich muss dann jetzt auch los. Man sieht sich bestimmt noch mal.“
„Ja, hoffentlich“, murmelte er leise, während ich so schnell wie möglich an ihm vorbei lief.
„Hey, alles in Ordnung?“ Kaylas schrille Stimme holte mich zurück in die Realität, wo ich auf einem alten Barhocker saß und von einem Möchtegern-Bodybuilder bedient wurde. Das hier war nicht Chris und das hier war auch nicht Starbucks! Diese Erkenntnis schmerzte ein wenig, aber ich war bereit den Schmerz an diesem Abend zu betäuben. Ich wollte nicht an ihn denken – nicht jetzt!
„Ja, ich denke schon“, murmelte ich und nahm das Getränk entgegen, welches mir Jeffrey gerade entgegen hielt. Dann wand er sich ganz schnell seinem Kumpel Tyson zu. Ich war mir sicher, dass ich ihn soeben mit meinem abwesenden Blick in die Flucht getrieben hatte. Jedoch wusste ich nicht so recht, ob ich darüber froh sein oder es mir nicht ein wenig zu denken geben sollte. Vielleicht wirkte ich beängstigender auf andere, als ich bisher geglaubt hatte.
„Auf unseren letzten gemeinsamen Abend vor Weihnachten“, sprach Kayla und hielt mir ihr Glas entgegen. Nickend stieß ich mit ihre an und sofort gaben unsere Gläser ein klirrendes Geräusch von sich. Das war der Startschuss für einen Abend fernab von der Realität. Es wurde getanzt, getrunken und gelacht, ohne einen Gedanken an die Probleme zu verschwenden, von denen mit Sicherheit jeder eine Menge mit sich herumschleppte. Doch genau deshalb ging man feiern, um den Alltagstrott zu entkommen und in eine Welt voller neuer Möglichkeiten abzutauchen.
Erschöpft ließ ich mich nach einer ganzen Weile wieder in auf dem Barhocker nieder. Der Alkohol hatte mir bereits die Sinne vernebelt, so dass ich ein wenig schwankend auf den Beinen unterwegs war.
„Jeffrey.“ Der Bar man – der mir vorhin noch wie ein gefährlicher Bodybuilder vorkam – eilte schnell zu mir herbei. Jetzt wirkte er viel mehr wie ein großer Kuschelbär auf mich. Ich musste grinsen. „Ein Jägermeister, bitte.“
„Meinst du nicht, dass du langsam genug hast?!“
„Bist du mein Daddy, oder was? Bütte!“ Gespielt beleidigt verschrenkte ich die Arme vor der Brust. Auch wenn das ziemlich kindisch herüber kam, so wollte ich meinen Willen trotzdem mit aller Macht durchsetzen. Wenn ich länger als eine halbe Stunde kein Alkohol zu mir nahm, kamen die schmerzlichen Erinnerungen wieder und das wollte ich vermeiden.
„Na schön, aber nur noch einen.“ Er stellte mir eine kleines Jägermeisterfläschchen auf den Tisch, als Tyson plötzlich danach griff und es mit einem Zug leerte.
„Ey, was sollte das?“
„Du hast wirklich genug für heute. Jeffrey, sie bekommt keine alkoholischen Getränke mehr.“
„Geht in Ordnung, Sir!“
„Du bist echt bescheuert.“ Die beiden begannen gleichzeitig zu lachen, während sich in meinem Kopf auf einmal alles drehte. Ich war wütend, weil sie mich behandelten als sei ich ein kleines Kind und gleichzeitig war da noch ein anderes Gefühl. Ich versuchte es zu unterdrücken, doch es ging nicht. Schnell stürmte ich zu den Toiletten und übergab mich. Als ich die Kabine wieder verließ, stand Kayla neben dem Waschbecken.
„Was machst du hier?“ Mein Blick fiel auf den Spiegel und was ich da sah erschreckte mich zutiefst. Meine Schminke war verschmiert und mein Gesicht wirkte blass und fahl. Ein Zombie war nichts dagegen!
„Ich wollte nur mal nach dir sehen, weil Tyson meinte, es ginge dir nicht gut.“
„Ach ja? Was weiß der denn schon? Den ganzen Abend schaut er mich an wie eine Verbrecherin und jetzt macht er sich plötzlich Sorgen um mich?“
„Ganz offensichtlich schon.“ Kayla ging einen Schritt auf mich zu, doch sofort distanzierte ich mich von ihr.
„Lass mich, okay?“
„Was hab ich dir denn getan? Weißt du, was ich glaube: du hast einfach zu viel Alkohol getrunken! Du verhältst dich wie ein pubertierender Teenager, der seine Grenzen austesten musste. Ich dachte, du wärst vernünftiger.“
„Du kennst mich eben nicht richtig“, wisperte ich, während ich ein wenig Wasser scheffelte und es mir ins Gesicht warf.
„Das mag sein, aber du erzählst mir ja auch nicht wirklich viel von dir. Ich kann dir genau sagen, warum Tyson so komisch zu dir ist. Er versteht es nicht, dass du das mit dem College einfach auf die leichte Schulter nimmst. Und ganz ehrlich: ich verstehe es auch nicht!“
„Das kann euch doch völlig egal sein“, murmelte ich. Schon wieder wurde mir schlecht, doch ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen.
„Als deine Mitbewohner lässt uns so ewas aber nicht völlig kalt. Wir meinen es nur gut! Tyson wäre gerne auf ein College gegangen, aber er hat leider nicht die Möglichkeit dazu. Stattdessen muss er in irgendeiner Frittenbude aushelfen.
Ich musste schlucken und dann machte sich auf einmal wieder der Würgereiz bemerkbar. Schnell lief ich in die Kabine.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, ich denke schon.“ Nachdem ich mich erneut übergeben hatte, ging es mir wieder besser. Tränen schossen mir in den Augen, weil ich mir jetzt wirklich erbärmlich vorkam. Mit verheultem Gesicht trat ich hinaus, geradewegs in Kaylas Arme.
Schützend wog sie mich hin und her, doch ich konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Ich musste an meine Eltern denken, an Oma und Joshua und nicht zuletzt an Chris, den ich so gut wie gar nicht kannte.
„Shht. Tut mir leid, wenn ich gerade zu hart zu dir war. Ich wollte nur...“
„Es ist nicht deine Schuld“, unterbrach ich sie, „sondern meine.“
Sie musterte mich eingehend und dann begriff sie. „Es ist wegen Chris, hab ich recht?“
„Ich hab ihm von meinem Leben erzählt. Ich wollte kein Mitleid von ihm, sondern ich wollte ihm einfach nur zeigen, dass ich ihm vertraue. Wir kannten uns erst eine Woche, aber da war dieses Gefühl. Wir haben uns geküsst. Dann waren wir im Schnee und er hat in den Himmel gesehen. Ich dachte er versteht mich. Er sah so schön aus, als er da lag. Ich wollte ihm doch einfach nur mein Herz öffnen.“
„Und hast du ihm auch dein Herz geschenkt?“ Jeder andere wäre wahrscheinlich verwirrt gewesen und hätte gefragt, was der Auslöser für unseren Streit gewesen war, doch Kayla hatte mir eine völlig andere Frage gestellt.
„Ich... nein, natürlich nicht! Wir kannten uns ja kaum und außerdem müssen sich die Gefühle ja erstmal entwickeln. Nein, ich habe ihm nur einen Einblick in mein Herz gegeben.“
„Und?“
„Und was?“ Verwirrt starrte ich sie an, während ich mit dem Ärmel ein paar Tränen beseitigte.
„Wie hat er reagiert als du ihm dein Herz geöffnet hast?“
„Er hat in den Himmel gestarrt und später hat er gesagt, dass ich ihm das nicht hätte erzählen dürfen.“
Verdutzt schaute mich Kayla an: „Wieso?“
„Angeblich hat er Sehnsucht nach seiner Familie bekommen. Er meinte, der Abstand würde uns ganz gut tun.“
„Das glaub ich ihm nicht!“
„Ich auch nicht wirklich, aber warum sollte er sonst so reagieren?“, fragte ich.
„Ich weiß es nicht, aber ich glaube das da mehr hintersteckt.“ Angestrengt versuchte ich darüber nachzudenken, ob ich irgendwas übersehen hatte, aber mir fiel wie immer keine andere plausible Erklärung ein.
„Vielleicht hat er ja seine Eltern verloren und vermisst deshalb seine Familie.“ Kayla hatte sich von mir entfernt, um sich am Waschbecken die Hände sauber zu machen, deshalb bemerkte sie auch nicht wie ich in eine Art Schockstarre versetzt wurde. Sie wusste nicht, dass meine Eltern ebenfalls tot waren, aber konnte es möglich sein, dass er dasselbe Schicksal wie ich erlitten hatte?
Ich musste schlucken. Für den Rest des Abends fühlte ich mich wie gelähmt.
Kapitel 9
- Home sweet home
Ich atmete tief durch und sog die frische Luft meiner Heimatstadt Columbia ein, die mir endlich wieder dieses vertraute Gefühl gab, wonach ich in den letzten Tagen vergeblich gesucht hatte. Ich war froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, denn zuvor im Flugzeug ging es mir ziemlich schlecht, was nicht nur an den gestrigen Abend lag, sondern auch an meiner leichten Flugangst. Nie würde ich verstehen können, warum es Leute gab, die freiwillig den Beruf als Stewardess oder Pilot ausübten. Oder verschwand die Angst vor dem Abstürzen irgendwann?
Ich konnte es mir nicht vorstellen und war deshalb sichtlich erleichtert, dass ich den Flug endlich hinter mich gebracht hatte und schon bald meine kleine Familie in die Arme schließen könnte. Joshua und Oma würden Augen machen, wenn sie mich – eine Woche früher als geplant – vor der Haustür stehen sahen.
Das Gepäck hinter mir herziehend verließ ich nun den Flughafen und machte mich auf den Weg zu einem Taxi, das mich den restlichen Weg nach Hause fuhr. Während der Autofahrt blieb es außergewöhnlich still, sodass ich automatisch an den gestrigen Abend denken musste. Auch wenn ich mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern konnte, so wusste ich noch ganz genau, dass ich Kayla unter enormen Alkoholeinfluss mein Herz ausgeschüttet hatte. Wenn ich jetzt darüber nachdachte, stieg mir sofort eine leichte Röte ins Gesicht, denn ich schämte mich für mein Verhalten. Sie war eines meiner WG-Mitglieder und ich müsste weiterhin mit ihr zusammen leben, doch ich wusste nicht, wie das funktionieren sollte.
Seit gestern bin ich für die beiden wahrscheinlich ein besoffener, unvernünftiger für immer bleibender Teenager.
Ich war mir sicher, dass Tyson mich nicht mehr sonderlich mochte, was ich ihm nicht verübeln konnte. Ich hatte mich kindisch und unreif benommen – dafür gab es keine vernünftige Rechtfertigung.
Ein wenig müde starrte ich aus dem Fenster, hinaus in die verschneite Landschaft. Wenn ich ehrlich war, hatte ich mich gestern Abend selbst nicht wiedererkannt. Noch nie hatte ich mich den Menschen aus meiner Umgebung so zerbrechlich gezeigt. Niemand gingen meine Probleme etwas an und ich wollte auch nicht, dass sie je jemand erfuhr. Erst seit der Begegnung mit Chris war ich offener geworden und jetzt schien es so, als gäbe es kein Zurück mehr – als würde ich plötzlich ein anderer Mensch werden.
„Ma'm, wir sind da.“ Die raue Stimme des Taxifahrers holte mich zurück in die Realität und erst jetzt bemerkte ich das große Haus, vor dem wir standen. Mein Zuhause.
Ich schenkte meinem Fahrer ein aufrichtiges Lächeln und drückte ihm das Geld in die Hand. „Danke.“ Dann stieg ich aus und ging zum Kofferraum, um mein Gepäck herauszuholen, doch der Mann war schneller. Mit einem gekonnten Schwung stellte er meinen Koffer auf den Boden und wünschte mir noch einen schönen Tag.
Das war Columbia, so wie ich es liebte. Hier in der Gegend versuchten immer alle Menschen höflich zu sein, trotz der Hektik, die die Stadt manchmal verbreitete. Es war anders als in Summerville, aber es war genauso schön.
Noch ehe ich die Klingeln betätigen konnte, riss jemand die Türe auf und fiel mir in die Arme.
„Emily, was machst du denn hier?“, fragte mein kleiner Bruder und musterte mich neugierig mit seinen großen blauen Augen. Obwohl unsere letzte Begegnung gerade etwas über einem Monat zurück lag, hatte er sich in dieser Zeit schon wieder verändert. Er wirkte älter und reifer, trotz der kindlichen Gesichtszüge, die er mit seinen 11 Jahren natürlich noch immer besaß. Er sah zerbrechlich aus, was in mir sofort wieder den Beschützerinstinkt weckte. Nie würde ich ihn im Stich lassen!
„Ich habe mir gedacht, ich komme euch früher als geplant besuchen. Wir sehen uns ja nur noch so selten und da bald Weihnachten ist...“
„Ja, ja“, unterbrach Joshua mich und ließ mich eintreten.
„Wo ist Oma?“
„Sie schläft.“
„Oh, achso“, murmelte ich, während ich versuchte meine Besorgnis ein wenig zu überspielen. In letzter Zeit kam es nämlich verdächtig oft vor, dass sie schlief und ich hatte Angst, sie könnte irgendwann überfordert sein.
„Du kennst sie ja, sie braucht ihren Mittagsschlaf und so“, plapperte mein kleiner Bruder unbeirrt fort und zog mich mit ins Wohnzimmer, wo der Fernseher lief. Es kam irgendeine Kindersendung.
„Woher hast du überhaupt gewusst, dass jemand vor der Tür steht?“ Als wäre dies sonnenklar, verdrehte mein Bruder genervt die Augen und antwortete: „Na, ich war in der Küche und habe mir ein Brot gemacht. Von da aus habe ich dich kommen sehen.“
„Hat Oma nicht gekocht?“
„Das macht sie nur noch selten.“
„Tatsächlich?“ Meine Besorgnis wurde immer größer, sodass ich mich erst einmal an meinen Koffer festhalten musste, damit ich nicht das Gleichgewicht verlor.
„Was ist los?“, fragte Joshua, während er schnell in die Küche lief und mit einem Nutellabrot wieder kam.
„Nichts. Äh... mein Zimmer ist noch frei, oder?“
„Türlich. Glaubst du etwa wir lassen dort jemand anderen einziehen?“
„Nein, nein. Ich dachte nur... vielleicht habt ihr ja ein Arbeitszimmer daraus gemacht.“
„Ach, Quatsch.“ Joshua machte eine abwerfende Handbewegung. „Du weißt doch, dass Oma nicht mehr arbeitet und ich muss ja sowieso noch zur Schule – leider.“
„Das letzte Wort habe ich jetzt mal überhaupt“, sprach ich kichernd, während sich mein kleiner Bruder wieder dem Fernseher widmete. Irgendwas Interessantes hatte seine volle Aufmerksamkeit gewonnen und dabei wollte ich ihn nicht länger stören, auch wenn ich mir sicher war, dass er viel zu oft vor dem Fernseher hing. Auch seine ungesunde Ernährung war mir nicht entgangen, aber dagegen konnte und wollte ich jetzt nichts tun. Er war noch ein Kind und würde meine Besorgnis deshalb nicht verstehen. Zuerst müsste ich mit unserer Oma sprechen, denn eigentlich war es ihre Aufgabe auf ihn zu achten und ich hatte das Gefühl, dass sie dieser nicht mehr gewachsen war.
Am späten Nachmittag waren endlich alle Klamotten in meinem alten Schrank verstaut. Es war ein komisches Gefühl gewesen, das Zimmer zu betreten, in welchem ich noch vor etwas über einem Monat gelebt hatte. Hier hingen noch so viele Erinnerungen an meine High School Zeit und ich musste schmunzeln, als ich die Poster einiger berühmter Filmstars entdeckte. Damals stand ich voll auf Dean aus Supernatural, der mit seinem Bruder Sam jeden Montag auf Geisterjagd ging. Irgendwie erinnerte er mich ein bisschen an Chris, was mich sofort dazu veranlasste, das Poster zu beseitigen. Ich war hergekommen, um meine Familie zu besuchen und hier Zuhause wollte ich nicht an ihn erinnert werden.
Ich musste schlucken, als es plötzlich an der Tür klopfte.
„Ja?“
„Ich bin es, Schätzchen“, erklang die fröhliche alte Stimme meiner Oma und sofort stand ich auf, strich meine Hose glatt und setzte mich auf mein altes Bett.
„Komm ruhig herein.“
„Wie schön, dass du schon früher gekommen bist.“ Mit breiten Armen kam sie auf mich zugelaufen und sofort ließ ich mich von ihr in eine Umarmung ziehen. Es tat gut, denn für mich war sie all die Jahre mein Mutterersatz gewesen. Auch wenn sie mich nicht vollständig großgezogen hatte, so war sie in meiner Pubertät dafür umso mehr für mich da gewesen. Manchmal fragte ich mich, was für ein Menschen ich heute wäre, wenn meine Eltern noch lebten – was aus Joshua und Oma geworden wäre. Würden wir alle genauso sein, wie wir heute waren? Oder hätte ich dann nie die Stadt verlassen, mein Bruder keine Abneigung gegen die Schule und meine Oma keine Altersschwäche? Ich wusste es nicht und leider würde ich es auch nie erfahren.
Mit einem leisen Seufzer ließ sie mich schließlich los und musterte mich von oben bis unten. „Kind, du bist dünn geworden. Bekommst du in Summerville kein ordentliches Essen?“
„Doch, aber ich habe so viel zu tun, dass ich das manchmal vergesse“, antwortete ich wahrheitsgemäß, während sich in dem alten Gesicht meiner Oma Besorgnis widerspiegelte. Jetzt waren ihre Falten noch deutlicher zu erkennen als sonst. Es schien so, als sei sie um ein paar Jahre gealtert.
„Wir werden dich schon wieder aufpäppeln“, sagte sie schließlich mit einem Lächeln auf den Lippen und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.
„Und was ist mit Joshua?“
„Was soll mit ihm sein?“
„Macht er dir auch keine Schwierigkeiten? Ich mein, er kommt ja langsam in ein schwieriges Alter und du bist ja auch nicht mehr die Jüngste“, murmelte ich verlegen, woraufhin meine Oma sofort eine abwerfende Handbewegung machte.
„Ach, ich bin mit dir fertig geworden, also schaffe ich es auch noch den kleinen Mann groß zu ziehen. Er ist auch schon sehr selbstständig geworden.“
„Weißt du, dass er sich öfter heimlich Nutellabrote schmiert und stundenlang vor dem Fernseher hockt?“
„So sind Kinder nun mal.“ Sie zuckte die Achseln, als wäre es das normalste der Welt. Auch wenn sie wahrscheinlich Recht hatte und Kinder sich wirklich oft dem widersetzten, was Erwachsene ihnen vorschrieben, so hatte ich dennoch das Gefühl, sie würde sich nicht genügend durchsetzen. Leider fiel es mir jedoch außerordentlich schwer, ihr meine Bedenken genau so zu sagen. Stattdessen nickte ich einfach nur.
In den nächsten Tagen würde ich einfach mal verstärkt darauf achten und ich hoffte inständig, dass meine Oma Recht behielt und Joshua nicht ganz so allein auf sich gestellt war, wie ich es bisher vermutet hatte.
Kapitel 10
– All I want for christmas...
Christmas Eve
Seit ein paar Minuten stand ich an der Küchentür gelehnt und beobachtete Oma dabei, wie sie die Plätzchen und das Essen für den heutigen Abend zubereitete. Bis jetzt hatte sie mich noch nicht bemerkt, vermutlich, weil sie so vertieft in ihre Arbeit war. Man merkte, dass es ihr sichtlich Spaß bereitete in der Küche herumzuwerkeln, doch beim genaueren Hinsehen erkannte man auch, wie viel Kraft sie das Ganze kostete. Hin und wieder stützte sie sich an dem Tresen ab, um ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen. Danach war sie jedoch wieder fit wie ein Turnschuh, sodass ihre kleinen Schwächeanfälle eigentlich kaum auffielen. Aber weil ich ihr jetzt schon eine ganze Weile bei ihrer Tätigkeit zusah und dabei auf jede Kleinigkeit achtete, schien es für mich offensichtlich zu sein, dass sie mit dem Haushalt überfordert war.
Ich musste schlucken, als Oma mich plötzlich bemerkte und ihr Gesichtsausdruck ins leichte Entsetzen wechselte. Hatte sie etwa Angst, ich könnte etwas bemerken?
„Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht stören“, sagte ich schließlich, woraufhin sie sofort eine abwerfende Handbewegung machte.
„Kind, du störst doch nicht. Ich habe mich nur ein wenig erschrocken, weil du überhaupt keinen Ton von dir gegeben hast. Stehst du schon lange dort?“
„Eine Weile“, gab ich achselzuckend zu, entfernte mich von der Küchentür und zog die kleine Frau in eine Umarmung. Mit dieser Geste wollte ich sie beruhigen, denn wenn sie wegen mir einen Herzinfarkt oder sonst irgendetwas bekam, könnte ich mir das nie verzeihen.
„Tatsächlich?“, brachte sie unter zusammengebissen Zähnen hervor. „Dann kommst du ja gerade richtig. Die Plätzchen müssten gleich fertig sein und Joshua und du, ihr dürft euch um die Glasur kümmern.“
„Wie großzügig von dir“, antwortete ich lächelnd und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann ging ich meinen kleinen Bruder holen, der sich nur widerwillig mit mir in die Küche begab. Früher hatte ihm das Plätzchen backen sehr viel Spaß bereitet, doch heute schien sich das geändert zu haben. Ein wenig mürrisch setzte er sich auf einen Stuhl und sah mir dabei zu, wie ich das Backblech aus den Ofen holte.
„Mhmm, das duftet ja richtig lecker.“
„Es ist immer noch dasselbe Rezept wie damals.“ Oma schenkte mir ein flüchtiges Lächeln und widmete sich wieder ihrer Herdplatte. Dass Joshua noch immer schlecht gelaunt in der Ecke saß und keine Anstalten machte mir zu helfen, schien sie nicht zu stören.
„Es erinnert mich an die früheren Weihnachtsfeste“, gestand ich, während ich mir heimlich einen Keks schnappte und genüsslich hineinbiss. Ich konnte einfach nicht widerstehen, denn es war viel zu verlockend.
Genau so eine Wirkung hat auch Chris auf mich.
Schnell schob ich mir das restliche Stück in den Mund und machte mich an die Arbeit.
„Das hab ich gesehen.“
„Was?“
„Du hast dir heimlich einen Keks genommen.“ Joshua verschränkte die Arme vor der Brust und warf mir einen warnenden Blick zu.
„Im Gegensatz zu dir, helfe ich Oma ja auch.“
„Trotzdem, die sind für später.“
„Na und“, gespielt beleidigt streckte ich ihm meine Zunge entgegen, was natürlich nicht lange unkommentiert blieb. Mein Bruder erhob sich schließlich doch noch von seinem Thron und warf mir eine Ladung bunter Streusel ins Gesicht, die zuvor auf dem Tisch gelegen hatten. So entstand eine kleine Rauferei zwischen uns, die natürlich nicht ernst gemeint war.
Unser Lachen verstummte jedoch, als Oma mit einem Kochlöffel bewaffnet dazwischen gingt. „ Kinder, ich bitte euch. Seit vernünftig!“
„Emily hat angefangen.“ Joshua krümmte sich vor lachen. So fröhlich hatte ich ihn schon lange nicht mehr erlebt und irgendwie hoffte ich insgeheim, dass es wegen mir so war. Genau das hatte nämlich auch ich vermisst. Vielleicht brauchten wir einander deshalb so stark, weil wir in unseren jungen Jahren das Wichtigste verloren hatten – unsere Eltern.
Langsam ließ ich meinen kleinen Bruder nun los und wand mich wieder den Plätzchen zu. Dem Machtwort meiner Oma widersetzen man sich lieber nicht, denn sonst konnte sie ungemütlich werden. Dass sie dazu heute noch fähig war, zeigte mir, dass man sie lieber nicht unterschätzen sollte. Sie mochte zwar älter und ein wenig schwächer geworden sein, aber anscheinend konnte sie sich immer noch durchsetzen.
„Soll ich dir helfen?“
„Klar.“
„Gut.“ Schweigend nahm Joshua die Packung mit den restlichen Streusel zur Hand und verstreute sie über die Glasur. Der frische Weihnachtsduft verbreitete sich in der ganzen Küche und ließ mich all meine Sorgen für einen kurzen Augenblick vergessen.
Am Abend war es dann soweit! Nachdem wir das leckere Essen zu uns genommen hatten, ging es ins Wohnzimmer, in dem ein großer geschmückter Weihnachtsbaum stand, den wir ein paar Tage zuvor aufgestellt hatten. Obwohl sich nur wenige Geschenke unter dem Baum befanden, begannen die Augen meines kleinen Bruders zu strahlen. In diesem Moment war er wieder der kleine 5-jährige Junge von damals. Anders als früher wusste er heute jedoch, dass es keinen Weihnachtsmann gab und wir alle leider nicht so viel Geld besaßen, um möglichst große und viele Geschenke zu kaufen. Doch das schien ihn nicht zu stören. Genauso wie ich, freute er sich auch über Kleinigkeiten. Für uns zählte die Bedeutung des Festes – nämlich, dass man dankbar sein sollte, seine Liebsten noch um sich zu haben oder in unserem Fall: sie in Ehren zu halten. An jedem Heiligabend seit 6 Jahren zündeten wir zwei Kerzen für sie an.
„Eine für Mum und eine für Dad.“ Joshua legte das Feuerzeug beiseite und platzierte die beiden Kerzen auf den Tisch. Einen kurzen Moment sah ich in das flackernde Licht, ehe ich meine Aufmerksamkeit wieder der kleinen Runde widmete. Wir saßen zu dritt um den Tannenbaum und beteten. Jedes Mal wenn wir dies taten, fühlte es sich so an als seien sie wirklich unter uns.
Das war für mich das größte Geschenk an Heiligabend.
Als wir fertig waren überreichten wir uns gegenseitig die klein verpackten Schachteln. Während Oma ganz vorsichtig das Geschenkpapier öffnete – wohl bedachte darauf, dass sie es nicht zerstörte –, konnte es meinem Bruder nicht schnell genug gehen. Umgeben von Papierfetzen strahlte er sein neues Modellauto an. Diese Leidenschaft hatte er von unserem Vater geerbt, jedoch hatte ich ihm dies nie verraten. Ich wollte nicht, dass ihn dieses Wissen beeinflusste und er das Sammeln von Autos nachher vermutlich noch aufgab. Ihn machte es glücklich und dieses Glück würde ich nicht gefährden oder gar zerstören.
„Eine neue Teekanne. Die ist ja wunderschön, Schätzchen. Das wäre doch nicht nötig gewesen. Vielen Dank!“ Ich wurde von meiner Oma in eine herzliche Umarmung gezogen und sofort durchströmte mich das Gefühl von Geborgenheit. So wohl hatte ich mich zuletzt in Chris Armen gefühlt, wenn auch auf eine andere Art und Weise.
Ich musste schlucken. „Das ist doch kein Ding. Für dich mache ich das gerne.“
„Jetzt bist du dran“, sprach Joshua fröhlich und deutete auf mein ungeöffnetes Geschenk.
Ganz langsam zog ich an der zierlichen roten Schleife, die sich ohne Komplikationen löste und somit die kleine Schatulle freigab.
„Na los, öffne schon! Es ist von Grandma und mir.“
„Ne, sag bloß? Und ich dachte schon der Weihnachtsmann hätte mir das hinterlassen“, kicherte ich, während ich nun behutsam die Schachtel öffnete. Darin lag eine silberne Kette mit einem Schlüsselanhänger. Sie war wunderschön.
„Das... Wow. Danke, ihr beiden.“ Vorsichtig legte ich mir das Kettchen um den Hals, sodass der Schlüsselanhänger noch besser zur Geltung kam.
„Das ist natürlich nur eine Kleinigkeit und soll unser eigentliches Geschenk symbolisieren.“ Etwas verwirrt starrte ich erst Oma und dann Joshua an, der bis über beide Ohren grinste. „Der Schlüssel bedeutet: dass du hier immer herzlich Willkommen bist. Wenn es dir da drüben in der Kleinstadt Summerville also mal zu viel wird, brauchst du nur herüber fliegen und wir sind für dich da. Die Kosten übernehme natürlich ich, selbst, wenn du jeden Monat vorbeikommst.
„Oh nein, ihr seit zu süß. Das... das kann ich doch gar nicht annehmen.“
„Und ob du das kannst, sonst sind wir nämlich beleidigt.“ Joshua verschränkte wieder die Arme vor der Brust, so wie er es schon heute Nachmittag beim Plätzchen backen getan hatte.
„OK, so kann ich das Angebot natürlich nicht ablehnen. Danke!“ Wir umarmten uns alle drei noch einmal und dann hing jeder seinen Gedanken nach.
Mein Bruder beschäftigte sich mit seinem Modellauto, meine Oma starrte die ganze Zeit die flackernden Kerzen an und ich überlegte, ob ich Chris nun ein schönes Weihnachtsfest wünschen sollte oder nicht. Immer wieder wanderte ich zu seiner Nummer, nur um sie gleich darauf wegzudrücken.
Nach einiger Zeit entschied ich mich schließlich dafür, ihm eine SMS zu schreiben.
Hey Chris,
ich wünsche dir ein schönes Weihnachtsfest.
Liebe Grüße, Emily
Nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte, fühlte es sich an als würde eine kleine Last von mir abfallen. Schon den ganzen Abend hatte ich mir darüber den Kopf zerbrochen und erst die beiden Kerzen – die jetzt schon bereits seit über einer Stunde hell leuchteten – gaben mir die Antwort.
Chris war zu einem wichtigen Menschen in meinem Leben geworden und trotz unserer kleinen Auseinandersetzung hatte er diese Grüße verdient.
An Weihnachten sollte man alle Streitigkeiten beiseite legen und aufeinander zu gehen. Es ist nicht umsonst das Fest der Liebe.
Diesen Satz hatte meine Mutter mir damals gepredigt und jetzt hörte es sich an als würde sie diese Worte noch einmal in meinen Gedanken wiederholen.
Das leise Pling meines Handys holte mich zurück in die Realität und verdeutlichte mir, dass ich eine neue Nachricht bekommen hatte. Etwas nervös öffnete ich die SMS und begann zu lesen.
Hey Emily,
das wünsche ich dir auch.
In Liebe, Chris
Ich musste lächeln und mir wurde ganz plötzlich warm ums Herz. Für jeden andere mochte dies unbedeutend sein, doch für mich bedeutete es die ganze Welt.
„Warum grinst so bescheuert?“ Joshua musterte mich mit weit aufgerissenen Augen und versuchte einen Blick auf mein Handy zu erhaschen. Da ich aber schneller war, konnte er leider nichts mehr erkennen. „Du bist gemein.“
„Es gibt auch Sachen, die dich nichts angehen. Du wirst so etwas noch früh genug erfahren.“
„Was?“
„Die Liebe.“
„Bist du etwa verliebt?“, fragte er und verzog dabei angewidert das Gesicht. Es sah zu süß aus, wenn er das tat.
„Vielleicht.“
Es war das erste Mal seit der Bescherung, dass Oma ihren Blick von den Kerzen abgewandt hatte und mir ihre vollr Aufmerksamkeit schenkte. „Wie heißt er?“
„Chris.“
Kapitel 11
- Irresistible
Es war der Tag der Abreise gekommen. Heute würde ich wieder die Heimreise antreten und zu meinem neuen Zuhause zurückkeheren – der Wohngemeinschaft.
Die letzten Tage waren wie im Fluge vergangen, sodass ich erst heute Morgen angefangen hatte meinen Koffer zu packen. Jetzt war es Vormittag und in 2 Stunden würde mein Flieger nach Summerville gehen.
Traurig blickte ich Oma und Joshua an, die mich beide gerne hier behalten wollten und auch ich wäre am liebsten in Columbia geblieben, aber es ging nicht! Ich hatte mich für ein neues eigenständiges Leben entschieden und dieses würde ich auch in Zukunft weiterführen.
„Ich glaube, ich werde dich... vermissen“, brachte Joshua unter zusammengebissenen Zähnen hervor. Man konnte ihm deutlich ansehen, dass er mit den Tränen kämpfte, diese jedoch mit aller Macht versuchte herunterzuschlucken. Er war nun in einem Alter, in dem Jungs stark und unverletztbar sein wollten.
„Ich dich auch, Kleiner. Komm her.“ Ich zog meinen Bruder in eine kurze Umarmung und widmete mich dann meiner Oma, die weinend neben ihm stand. Mit einem Taschentuch wischte sie sich ein paar Tränen aus dem Gesicht und begann leicht zu Lächeln. Auch sie wollte stark sein – für mich!
Sonst war ich immer diejenige gewesen, die ihre Gefühle unterdrückt hatte, damit unsere kleine Familie nicht darunter zerbrach. Dass es jetzt genau umgekehrt war, fühlte sich komisch an.
„Bitte weine nicht“, sagte ich schließlich, während ich die zierlichen Hände meiner Oma ergriff. „Du wirst sehen, ich werde euch ganz oft besuchen kommen. Ihr werdet kaum bemerken, dass ich weg bin.“
„Ich weiß, es ist nur...“, sie hielt inne und tupfte mit dem Taschentuch erneut ein paar Tränen weg. „Man gewöhnt sich so schnell an die alten Dinge. Als du weg warst, hat es lange gedauert, bis wir wir wieder in den normalen Alltag zurückgefunden haben, doch jetzt ist es so, als seist du nie weg gewesen. Es wird schwierig werden ohne dich, aber ich weiß natürlich, dass wir das schafften. Du brauchst dir also keine Sorgen um uns zu machen.“
Ich musste schlucken. In den letzten Tagen war mir nichts Ungewöhnliches mehr an ihr aufgefallen. Sie hatte sich genauso verhalten wie früher, auch wenn sie natürlich ein wenig gealtert war. Doch durch ihre jetzigen Worte kamen plötzlich Zweifel auf. Konnte ich die beiden tatsächlich alleine lassen?
„Vielleicht können wir dich ja auch mal besuchen kommen“, unterbrach Joshua das Schweigen und begann breit zu grinsen.
„Das ist doch eine gute Idee, nicht wahr Schätzchen?“
„Ja, ich denke schon. Und ihr zwei kommt wirklich alleine zurecht?“
„Natürlich oder hältst du uns für so unselbstständig? Die Frage lautet wohl eher, ob du klar kommst? Wenn du dort drüben in Summerville glücklich bist, dann sind wir es auch.“ Oma tätschelte meinen Arm, so wie sie es immer tat, wenn sie mich versuchte für etwas zu ermutigen. Eigentlich konnte man ihr vertrauen, aber trotzdem hatte ich ein wenig Angst, dass sie sich mit dieser Aufgabe zu viel zutraute.
„Du bist nicht mehr die Jüngste und Joshua kommt jetzt bald in ein schwieriges Alter.“
„Ach, bitte fang nicht wieder davon an. Ich verstehe deine Besorgnis, aber ich bin noch genauso fit wie vor ein paar Jahren.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, murmelte ich.
„Natürlich hab ich das.“
„Ey, was soll das heißen: ich komme in ein schwieriges Alter?“ Mein kleiner Bruder hatte sich vor mir aufgebaut und musterte mich trotzig. Ich hatte ganz vergessen, dass er ebenfalls im Flur stand.
„Na ja, du... du sollst Grandma keine Schwierigkeiten bereiten und versuchen sie ein wenig zu unterstützen“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Bin ich so schlimm, Grandma?“
„Ach quatsch.“ Schnell stellte sie sich zwischen uns und zog mich in eine Umarmung. Es war ein komisches Gefühl, zu wissen, dass ich für die nächste Zeit auf die Nähe meiner kleinen Familie verzichten musste.
„Und grüße Chris von mir. Er scheint ein netter Junge zu sein“, flüsterte sie an mein Ohr gewandt, sodass nur ich sie hören konnte.
„Werde ich.“ Auch wenn ich nicht wusste, ob es dazu tatsächlich kommen würde, versuchte ich mich an ein liebevolles Lächeln. Ich hatte ihr nicht erzählt, dass Chris und ich uns zurzeit eine kleine Auszeit nahmen. Wahrscheinlich hätte sie es noch nicht einmal verstanden, denn schließlich kannten wir uns gerade mal ein paar Wochen. Doch wenn ich ihr erzählt hätte, worum es wirklich ging, dann wären vermutlich alte Wunden aufgerissen. Ihre tote Tochter – meine verstorbenen Eltern –, waren ein Thema über das wir alle nicht sonderlich gerne sprachen. Das gemeinsame Beten an Heiligabend, der Todestag meiner Eltern und die jeweiligen Geburtstage, waren die einzigen Anlässe, an denen wir uns diesem schrecklichen Verlust stellten. Wenn Oma also erfuhr, dass ich dieses schlimme Ereignis einer Person anvertraut hatte, die ich eigentlich so gut wie gar nicht kannte und die obendrein auch noch so herzlos reagiert hatte, würde sie gewiss enttäuscht von mir sein.
„Wir wünschen dir eine gute Heimreise. Sobald du angekommen bist, meldest du dich.“
„Natürlich.“ Ich nickte und begab mich zur Haustür. Jetzt war es also soweit. Ein letztes Mal warf ich den beiden einen aufmunternden Blick zu, ehe ich endlich die Wohnung verließ – nicht ahnend, was mich in Zukunft noch alles erwarten würde.
Silvester
An meinem Ankunftstag in der WG, war ich Kayla und Tyson so gut es ging aus dem Weg gegangen. Ich hatte mich mit einem knappen „Bin wieder da“ in mein Zimmer verkrochen und meine Sachen in den Schrank geräumt. Damit war ich für den Rest des gestrigen Abends beschäftigt gewesen! Doch heute – an Silvester – wollte ich mich den beiden endlich stellen. Dass sie mich für unreif hielten war mir mittlerweile egal, aber sie sollten nicht auch noch denken, ich sei feige, denn das war ich definitiv nicht.
Etwas nervös betrat ich das kleine Wohnzimmer. Meine WG Mitglieder saßen auf der Couch und sahen sich irgendeine Silvesterparty an. Wenn sie nicht so schick angezogen gewesen wären, hätte man vermuten können, dass sie den Abend einfach zu zweit vor dem Fernseher ausklingen lassen wollten. Die plötzliche Erkenntnis, dass ich ganz alleine ins neue Jahr feiern würde, schmerzte ein wenig.
„Hey, ihr beiden“, brachte ich schließlich mit rauer Stimme hervor. Nervös spielte ich mit dem Saum meines Pullovers.
„Emily. Setz dich doch zu uns!“ Kayla deute auf den freien Platz neben sich, während ich mit langsamen Schritten zur Couch lief.
„Und das macht euch wirklich nichts aus? Ich mein... wenn ich störe, kann ich auch wieder auf mein Zimmer gehen.“
„Wieso glaubst du eigentlich immer, dass du uns nervst? Es war über Weihnachten ziemlich komisch ohne dich. Wir haben dich vermisst, nicht wahr Tyson?“ Sie boxte ihm leicht in die Seite, woraufhin er ein unverständliches Grummeln von sich gab.
Er kann mich nicht mehr leiden
, dachte ich.
„Hattest du denn ein schönes Weihnachtsfest mit deiner Familie?“, fügte sie schnell hinzu. Bei dem Wort Familie
zuckte ich automatisch zusammen, was aber keiner der Anwesenden zu bemerken schien. Verlegen räusperte ich mich.
„Ähm... ja, klar. Wir haben Plätzchen gebacken und Geschenke ausgepackt. Das Übliche halt.
„Das ist schön. Tyson und ich haben uns einen romantischen Abend gemacht. Er hat mir dieses Kleid geschenkt.“ Als sie sich erhob, bemerkte ich zum ersten Mal das lange schwarze Kleid aus Seide, was sie trug. Es schmiegte sich ausgesprochen gut an ihren Körper, fast so als sei es extra für sie maßgeschneidert worden.
„Wow“, brachte ich völlig erstaunt hervor. Tatsächlich hatte mir dieser Anblick ein wenig die Sprache verschlagen, denn so eine elegante Abendgarderobe war man von der sonst so sportlichen Kayla nicht gewohnt.
Sie wirkte wie ein völlig anderer Mensch.
„Freut mich, dass es dir gefällt. Zwar wird es gleich sowieso niemanden auffallen, aber ich musste es einfach anziehen.“
„Kann ich verstehen. Wo wollt ihr denn hin?“, versuchte ich etwas beiläufig zu fragen, jedoch konnte man meine Neugierde deutlich heraushören.
„Hier in der Stadtmitte von Summerville findet immer eine Silvesterparty statt, in der alle Einwohner gemeinsam in das neue Jahr hinein feiern. Das Ganze kann aber nur draußen veranstaltet werden, weil es keinen geeigneten Raum für die ganze Masse an Menschen gibt. Viele Leute bringen noch ihre Verwandtschaft mit und deshalb ist es unmöglich die ganzen Personen irgendwo unterzubringen. Ganz in der Nähe gibt es aber eine Kneipe, in der man sich zwischendurch aufwärmen kann.“
„Klingt cool.“
„Ja, das ist es auch. Wir werden uns bestimmt prächtig amüsieren.“ Ihre Lippen formten sich zu einem Lächeln, während Tyson noch immer auf der Couch saß und gebannt den Fernseher anstarrte.
„Ich wünsche euch beiden auf jeden Fall ganz viel Spaß“, sagte ich, während ich mit langsamen Schritten das Wohnzimmer verließ. Sofort lief Kayla hinter mir her und ergrifft zaghaft meine Schulter. Vorsichtig drehte ich mich zu ihr um.
„Was ist?“
„Du kommst doch mit, oder?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Nein“, gab ich kleinlaut zu. „Besser nicht!“
„Warum denn nicht? Es ist Silvester. Willst du etwa alleine in deinem Zimmer hocken und auf das neue Jahr warten?“
„Denke schon.“
„Das ist doch albern.“ Ihr Blick bohrte sich in meinen. Fast so, als wolle sie mich hypnotisieren.
„Albern ist höchstens mein Verhalten auf der letzten Party. Ich möchte euch nicht noch einmal den Abend versauen.“
„Ach, darum geht es? Du hast Angst, dass wir sauer auf dich sind? Mensch Emily, das Ganze haben wir doch schon wieder längst vergessen. Jeder von uns hat schon mal über die Stränge geschlagen, glaub mir.“
„Mag sein, aber ich glaube trotzdem nicht, dass dein Freund mich dabei haben möchte.“ Wir warfen beide gleichzeitig einen Blick ins Wohnzimmer. Tyson hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt. Es war unmöglich zu übersehen, dass er mich nicht mehr ausstehen konnte.
„Der wird sich schon wieder einkriegen.“ Kayla zwinkerte mir aufmunternd zu und zog mich in mein Zimmer. Dann öffnete sie meinen Kleiderschrank und sagte: „Machen wir uns an die Arbeit.“ Ab diesen Zeitpunkt konnte ich mich nicht mehr widersetzen. Ich hatte den Kampf verloren, wie so vieles andere im Leben auch.
Eine Stunde später standen wir bereits auf dem besagten Platz, wo sich schon jede Menge Leute tummelten. Ob jung, ob alt, ob dünn, ob dick, alle Freunde und Verwandte kuschelten sich aneinander und warteten gemeinsam auf das neue Jahr. In weniger als 3 Stunden würden jede Menge Raketen in die Luft steigen und ein buntes Feuerwerk entfachen. Es war die einzige Nacht, in der es keine absolute Stille gab. Dem zischenden Geräusch des Feuerwerks konnte man nicht entkommen. Es war überall zu hören, damit auch keinem auf dieser Welt dieses wunderbare Spektakel entging. Das alte Jahr konnte endlich hinter sich gelassen und das neue Jahr mit offenen Armen empfangen werden. Seit dem Tod meiner Eltern hatte ich jedoch aufgehört an Wünsche zu glauben, denn meinen einzigen Wunsch konnte das Leben mir sowieso nicht erfüllen. Der schreckliche Unfall ließ sich nicht rückgängig machen und genauso wenig würden die Toten wieder zum Leben erwachen. Es gäbe also nie eine Zukunft mit meinen Eltern.
„Alles in Ordnung?“ Kaylas leise Stimme drang an mein Ohr und sofort löste ich mich aus meiner Starre, in die ich für ein paar Sekunden versetzt worden war.
„Ja, klar. Es ist nur... etwas kalt“, gab ich kleinlaut zu.
„Finde ich auch. Am besten gehen wir erstmal ein bisschen in die Kneipe, uns vorwärmen.“
„Dafür wäre ich auch.“ Es war das erste Mal an diesem Abend, dass Tyson einen vernünftigen Satz von sich gab. Doch obwohl er noch immer ein wenig genervt aussah, munterte mich diese Erkenntnis ein wenig auf.
Jetzt kann es ja nur noch besser werden.
„Dann mal los“, sprach Kayla und gemeinsam machten wir uns auf den Weg zur Kneipe, die nur etwa 5 Minuten vom eigentlichen Treffpunkt entfernt lag.
Stickige Luft kam uns beim Betreten des alten Schuppens entgegen. Überall wurde gequalmt, sodass man sofort das Gefühl bekam in eine Art Dunstwolke einzutauchen.
In dieser Atmosphäre würde mir wahrscheinlich schon der zweite Drink zu Kopf steigen, deshalb bestellte ich mir lieber eine Cola.
Eine stämmige Barfrau stellte uns die großen Gläser auf den Tisch und wand sich dann einen neuen Kunden zu, der gerade das Lokal betrat. Es genügte schon ein flüchtiger Blick und ich erkannte ihn. Seine Stimme die – trotz des Lärms – so klar und rein klang, dass es mir die Sprache verschlug. Sein süßes Lächeln, was alles andere im Raum in den Schatten stellte. Seine einzigartige Aura, mit der er mich auch jetzt wieder in seinen Bann zog. Umwerfend. Zauberhaft. Unwiderstehlich.
Kapitel 12
– You're the only one that holds me down
Es fiel mir schwer meinen Blick von ihm abzuwenden und mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Auch wenn es unhöflich war, so konnte ich einfach nicht aufhören ihn anzustarren. In seiner gewohnt lässigen Haltung bestellte er sich einen Drink und schenkte der Bedienung dabei sein umwerfendes Lächeln. Es war nicht zu übersehen, dass ihr der viel zu junge Mann vor ihr sichtlich gefiel. Anstatt ihm das Getränk auf die Anrichte zu donnern – wie sie es bei den vorigen Kunden auch getan hatte –, stellte sie es behutsam auf eine Unterlage. Ich konnte sehen wie sich seine Lippen zu einem „Danke“ formten und er sich dann einen großen Schluck von seiner Cola nahm.
Schnell wand auch ich mich wieder meinem Getränk, denn es war nur eine Frage der Zeit, bis er mich entdecken würde. Mit meinen Händen umklammerte ich fester das Glas, so als könnte ich mich dadurch unsichtbar machen.
„Ist das da drüben nicht Chris?“ Kaylas viel zu laute Stimme drang an mein Ohr. Ich war mir sicher, dass auch andere ihre Frage gehört hatten.
Ich spürte die Blicke der fremden Leute auf uns ruhen.
„Kann sein. Gibt es hier eine Toilette?“
„Ähm... ja, klar. Dort drüben.“ Kayla schien meinen plötzlichen Themenwechsel nicht zu bemerken.
Mit ihrer rechten Hand deutete sie auf eine Tür im hinteren Bereich der Kneipe.
„Bin gleich wieder da.“ Wie ein aufgescheuchtes Huhn stand ich von meinem Platz auf und rannte geradewegs zu den WC's, um mich dort endlich in Sicherheit zu bringen. Natürlich war es völlig idiotisch gewesen, einfach so wegzulaufen und sich in einer Kabine einzusperren, aber in diesem Moment wusste ich keinen anderen Ausweg. Wenn ich dort sitzengeblieben wäre, hätte er mich auf jeden Fall entdeckt und genau das wollte ich mit allen Mitteln verhindern. Bevor ich mich ihm stellte, blieb ich lieber ein paar Minuten auf dem stinkenden Klo und wartete, bis er den Schuppen wieder verlassen hatte.
Ich seufzte. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt für ein derartiges Gespräch. Wir beide waren nicht darauf vorbereitet und ich wollte nicht, dass wir uns an so einem widerlichen Ort – zwischen all den betrunkenen Menschen – aussprachen.
Andererseits war heute jedoch die letzte Gelegenheit, das Jahr versöhnlich abzuschließen. Ich dachte an meine Eltern, bei denen mir diese Chance verwehrt geblieben war, die einfach so und ganz unverhofft aus meinem Leben gerissen wurden.
Mama hätte nicht gewollt, dass ich davon renne.
Ein letztes Mal warf ich einen Blick auf mein Handy.
10:00 Uhr. Noch 2 Stunden.
Ohne zu zögern schloss ich die Kabine auf und verließ die Toiletten. Ich hoffte inständig, dass er noch am selben Platz stand und seine Cola genoss. Doch als ich unseren Platz erreichte, konnte ich ihn nirgendwo entdecken.
„Habt ihr Chris gesehen?“, fragte ich mit leicht panischer Stimme.
Sofort schüttelten Kayla und Tyson den Kopf. Wahrscheinlich hatte er die beiden entdeckt und sich ganz schnell und heimlich aus den Staub gemacht. Mit Sicherheit glaubte er, dass ich ebenfalls hier war und wollte mir deshalb aus dem Weg gehen.
Bei dieser Vermutung zog sich mein Magen zusammen.
„Er hat aber kurz nach dir gefragt“, warf Kayla plötzlich ein.
„Tatsächlich? Ich meine... was hat er gesagt?“
„Ob du auch hier bist.“
„Und?“
„Keine Panik.“ Sie nippte schnell an ihrem Glas, ehe sie fortfuhr. „Ich hab ihm natürlich nicht verraten, wo du wirklich warst. Als du ganz plötzlich von deinem Platz aufgesprungen bist, war mir schon klar, dass du ihn nicht sehen möchtest, also habe ich ihm erzählt, du seist noch in Columbia bei deiner Familie.“
„Du hast was?“ Wut machte sich in mir breit. Ich verstand nicht, wie sie ihm einfach so eine Lügengeschichte auftischen konnte, auch wenn ich tief im Herzen wusste, dass sie es nur gut gemeint hatte.
„Hab ich irgendwas falsch gemacht?“
„Wie konntest du ihm so etwas sagen? Ist dir vielleicht mal in den Sinn gekommen, dass ich tatsächlich auf Klo musste?“
„Aber...“, wollte Kayla sagen, doch ich hatte mich zu sehr in Rage geredet.
„Ich verstehe dich nicht. Wenn du eine gute Freundin wärst, hättest du ihm nicht diesen Schwachsinn erzählt. Jetzt bekomme ich noch nicht einmal die Gelegenheit das zu klären.“
„Ruf ihn doch einfach an.“ Tysons raue Stimme hallte durch den Raum. Er klang ebenfalls wütend. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt.
„Ja, das werde ich jetzt auch machen“, sprach ich, während ich in meiner Hosentasche nach dem Handy suchte.
„Vielleicht solltest du besser nach draußen gehen.“ Kayla blickte zwischen mir und ihrem Freund hin und her. Sein Gesicht war noch immer wutverzerrt.
„Lass sie nur, Schatz. Sie soll sich bloß nicht mehr bei dir ausheulen. Du versuchst ihr eine gute Freundin zu sein und was ist der Dank dafür? So geht man einfach nicht mit seinen Freunden um. So geht man nicht mit dir um.“ Liebevoll strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht, ehe er mir noch einen letzten abfälligen Blick zu warf.
Jetzt hatte sich meine anfängliche Wut in tiefe Traurigkeit verwandelt. Ich spürte die brennenden Tränen, die nur darauf warteten, an die Oberfläche zu gelangen. Doch diesen Triumph wollte ich ihm nicht geben. Mit erhobenen Hauptes verließ ich das Lokal, während sich in mir alles verkrampfte.
Als ich draußen war, brach ich schließlich in Tränen aus.
Schluchzend lief ich durch die Menschenmenge, während ich alles um mich herum nur noch gedämpft wahrnahm. Vor meinen Augen hatte sich ein großer Schleier gelegt, sodass ich nicht wusste, wo ich eigentlich hinlief.
Hauptsache weg
, dachte ich. Weg. Weg.
Tysons strenge Worte und sein wütender Blick ging mir nicht mehr aus dem Kopf.
Er war kurz davor gewesen, die Beherrschung zu verlieren, das hatte ich gespürt. Auch wenn ich diese aggressive Seite nicht von ihm kannte, hatte ich schon vor diesem Streit gemerkt, dass man sich besser nicht mit ihm anlegte.
Doch war ich im Grunde nicht genauso?
Obwohl Kayla mir nur einen Gefallen tun wollte, hatte ich ihr Dinge an den Kopf geworfen, die eigentlich gar nicht stimmten. Natürlich war ich auf dem Klo gewesen, um mich vor Chris zu verstecken. Woher sollte sie also letztendlich wissen, dass mich der Gedanke an meine verstorbenen Eltern umgestimmt hatte?
Augenblicklich blieb ich stehen, um durchzuatmen. Durch das schnelle Rennen fühlte sich meine Lunge schwer an. Außerdem musste ich endlich die dicken Tränen beiseite wischen, sonst hätten sie mir noch das letzte bisschen Sicht genommen.
Als ich mich nach einigen Minuten wieder besser fühlte, ließ ich meinen Blick zum ersten Mal richtig durch die Menge schweifen. Überall tummelten sich Leute, die sich aufgeregt unterhielten oder einfach nur in den Sternenhimmel sahen, der schon bald in den prachtvollsten Farben leuchten würde.
Schmunzelnd betrachtete ich einige Sekunden lang das Spektakel, ehe ich plötzlich einen jungen blonden Mann – nicht weit von mir entfernt – entdeckte. Schweigend sah er in den Himmel und als sich sein Gesicht in meine Richtung wand, wusste ich, dass es sich tatsächlich um Chris handelte.
Fast wie von selbst bewegten sich meine Beine zu ihm hin. Auch wenn ich mich darauf nicht vorbereitet hatte, wollte ich jetzt keinen Rückzieher mehr machen.
Wir beide mussten versuchen dieses Jahr mit einer Versöhnung zu beenden, denn im Gegensatz zu meinen WG Mitgliedern, war er mir vollends ans Herz gewachsen.
Er kannte meine Vergangenheit, meine wahres Lachen und vor allem meinen wirklichen Charakter.
Bei ihm konnte ich, ich selbst sein!
„Chris.“ Schwer atmend hielt ich vor ihm an. Mein Herz hämmerte wie verrückt gegen meinen Brustkorb. Jetzt gab es kein Zurück mehr!
„Emily, was machst du denn hier?“ Völlig perplex starrte er mich an, als wäre ich nur eine Einbildung seiner Gedanken.
„Ich... also die Kneipe in der du vorhin warst.“
„Deine Freunde haben gesagt, du seist noch in Columbia.“
„Ja, war ich auch, zumindest über Weihnachten“, sprach ich, während sich meine Atmung langsam wieder normalisierte.
„Aber ich habe dich nirgendwo gesehen.“ Noch immer sah er verwundert aus.
Erst jetzt wurde mir bewusst, wie ich auf ihn wirken musste – wie ein runtergekommenes Wrack. Insgeheim schämte ich mich dafür.
„Das liegt daran, dass ich auf Toilette war.“
„Ach so, und warum hat Kayla mich dann angelogen?“
Weil sie eine taktlose Freundin ist und obendrein auch noch ein Monster zum Freund hat
, hätte ich am liebsten gesagt, doch das behielt ich lieber für mich.
Stattdessen antwortete ich: „Weil sie mich schützen wollte. Um ehrlich zu sein, habe ich dich schon viel früher entdeckt. Ich bin schnell zu den Toiletten gegangen, damit wir nicht miteinander reden müssen. Dann wurde mir aber bewusst, dass das total idiotisch von mir ist und so bin ich schnell wieder zurück an die Bar gegangen.
Leider warst du da schon verschwunden.“
„Verstehe.“ Er begann zu lächeln, so als wäre das, was ich ihm gerade erzählt hatte, einfach nur ein Scherz gewesen. „Und was hat dich letztendlich umgestimmt?“
„Meine Eltern. Ich möchte nicht noch mal jemanden verlieren, der mir so am Herzen liegt. Ich weiß, wir kennen uns nicht besonders lange, aber es wäre schade, wenn wir dieses Jahr so ganz ohne Aussprache beenden würden.“
Plötzlich wurde sein eben noch fröhlicher Gesichtsausdruck ernst. Ich wusste, dass es daran lag, weil ich meine verstorbenen Eltern erwähnt hatte. Jetzt war ich mir noch sicherer, dass es in dieser Hinsicht eine Verbindung zwischen uns gab.
„Natürlich hattest du recht, die Auszeit über Weihnachten haben wir beide gebraucht. Ich habe viel über uns nachgedacht – über das, was passiert ist.“
„Ich auch.“ Chris starrte wieder in den Himmel. Er wirkte traurig.
„Kann... kann es sein, dass du so etwas ähnliches wie ich erlebt hast?“ Es fiel mir schwer die nächsten Worte auszusprechen, aber ich musste es tun. Uns blieb nicht mehr viel Zeit bis zum neuen Jahr. „Hast du deine Eltern auch verloren?“
Nun senkte Chris seinen Blick. Einige Sekunden blieb es still, in denen meine Aufregung bis ins Unermessliche zu steigen schien.
„Nein, aber meinen Opa. Es ist schon lange her.“
Verstehe. Und als ich dir von dem Tod meiner Eltern erzählt habe, musstest du an ihn denken, nicht wahr?“ Er gab keine Antwort, aber ich war mir sicher, dass ich recht hatte. Sanft legte ich meine kalte Hand auf seine Schulter.
„Wir sollten das Ganze einfach vergessen. Meinst du, wir können im neuen Jahr noch mal von vorne anfangen?“
„Ja, ich denke schon.“ Auch wenn in seinen Augen noch immer ein Hauch von Traurigkeit aufflammte, hatte sich sein Gesichtsausdruck etwas erhellt. Wieder einmal begriff ich, warum die Frau in der Kneipe so sehr von ihm angetan war.
Diesem wundervollen Mann konnte man einfach nicht widerstehen.
„Danke.“ Ganz unverhofft zog ich ihn in eine Umarmung.
„Nein, das Danke gebührt dir. So wie ich mich aufgeführt habe, grenzt es schon an ein Wunder, dass du mir einfach so verziehen hast. Es tut mir wirklich leid.“
„Das braucht es nicht“, sprach ich, während ich ihn noch fester an mich drückte.
Nie mehr wollte ich ihn los lassen.
Eine ganze Weile verharrten wir in unserer Umarmung, ehe Chris sich ganz langsam von mir löste und in seine Hosentasche griff. Zum Vorschein holte er einen Schlüsselanhänger, den er nun ganz vorsichtig auf meine Handfläche legte.
Ein kleiner silberner Schlittschuh hing daran.
„Der ist für dich. Ein verspätetes Weihnachtsgeschenk so zu sagen. Es ist nichts Besonderes, aber...“
„Es ist wunderschön“, unterbrach ich ihn.
„Hättest Lust, mit mir im neuen Jahr Schlittschuhlaufen zu gehen? Als kleines Kind habe ich das immer total gerne gemacht und na ja, ich dachte das könnte dir vielleicht auch gefallen.“
Völlig überrascht starrte ich ihn an. Bisher hatte ich noch nie einen Mann kennengelernt, der mir freiwillig dieses Angebot machte. Chris war wirklich anders als andere, aber genau das machte ihn zu etwas Besonderem.
„Natürlich“, brachte ich schließlich strahlend hervor. Sofort erwiderte er mein Lächeln.
„Danke, das ist wirklich...“, ich hielt inne, um die richtigen Worte zu finden, „süß von dir. Ich würde dir auch gerne etwas schenken, aber leider habe ich daran gar nicht gedacht.“
„Das macht doch nichts. Hauptsache ist doch, dass dir wir diesen Augenblick zusammen erleben dürfen.“ Er deutete zum Himmel, wo sich auf einmal das erste Feuerwerk entfachte. Danach folgten weitere Raketen, die einen Schwall bunter Farben auslösten.
„Frohes neues Jahr, Emily.“
„Das wünsche ich dir auch.“ Auch wenn ich ihm in diesem Moment am liebsten ganz nah sein wollte, so hielt ich mich dennoch zurück. Ein Kuss hätte unserem Neustart nicht gut getan, deshalb ergriff ich einfach nur seine warme Hand und gemeinsam sahen wir in den hell erleuchteten Himmel über uns.
Kapitel 13
– Just the way you are
Das neue Jahr hatte begonnen und damit fingen auch wieder die Probleme der Menschen an. All das, was man letztes Jahr noch voller Überzeugung hinter sich gelassen hatte, holte einen schon bereits Mitte Januar wieder ein. Selbst die guten Vorsätze wurden nur selten durchgeführt und landeten meistens in die Das-verschiebe-ich-lieber-auf-nächstes-Jahr Schubladen.
Ich war einer dieser Menschen. Jedes Mal wenn ich ein schlechtes Jahr hinter mich gelassen hatte, hoffte ich umso mehr, dass das nächste Jahr besser werden würde. Doch so sehr mich der Glaube am Silvesterabend auch beflügelte, spätestens am nächsten Morgen wusste ich, dass sich nichts verändert hatte.
Auch dieses Jahr wartete ich wieder auf dieses Gefühl. Es kam meistens ruckartig – wie das plötzliche Stolpern eines Herzens. Meistens war dafür nur eine einzige Kleinigkeit verantwortlich, die mir zeigte, dass mein Leben einfach nicht besser werden konnte. Anfangs reichte ein Foto meiner Eltern, später kamen noch andere Dinge hinzu.
Doch heute – am 3. Januar
– hatte sich dieses Zeichen noch nicht bemerkbar gemacht. Oder wurde ich von meinen eigenen Gefühlen getäuscht?
War der Schmerz etwa verblasst, weil ich schon immun dagegen war?
Ich legte meine Hand auf meinen Brustkorb und konzentrierte mich auf meinen Herzschlag. Nichts. Es fühlte sich völlig normal an und auch so gab es keine Anzeichen dafür, dass es mir schlecht ging.
„Alles in Ordnung?“ Chris musterte mich besorgt. Er stand neben mir und hielt ein Paar Schlittschuhe in der Hand. Heute war der Tag, an dem ich sein Geschenk einlösen wollte. Zwar hatte ich ziemlichen Bammel vor dem Schlittschuh fahren, aber irgendwie würde ich das schon hinkriegen. Ihm zu Liebe.
„Ähm... ja klar“, räusperte ich mich, während ich schnell meine Hand sinken ließ und ihm ein aufrichtiges Lächeln schenkte. Von mir aus konnten die ersten Anzeichen für ein schlechtes Jahr noch ein wenig wegbleiben. Ich wollte mir lieber keine allzu großen Hoffnungen machen, denn bisher hatten mich mein Gefühl noch nie getäuscht.
„Du wirst das schon schaffen. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen und solange du mich als Trainer hast, kann dir sowieso nichts passieren.“
„Wann warst du das letzte Mal auf dem Eis?“
„Vor etwas 2 oder 3 Jahren. Wieso?“
„Und da soll ich dir vertrauen?“ Ich begann leise zu kichern. „Mich würde es nicht wundern, wenn du das Eislaufen schon längst wieder verlernt hast.“
„Ach Quatsch. Die Schlittschuhe passen mir zumindest noch.“ Chris hielt seine Eishockeyschuhe in die Höhe, die für mich fast noch unbenutzt aussahen. Ich fragte mich insgeheim, ob er damit überhaupt schon mehr als nur einmal gefahren war.
„Das kriegen wir schon hier.“ Mit einer aufmunternden Geste führte er mich zum Schnittschuhverleih. Meine Angst wuchs, aber die Vorfreude war dennoch größer.
„Und passen sie?“ Während ich noch dabei war meine ausgeliehen Schlittschuhe anzuziehen, hatte Chris seine bereits angezogen. Mit dem blauen Pulli, der schlichten Jeanshose und den schwarz-weißen Eishockeyschuhen sah er einfach nur umwerfend aus. Ich konnte mir unmöglich vorstellten, dass es jemanden gab, der ihn nicht anziehend fand.
„Ja, ich glaub schon“, murmelte ich, während ich nun versuchte ganz langsam aufzustehen. Wir waren noch nicht einmal auf dem Eis und selbst jetzt fühlte es sich schon wackelig an. Schwankend hielt ich mich an Chris fest.
„Uups.“
„Das fängt ja schon gut an.“
„Hör auf zu lachen und bring mich lieber sicher zum Geländer.“
„Wird gemacht Chefin!“
„Sei froh, dass ich nicht meine Schuhe anhabe, sonst hättest du schon längst einen Schlag von mir bekommen“, sprach ich gespielt böse.
„Du bist echt süß, wenn du so aufgebracht bist, weißt du das?“ Für eine kurze Sekunden streiften sich unsere Blicke, was mich komischerweise sofort an unsere Schneeballschlacht im letzten Jahr erinnerte. Als wir dort im Schnee lagen, hatte er mich mit genau demselben Blick angesehen. So intensiv, dass es mir die Sprache verschlug.
„Mit einem leisen „Endlich sind wir da“ versuchte ich die plötzlich unangenehme Situation zu überspielen. Schnell trat ich auf dem Eis und klammerte mich an die Bande. Ich fühlte mich nicht so sicher wie in Chris Armen, aber es war zumindest eine gute Alternative, denn ich wollte ihm lieber nicht noch einmal so nah kommen. Das zwischen uns sollte sich nicht noch einmal so schnell entwickeln. Wir brauchten Zeit.
„Geht's?“ Mit einer gekonnten Bewegung stand er schließlich neben mir und beobachtete leicht schmunzelnd meine ersten Versuche auf dem Eis.
„Ich denke schon. Es ist nur sehr... glatt.“
„Was für eine Schande , dabei lässt es sich auf unebenehm Eis doch viel besser fahren“, sprach er belustigt.
„Sehr witzig.“ Schritt für Schritt tastete ich mich voran. Dass ich dabei nicht unbedingt wie eine Eisprinzessin aussah war mir durchaus bewusst, aber wenigstens hatte ich schon fast die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht. Immerhin ein Anfang.
„Vielleicht solltest du einfach mal aufhören krampfhaft zu laufen und das Geländer loslassen. Das kriegen sogar die kleinen Kids hin. Chris deutete auf ein paar Grundschüler, die rasend schnell über das Eis fuhren. Dieser Anblick machte mich jedoch nur noch ängstlicher.
„Lieber nicht“, keuchte ich.
„Na schön, dann fahr ich eben alleine. Bis gleich.“
„Grmpf! Bleib hier“, schrie ich, doch da war er auch schon in der Menge verschwunden. Ich wusste, dass ich mich nicht den ganzen Tag am Geländer aufhalten konnte, aber ich hatte überhaupt keine Ahnung wie man sich richtig auf dem Eis bewegte.
Vorsichtig versuchte ich also meine Hände von der Bande zu lösen. Zuerst glaubte ich umzukippen, doch dann fühlte es sich plötzlich außerordentlich toll an – fast so, als würde ich schweben. Ganz langsam setzte ich einen Fuß vor dem anderen und glitt dabei immer leichter über das Eis. Jetzt kam es mir überhaupt nicht mehr zu glatt vor, sondern genau richtig für meine Schlittschuhe. Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen, um den Moment noch mehr zu genießen. So musste sich die Freiheit anfühlen. Während ich immer weiter dahin schwebte, bemerkte ich nicht, wie einer der Grundschüler mit rasender Geschwindigkeit auf mich zukam. Erst als mich etwas mit voller Wucht traf und ich das Gleichgewicht verlor, öffnete ich wieder meine Augen. Doch da war es schon zu spät. Meine größte Angst wurde wahr. Ich hatte mich auf dem Eis lang gelegt.
„Geht es dir gut? Hast du dich doll verletzt?“ Chris besorgte Stimme drang an mein Ohr. Wie konnte er so schnell bei mir sein? Oder war er die ganze Zeit in der Nähe gewesen? Wahrscheinlich.
Ich begann laut zu lachen. Natürlich schmerzten ein wenig meine Beine und Arme, aber es waren keine großen Verletzungen.
Schnell setzte ich mich auf und sah seinen verwirrten Gesichtsausdruck.
„Wieso lachst du?“
„Weil ich glücklich bin.“ Das war die reine Wahrheit gewesen. Wieder einmal fragte ich mich, woher er wusste, dass mir das Schlittschuhlaufen so viel Spaß bereiten könnte.
„Als ich das Geländer losgelassen habe, überkam mich auf einmal dieses wunderbare Gefühl. Es hat sich angefühlt als würde ich schweben. Bescheuert, was?“
„Nein, ganz und gar nicht. Ich hätte nur nicht gedacht, dass du deine Angst so schnell überwindest.“
„Da kannst du mal sehen.“ Ich ließ mich von ihm hochziehen und nachdem ich wieder richtig stand, wollte ich sofort weiterfahren. Chris hielt mich jedoch immer noch an meinem Arm fest. Er sah ein wenig besorgt aus.
„Vielleicht ist es besser, wenn wir zusammen fahren. Die kleinen Grundschüler sind mir nicht gerade geheuer.“
„Wenn dich das beruhigt.“ Ich zuckte die Achseln und hielt ihm meine Hand entgegen. Dann glitten wir gemeinsam über das Eis.
Der Nachmittag verging viel zu schnell und ehe ich mich versah, saßen wir in seinem Auto und fuhren nach Hause. Zu meinem Glück war ich nicht noch einmal hingeflogen, denn bevor es überhaupt soweit kommen konnte, wurde ich von Chris jedes Mal rechtzeitig aufgefangen. Wir waren uns nicht näher gekommen, worüber ich eigentlich froh sein sollte, doch aus irgendeinem Grund brachte mich das ein bisschen zum Nachdenken. Natürlich durfte es zwischen uns nicht noch einmal so schnell laufen, aber irgendwo hatte gerade das unsere Beziehung ja auch ein Stück weit ausgemacht. Dass wir jetzt extrem auf Distanz gingen und uns nur dann berührte, wenn es nötig war, fiel mir außerordentlich schwer.
Ich warf einen unauffälligen Blick zu Chris – der sich auf die Fahrbahn konzentrierte – und fragte mich, ob es ihm genauso ging. Spürte auch er das Verlangen nach mehr?
Immerhin war er ein Mann und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er seine Gefühle einfach so abstellen konnte. Sein Blick heute Nachmittag hatte ihn verraten.
„Können wir ein bisschen Musik an machen?“, fragte ich schließlich in die Stille hinein. Chris nickte und schaltete das Radio ein.
Just the way you are von Bruno Mars ertönte aus den Boxen.
„Es war echt schön heute“, murmelte ich.
„Ja, das fand ich auch.“
„Danke.“
„Dafür, dass dich das Eis fast umgebracht hätte?“
„Wenn dieser kleine Junge nicht gewesen wäre, wäre doch gar nichts passiert. Außerdem wurde es nach einiger Zeit ja immer besser. Ich hätte nicht gedacht, dass Schlittschuh fahren so viel Spaß machen kann.“
„Du wolltest ja nicht auf mich hören.“ Er neigte seinen Kopf kurz in meine Richtung und grinste breit. His laugh, his laugh.
„Das nächste Mal werde ich mich mit meinen Vorurteilen zurückhalten.“
„Es gibt also ein nächstes Mal?“ Chris klang erfreut, als er dies fragte.
„Natürlich, vorausgesetzt, dir hat der heutige Tag genauso gefallen wie mir.“
Ich hörte wie der Motor langsam erstarb und das Auto zum Stillstand kam. Wir befanden uns bereits vor der WG, was mich ein wenig verwunderte. Die Rückfahrt kam mir wesentlich kürzer vor als die Hinfahrt.
„Abgesehen von deinem Sturz hat mir heute so ziemlich jeder Moment mit dir gefallen“, antwortete er mit leiser Stimme und da war er plötzlich wieder – dieser intensive Blick in seinen wunderschönen blauen Augen. Man konnte unmöglich wegschauen.
Oh, his eyes, his eyes, make the stars look like they're not shining.
Er neigte sich zu mir herüber, bis unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Ich wollte ihn von mir wegschieben – ihm sagen, dass wir nichts überstürzen sollten, aber diese Worte blieben nur Teil meiner Gedanken. Ich konnte und wollte sie nicht aussprechen, zu schön war dieser Moment mit ihm.
Wir hatten die Grenze ein weiteres Mal überschritten, also konnten wir die Barriere auch ganz einfach auflösen. Diesmal machte ich den ersten Schritt. Langsam schloss ich meine Augen und legte meine Lippen ganz sanft auf seinen. Zuerst verharrten wir für einige Sekunden in dieser Position und dann erwiderte er schließlich zaghaft meinen Kuss. His lips, his lips, I could kiss them all day if he'd let me.
Kapitel 14
- Playing guitar
Konzentriert saß ich an meinem Schreibtisch und lernte für die Uni. Seit fast 2 Stunden versuchte ich jetzt schon mein mangelndes Wissen über die Geschichte der Kunst aufzufrischen. Wenn ich ehrlich war, mochte ich noch nicht einmal diese langweiligen Gemälde alter Maler, die man oft in Museen zu sehen bekam. Vielleicht lag das aber auch an meiner mangelnden Kreativität. Jedes Mal, wenn ich etwas zu zeichnen versuchte, entstand ein buntes Chaos, was auch von einem Kindergartenkind hätte stammen können.
Mit dieser Einstellung schien ich jedoch die einzige aus unseren Vorlesungen zu sein, denn außer mir, waren alle äußerst angetan von der Kunstgeschichte.
Müde rieb ich mir die Augen und legte meinen Stift beiseite. Es brachte sowieso nichts, wenn ich mich weiter mit diesem unnützen Zeug quälte. Viel lieber dachte ich an das gestrige Treffen mit Chris. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass mir das Schlittschuhlaufen so viel Spaß bereiten könnte.
Ein neuentdecktes Hobby – und das habe ich allein ihm zu verdanken.
Noch immer konnte ich seine weichen Lippen auf meinen spüren. Seine blauen Augen, die mich nach dem Kuss verlangend angestrahlt hatten. Da war etwas zwischen uns, was wir beide nicht unterdrücken konnten, weil es mächtiger war als unsere Vernunft.
Konnte es sein, dass es sich um Liebe handelte?
Ich schüttelte vernehmend den Kopf. Für ein derartiges Wort war es eindeutig noch zu früh. Vielleicht in einem Jahr, wenn wir da noch zusammen sind.
Während ich immer weiter in meinen Gedanken versank, nahm ich plötzlich ein lautes Klingeln wahr. Bevor ich jedoch erkannte, dass es geschellt hatte, musste ich erst einmal zurück in die Realität finden. Ganz plötzlich fühlte ich mich unbehaglich, denn mit großer Sicherheit handelte es sich um Kayla oder Tyson, mit denen ich seit Silvester kein Wort mehr gesprochen hatte. Die letzten 3 Tage waren wir uns – so gut es ging – aus dem Weg gegangen. Ich fragte mich, ob sie überhaupt noch mit mir zusammenleben wollten. Bei Tyson konnte man sich nicht sicher sein.
Er würde sich über meinen Auszug bestimmt freuen.
Ich seufzte. Da lief es endlich wieder gut zwischen Chris und mir und dann musste ich mich auch noch mit meinen WG Mitgliedern streiten.
Erneut drang das schrille Klingeln an mein Ohr. Es blieb mir nichts anderes übrig als aufzustehen und zur Haustür zu gehen, auch wenn es mich ein wenig ärgerte, dass die Person anscheinend ihren Schlüssel vergessen hatte. Das passierte Kayla häufig, deshalb ging ich schließlich davon aus, dass sie es war, die ungeduldig vor der Tür stand. Diese Erkenntnis ließ mich ein wenig aufatmen. Lieber führte ich mit ihr ein Gespräch, als mit ihrem Freund, der mich anscheinend sowieso verabscheute.
Langsam berührte ich schließlich die kalte Türklinke und drückte sie nach unten. Sofort konnte ich spüren, wie sich Kayla kräftig gegen die Haustür stieß, um eintreten zu können. Ein Schmerz durchzog meine rechte Schulter.
„Auaa.“
„Kannst du ein bisschen zur Seite gehen, damit ich reinkommen kann?“, bat mich jemand. Moment mal – das war eindeutig nicht die Stimme meiner Mitbewohnerin, denn dafür klang sie viel zu männlich. Und ehe ich begriff, um wen es sich handelte, stand er plötzlich vor mir. Seine blonden Haare waren vom Wind verweht und auf seinem Rücken trug er eine Gitarre. Nun wusste ich auch, warum er so viel Platz beim Eintreten benötigte.
„Tut mir leid, dass ich hier einfach so hereingestürmt komme, aber ich dachte du wärst zur Seite gegangen. Hab ich dir weh getan?“
„Ach, Quatsch.“ Ich machte eine abwerfende Handbewegung und versuchte den leichten Schmerz zu unterdrücken, der sich dabei durch meine Schulter zog.
„Ich hab mir gedacht, ich sehe heute nach der Musikschule mal bei dir vorbei. So als kleine Überraschung.“
Ich lächelte. „Klar.“
Gemeinsam gingen wir auf mein Zimmer und sofort nahm Chris seine Gitarre ab und legte sie vor meinen Schrank. Zugegebenermaßen störte mich der Anblick dieses Musikinstrument ein wenig, denn seit dem Tod meiner Eltern hatte ich mir geschworen, nicht mehr auch nur Ansatzweise in die Nähe einer Gitarre zu kommen. Es war eine Sache mit der ich abgeschlossen hatte – für immer!
„Du glaubst gar nicht, wie schwer diese Dinger sind. Ich laufe schon den ganzen Tag damit herum“, stieß er keuchend hervor und setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl. Ich weiß auch nicht, was mich auf einmal dazu antrieb, aber ehe ich mich versah, saß ich auf seinem Schoß und hatte meine Arme um ihn geschlungen. Diese vertraute Geste wirkte beruhigend auf mich, sodass ich schließlich die Tatsache, dass sich ein Musikinstrument in meinem Zimmer befand, ignorierte.
„Ich hab dich vermisst.“
„Tatsächlich?“ Er zog eine Augenbraue hoch und musterte mich scharf.
„Klar, was denkst du denn? Von mir aus hätte der gestrige Tag nie enden brauchen.“ Mein Atem streifte seine Haut und ich sah, wie sich eine leichte Gänsehaut an seinem Nacken bildete.
„Mir geht es genauso. Das zwischen uns ist etwas Besonderes.“ Nach diesen Worten legte ich einfach meinen Kopf auf seine Schulter und wir schwiegen für einen Moment. Es war so schön ihn in meiner Nähe zu haben, dass ich meine Sorgen und Ängste völlig vergaß. Unser überstürzter Kuss war kein Fehler gewesen, dem konnte ich mir jetzt sicher sein. Unsere Bindung hat sich dadurch noch mehr gefestigt.
„Die Geschichte der Kunst“, las Chris nach einer Weile laut vor und nahm das aufgeschlagene Buch, welches auf meinem Schreibtisch lag, zur Hand. „Das klingt interessant.“
„Ist es aber gar nicht“, murmelte ich, während ich vorsichtig sein weißes Hemd zurecht zupfte. Seine leicht gebräunte Haut kam dadurch noch mehr zum Vorschein.
„Müsstest du mir als Kunststudentin nicht eigentlich zustimmen? Oder hast du die Richtung einfach nur gewählt, weil sich nichts Besseres angeboten hat?“
„Kann schon sein. Ich bin froh, dass ich überhaupt studieren darf und der Rest ergibt sich eben von selbst“, sprach ich achselzuckend.
„Das sollte es aber nicht. Emily, man bekommt nur einmal die Chance zu studieren.“
„Ich weiß.“
„Und?“ Seine blauen Augen durchbohrten mich so intensiv, dass ich zu stottern begann.
„Was-meinst-du?“
„Mich würde einfach nur interessieren, was deine größte Leidenschaft ist. Als wir uns das zweite Mal bei Starbucks begegnet sind, hast du selbst gesagt, dass du überhaupt nicht zeichnen kannst.“
„Chris... ich.“ Langsam löste ich mich aus der Umarmung und starrte verlegen zu Boden. Ich wusste noch ganz genau, was ich damals zu ihm gesagt hatte, aber da konnte ich ja nicht ahnen, dass er irgendwann mit einer Gitarre bei mir auftauchen würde.
„Du hast gesagt, dass du musikalisch bist.“
„Nein“, stieß ich ein wenig panisch hervor. „Ich habe jediglich gesagt, dass ich einmal Gitarre gespielt habe, doch das ist lange her. Die Musik interessiert mich noch weniger als die Kunst!“
„Das glaube ich dir nicht“, wisperte Chris und kam mir wieder ein Stückchen näher. Diesmal spürte ich seinen Atem auf meiner Haut, was in mir den Drang hervorrief, ihn einfach mit einem Kuss zum Schweigen zu bringen. Doch ich wusste, dass er das Thema nicht einfach so vergessen würde.
„Ich kann es nicht.“
„Und warum nicht? Wir könnten gemeinsam auf die Musikschule gehen. Ich wette, die haben noch einen Platz für dich frei.“
„Hör auf damit, okay?“ Auch wenn ich völlig überreagierte, so konnte ich einfach nicht weiter auf seine Forderungen eingehen. Ja, ich mochte ihn sehr, aber nicht so stark wie meine verstorbenen Eltern. Er könnte meine Leidenschaft nicht einfach so zurückholen, dazu hatte sie sich schon viel zu sehr in einen Albtraum verwandelt.
„Gut. Ich werde dich nicht bedrängen. Vielleicht stimmt dich ja das hier um.“ Vorsichtig wand er sich von mir ab, ging zu meinem Schrank und öffnete die große schwarze Tasche, in der sich seine Gitarre befand.
Augenblicklich fing ich an zu zittern. Obwohl dieser Anblick nicht hätte schöner sein können, brachte er mich ins Schwitzen. Es wurde so schlimm, dass ich mich auf meinem Stuhl setzten musste, um nicht umzukippen.
„Bitte verzeih mir.“ Dann glitt er mit seinen Fingern sanft über die Seiten und begann eine mir unbekannte Melodie zu summen. Für diesen Moment fühlte es sich so an, als würde ich in eine andere Welt getragen. Meine eben noch da gewesene Panik schien verflogen und stattdessen breitete sich eine wollige Wärme in mir aus, die durch seinen plötzlich einsetzenden Gesang verstärkt wurde. Noch nie hatte mich ein Lied so sehr berührt. Es trieb mir Freudentränen in die Augen.
Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum der Song viel zu schnell aufhörte und ich mir nichts sehnlicher wünschte, als dass er ihn noch eimal spielte.
„Du weinst ja“, stellte Chris völlig verblüfft fest.
„Ja, weil es so wunderschön ist.“ Schnell wischte ich mit meinem Ärmel ein paar Tränen beiseite, um ihn daraufhin wieder gefestigt anzusehen. „Würdest du es noch mal für mich spielen?“
„Natürlich.“ Seine Finger glitten wieder über die Seiten und ich wurde erneut in eine andere Welt gezogen. In eine musikalische
Welt, die mich an eine glückliche Zeit erinnerte.
„Ist er schon weg?“ Erst jetzt bemerkte ich, dass Kayla bereits zu Hause war und sich meine schlimmste Befürchtung – ein Gespräch mit ihr – nicht mehr vermeiden ließ. Mit langsamen Schritten trat ich in die Küche, lief zum Kühlschrank und holte mir einen Joghurt heraus. Danach schnappte ich mir einen Löffel und lehnte mich gegen die Anrichte.
„Ja, er muss noch etwas besorgen.“
„Ach so.“ Kayla stellte sich mir gegenüber und musterte mich so eingehend, dass ich nicht anders konnte und das Thema schließlich anschnitt.
„Du... wegen Silvester. Es tut mir leid, was ich da zu dir gesagt habe. Ich hatte einfach Angst, Chris nicht mehr rechtzeitig zu erreichen.“
„Das hast du ja zum Glück geschafft.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte. Ihre vollen Lippen hatten sich tatsächlich zu einem Lächeln geformt.
„Ja, schon, aber ich hätte dir das nicht übel nehmen dürfen. Anfangs wollte ich auch gar nicht mit ihm reden...“
„Aber du hast deine Meinung geändert, stimmt's?“, unterbrach sie mich und ich nickte.
„Es ist schwer zu erklären. Etwas in mir hat mich umgestimmt.“
„Ich glaube, so etwas nennt man Verstand“, kicherte Kayla und augenblicklich begann auch ich zu lachen. Eigentlich war es ja auch völlig albern, wenn wir wegen dieses kleinen Streits wochenlang nicht miteinander reden würden. Jedoch war ich mir sicher, dass Tyson das anders sah, deshalb fragte ich: „Und dein Freund? War er noch sehr sauer?“
„Ach, du kennst ihn doch. Er wollte mich nur beschützen. In solchen Situationen reagiert er gerne mal über. Du darfst ihm das nicht übel nehmen.“
„Nein, das mach ich auch nicht“, sprach ich leise, während ich genüsslich meinen Joghurt aß.
„Na dann, vergessen wir das Ganze einfach. Neues Jahr, neues Glück!“ Sie reichte mir ihre Hand, damit wir unsere Versöhnung besiegelten. Alles schien auf einmal perfekt, nur wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sich das bald schlagartig ändern würde.
Kapitel 15
- Fly with me
3 Wochen später
Das erste Semester auf der Uni in Summerville neigte sich dem Ende zu. Die letzten Tage hatte ich fleißig mit Lernen verbracht und obwohl ich noch immer nichts für die Kunstgeschichte abgewinnen konnte, so wusste ich jetzt zumindest mehr darüber Bescheid. Es gab Dinge im Leben, denen musste man sich einfach stellen, auch wenn sie einem nicht sonderlich gefielen. Wenn man die Herausforderungen überlebte, machten sie einen nur noch stärker. Genau so betrachtete ich neuerdings mein Kunststudium! Es war nicht das, was ich wirklich wollte, aber es würde mir – im Gegensatz zu der Musik – nicht weh tun. Für Chris und allen anderen mochte das vielleicht komisch klingen, doch meine Leidenschaft zur Musik wiederzubeleben bedeutete auch, dass ich mich selber ein Stück weit damit umbrachte.
Ich wusste, dass ich den Schmerz nicht ertragen würde.
„Bist du bereit mein wundervolles Reich zu sehen?“ Mit seiner unverwechselbaren Stimme holte Chris mich zurück in die Realität. Wir standen vor seinem Apartment und ich wartete sehnsüchtig darauf, endlich einmal seine Wohnung zu Gesicht zu bekommen. In den letzten Wochen hatte er nie etwas von sich preisgegeben und manchmal fragte ich mich, ob er mir nicht doch noch was verheimlichte, aber als er mich heute völlig unverhofft zu sich einlud, hatte sich meine Vermutung wieder in Luft aufgelöst. Wahrscheinlich musste er einen Großputz veranstalten.
Ich begann leise zu kichern, was Chris natürlich nicht entging.
„Was gibt’s denn da zu lachen? Mag sein, das meine Wohnung von außen nicht so toll aussieht, aber wenn du sie von innen siehst, änderst du deine Meinung bestimmt.“ Zuversichtlich zwinkerte er mir zu und zog mit einer gekonnten Handbewegung seinen Schlüssel aus der Hosentasche.
„Na, da bin ich ja mal gespannt.“
„Das darfst du auch.“ Die Haustür wurde mit einem lauten Knarren geöffnet und ehe ich auch nur einen Blick in den Flur werfen konnte, hatte Chris plötzlich seine Hände über meine Augen gelegt.
„Du bist gemein“, grummelte ich, doch er ignorierte meine schimpfenden Worte einfach. Stattdessen führte er mich kommentarlos in einen angenehm warmen Raum, wo es nach Duftkerzen roch. Dann forderte er mich auf Platz zu nehmen und ich spürte den weichen Teppich unter mir. Obwohl ich noch immer nichts sehen konnte, war ich mir sicher, dass es sich um das Wohnzimmer handelte.
„So“, murmelte Chris und ließ seine Hände sinken. Sofort öffnete ich meine Augen und nahm zum ersten Mal den hell erleuchteten Raum wahr. Genau wie ich vermutet hatte, handelte es sich um das Wohnzimmer. Wir saßen auf einem weißen kuscheligen Teppich, umgeben von unzähligen Kerzen. Es war kein überdimensionales Zimmer, aber für uns zwei rechte es völlig aus.
„Wow“, brachte ich nach einer Weile hervor. „So wunderschön.“
„Gefällt es dir?“
„Noch nie hat jemand etwas so Romantisches für mich gemacht.“ Er begann breit zu grinsen – das Lächeln, was ich so sehr an ihm liebte – und reichte mir dann ein halbvolles Sektglas.
„Mein Apartment ist nicht sonderlich groß, aber ich finde es auch etwas unfair, wenn wir ständig nur in deiner WG rumhängen.“
„Ich finde es schön, dass du mir endlich mal etwas von dir zeigst“, gab ich ehrlich zu und stieß mein Glas vorsichtig gegen seines. „Auf uns!“
„Und unsere Liebe“, fügte Chris hinzu, während wir beide einen Schluck Sekt zu uns nahmen. Erst jetzt begann ich meine Umgebung etwas genauer zu betrachten. Sein Wohnzimmer war hauptsächlich in weiß und hellen Karamelltönen gehalten. Über den kleinen Flachbildschirm hing ein großes Bild von Chicago. Schlicht und dennoch persönlich.
Mein Blick fiel auf ein Familienfoto, das neben einem Bücherregal stand.
„Sind das deine Eltern und dein Bruder?“, fragte ich, während ich aufstand und langsam darauf zuging. Zaghaft fuhr ich mit den Fingern über den Bilderrahmen.
„Ja, aber das ist ein altes Foto von ihnen. Mein Bruder ist bereits erwachsen und lebt mit seiner Freundin zusammen.“
„Ach so.“ Ich hielt inne und betrachtete die weiteren Fotos, die sich in seinem Wohnzimmer befanden. Eines davon zog mich besonders in seinen Bann. Chris im Alter von ungefähr 16 Jahren. Er trug eine Chicago-Cape, die wunderbar zu seinen jugendlichen Gesichtszügen passte. „Du bist ja ein ganz schöner Chicago-Fan.“
„Es ist meine Heimatstadt“, antwortete er schulterzuckend, so als wäre dies völlig klar gewesen. Zum ersten Mal erfuhr ich Dinge über ihn, über die ich mir in den letzten Wochen noch nicht einmal Gedanken gemacht hatte. Für mich war es schon fast zu einer Selbstverständlichkeit geworden, dass er nichts Persönliches von sich preisgab. Zu wissen, dass er mir nun doch vertraute, machte mich außerordentlich glücklich.
„Ich war früher öfter in Chicago.“
„Tatsächlich?“ Chris zog eine Augenbraue hoch und musterte mich interessiert. Seitdem er offiziell mein Freund war, fiel es mir nicht mehr schwer ihm von meinem Leben zu erzählen, auch wenn ich immer noch Angst hatte, er könnte so reagieren wie damals zur Weihnachtszeit. Das ist einfach nur ein großes Missverständnis gewesen.
„Einige meiner Verwandten leben in Chicago. Nach dem Tod meiner Eltern habe ich sie jedoch nie wieder gesehen.“ Ich sah, wie Chris zu schlucken begann, ließ mich davon aber nicht beirren. Zaghaft lehnte ich mich gegen seine Brust und er schloss mich in seine Arme.
„Das tut mir leid“, wisperte er und strich behutsam über meine Haare.
Ich seufzte. „Das braucht es nicht. Du kannst ja nichts dafür, dass...“
„Psst.“ Zaghaft legte er seinen Finger auf meinen Mund und brachte mich so zum Schweigen. Mit der anderen Hand zog er mich näher zu sich heran, sodass uns nur noch ein Lufthauch voneinander trennte. Ich sah in seine meerblauen Augen und gab mich ihm schließlich völlig hin. Es war ein so leidenschaftlicher Kuss, dass ich zwischendurch zu keuchen begann, weil er mich so außer Atem brachte. Ihm schien es genauso zu gehen, denn auch er stöhnte wollig auf, als sich meine Hand unter sein weißes T-Shirt schob. Ich wusste auch nicht, was mich plötzlich dazu veranlasste, so die Kontrolle zu verlieren. Da waren nur noch wir beide – vereint.
Vorsichtig zog er mir mein Oberteil aus und ich presste mich noch etwas näher an ihn heran. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ihn ganz nah bei mir zu spüren. Mein ganzer Körper fühlte sich wie elektrisiert an.
Nach einer Weile führte er mich zwischen unzähligen lustvollen Küssen in sein Schlafzimmer und hievte mich aufs Bett. Diesmal verweilten meine Hände etwas länger unter seinem T-Shirt und schließlich zog er es sich mit einer gekonnten Handbewegung aus. So nah waren wir uns bisher noch nie gekommen und für einen kurzen Augenblick machte sich ein bisschen Panik in mir breit. Doch als ich spürte, wie sehr ihn meine Berührungen erregten und wie sehr ich selbst seine Nähe brauchte, verflog die Angst wieder. Wir beide spürten das Verlangen nach mehr und jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem wir unsere Leidenschaft endlich ganz ausleben würden. Meine Hand glitt behutsam in seine Hose, was nicht nur ihm, sondern auch mich rasend scharf machte. Unsere Blicke trafen sich für einen kurzen Moment und wir sahen das Verlangen in den Augen des jeweils anderen. Seine Hände schoben sich unter meinen BH, den er mir nun gefühlvoll auszog. Ich stöhnte auf und fuhr mit der anderen Hand durch seine Haare. Wir verwöhnten uns gegenseitig so lange, bis wir irgendwann ausgezogen waren und ich seinen nackten Körper auf meinen spürte. Zwischen heißen Küssen, strich er mir immer wieder über die Oberschenkel, meinen Bauch und meinen Brüste. Es war so schön, dass ich alles um mich herum vergaß. Als er dann schließlich in mich eindrang, entfachte sich ein großes Feuerwerk der Gefühle zwischen uns. Genau so musste sich der 7. Himmel anfühlen.
„Es war wunderschön“, flüsterte ich, drückte ihm noch einen Kuss auf den Mund und lehnte mich an seinen nackten Oberkörper. Wir waren beide noch ein wenig verschwitzt, aber das machte uns nichts aus. Noch nie hatte ein Mann mich so leidenschaftlich verführt, wie Chris es getan hatte. Es war nicht nur der schönste, sondern auch der gefühlvollste Sex, den ich je gehabt hatte. Ihm schien es genauso zu gehen, denn ich sah noch immer das Funkeln in seinen blauen Augen. Behutsam strich er über meinen Rücken und lächelte mich an.
„Mit dir ist alles so einfach. Du hast mich verändert, weißt du das?“
„Na, hoffentlich zum Positiven“, sprach ich, woraufhin er zu nicken begann.
„Früher wusste ich nicht, was Liebe
überhaupt bedeutet. Für mich hat das Wort nicht existiert.“
„Hm... ja, so ging es mir auch“, murmelte ich, als mein Blick plötzlich auf die Gitarre fiel, die unter seinem Fenster stand. Auf einmal machte sich ein unerklärliches Verlangen in mir breit. Ich wollte aufstehen, das Musikinstrument zur Hand nehmen und einfach nur spielen.
„Was hast du?“ Chris bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte und folgte meinem Blick zum Fenster. „Möchtest du etwas frische Luft tanken?“
„Nein, ich...“ Wie von selbst bewegte sich mein Körper aus dem Bett und meine Beine bewegten sich zu dem Objekt, was ich all die Jahre immer wieder versucht hatte von mir fernzuhalten. Ich ignorierte einfach die Tatsache, dass ich noch nackt war und nahm die große Gitarre zur Hand.
„Darf ich spielen?“, fragte ich mit brüchiger Stimme.
„Wenn du möchtest, gerne.“ Ich sah, dass Chris verwundert darüber schien, aber ihn machte es auch nichts weiter aus, also glitten meine Hände schließlich behutsam über die Seiten und ich fing an, ein längst vergessenes Lied zu spielen.
You already know
Tonight is the night to let it go
Put on a show
I wanna see how you lose control
So leave it behind, cause we have a night to get away
So come on and fly with me
As we make our great escape
So baby don't worry
You are my only
You won't be lonely
Even if the sky is falling down
You'll be my only
No need to worry
Baby are you down
Down, down
Baby are you down
Down, down
Even if the sky is falling down
Während ich Gitarre spielte, vergaß ich alles um mich herum und dennoch wartete ich auf den ganz entscheidenden Moment, der mich in die Tiefe ziehen würde. All die Jahre hatte ich mit einem unerträglichen Schmerz gerechnet, der mich beim Spielen dieses Instrumentes überkommen würde, doch aus irgendeinem Grund blieb dieser aus. Ich wusste nicht, ob es an der Anwesenheit von Chris lag oder einfach nur daran, dass ich endlich mit dem Tod meiner Eltern abgeschlossen hatte – aber eins wusste ich ganz genau: Es macht mich glücklich!
Ich begann zu lächeln und stellte die Gitarre beiseite.
„Und wie fandest du es?“ Während ich zurück unter die Bettdecke schlüpfte, konnte ich plötzlich ein leises Schluchzen wahrnehmen.
„Chris?“, wisperte ich und rückte näher an ihn heran. Als ich ihn von hinten umschlang, sah ich sie schließlich: unzählige Tränen, die an seinen Wangen hinunter flossen. Noch nie zuvor hatte ich ihn weinen gesehen. In mir verkrampfte sich alles. Was war geschehen?
Kapitel 16
– Sorry seems to be the hardest word
„Was hast du?“, wisperte ich und drückte mich noch ein wenig näher an ihn heran. Noch immer konnte ich ihn leise wimmern hören, wodurch meine Besorgnis förmlich ins Unermessliche zu steigen schien. Dies war eine völlig neue Situation für mich gewesen und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Bisher hatte Chris in unserer noch recht frischen Beziehung oft den Starken gespielt, den nichts so leicht erschüttern konnte. Dass ihn nun ausgerechnet mein Gitarrenlied zu Tränen rührte, hätte ich nicht für möglich gehalten.
Besorgt strich ich über seine dunkelblonden Haare.
„Du bist so lieb zu mir und ich...“ Er hielt inne und vergrub sein Gesicht noch weiter in das weiße Kissen. „Ich hab alles versaut.“
Wovon spricht er?
Hätte nicht ich diejenige sein müssen, die jetzt weinend im Bett lag? Schließlich hatte ich gerade auf einem Musikinstrument gespielt, dessen Anblick mir in den letzten Jahren noch große Schmerzen zugefügt hatte.
Ich schüttelte in Gedanken meinen Kopf. Manchmal geriet alles aus den Fugen, obwohl die Welt vor ein paar Minuten noch in Ordnung zu sein schien.
„Was redest du denn da? Der Abend mit dir war wunderschön.“
„Du hast so etwas wie mich einfach nicht verdient. Ich bin nicht gut genug für dich“, flüsterte Chris, während er zum ersten Mal seinen Kopf hob und mir in die Augen sah. Sein Blick war verschleiert. Noch nie hatte ich ihn so leiden sehen.
„Aber ich habe mich doch freiwillig für dich entschieden“, sprach ich und versuchte ihm ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Jedoch musste dies ziemlich gequält herüber gekommen sein, denn Chris hatte seinen Blick schon wieder gesenkt. Er sah so traurig aus, dass ich mich mit meinem nackten Körper schließlich vollends auf ihn legte und unzählige Küsse auf seinen Hals verteilte.
Er seufzte. „Ich glaube nicht, dass du dich wirklich freiwillig für mich entschieden hast.“
„Wie meinst du das?“ Meine Frage hing ein paar Sekunden im Raum. Keiner von uns beiden sagte etwas. Wir starrten uns einfach nur stumm an, während ich darüber nachdachte, was er damit gemeint haben könnte.
Der Auslöser kann nur mein Gitarrenspiel gewesen sein.
„Ich habe einen großen Fehler begonnen, Emily. Etwas, was man nie wieder gut machen kann“, gestand er auf einmal.
„Du hast überhaupt nichts falsch gemacht, im Gegenteil, dank dir habe ich endlich wieder meine Leidenschaft für die Musik zurückerlangt. All die Jahre hat mich eine traumatische Blockade daran gehindert, aber heute... heute konnte ich sie überwinden. Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich dir dafür bin.“ Völlig euphorisch drückte ich ihm einen weiteren Kuss auf den Mund. Doch als ich meine Wange gegen seine lehnte, spürte ich die salzigen Tränen daran herunterfließen.
„Hör auf damit, okay? Nichts ist gut“, wimmerte er und schob mich vorsichtig von sich herunter.
„Was habe ich dir denn getan? Warum gibst du mir ständig das Gefühl, dass ich etwas falsch gemacht habe? Ich dachte, wir wollten dieses Jahr noch einmal von vorne anfangen und alles hinter uns lassen.“
„Es geht nicht, Emily! Ich habe es versucht, aber so funktioniert das nicht.“ Chris Stimmlage hatte sich ganz plötzlich verändert.
Er brüllte so laut, dass ich zusammenzuckte.
„Dann sag mir einfach, was dich stört und ich werde gehen“, murmelte ich traurig. Die Leidenschaft, die ich vor wenigen Stunden noch gespürt hatte – das Feuerwerk, von dem wir umgeben waren – all das hatte sich in Luft aufgelöst.
„Ich möchte überhaupt nicht, dass du gehst, aber du wirst es ohnehin tun.“
„Hör auf ständig in Rätseln zu sprechen“, schrie ich ihn nun an. Wenn es etwas zu klären gab, dann sollte er endlich mit der Wahrheit herausrücken. Ganz plötzlich fühlte ich mich in den Moment zurückversetzt, als ich ihm von meinem Leben erzählt hatte. Damals war er genauso wütend gewesen. „Was verheimlichst du mir, Chris? Wer bist du wirklich?“ Die letzte Frage glitt nur noch als ein Flüstern über meine Lippen.
„Zuerst möchte ich dir sagen, dass das alles hier nicht so geplant war. Ich wollte nicht mit dir schlafen, aber ich habe mich nun mal in dich verliebt. Trotzdem hätte ich es nicht tun dürfen. Ich habe deine Unwissenheit für mich ausgenutzt und das tut mir so unendlich leid.“ Obwohl ich genau wusste, dass gleich noch etwas viel Schlimmeres folgen würde, wurde mein Herz von einer wolligen Wärme durchströmt.
Er hat sich in mich verliebt.
„Damals als wir zusammen im Schnee lagen und du mir von deinen Eltern erzählt hast, da konnte ich mich plötzlich an etwas ganz Entscheidendes erinnern, was ich eigentlich für immer aus meinem Gedächtnis verbannen wollte“, fuhr er nun fort, „dieses Etwas hat jedoch nichts mit meinem verstorbenen Großvater zu tun. Ich habe nicht nur dich, sondern auch mich selber belogen. Ich wollte das Ganze einfach so schnell wie möglich vergessen.“
„Was genau meinst du?“, fragte ich mit brüchiger Stimme nach. Ich hatte die Bettdecke so fest umklammert, dass meine Hände anfingen zu schmerzen.
„Ich war es! Ich habe deine Eltern umgebracht!“ Seine meerblauen Augen trafen auf meine. Tiefe Reue spiegelte sich darin wider. Auf einmal drehte sich alles um mich herum. Ich wusste nicht, was ich denken oder fühlen sollte. „Das mag total absurd für dich klingen, aber es ist die Wahrheit. Vor 6 Jahren habe ich mit meinem besten Freund einen Autounfall in Chicago gebaut. Dabei kamen drei Menschen ums Leben. (wer die dritte Person ist, könnt ihr euch wahrscheinlich denken) Zuerst habe ich dich überhaupt nicht wiedererkannt, immerhin warst du damals ziemlich stark verletzt, aber als du mir von dem Tod deiner Eltern erzählt hast, da fiel mir auf einmal wieder alles ein. Ich habe unsere Auszeit dafür genutzt, um ein wenig mehr über dich in Erfahrung zu bringen. Du warst das Mädchen von damals, das zusammen mit ihrem kleinen Bruder überlebt hat.“
„Das glaube ich nicht“, schrie ich panisch. Eine Welle von Schmerzen durchströmten mich. Jetzt setzte genau das ein, wovor ich die ganze Zeit so viel Angst gehabt hatte. All die Erinnerungen von damals prasselten auf mich nieder – wie ein überaus starker Hagelschauer.
„Es tut mir so schrecklich leid. Ich wollte es dir erzählen, aber du sahst jedes Mal so verletzt aus, wenn du von ihnen geredet hast.“ Chris versuchte mich weiterhin anzusehen, doch ich hatte meinen Blick bereits gesenkt. Ich fühlte mich wie gelähmt. Unfähig etwas zu sagen.
„Ich weiß, dass das unverzeihlich ist. Dabei fing alles völlig harmlos an...“
John – mein damaliger bester Freund – und ich waren auf den Weg zu einer Party, die am Stadtende von Chicago stattfinden sollte. Wir hatten gerade das 18. Lebensjahr erreicht und wollten im nächsten Jahr zusammen aufs College gehen, um Musik zu studieren. Es war eine unbeschwerte Zeit gewesen, in der es für uns nur zwei wichtige Dinge gab: Partys und Frauen! Der Spaß stand für uns an oberster Stelle, alles andere war uns völlig gleichgültig. Heute weiß ich, dass wir uns total kindisch und naiv verhalten haben, aber als Teenager denkt man da nun mal etwas anders.
„Mach mal etwas lauter, das ist mein Lieblingslied“, rief ich John zu, der sofort die Boxen bis zum Anschlag aufdrehte und es sich somit anfühlte als würde das ganze Auto vibrieren. Friedlich lehnte ich mich in meinem Sitz zurück. Der laute Beat wirkte beruhigend auf mich, sodass ich ganz langsam meine Augen schloss.
„Ey, du Schlafmütze. Willst du so die Weiber auf der Party für dich gewinnen?“, fragte John, während ich nur ein grummelndes „Lass mich“ von mir gab.
„Okay, du hast es nicht anders gewollt.“ Abgesehen von der Musik war es für einen kurzen Moment still geworden, bis ich plötzlich etwas kaltes an meinem Nacken spürte.
„Was ist das?“, schrie ich auf und als ich meinen Rücken abtastete konnte ich mein nasses Shirt spüren.
„Keine Sorge, das war nur Wasser.“ Mein bester Freund hielt eine halbvolle Plastikflasche in die Höhe, die ich ihm daraufhin aus seiner Hand entriss und zu meinem Mund führte. Das kalte Wasser war Balsam für meine Seele.
„Wie weit ist es noch?“
„Keine Ahnung“, John zuckte die Achseln. „10 Minuten vielleicht.“
Ich seufzte. „Wie öde.“
„Ich kann auch etwas schneller fahren“, schlug er und bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er schon aufs Gaspedal gedrückt. Vorsichtig kurbelte ich ein wenig die Fensterscheibe des Autos herunter und ließ den kalten Fahrtwind gegen mein Gesicht wehen. Meine Frisur war zwar in binnen weniger Sekunden zerstört, aber das machte mir nichts aus. Die Frauen standen auf meine wuscheligen Haare.
„Uh, Mr. Perfect ruiniert freiwillig seine zentnerschwere Frisur? Mal sehen, ob dir das auch noch gefällt.“ Mein beste Freund lachte gehässig auf, während sich die Geschwindigkeit des Autos noch mal um ein doppeltes erhöhte.
Schnell schloss ich wieder das Fenster.
„Bist du verrückt? Ich hätte fast meine Kontaktlinsen verloren.“
„Jetzt übertreib mal nicht, Kumpel.“ John klopfte mir aufmunternd auf die Schulter und ich ließ mich erneut in meinen Sitz sinken.
„Fahr mal ein bisschen langsamer“, bat ich ihn.
„Warum? Hat der kleine Chris etwa Angst?“ Ohne auf meine Forderung einzugehen, beschleunigte er noch einmal das Tempo.
Plötzlich machte sich tatsächlich Panik in mir breit.
„John, das ist nicht mehr lustig“, rief ich. „Fahr langsamer!“ Doch noch immer schien ihn meine Angst zu gefallen. Er wollte mich reizen, das wusste ich! Es war ein Spiel zwischen uns. Wir ärgerten uns des öfteren gegenseitig, aber heute ging er eindeutig zu weit.
„Ich mein es ernst! Willst du uns ins Verderben stürzen?“
Jetzt mach mal halblang, ja? Es fährt um diese Uhrzeit sowieso keiner mehr auf dieser Straße entlang.“
Doch da hatte er sich gewaltig geirrt. Es dauerte noch nicht einmal eine halbe Minute, als uns in der nächsten Kurve auf einmal ein Auto entgegen kam. Ich konnte sehen, wie John verzweifelt auf die Bremse trat, während das quietschende Auto fast schon zeitlupenmäßig auf uns zugerast kam. Dann war nur noch ein Aufprall zu spüren und alles um mich herum wurde schwarz. (← Das war der erste Teil – der zweite folgt in den nächsten Kapiteln)
Als Chris seine Erzählung beendet hatte, saß ich bereits angezogen am Bettrand.
Ich habe mit dem Mörder meiner Eltern geschlafen
, dachte ich, während sich mein Magen so stark zusammenzog, dass mir schlecht wurde. Es dauerte nicht mehr lange und ich würde mich übergeben.
„Natürlich weiß ich, dass ich genauso schuld daran bin wie John, auch wenn ich das Auto nicht gefahren habe“, fügte er noch hinzu und aus seinen Augen quollen erneut dicke Tränen. Beschämend wand ich meinen Blick von ihm ab.
„Wie konnte ich dir nur vertrauen? Schon als ich dich das erste Mal gesehen habe, kamst du mir so verdammt bekannt vor. Und du wusstest es! Du wusstest die ganze Zeit, wer ich bin und hast trotzdem so getan als wären wir uns nie begegnet? Wie kann man nur so krank sein, du Monster“, schrie ich, griff automatisch nach einem Kissen und warf es ihm entgegen. Natürlich fügte ich ihm damit keine Verletzungen zu, aber es sollte ein Symbol dafür sein, wie sehr ich ihn verabscheute.
„Emily.“ Er wollte nach meinem Arm greifen, doch ich war schneller. Mit einer gekonnten Bewegung entfernte ich mich von seinem Bett.
„Fass mich nicht an! Nie wieder!“
„Es gab oft Momente in denen ich es dir sagen wollte.“
„Ach ja, und warum hast du es mir ausgerechnet erst dann gebeichtet, nachdem wir miteinander geschlafen haben? Wie fühlt sich an, wenn man mit dem Mädchen schläft, das man auf dem Gewissen hat? Oder Moment mal, dachtest du, damit würde alles wieder gut werden? Du bist so ein erbärmliches Arschloch.“ Meine Stimme überschlug sich förmlich bei diesen Worten. Die Wut hatte sich in Hass verwandelt und wenn ich nicht bald ging, konnte ich für nichts mehr garantieren.
„So war es nicht, glaub mir. Ich habe mich schon am ersten Tag in dich verliebt und da wusste ich noch nicht einmal, wer du warst.“
„Hah... na klar doch.“ Ich begann gehässig zu lachen und warf ihm noch einen letzten Blick zu. „Erzähl das deinem toten Großvater.“
Mit diesen Worten stürmte ich aus seine Wohnung, hinaus in die dunkle Nacht.
Kapitel 17
– Break the night with colour
Oooh, I don't wanna know your secrets
Oooh, they lie heavy on my head
Oooh, let's break the night with colour
Time for me to move ahead
Ein eisiger Wind kam mir beim Verlassen des Hauses entgegen. Es hatte angefangen in Strömen zu regnen und normalerweise zog ich bei so einem Wetter instinktiv meine Kapuze auf, aber an diesem Tag war ich sogar dazu nicht mehr fähig gewesen. Wut und Verzweiflung vermischten sich zu einem Gefühl, was ich in dieser Art noch nicht kannte. Immer wieder konnte ich Chris Geständnis in meinen Gedanken hören. Er war derjenige, der mir all den Schmerz zugefügt hatte – der meine Eltern umgebracht hat.
Nur durch ihn hatte ich all die Jahre so leiden müssen. Doch das Schlimmste daran war, dass er es mir die ganze Zeit verheimlichte.
Mir wurde schlecht, als ich daran dachte, wie wir noch vor ein paar Stunden innig miteinander verbunden waren. Ich hatte tatsächlich geglaubt, dass er mein Mann fürs Leben sein könnte. Ein Prinz, wie man ihn aus einem Märchen kannte. Doch stattdessen war er das Böse. Und eigentlich hätte ich es wissen müssen.
Ja, von dem ersten Moment an als ich ihn gesehen hatte und er mir so verdammt bekannt vorgekommen war. Mein Verstand wollte mich warnen, doch dumm und naiv wie ich war, hatte ich diese Warnung ignoriert.
Ich versuchte den bitteren Kloß der Enttäuschung herunterzuschlucken, schaffte es jedoch nicht. Die Tränen waren nicht mehr aufzuhalten, denn sie verschleierten bereits meine Sicht.
Blind und verzweifelt rannte ich nun los. Meine Tränen vermischten sich mit dem Regen, der sich in den letzten Minuten noch verstärkt zu haben schien. Das Wetter spiegelte genau meine Seele wider. Als wüsste es, wie ich mich fühle. Seit ihr das vielleicht?
Ich lieb kurz stehen und starrte in den Himmel. Oft glaubte ich, dass meine Eltern von dort oben auf mich herabsahen. Aber... aber wenn ihr mich wirklich seht, warum habt ihr mich dann nicht gewarnt? Wolltet ihr, dass ich es selbst herausfinde?
Ich verstand es nicht. Das alles ergab einfach keinen Sinn für mich, also sank ich schließlich weinend zu Boden. Ich vergrub das Gesicht in meine Hände und begann aus vollem Leibe zu schluchzen, so laut, dass es vermutlich jeder aus der Nachbarschaft hören konnte. Doch das war mir egal! Alles war in diesem Augenblick unbedeutend. Meine große Liebe hatte mich hintergangen. Ausgerechnet der Mensch, dem ich mich nach dem Tod meiner Eltern zum ersten Mal wieder öffnen konnte. Ob das nun an meiner eigenen Naivität lag oder einfach nur daran, dass Chris ein guter Schauspieler war, wusste ich nicht. Fest stand jedoch: dass er mir erneut das Herz gebrochen hatte und ich vermutlich für immer Wunden davontragen würde.
Nach einer Weile verwandelte sich mein lautes Schluchzen in ein leises Wimmern. Es fühlte sich an, als gäbe es nicht genug Luft zum Atmen für mich. Krampfhaft hielt ich meinen Hals fest und sank schließlich vollends zu Boden. Das kalte Wasser unter mir durchnässte meine Kleidung, ließ meinen Körper gefrieren. Doch ich ignorierte die Kälte und konzentrierte mich auf meine Atmung, die immer schwächer zu werden schien. Plötzlich hatte ich das Gefühl die Kontrolle über mich zu verlieren. Das war einerseits befreiend, weil ich nicht mehr über das Geschehene nachdenken musste und andererseits erschreckend, weil ich niemanden um Hilfe beten konnte. Irgendwann wurde ich schließlich vollends von der Dunkelheit umhüllt und fiel in einen langen Schlaf.
„Emily? Hey? Bitte sag doch was?“ Jemand rüttelte mich so stark, dass ich schließlich für einen kurzen Augenblick meine Augen öffnen konnte.
„Wa-was ist passiert?“, stotterte ich, während die Person mich ein wenig hochhob und ich nicht mehr auf dem nassen steinigen Boden lag. Es fühlte sich an, als sei eine schier endlose Zeit vergangen. Das einzige, woran ich mich noch erinnern konnte, war, dass ich keine Luft mehr bekam. Der Rest blieb mir verwehrt.
„Ich weiß es nicht. Du bist wahrscheinlich ohnmächtig geworden.“
„Ja, das bin ich.“ Erschöpft schloss ich wieder meine Augen. Obwohl sie gerade noch offen gewesen waren, hatte ich nicht die Person erkennen können, die mich in ihren Armen hielt. Ich wusste nur, dass es sich um einen Mann handelte, dessen Stimme mir so unglaublich bekannt vorkam.
„Nicht einschlafen, hörst du? Du musst wach bleiben, solange, bis ich dich nach Hause gebracht habe.“ Nach Hause?
Ich konnte spüren, wie er mich schließlich vollends in seinen Armen wog und davontrug.
„Aber... ich verstehe nicht“, brachte ich geschwächt hervor, während ich mich an sein Shirt klammerte.
„Ich vermute mal, dass du schon eine ganze Weile dort draußen im Regen lagst. Wir müssen dich jetzt erst einmal aufwärmen.“
„Das klingt gut. Mir ist so kalt.“ Erst jetzt spürte ich das starke Zittern meines Körpers. Meine Muskeln schienen sich zu verkrampfen, was mich unweigerlich aufkeuchen ließ. Alle Wahrnehmungen schienen in diesem Moment auf mich einzuprasseln.
„Du schaffst das schon. Es ist nicht mehr weit.“
„Wo bringst du mich hin?“, wisperte ich, denn nun machte sich Angst in mir breit.
Was war, wenn man mich entführte? Nein! Ein gebrochenes Mädchen würde keiner einfach so von der Straße aufheben. Es musste jemand sein, den ich kannte.
„Ich bringe dich zu unserer WG, wohin denn sonst?“, beteuerte die Person und da erkannte ich auch endlich seine Stimme.
„Tyson?“
„Ja?“
„Wa-warum tust das für mich?“, war alles, was ich herausbrachte.
„Hätte ich dich etwa auf der Straße liegen lassen sollen?“
„Nein, aber...“, wollte ich noch sagen, als sich auf einmal wieder alles um mich herum zu drehen begann. Wenige Sekunden später sank ich erneut ins Land der Träume.
Als ich wieder aufwachte, befand ich mich tatsächlich in der WG. Jemand hatte mich von meinen nassen Klamotten befreit und mich in eine dicke Decke eingewickelt. Doch trotz dieser Tatsachen, war mir noch immer kalt. Ich zitterte zwar längst nicht so doll wie vorhin, aber immer noch stark genug, um meine schmerzenden Muskeln zu spüren. Mein ganzer Körper fühlte sich gebrechlich an.
„Sie ist aufgewacht“, gab Kalya plötzlich begeistert von sich. „Wie geht es dir?“ Sie berührte meine Stirn und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Nicht so gut“, gab ich ehrlich zu. Dass das jedoch hauptsächlich an meinem gebrochenem Herzen lag, verschwieg ich ihr.
„Du siehst auch ziemlich mitgenommen aus.“
„Vermutlich befand sie sich schon eine ganze Weile in dem kalten Regen“, ergriff Tyson das Wort und kam mit einer dampfenden Tasse Tee in mein Zimmer gelaufen.
Warum ist er plötzlich so nett zu mir?
„Meinst du nicht, wir sollten lieber einen Arzt rufen?“
„Es ist nur eine leichte Unterkühlung. Mit ein bisschen Fürsorge schaffen wir das auch alleine.“
„Ich weiß nicht.“ Kayla berührte erneut mein Gesicht, wahrscheinlich um sicher zu gehen, dass sich meine Temperatur langsam wieder normalisierte.
„Tut mir leid“, brachte ich nach einer Weile des Schweigens schließlich hervor.
„Das braucht es nicht, Emily.“
„Doch! Ständig mache ich euch Ärger. Ich kann sogar verstehen, wenn ihr mich nicht mehr länger in eurer WG dabei haben wollt.“
„Erzähl nicht so einen Blödsinn! Warum glaubst du, hat Tyson dich draußen von der Straße geholt? Etwa, weil er dich nicht leiden kann? Wir machen alle Fehler“, sprach Kayla, während sie dankend die Tasse Tee von ihrem Freund annahm.
„Warum passieren mir laufend solche Dinge?“, fragte ich und begann von Neuem zu schluchzen. Ich wollte nicht weinen, aber all die schrecklichen Gefühle kamen jetzt – wo ich wieder bei vollem Bewusstsein war – hoch.
„Was ist denn überhaupt passiert?“
„Das möchtet ihr lieber nicht wissen.“ Ich senkte meinen Blick und starrte die Bettdecke an. Wie sollte ich den beiden das Ganze erklären, ohne, dass sie von dem Tod meiner Eltern erfuhren. Es wäre unvermeidbar.
Andererseits – was hatte ich denn noch großartig zu verlieren? Niemand könnte den jetzigen Schmerz noch vergrößern. Er fraß mich innerlich auf und wenn ich nicht bald mit jemanden darüber sprach, würde ich zu einem Eisblock werden.
„Wir können es verstehen, wenn du nicht darüber reden möchtest, aber du solltest wissen, dass wir als deine Mitbewohner immer für dich da sind.“
„Kayla hat recht.“ Tyson ergriff erneut das Wort und lehnte sich gegen die Wand neben meinem Bett. „Es tut mir übrigens leid, wie ich dich behandelt habe. Einige Dinge waren nicht ganz in Ordnung von mir. Manchmal fällt es mir schwer meine Emotionen in Zaum zu halten.“
„Ist schon in Ordnung“, murmelte ich.
„Möchtest du etwas Tee trinken?“ Ich nickte, befreite meine Arme aus der Decke und nahm die Tasse entgegen.
„Ich habe so etwas wie euch gar nicht verdient.“ Das waren auch Chris Worte, bevor er... Mir schossen erneut Tränen in die Augen.
„Süße, so etwas darfst du erst gar nicht denken.“
„Nein, ich habe wirklich viele Fehler gemacht.“
„Ist es wegen Chris?“, hakte Kayla vorsichtig nach.
„Ja, auch. Aber bevor ich euch sagen kann, was zwischen uns passiert ist, muss ich euch erst etwas anderes erzählen.“ Gespannt sahen mich beide an, während ich ihnen zum ersten Mal von meinen Eltern erzählte. (Siehe Prolog)
Nachdem ich fertig war, herrschte eisiges Schweigen zwischen uns. Ich konnte das Entsetzen auf ihren Gesichtern sehen, aber keiner der beiden traute sich etwas zu sagen. Also ergriff ich schließlich wieder das Wort: „Chris ist bisher der einzige gewesen, dem ich es erzählt habe. Es macht mich traurig, dass er mein Vertrauen so missbraucht hat.“ Nein, es macht mich sogar wütend. Es zerreißt mich innerlich
, fügte ich noch in Gedanken hinzu und nippte an meinem dampfenden Tee.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das tut mir alles so schrecklich leid. Hätte ich gewusst, dass...“
„Du hättest es nicht verhindern können“, unterbrach ich sie und versuchte dabei so stark wie möglich zu klingen. Es schien zu funktionieren, denn meine Tränen waren bereits wieder getrocknet.
„Warum macht ein Mensch so etwas?“ Kayla begann zu schluchzen und sofort stand Tyson neben ihr und nahm sie in die Arme.
„Shhht. Wir sollten jetzt für Emily da sein, anstatt uns selber Vorwürfe zu machen.“ Während ich dabei zusah, wie meine Mitbewohner sich gegenseitig trösteten empfand ich plötzlich so etwas ähnliches wie Neid.
Eigentlich müsste ich jetzt in Chris Armen liegen
– aber das würde ich nie wieder. Er hatte mich hintergangen und dafür gab es keine Wiedergutmachung.
Schließlich löste sich Kayla aus der Umarmung, strich ihre Tränen beiseite und setzte sich wieder zu mir ans Bett.
„Ich werde dir helfen, damit dieses Schwein seine gerechte Strafe bekommt.“
„Er wird sich wünschen, dich nie kennengelernt zu haben“, stimmte Tyson mit ein. Etwas verwundert über den plötzlichen Stimmungswechsel, starrte ich beide an.
Hatten sie etwa vor, Rache an Chris zu nehmen? Ich musste schlucken, legte meine Hand aber nach wenigen Sekunden dazu. „Okay, ich bin dabei!“
Kapitel 18
– Who are you?
Den ganzen Tag über schlief ich immer mal wieder ein und wenn ich aufwachte, saß Kalya meistens an meinem Bett und hielt mir eine neue Tasse Tee entgegen. Ich war den beiden unglaublich dankbar, dass sie sich so intensiv um mich kümmerten, obwohl es in ihrem Leben so viel Wichtigeres zu tun gab. Während Tyson gegen Nachmittag arbeiten ging, hatte Kayla sich freigenommen, um weiterhin an meiner Seite zu bleiben. Sie wollte mich in diesem Zustand nicht alleine lassen, auch wenn ich immer wieder beteuerte, dass es mir schon viel besser ginge. Doch wahrscheinlich merkte man sehr deutlich, wie elendig ich mich in Wirklichkeit fühlte. Es war nicht nur mein Herz, welches sich – seit der Auseinandersetzung mit Chris – in tausend kleine Teile aufgelöst zu haben schien, sondern auch meine Gesundheit, die sich von Stunde zu Stunde verschlechterte.
Ich musste husten, als Kalya mir diesmal ein Glas Wasser reichte, was ich in langsamen Schlucken zu mir nahm. Mein Hals fühlte sich staubtrocken an, während sich meine Augenlider immer wieder vor Müdigkeit senkten. Ich wollte einfach nur noch schlafen und ganz schnell gesund werden.
„Du siehst sehr schlecht aus, wenn ich das mal so sagen darf“, ergriff Kayla zum ersten Mal wieder das Worte und musterte mich besorgt. Ich wollte eine abwerfende Handbewegung machen, aber selbst dazu war ich in diesem Moment nicht fähig. Stattdessen schenkte ich ihr einfach nur ein gequältes Lächeln.
„Es geht mir aber schon viel besser.“
„Bist du dir sicher?“ Sie berührte mit ihrer kalten Hand meine Stirn und ich sah, wie sie augenblicklich zusammenzuckte. Meine Wangen glühten wie zwei heiße Herdplatten.
„Du bist ja ganz heiß.“
„Na ja, immerhin ist mir jetzt nicht mehr kalt“, sprach ich ironisch, was meine Mitbewohnerin ganz und gar nicht lustig fand. Wie ein aufgescheuchtes Huhn sprang sie auf, ging in Richtung Wohnzimmer und kam schließlich wenige Minuten später mit einem Fieberthermometer zurück.
„Wir sollten unbedingt deine Temperatur messen.“
„Mir geht’s gut“, beteuerte ich kleinlaut, „ich brauche das nicht!“
„Sei nicht so unvernünftig“, tadelte sie mich und ehe ich mich versah, hatte ich das Thermometer schon unter meinen Arm geklemmt. Ich wusste, dass ich sehr hohes Fieber haben musste, doch komischerweise schien mir diese Erkenntnis völlig egal zu sein. Am liebsten wollte ich einfach nur alleine sein und mich in den Schlaf weinen. Was war schon ein kranker Körper im Gegensatz zu einem zerbrochenem Herzen?
Niemand würde es je wieder zusammenflicken können.
Schnell biss ich mir auf die Lippen, damit ich nicht laut los schreien konnte.
Kayla sollte sich nicht noch mehr Sorgen um mich machen.
„Dann wollen wir mal sehen“, sagte sie, nachdem ein leises Piepen zu hören war, und entriss mir mit einer gekonnten Handbewegung das Thermometer. „39, 5!“
Unsere Blicke trafen sich und jetzt breitete sich auch in mir Angst aus. Das letzte Mal als ich so hohes Fieber gehabt hatte, war ich noch ein kleines Kind gewesen. War so eine Temperatur nicht lebensgefährlich für Erwachsene? Ich musste schlucken.
„Wir müssen sofort einen Arzt rufen!“
„Aber...“ wollte ich noch sagen, doch da hatte meine Mitbewohnerin schon nach dem Telefon gegriffen.
„Keine Widerrede!“
„Ihre Freundin benötigt die nächste Tage unbedingt strengste Bettruhe. Ihre Temperatur muss regelmäßig gemessen werden und sollte sich ihr Zustand nicht verbessern, müssen Sie mich unbedingt benachrichtigen“, konnte ich die klare Stimme des Arztes hören, der sich im Flur mit Kayla unterhielt. Nachdem er mich gründlich untersucht hatte, gab er mir ein fiebersenkendes Mittel und eine Arznei, die ich jetzt jeden Tag einnehmen musste.
„Selbstverständlich. Kann ich denn sonst noch etwas für sie tun?“
„Legen Sie ihr hin und wieder einen lauwarmen Waschlappen auf die Stirn und versorgen Sie ihre Freundin mit einem Kamillentee (wääähh xD). Der Rest dürfte sich dann von alleine regenerieren. Sollte das nicht der Fall sein, haben Sie ja meine Nummer.“
„Okay, das werde ich machen“, bedankte Kayla sich bei ihm, während man nun die quietschende Haustür hören konnte. Dann kam sie mit leisen Schritten zurück in mein Zimmer gelaufen. Doch anstatt meine Augen zu öffnen, hielt ich sie weiterhin geschlossen, in der Hoffnung, dass sie mich für den Rest des Tages einfach in Ruhe ließ. Es lag nicht an ihr persönlich, sondern viel mehr daran, dass ich mich ganz alleine mit meinen Gefühlen auseinander setzen wollte. Ich musste unbedingt meinen Tränen freien Lauf lassen, sonst würde der Schmerz mich innerlich auffressen.
Verzweifelt biss ich in mein Kissen, als plötzlich wieder Kaylas Stimme erklang.
„Hey, ich bin's. Ja, sie schläft jetzt. Der Arzt war gerade da und hat sie untersucht. Man hat ihr strengste Bettruhe verschrieben.“ Sie hielt inne, vermutlich, weil die Person am anderen Ende der Leitung etwas sagte. Kurz öffnete ich meine Augen und erhaschte einen Blick auf meine Mitbewohnerin, die am Fenster stand und hinaus auf die Straße sah. „Ja, genau... Kamillentee und das übliche Zeugs. Hast du ihn schon ausfindig machen können? Hm... ach so verstehe. Sag mir aber sofort Bescheid, wenn du ihn entdeckt hast.“ Ich wusste nicht von wem sie sprachen, aber aus irgendeinem Grund kam mir auf einmal Chris in den Sinn. Ich werde dir helfen, damit dieses Schwein seine gerechte Strafe bekommt. Er wird sich wünschen, dich nie kennengelernt zu haben.
Immer wieder musste ich an diese Worte denken, die so hasserfüllt klangen, dass ich mich fragte, warum sie ihn noch mehr verabscheuten, als ich es tat.
„Okay, geht klar. Wir dürfen ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren! Du siehst ja, was er den Menschen in seiner Umgebung angetan hat. Das hast du nicht verdient und Emily auch nicht! Wir müssen ihn unbedingt aufhalten! Ich dich auch, Schatz.“ Zum Schluss hin wurde ihre Stimme lieblicher und sofort wusste ich, dass sie mit Tyson gesprochen hatte. Kein Zweifel, in diesem Gespräch ging es um Chris und er hatte scheinbar nicht nur mir, sondern auch meinen WG Mitgliedern etwas Schlimmes angetan. Doch was konnte es sein und woher kannten sie ihn überhaupt?
Kapitel 19
- Revenge
Am nächsten Morgen fühlte ich mich schon wesentlich besser, sodass ich es endlich einmal aus dem Bett schaffte und auf die Toilette gehen konnte. Zwar war ich immer noch ein wenig wackelig auf den Beinen, aber immerhin landete ich zum Schluss unversehrt in meinem Bett, auch wenn sich danach alles zu drehen schien.
Erschöpft rieb ich mir die Augen, ehe ich die Tablette vom Nachtschränkchen nahm und mit einer Ladung Wasser hinunterspülte. Schon wieder fühlte sich mein Rachen staubtrocken an und ich war mir sicher, dass das Kratzen in meinem Hals noch eine Weile anhalten würde. Wäre ich doch nie auf der Straße zusammengebrochen...
Doch was erwartete ich? Kein Mensch verkraftete solch eine Nachricht ohne irgendwelche Schwierigkeiten. Jedem wäre es an meiner Stelle so ergangen – oder?
Manchmal fragte ich mich, ob ich mich in die Sache mit Chris nicht zu sehr hereingesteigert hatte, denn wenn ich ihm nicht mein Herz geöffnet und es ihm zum Schluss sogar geschenkt hätte, wäre das alles vermutlich gar nicht so schlimm geendet. Aber er hat mich angelogen!
Ja, er hatte nicht nur mich, sondern anscheinend auch Kayla und Tyson hintergangen, auch wenn ich immer noch nicht so recht wusste, um was es sich bei ihnen handelte.
Ein Mörder ist zu allem fähig.
Doch war er das wirklich – ein Mörder?
Immerhin hatte nicht er, sondern sein damaliger Kumpel das Auto gefahren. Meine Gedanken kreisten sich noch eine Weile um dieses Thema, was mir langsam aber sicher Kopfschmerzen bereitete. Schon wieder verspürte ich den Drang danach, einfach in meine kleine Traumwelt zu flüchten und die Probleme für ein paar Stunden zu vergessen. Schlafen war das einzig Sinnvolle, was ich im Moment tun konnte.
„Darf ich hereinkommen?“, hörte ich Kayla jedoch auf einmal fragen, die draußen vor meiner Zimmertür stand und zaghaft klopfte.
„Natürlich.“ Ich ließ mich tiefer in das Kissen sinken, während meine Mitbewohnerin den Raum betrat und sich sofort an mein Bett setzte. Sie wirkte noch immer besorgt.
„Du solltest deine Tablette nehmen.“
„Hab ich schon.“ Ich deutete auf das Nachtschränkchen, auf dem die halbvolle Wasserflasche stand.
„Das ist gut. Wie geht es dir denn heute?“
„Besser.“
„Wirklich?“
Ich nickte, denn diesmal hatte ich tatsächlich die Wahrheit gesagt.
„Wenn man von den Hals- und Gliederschmerzen absieht.“
„Und das Fieber?“ Sofort berührte Kayla mit einer Hand meine Stirn, die sich längst nicht so heiß anfühlte wie gestern. „Scheint tatsächlich runtergegangen zu sein. Zur Sicherheit solltest du aber noch mal Fiebermessen.“
„Werde ich später machen, okay?“
„Klar, aber bitte vergiss das nicht“, tadelte sie mich, während ihr warmer Blick auf meinen traf. Manchmal erinnerte sie mich an meine überfürsorgliche Mutter, die früher – als ich noch ein kleines Kind gewesen war – Tag und Nacht an meinem Bett gesessen hatte. Es war schön und traurig zugleich.
„Stimmt etwas nicht?“
„Nein, ich habe nur gerade daran gedacht, dass du einmal eine gute Mutter sein wirst.“, antwortete ich leicht beschämend.
„Wie... wie kommst du denn darauf?“
„Na ja... weißt du, als meine Mum noch gelebt hat, da hat sie sich immer genauso um mich gekümmert wie du jetzt, wenn ich krank war. Sie konnte zwar manchmal etwas überfürsorglich sein, aber irgendwie hab ich genau das an ihr so sehr geliebt.“
„Oh, Emily“, fing meine Mitbewohnerin plötzlich an zu schluchzen und in ihren Augen bildeten sich kleine Tränchen. „Mir hat noch nie jemand solch ein Kompliment gemacht.“
„Dann wird das wohl mal Zeit, was?“, sprach ich lachend und versuchte so die Situation ein wenig aufzulockern. Es schien zu funktionieren, denn nun begann auch Kayla zu lächeln.
„Deine Mum... kannst du dich noch gut an sie erinnern?“
„Teilweise. An manche Momente erinnere ich mich noch ganz genau, an andere eher weniger. Mit der Zeit sind einige Dinge verblasst. Man kann es nur schwer erklären, aber ich denke, es ist mit einem Duft vergleichbar. Nach längerer Zeit verfliegt der Duft, aber wenn du dich wieder in der Situation befindest, mit der du diese ganz bestimmte Duftnote verbindest, dann kehrt auch die Erinnerung zurück.“
„Verstehe.“ Wir verfielen ins Schweigen, während jeder von uns seinen Gedanken nachhing. Ich musste an meine Eltern denken, die meine ganzen Entwicklungen nicht mehr miterleben konnten. Wären sie heute stolz auf mich?
Wahrscheinlich nicht, denn immerhin war ich auf den Menschen hereingefallen, dessen Kumpel sie in den Tod gerissen hatte. Vielleicht konnte man ihn nicht als Mörder bezeichnen, aber als Mitschuldigen auf alle Fälle.
„Du Kalya“, durchbrach ich schließlich die Stille, „was hat Chris euch eigentlich angetan?“
„Woher...“ Völlig irritiert starrte sie mich an. Jegliche mütterliche Züge waren aus ihrem Gesicht verschwunden.
„Ich weiß, dass ihr ihn nicht ausstehen könnt und ich würde gerne erfahren, warum das so ist?“
„Emily!“
„Okay, ich habe gestern das Telefonat zwischen dir und deinem Freund mitbekommen. Ihr habt über Chris geredet und darüber, dass ich ihr euch wegen irgendetwas bei ihm rächen wollt.“
„Es ist kompliziert zu erklären“, seufzte sie, während sie nun aufstand und in meinem Zimmer umher lief.
„Ich habe Zeit.“
„Ich weiß nicht, ob Tyson damit einverstanden wäre.“
„Dann frag ich ihn doch einfach“, schlug ich vor, griff nach der Wasserflasche und versuchte erneut meinen trockenen Hals zu bewässern.
„Er ist gerade am Laptop. Ich glaube nicht, dass er gestört werden möchte.“
„Kayla“, schrie ich etwas zu laut, was nicht nur meine Mitbewohnerin, sondern sogar mich selbst erschreckte. Doch es ging hier nun mal um Chris. Ich wollte und musste so viel wie möglich über ihn herausfinden. Er sollte genauso leiden, wie ich es tat!
„Na schön, bin gleich wieder da.“ Nach diesen Worten verschwand sie aus meinem Zimmer und wenige Minuten später, kehrte sie mit einem leicht genervten Tyson zurück.
„Was gibt’s?“, fragte dieser und warf mir und seiner Freundin abwechselnd skeptische Blicke zu.
„Emily würde gerne wissen, was wir gegen ihren Freund haben.“
„Chris?“
„Er ist nicht mehr mein Freund“, schnaubte ich wütend, während ich mich aufsetzte und die Arme vor meiner Brust verschränkte.
„Dann eben Exfreund.“ Kayla verdrehte genervt die Augen und wartete darauf, dass ihr Freund fortfuhr. Doch Tyson stand einfach nur da und glotzte mich an. Obwohl ich so zu sagen von ihm gerettet wurde, war er mir insgeheim noch immer ein wenig unsympathisch. Das lag wahrscheinlich daran, dass ich ganz genau wusste, dass er auch anders sein konnte. Er war nicht der liebevolle Freund, den er vorzugeben versuchte. Er war gefährlich, das erkannte ich an seinen hasserfüllten Blicken. Und trotz dieser Tatsache, wollte ich die WG nicht verlassen. Sie besaßen Informationen, die ich brauchte und ohne diese würde ich nicht verschwinden.
„Also was ist jetzt?“, fragte ich nach einer schier unendlichen Zeit, während ich tief in Tysons grüne Augen sah.
„Versprichst du mir, es niemanden zu sagen?“
„Werde ich nicht“, versicherte ich ihm.
„Du darfst dich nicht gegen uns stellen, selbst, wenn Chris versuchen sollte dich mit seinem süßlichen Gelaber einzulullen, verstanden?“
Ich schluckte und begann zaghaft zu nicken.
„Gut, alles weitere kannst du ihr erzählen.“ Tyson wand sich an seine Freundin, die nervös von einem Bein auf das andere trat. Zum ersten Mal schien sie sich in der Nähe ihres Freundes nicht wohlzufühlen.
„Also schön. Chris hat nicht nur dein, sondern auch unser Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Alles begann letzten Sommer, als Tyson sich auf der Musikschule anmelden wollte...“
Es war ein ziemlich heißer Sommertag, an dem die Anmeldungen für die Musikschule stattfanden. Man musste sich persönlich vorstellen, seine Zeugnisse vorzeigen und natürlich sein musikalisches Talent unter Beweis stellen. Tyson und ich waren zur dieser Zeit noch kein Paar, sondern nur gute Freunde, deshalb begleitete ich ihn auch zu seiner Vorstellung.
„Du schaffst das schon.“
„Ich hätte noch ein wenig üben sollen, findest du nicht?“
„Weißt du, wenn man zu viel übt, ist das auch nicht gut“, erklärte ich ihm, während wir schließlich vor dem riesigen Gebäude halt machten. Tyson war völlig überwältigt gewesen, denn überall tummelten sich Menschen mit aller Art von Musikinstrumenten.
„Wow... gegen diese ganzen Leute habe ich doch keine Chance“, stieß er nach einer Weile hervor.
„Sag so etwas nicht. Du hast Talent!“
Dann betraten wir den großen Saal, wo die Anmeldungen stattfanden. Nur die besten Schüler wurden zu einem Einzelgespräch eingeladen. Da Tyson jedoch nicht das Glück gehabt hatte, auf einer Privatschule zu gehen, hielt man ihn erst einmal zurück. Sein Zeugnis sei zwar ganz gut, aber halt nicht gut genug.
„Ich wusste es, verdammt noch mal.“
„Sie haben noch nicht Nein gesagt“, versuchte ich ihn aufzumuntern, was ihn ein wenig zu besänftigen schien. „Wie wäre es, wenn du dich einfach dort hinstellst, deine Gitarre herausholst und spielst? Dann müssen sie dir zuhören.“
„Ich weiß nicht.“
„Du spielst fantastisch.“
„Das tun viele hier“, entgegnete Tyson, doch letztendlich ließ er sich auf meinen Vorschlag ein. Wir stellten uns also etwas abseits vom Gebäude hin und er begann sofort auf der Gitarre zu spielen. Es war wunderschön und viele Leute hielten sogar an, um ihm zuzuhören – bis plötzlich ein blonder Junge erschien, sich ebenfalls an den Rand des Gebäudes stellte und zu spielen begann. Auch er beherrschte sein Instrument perfekt, was uns dazu antrieb, noch lauter und länger zu spielen als er es tat. Irgendwann wurden dann einige Lehrer auf uns aufmerksam und baten Tyson und diesen blonden Jungen mitzukommen. Sie wurden beide zu einem persönlichen Gespräch eingeladen, was natürlich hervorragen war, denn genau das hatten wir ja mit dieser Aktion bezwecken wollen. Dann kam es jedoch zu etwas Unerwartetem!
„Chris, Tyson, wir möchten gerne, dass ihr beide für uns spielt.“
„Ein Duell?“, fragte mein Freund den Lehrer und dieser nickte.
„Zeigt mir, wer der Bessere von euch beiden ist. Der Gewinner darf unsere Schule besuchen.“ Natürlich war auch der blonde Junge total überrascht gewesen, aber er ließ sich dadurch nicht beirren. Er spielte so gut wie kein anderer, während mein Freund vor lauter Nervosität nichts hinbekam. Unter Zeitdruck zu spielen, war noch nie seine Stärke gewesen und somit hatte man sich letztendlich für den blonden Jungen entschieden.
„Herzlichen Glückwunsch.“
„Es tut mir wirklich leid für dich“, entgegnete Chris und versuchte ihm ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Doch Tyson war natürlich überhaupt nicht begeistert. Schlecht gelaunt machten wir uns schließlich auf den Heimweg.
„Dieser Chris ist ein Arschloch!“
„Wieso sagst du so etwas? Er konnte doch nichts dafür, dass man dieses Duell veranstaltet hat.“
„Trotzdem! Hast du seinen Blick gesehen, nachdem er gewonnen hat? Er hat so schadenfroh gelacht, dass ich ihm am liebsten eine reingehauen hätte.“
„Tyson“, schnaubte ich, doch dieser hatte sich bereits in Rage geredet.
„Er hat diesen Sieg nicht verdient. Wegen ihm kann ich meine Musikkarriere an den Nagel hängen.“
„Wir finden mit Sicherheit eine andere Lösung.“
„Und welche?“
„Wir...“, begann ich, hielt nach kurzer Zeit aber inne. Was konnte man einem guten Freund in diesem Moment raten? Mit fiel nichts Passendes ein.
„Wir werden ihn vernichten“, beendete er meinen Satz.
„Wie bitte?“
„Ach, nichts. Das Leben geht weiter, nicht wahr?“ Ganz plötzlich fing Tyson nervös an zu lachen, was mich nur noch mehr irritierte. Aber was kümmerte mich das? Immerhin schien es ihm jetzt besser zu gehen.
Fassungslos starrte ich die beiden. Kayla hatte ihre Erzählung beendet und es war außergewöhnlich still im Raum geworden.
„Ihr wollt ihn umbringen?“, teilte ich meine Vermutung schließlich laut mit.
„Nein, quatsch.“ Meine Mitbewohnerin machte eine abwerfende Handbewegung.
„Wir wollen ihm nur eine Lektion erteilen. Er soll das, was er am meisten liebt, verlieren“, sprach Tyson in monotoner Stimmlage, entfernte sich von seiner Freundin und kam auf mich zugelaufen. „Die Musik“, hauchte er an mein Ohr gewandt.
Ganz plötzlich wurde mir schlecht, denn für den Hauch einer Sekunden, hatte ich an mich selbst gedacht. Aber ich bin nicht seine große Liebe.
Ich war es nie und würde es auch nicht sein!
„Und du wirst uns dabei helfen.“
Ich musste wieder schlucken, während ich panisch meine Bettdecke umklammerte. Auch wenn hier nicht von einem Mord die Rede war, hatte ich doch ein wenig Angst. Augenblicklich fragte ich mich, wo die liebevolle Kayla von vorhin verschwunden war, denn auch sie wirkte auf einmal voller Hass.
„Dann kann es ja losgehen“, sagte sie schließlich und im selben Moment klingelte es. „Lasst uns ihn vernichten!“
Noch ehe ich realisierte, was geschah, waren die beiden zur Haustür gerannt. Mit langsamen Schritten folgte ich ihnen in den Flur, wo ich einen völlig verwirrten Chris vorfand.
„Wir haben ihn hier herbestellt“, sprach Tyson und drückte meinen Ex-Freund mit voller Wucht gegen die Wand.
„Aber was...? Emily, ich wollte doch nur mit dir reden.“ Chris meerblaue Augen trafen auf meine, während ich erstarrt stehen blieb und dabei zusah, wie Tyson schließlich auf ihn einschlug.
Kapitel 20
- A fault confessed is half redressed
Immer und immer wieder schlug Tyson auf ihn ein, bis Chris irgendwann die Wand hinunter rutschte und in sich zusammensank. Blut quoll aus seiner Nase, ein Veilchen prangte an seinem Auge und seine Lippen waren aufgeplatzt. Dieser Anblick schockierte mich so sehr, dass ich nicht fähig war mich zu bewegen. Wie gelähmt stand ich da, während die Prügelei einfach so vor meinen Augen vorüberzog.
Irgendwann packte Tyson ihn dann wieder am Kragen und stemmte ihn erneut gegen die Wand. Er schien immer noch nicht genug zu haben, was mir unwillkürlich Angst einjagte, denn wenn er so weiter machte, würde er Chris geradewegs ins Krankenhaus befördern. Mein ganzer Körper bebte vor Wut und ich spürte, wie ich anfing zu zittern. Kayla legte beruhigend eine Hand auf meine Schulter, doch diese Geste war so grotesk, dass ich plötzlich anfangen musste zu lachen.
Alle starrten mich daraufhin an und selbst Chris – dem mittlerweile sogar das Blut aus dem Mund quoll – hatte seinen verschleierten Blick auf mich gerichtet.
„Was gibt es da zu lachen?“, fragte Tyson schließlich mit tobender Stimme und für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, er würde auch mich verprügeln wollen. Doch dann hellte sich seine Miene auf und er begann ebenfalls zu lachen.
„Verstehe... dir gefällt das, was du siehst. Wer würde sich nach solch schlimmen Erlebnissen auch nicht darüber freuen? Der Mörder deiner Eltern bekommt seine gerechte Strafe und nicht nur das, er muss auch endlich für all seine anderen Taten büßen. Welch eine Ironie des Schicksals.“ Tyson schien völlig überzeugt von sich zu sein, denn für ihn hatte er nichts anderes verdient. Doch obwohl es für mich einen noch viel größeren Grund gab, empfand ich für Chris tiefstes Mitleid. Ihn so leiden zu sehen ließ mein – ohnehin schon gebrochenes Herz – in noch kleinere Splitter zerfallen.
„Du hast ihm davon erzählt?“, brachte Chris mit brüchiger Stimme hervor. Nicht mehr lange und er würde ohnmächtig werden.
„Ich...“
„Sie hat das einzig Richtige getan“, meldete sich auf einmal Kayla zu Wort. „Mit wem hätte sie denn sonst über ihre Probleme reden sollen?“
„Ich habe dir doch gesagt, wie leid es mir tut. Du musst mir glauben: das war alles nicht so geplant.“ Chris trübe blaue Augen trafen auf meine und in diesem Moment erkannte ich, dass er die Wahrheit sagte. Doch war diese Erkenntnis genug?
Ich versuchte mich zu bewegen, aber meine Glieder fühlten sich immer noch schwer an. So sehr ich auch dagegen ankämpfte, irgendwas in mir hielt mich davon ab. Und als Tyson wieder anfing auf Chris einzuschlagen, wusste ich, um was es sich handelte. Es war die blanke Panik, die mich wie ein Schauer überkam und mir eiskalt über den Rücken lief. Zitternd hielt ich mich am Türrahmen fest. Plötzlich hatte ich das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen und alles um mich herum begann sich zu drehen. Da war nur noch Chris' blutverschmiertes Gesicht, das mich so in den Wahnsinn trieb, dass ich schließlich ebenfalls völlig erschöpft und am Ende in mich zusammensank.
Als ich wieder zu mir kam, war es außerordentlich leise im Raum und erst nach einigen Minuten erkannte ich die Umrisse des Wohnzimmers. Ich stöhnte leise auf, woraufhin ich Schritte hören konnte, die sich mir näherten. Es dauerte nicht lange und ich sah Kayla und Tyson, die sich besorgt über mich beugten. Die Situation war so absurd, dass ich sofort wieder meine Augen schloss. Ich wollte die beiden nicht sehen, wo ich doch genau wusste, was sie meinem Ex angetan hatten.
Chris
, schoss es mir augenblicklich durch Kopf, wo ist er?
Panisch fuhr ich hoch und sofort wanderte mein Blick durchs Wohnzimmer. Doch außer meinen beiden Mitbewohnern – die mich nun irritiert musterten – konnte ich niemanden erkennen. Was haben sie mit ihm gemacht?
Kalter Schweiß lief mir über die Stirn. Ich hatte das Gefühl, wieder Fieber zu bekommen.
„Emily, was ist los?“ Kaylas besorgte Stimme drang an mein Ohr, aber ich ignorierte sie. Immer und immer wieder sah ich mich im Wohnzimmer um, bis ich schließlich aufstand und mich in den Flur begab. An der Wand, gegen die Tyson ihn gestemmt hatte, klebte Blut. Entsetzt drehte ich mich herum und wie erwartet standen sie schon hinter mir. Ich musste schlucken.
„Wo ist Chris?“
„Er ist gegangen“, antwortete Tyson, so als würde er gerade etwas völlig Belangloses von sich geben.
„Was habt ihr mit ihm gemacht?“
„Nichts!“
„Das glaub ich euch nicht!“
„Als du ohnmächtig geworden bist, hat er sich aus dem Staub gemacht“, versicherte Kayla mir mit einer mitfühlenden Geste.
„Und das soll ich euch jetzt abkaufen?“
„Jetzt beruhige dich mal wieder“, begann Tyson plötzlich zu brüllen, „wir werden ihn natürlich nicht ungeschoren davon kommen lassen.“
Was sollte das denn schon wieder heißen? Verwirrt sah ich von einem zum anderen und dann wurde mir auf einmal alles klar.
„Ihr glaubt doch nicht etwa, dass mir das gefallen hat?“
„Na, ich hoffe doch.“ Lachend nahm er seine Jacke zur Hand, während er mir noch einmal tief in die Augen sah. „Ich werde jetzt losgehen und die Sache endgültig erledigen. Kayla, du solltest dich um Emily kümmern. Sie sieht noch ziemlich blass aus.“ Mit diesen Worten verließ er die Wohnung und ließ uns einfach mitten im Flur zurück.
„Wie könnt ihr nur so etwas von mir erwarten? Wie könnt ihr nur zu so etwas fähig sein?“, schrie ich nun Kayla an, die noch immer neben mir stand und zu der verschlossenen Haustür starrte.
„Weil Chris es nicht anders verdient hat. Ich dachte, du siehst das genauso“, antwortete sie mir schließlich mit leiser Stimme.
„Wie bitte? Sag mir jetzt nicht, du fandest die Aktion richtig?“
„Emily, was ist denn eigentlich dein Problem? Er hat deine Eltern umgebracht! Hast du das etwa schon wieder vergessen?“
„Nein, aber ich fange langsam an zu verstehen, wer hier die wahren Feinde sind“, entgegnete ich forsch.
„Ach ja? Wenn du uns so schrecklich findest, dann solltest du wohl besser gehen.“
„Ja, das werde ich auch machen!“ Ich warf Kayla noch einen letzten Blick zu, aber sie schien keine Reue zu empfinden, denn in ihr Gesichtsausdruck bliebt steinhart.
„Vielleicht wirst du mich irgendwann verstehen. Mag sein, dass Chris Fehler gemacht hat, aber DAS hat er nicht verdient! Er ist kein Mörder und er ist auch kein Betrüger!“
Dann stampfte ich wütend aus der Wohnung, dorthin, wo alles angefangen hatte.
Kapitel 21
– Not your enemy
Let down your guard and show me your colors
Don't fight it anymore, show me you're with me
Open your arms, I'm not like the others
So don't fight it anymore
What will it take for me to make you see
I'm not your enemy
(Jesse McCartney)
Aus einem unerklärlichen Grund, ahnte ich, wo Chris sich befinden könnte. Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich mich zumindest dort aufgehalten.
Was brachte es ihm schon nach Hause zu laufen? Da würde Tyson als erstes nach ihm suchen, deshalb kam nur ein Ort in Frage: Starbucks!
So schnell ich konnte, lief ich den vertrauten Weg entlang, den ich in den letzten Monaten immer wieder benutzt hatte. Das College befand sich genau auf dieser Strecke und augenblicklich musste ich an meinem ersten Tag denken, denn da war ich Chris zum ersten Mal begegnet. Ich konnte mich noch ganz genau an seine Worte erinnern, die sich selbst jetzt in meinem Kopf so real anhörten, dass ich mich kurz umschaute, weil ich glaubte, er würde hinter mir stehen.
Doch natürlich war das absurd, denn dieser Tag gehörte längst der Vergangenheit an und seitdem hatte sich vieles verändert. Das einzige, was ich damals schon gespürt hatte, war diese Vertrautheit zwischen uns. Er kam mir so verdammt bekannt vor und jetzt wusste ich auch warum: Wir waren uns schon einmal begegnet! Jedoch mit dem großen Unterschied, dass er es von Anfang wusste und mich die ganze Zeit hinters Licht geführt hatte. Du hast mich ausgenutzt und trotzdem helfe ich dir.
Die Situation war so banal, dass mir auf einmal die Tränen kamen. Ich verstand mich selbst nicht mehr, denn eigentlich konnte mir das alles ja völlig egal sein – aber das ist es nicht! Niemand verdiente so etwas, auch nicht Chris! Er hatte genau so ein Recht auf ein Leben, wie ich, denn sonst hätte er den Unfall damals nicht überlebt. Mittlerweile glaubte ich fest daran, dass es einen Grund für unser Überleben gab.
Wir alle verdienten noch eine zweite Chance und ich wollte nicht, dass ihm diese einfach so verwehrt blieb.
Als ich Starbucks betrat, war es mal wieder überfüllt und man musste sich durch die Menschenmenge hindurch quetschen, um überhaupt irgendetwas zu erkennen. Sofort wanderte mein Blick zur Schlange und zu den Plätzen, an denen einige Pärchen saßen und sich angeregt unterhielten. In einer der hintersten Ecke erkannte ich schließlich Chris, der seinen verletzten Kopf hielt und dabei aus einem Kaffeebecher trank.
Ich ging zu ihm und setzte mich einfach auf den freien Platz gegenüber.
„Was machst du hier?“ Er klang überrascht als er mich sah und erst jetzt nahm ich seine Verletzungen vollständig wahr. Sein rechtes Auge war geschwollen und mit Blutergüssen versehen, während seine Lippe noch immer blutete. Mir wurde bei diesem Anblick schon wieder schlecht, doch ich versuchte mich – so gut es ging – zusammenzureißen.
„Hat dich hier etwa keiner auf deine Verletzungen angesprochen? Du solltest dringend zu einem Arzt!“
„Emily“, schnaubte Chris und nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee, „ich weiß gar nicht, warum dich das überhaupt noch interessiert. Sind wir jetzt nicht so etwas wie Feinde?“ Dies von ihm zu hören verletzte mich, denn so hatte ich unsere Beziehung noch nie betrachtet. Mochte sein, dass ich zum Schluss ziemlich wütend gewesen war, doch als meinen Feind
hatte ich ihn nie betrachtet.
„Ich bin hier, um dir zu helfen.“
„Tatsächlich? Und womit habe ich das verdient?“ Chris zog eine Augenbraue hoch und musterte mich schief. Diesen Blick kannte ich nur zu gut von ihm. Er kaufte mir mein Angebot nicht ab!
„Ich meine es wirklich ernst. Mag sein, dass du mich ziemlich hintergangen hast, aber das, was die beiden mit dir machen ist nicht richtig. Das hast du nicht verdient!“
„Ach ja? Und warum hast du dich dann darauf eingelassen?“
„Hab ich gar nicht“, beteuerte ich, was jedoch nur halbwegs stimmte. „Anfangs wusste ich noch nicht einmal, warum Tyson so sauer auf dich ist, bis mir Kayla von eurem Wettkampf auf der Musikschule erzählt hat. Da wurde mir klar, dass er dich richtig verabscheut.“
„Du weißt überhaupt nichts! Dieser Typ ist krank und wer sich auf seine Seite schlägt, der stellt sich automatisch gegen mich.“
„Ich möchte nicht, dass er dich fertig macht! Bitte glaub mir“, sprach ich mit brüchiger Stimme, doch Chris hatte sich bereits von mir abgewandt. Er schmiss den leeren Kaffeebecher in einen nahegelegenen Mülleimer und entfernte sich von dem Tisch.
„Warte doch!“ Sofort stand ich auf und lief ihm hinterher. „Chris, es ist wirklich nicht so wie du denkst. Ich mochte Tyson noch nie...“
„Junge Frau, würde Sie sich bitte hinten anstellen!“ Eine alte Dame unterbrach mich und für einen Augenblick blieb ich tatsächlich stehen.
„Ich möchte überhaupt nichts“, beteuerte ich einständig.
„Dann sollten Sie wohl besser gehen.“
„Ja, das hatte ich auch gerade vor.“ Ich schüttelte verwirrt meinen Kopf, denn es kam nur selten vor, dass sich ältere Leute bei Starbucks aufhielten.
Ausnahmen bestätigen die Regel.
Schnell lief ich schließlich hinaus, doch von Chris fehlte jegliche Spur.
„Wieso hast du mir nicht einfach zugehört? Tyson sucht nach dir und jetzt wird er dich auf jeden Fall finden“, fluchte ich mit mir selbst, was von einigen Leuten aus der Umgebung kritisch beobachtet wurde.
„Ja, glotzt ihr nur“, schrie ich, „es ist doch sowieso völlig egal was ich sage oder mache. Ich werde immer das arme Opfer bleiben!“
Wütend stampfte ich davon.
„Es ist wirklich dringend!“, rief ich ins Telefon und die Stimme am anderen Ende der Leitung versicherte mir, dass schon bald Hilfe kommen würde. Langsam ließ ich das Handy wieder in meine Hosentasche gleiten und warf einen Blick zu Tyson, der noch immer vor Chris stand und ihn wütend in die Ecke drängte.
Vor ein paar Minuten hatte ich die beiden per Zufall in einer dunklen Gasse entdeckt und jetzt stand ich hinter einer zerfallenen Mauer und beobachtete sie.
Bitte tu ihm nichts
, dachte ich, doch mittlerweile hatte er Chris am Kragen gepackt und gegen die Wand gestemmt. Ich wusste, wenn ich jetzt nicht eingriff, würde er ihn zu Tode prügeln. Vorsichtig trat ich schließlich aus meinem Versteck hervor und lief geradewegs auf die beiden zu. Tyson hielt in seiner Bewegung inne, was mich aufatmen ließ. Immerhin konnte ich ihn davon für einen kurzen Moment abhalten.
Bis die Polizei kommt.
„Was willst du hier?“ Kaylas Freund ließ Chris los und näherte sich mir. „Solltest du nicht in der WG bleiben und dich ausruhen?“
„Lass ihn in Ruhe!“
„Warum so aufgebracht? Ich erledige nur meine restliche Arbeit.“
„Du hast kein Recht ihn so fertig zu machen“, schrie ich.
„Ach nein? Wer sagt das?“
„Ich meine es ernst, Tyson.“ Meine Stimmlage senkte sich, doch er ließ sich davon nicht beirren. Völlig unverhofft berührte er plötzlich meine Stirn.
„Du hast Fieber. Geh lieber, bevor es noch schlimmer wird.“
„Nein!“ Ich blickte geradewegs in seine hasserfüllten Augen, woraufhin er sofort mein Handgelenk ergriff und sagte: „Wirklich nicht?“
Er drückte so feste zu, dass mir die Tränen in die Augen traten.
„Lass ihn einfach gehen!“
„Emily, Emily... Ich hätte nicht gedacht, dass du mir mal solche Schwierigkeiten bereiten würdest. Aber dass du etwas Besonderes bist, habe ich von Anfang an gemerkt. Du schläfst mit dem Mörder deiner Eltern und hast noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei. Nein, sogar jetzt hilfst du ihm noch. Wie rührend. Das muss wahre Liebe sein.“ Er begann gehässig zu lachen, was mich augenblicklich zusammenzucken ließ. Doch in diesem Moment wusste ich, dass ihm dieses Lachen gleich vergehen würde. Es war nur ein dumpfer Schlag, der ihn zum Schweigen brachte – für immer!
Jemand führte mich aus der Gasse, doch noch immer nahm ich alles gedämpft wahr. Es war wie ein Albtraum, der jetzt endlich zu Ende ging. Einer der Polizisten redete besänftigend auf mich ein, während ich ihm mit langsamen Schritten folgte.
„Sie steht unter Schock“, sagte er zu einem Kollegen. Dann wurde mir ein Glas Wasser gereicht und man setzte mich in ein Auto.
„Wir werden sie jetzt nach Hause bringen. Wo wohnt sie?“ Ich wusste, dass er nicht mit mir sprach, sondern mit Chris, der den Polizisten alles noch einmal ausführlich erklärte.
„In der WG befindet sich noch die Freundin des Täters. Ich denke nicht, dass sie gerne dorthin zurück möchte.“
„Kann sie solange bei Ihnen unterkommen?“, fragte der Polizist, doch sofort unterbrach ich die beiden.
„Nein, ich möchte nicht zu ihm. Ich werde das schon schaffen!“
„Aber Emily...“
„Chris“, brachte ich mit brüchiger Stimme hervor. „Ich werde meine Koffer packen und nach Columbia fliegen.“ Der Polizist schien verwirrt.
„Dort lebt ihre Oma und ihr Bruder“, erklärte Chris, woraufhin der Polizist nickte.
„Gut. Wir werden dich jetzt zur WG fahren.“
Ich nickte zaghaft und lehnte mich in dem Sitz zurück. Mein Fieber schien tatsächlich wieder gestiegen zu sein, sodass ich während der Autofahrt kurz weg dämmerte.
Erst als wir da waren, kam ich wieder zu mir.
„Soll ich dich noch begleiten?“ Chris, der neben mir saß, musterte mich besorgt mit seinen blauen Augen.
„Nein. Ich denke, jetzt ist es Zeit Abschied zu nehmen.“
„Wirst du nicht mehr zurück nach Summerville kehren?“
Ich schüttelte meinen Kopf. „Ich denke nicht. Ich habe versucht hier ein neues Leben aufzubauen, aber es hat nicht funktioniert. Jetzt brauche ich die Unterstützung meiner restlichen Familie.
„Und was ist mit mir?“, fragte Chris, während er traurig aus dem Fenster sah.
„Ich wünsche dir alles Glück der Welt. Wir sind keine Feinde, aber wir werden auch keine Freunde mehr werden.“ Nach diesen Worten stieg ich aus und machte mich auf den Weg zur WG. Jetzt galt es nur noch meine Koffer zu packen und endlich von hier zu verschwinden – für immer!
„Emily, was machst du da?“ Kayla war mir ins Zimmer gefolgt und beobachtete mich nun beim Koffer packen.
„Das siehst du doch.“
„Wo willst du hin?“
„Ich werde von hier weggehen“, antwortete ich so gelassen wie möglich.
„Und was ist mit meinem Freund?“ Sie kam auf mich zugelaufen und ergriff mein verletztes Handgelenk. Als sie die Blutergüsse sah, starrte sie mich entsetzt an.
„Wer war das?“
„Dein ach so toller Freund“, entgegnete ich und sofort ließ sie meinen Arm wieder los.
„Das glaub ich nicht!“
„Natürlich nicht, denn er ist ja auch so unschuldig.“
„Emily, was ist passiert?“, wollte sie nun von mir wissen und zum ersten Mal bildeten sich Tränen in ihren Augen. Plötzlich empfand ich ein wenig Mitleid für sie.
„Er wollte Chris und mir etwas antun und deshalb mussten wir ihn außer Gefecht setzen.“
„Wie bitte?“ Die Tränen flossen bereits an ihren Wangen hinunter, sodass ich ihr schließlich kommentarlos ein Taschentuch reichte.
Dann machte ich mich weiter daran den Koffer zu packen.
Erst nach einer schier unendlichen Zeit ergriff Kayla wieder das Wort.
„Ist er...?“
„Er liegt im Krankenhaus. Es ist keine lebensgefährliche Verletzung, allerdings wird er noch einige Verfahren über sich ergehen lassen müssen.“
„Ihr habt ihn zu Polizei gebracht?“, fragte Kayla entsetzt nach.
„Uns blieb nichts anderes übrig.“ Ich schloss meinen Koffer und sah ihr noch einmal tief in die Augen. „Mach's gut.“
„Emily...“ Ich vernahm ein letztes Mal Kaylas Stimme. „Es tut mir leid.“
„Ist schon gut. Bitte pass auf dich auf.“ Danach schritt ich hinaus, in eine ungewisse Zukunft, ohne meine Mitbewohner und vor allem ohne Chris.
Kapitel 22
– Bad News
Als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, realisierte ich zum ersten Mal, dass ich mich wieder in meiner Heimatstadt Columbia befand. Hier hatte alles angefangen und hier sollte auch alles enden. Nie wieder würde ich von hier fort gehen, denn mittlerweile wusste ich, dass dieser Ort der einzige war, an dem ich mich wohl fühlte. Auch wenn meine Eltern schon lange nicht mehr dazugehörten, so gab es immer noch meine Oma und meinen Bruder, für die ich nun vollends da sein wollte. Die beiden hatten viel zu lange ohne mich auskommen müssen, worüber ich mich jetzt sogar ein wenig ärgerte. Wie konnte ich eine so alte Dame mit einem heranwachsenden Teenager allein lassen?
Das war unverantwortlich von mir gewesen, doch manchmal – das hatte ich mittlerweile begriffen – machten wir alle Fehler im Leben. Einige Fehler konnte man leicht beheben, andere waren so groß und mächtig, dass sie einem für immer in Erinnerung blieben. Es gab Menschen, die sich ihre falschen Taten sofort eingestanden und welche, die sie nie freiwillig zugeben würden.
Chris gehörte zu beiden Kategorien. Denn auch wenn er es letztendlich zugegeben hatte, so kam diese Erkenntnis leider viel zu spät. Ich hatte begriffen, dass er kein Mörder war, aber mein Freund
konnte er auch nicht mehr werden.
Meine Gedanken kreisten noch ein wenig um Chris, während ich mich mit langsamen Schritt zum Hauseingang begab.
An Weihnachten war ich das letzte Mal hier gewesen und jetzt hatten wir mittlerweile Ende Februar. Teilweise erblühten sogar schon einige Pflanzen, was für mich noch einmal die Zeitspanne verdeutlichte. Wo vor ein paar Monaten noch jede Menge Schnee lag, sah man jetzt die ersten Blümchen hervorstechen.
Ich sog scharf die frische Luft ein. Nun begann ein neuer Lebensabschnitt und in diesem gab es weder meine WG-Mitglieder, noch Chris – nur meine Familie.
Langsam berührte ich schließlich mit meinem Zeigefinger die Klingel, als plötzlich eine laute Frauenstimme ertönte.
Ich drehte mich nach rechts und erkannte eine Nachbarin, die mit schnellen Schritten auf mich zukam. Verblüfft starrte ich sie an.
„Emily, richtig?“, fragte sie leicht außer Atem und ich nickte. Vom Sehen her kam sie mir bekannt vor, allerdings hatten wir bisher noch nie ein Gespräch geführt. „Ich muss dir leider mitteilen, dass keiner Zuhause ist.“
„Woher wissen Sie das?“ Entsetzen machte sich in mir breit, denn ich ahnte Schreckliches.
„Deine Großmutter wurde vor ein paar Tagen ins Krankenhaus eingeliefert.“
„Was?“, schrie ich, während mir vor Schreck der Koffer aus den Händen glitt.
„Es tut mir wirklich leid. Ich dachte nur, du solltest es wissen, bevor nachher Missverständnisse entstehen.“
„Und wo ist mein Bruder? Warum hat man mir denn nichts erzählt?“
„Ich weiß es nicht.“ Sie legte mitfühlend eine Hand auf meine Schulter.
„Wissen Sie, in welches Krankenhaus man sie gebracht hat?“
„Es müsste das hier ganz in der Nähe sein. Wenn du magst, bringe ich dich hin“, bot sie an, doch ich schüttelte dankend ab. Ich wollte nicht auch noch einer Nachbarin zur Last fallen, die mit alledem überhaupt nichts zu tun hatte.
„Wenn was ist, dann weißt du ja, wo du mich findest.“
„Danke“, murmelte ich abwesend, denn meine Gedanken kreisten sich nun ununterbrochen um die neue Nachricht. Schwebte meine Oma in Lebensgefahr? Wie ging es meinem Bruder? All die Sorgen strömten so unverhofft auf mich ein, dass ich mich an meinem Koffer abstützen musste, um nicht umzukippen.
„Nicht der Rede Wert“, fügte sie noch hinzu, ehe sie mich schließlich alleine ließ und ich mich auf den Weg ins Krankenhaus machte.
Nachdem ich endlich das richtige Krankenhaus gefunden und man mir versichert hatte, dass es meiner Oma schon wesentlich besser ging, machte sich Erleichterung in mir breit. Dennoch waren die Sorgen weiterhin sehr groß, sodass ich mich mit schnellen Schritten in das angegebene Zimmer begab.
Dort angekommen zögerte ich zuerst einen Moment, denn ich wusste nicht, wie ich mich nun verhalten sollte. Einerseits wollte ich sie zur Rede stellen, weil man hätte mir ja immerhin Bescheid sagen können, andererseits wollte ich ihr aber auch nicht zur Last fallen. Es waren gemischte Gefühle, mit denen ich nun das Zimmer betraten und meine erschöpfte Oma in dem großen weißen Bett liegen sah. Neben ihr befand sich noch eine Patientin, die allerdings zu schlafen schien.
„Emily?!“
„Was machst du denn für Sachen?“ Langsam näherte ich mich ihr, bis wir uns irgendwann in die Arme schlossen und ich aus einem undefinierbaren Grund zu weinen anfing. All die Probleme der letzten Tage – wenn nicht sogar der letzten Jahre – kamen in mir hoch. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten und so ließ ich ihnen freien Lauf.
„Es tut mir leid, dass ich dir solche Sorgen bereite“, schluchzte meine Oma nun ebenfalls.
„Wie bitte?“ Augenblicklich ließ ich sie los. „Du kannst doch nichts für deinen Gesundheitszustand. Es ist höchstens meine Schuld, denn ich hätte für dich da sein müssen.“
„Rede nicht so einen Schwachsinn. Du lebst dein eigenes Leben in Summerville und ich möchte nicht, dass du wegen jeder Kleinigkeit zu uns kommen musst.“
„Hast du mir deshalb nicht Bescheid gegeben?“
„Ja“, bestätigte meine Oma und blickte beschämend zur Seite.“ Obwohl ich mich innerlich darüber ärgerte, wollte ich sie nicht damit belasten. Stattdessen sagte ich einfach: „Das nächste Mal wirst du zum Glück keine Gelegenheit mehr dazu haben.“
„Wie meinst du das?“
„Ich werde wieder nach Columbia ziehen“, sprach ich und ergriff die zerbrechliche Hand meiner Oma. Jetzt – wo ich sie so hilflos in dem Krankenbett liegen sah – wurde mein Vorhaben noch verstärkt. Nie wieder würde ich sie alleine lassen.
„Das ist nicht dein ernst?“
„Doch das ist es. Was meinst du, warum ich alle meine Sachen dabei habe.“
„Aber...“
„Es ist nicht nur wegen dir“, unterbrach ich sie. „Sondern auch, weil es mir in Summerville nicht gefallen hat.“ Die Details ließ ich jedoch absichtlich aus, denn das hätte meiner Oma in diesem Zustand überhaupt nicht gut getan.
„Aber du warst an Weihnachten doch so glücklich.“
„Ja, weil ich da in eurer Nähe war. Wo ist eigentlich Joshua?“
„Er wohnt solange bei einem Freund aus der Schule“, antwortete sie und man konnte ihr anmerken, dass ihr dies ziemlich unangenehm war.
„Es ist nicht deine Schuld.“
„Ich weiß.“ Wieder brach meine Oma in Tränen aus, sodass ich sie erneut in den Arm nehmen musste. „Wir kriegen das schon hin. Alles wird gut!“
Kapite 23
– Feelin' you
You walk into a room
All eyes are on you
Everyone wants to know your name
Baby you make 'em swoon
Yeah baby you're so smooth
You take every breath I breathe away
I just wanna tell you baby
How much I am feelin' you
(Jesse McCartney)
Heute war der Tag, an dem meine Oma aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Sie war zwar immer noch sehr schwach, allerdings hatten sich ihre Werte wieder normalisiert und somit schwebte sie nicht mehr in Lebensgefahr. Sollte sie sich allerdings aus irgendeinem undefinierbaren Grund wieder schlechter fühlen, dann musste sie sich sofort einer erneuten Untersuchung stellen. Allerdings schienen die Ärzte davon weniger auszugehen und auch meine Oma war der festen Überzeugung, dass sie zu Hause da weiter machen konnte, wo sie aufgehört hatte. Doch ich wusste es besser. Ab sofort brauchte sie eine helfende Stütze – ob sie wollte oder nicht – und genau das würde ich für sie sein.
„Kommen Sie gut nach Hause und passen Sie auf sich auf. Mit einem Herzinfarkt ist nicht zu Spaß, auch wenn er, wie in ihrem Falle, nur ganz leicht war.“ Der Arzt reichte uns die Hand und verabschiedete sich mit einem liebevollen Lächeln.
Dann gingen wir hinaus und warteten auf das Taxi, das uns endlich weg von diesem schrecklichen Ort bringen würde.
„Du wirst doch wieder nach Summerville gehen oder nicht?“
Es war spät abends und wir saßen mit einem warmen Tee in der Küche und unterhielten uns.
„Nein“, entgegnete ich kühl, während ich noch fester die Tasse umklammerte. „Ich kann nicht mehr von hier fort!“
„Wegen mir? Schätzchen, ich habe dir doch schon einmal gesagt, dass ich auch gut ohne dich zurecht komme“, beteuerte meine Oma, obwohl man ihr deutlich ansah, dass dem nicht so war. Auch wenn sie es nicht zugab, sie wusste ganz genau, dass die Zeiten sich verändert hatten. Sie war nicht mehr die junge fitte Frau von damals und mein Bruder war auch nicht mehr das kleine unschuldige Kind. Er kam jetzt in ein schwieriges Alter. In dem Alter, in dem ich mich auch einmal befunden hatte – damals als sie starben
, dachte ich, versuchte diesen Gedanken jedoch zu unterdrücken und antwortete stattdessen: „Nein, es ist nicht nur wegen dir. Ich habe mich in Summerville wirklich nicht wohl gefühlt.“
Meine Oma musterte mich kritisch. Anscheinend verstand sie nicht so recht von wem oder was ich sprach, deshalb musste ich ihr eine konkretere Antwort geben.
„Ich habe mich nicht gut mit meinen Mitbewohnern verstanden.“
„Und mit Chris?“ Es handelte sich eher um eine Feststellung, als um eine Frage. Mich schockierte es allerdings, dass sie ihn noch kannte.
„Wir hatten ein paar Differenzen, die wir aber geklärt haben.“
„Ach, Kind.“ Meine Oma begann zu seufzen und nippte an ihrem Tee.
„Es ist kompliziert.“
„Ist es das nicht immer?“
„In diesem Fall ist es wirklich nicht so einfach“, gestand ich, während ich ebenfalls einen Schluck zu mir nahm.
Wie konnte ich ihr die Sache erklären, ohne ihr die Wahrheit zu sagen?
Es war leider viel zu schwierig, sodass ich schließlich versuchte das Thema zu wechseln. „Was ist eigentlich mit Joshua? Wir er morgen nach Hause kommen?“
„Ja, morgen Mittag.“
„Er weißt nichts von meiner Rückkehr, oder?“
„Nein, noch nicht, aber er wird sich mit Sicherheit riesig freuen. Weißt du, er hat oft von dir geredet“, sprach meine Oma mit funkelnden Augen. Insgeheim freute sie auch sehr und ich war mir sicher, dass sie auch irgendwann meine Hilfe annehmen könnte. Jahrelang hatte sie sich um mich gekümmert und jetzt konnte ich ihr endlich ein wenig davon zurückgeben, indem ich ihr zur Seite stand.
„Ich habe auch oft an euch gedacht. Wenn es mir nicht gut ging, dann ward ihr es, die mir Kraft gegeben haben. Warum sollte ich also ganz alleine irgendwo leben, wo ich euch doch mit jedem Tag mehr vermisse?“ Das war noch nicht einmal gelogen. Erst jetzt wurde mir etwas ganz Entscheidendes bewusst: Ich hatte zwar meine Eltern verloren, jedoch nicht meine komplette Familie!
„Du meinst es also wirklich ernst?“
Ich nickte, denn mehr brauchte ich in diesem Moment nicht zu sagen.
„Dann willkommen daheim.“
Wir nahmen uns in den Arm und zum ersten Mal fühlte es sich wieder nach Zuhause
an. Hier gehörte ich hin – für immer
.
Als mein Bruder am nächsten Tag das Haus betrat, stürmten wir beide aufeinander zu und umarmten uns. Zuletzt hatten wir dies vor einigen Jahren getan, denn mittlerweile waren ihm solche Gesten ein wenig peinlich. Doch angesichts dieser überraschenden Situation, schien mein kleiner Bruder eine Ausnahme zu machen. Seine blauen Augen strahlten vor Freude, als ich ihm sagte, dass ich nun für immer hier bleiben würde. Zuerst wollte er mir nicht so recht glauben, aber das änderte sich schnell, denn ich hatte meine Sachen bereits ausgepackt und jemand der nur zu Besuch war, würde sich ja nicht solch eine Mühe machen.
„Ich bin froh, dass du wieder da bist“, gestand er leise, während er langsam in mein Zimmer schritt und sich auf mein Bett setzte. „Ich habe dich vermisst, Schwesterherz, auch wenn du manchmal nerven kannst.“
„Ich dich doch auch, Bruderherz.“ Ich begann lauthals zu lachen und warf ein Kissen nach ihm, was er natürlich nicht lange auf sich sitzen ließ. So entstand schließlich eine kleine Kissenschlacht zwischen uns und erst als ich mich quietschend geschlagen gab, hörten wir auf zu Lachen. Es war so schön und befreiend, dass ich die Person, die sich plötzlich am Türrahmen befand, überhaupt nicht bemerkte.
Erst als Joshua in seine Richtung sah, nahm ich ihn wahr. Seine blonden Haare waren zerzaust, seine Klamotten noch immer dieselben wie vor ein paar Tagen.
„Chris?“, flüsterte ich ungläubig, weil ich nicht verstand, was hier vor sich ging.
„Wer ist das?“, fragte mein kleiner Bruder schließlich, doch ich war nicht fähig ihm zu antworten. Eine unheimliche Stille breitete sich aus, in der wir uns anstarrten wie zwei Fremde.
Kapitel 24
– Skinny Love
Der Titel stammt von dem Lied Skinny Love by Birdy
Es kam mir vor als hätten wir uns seit Stunden angestarrt, denn erst als Joshua ununterbrochen an meinem Ärmel zog, realisierte ich, dass ich mich in einer Art Starre befand. Ganz langsam begann ich zu blinzeln, in der Hoffnung, das alles nur geträumt zu haben, doch natürlich war dem nicht so.
Chris stand noch immer dort – unberührt und vollkommen
. Trotz seines leicht schmutzigen Zustands, wirkte er so schön wie nie zuvor. Erst jetzt wurde mir bewusst, was für eine Ausstrahlung er besaß. Wahrscheinlich genügte nur ein Lächeln von ihm und ich würde weinend in seine Arme fallen. Doch das tat er nicht! In seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen, nur seine Augen gaben ein Hauch von Traurigkeit preis. Ich wusste, warum, aber ich wollte es nicht hören. Nie wieder!
Ruckartig stand ich schließlich auf, ohne meinen Bruder zu beachten, der sich noch immer neben mir befand und uns besorgt musterte.
„Ich kann das nicht“, stieß ich leise, fast schon krächzend hervor.
Dann stampfte ich – ohne Chris eines weiteren Blickes zu würdigen – aus dem Zimmer, hinunter ins Wohnzimmer, wo meine Oma anscheinend schon auf mich wartete. Warum tat sie das?
Ich wollte nicht mit ihm reden! Für mich hatte sich die Sache schon vor ein paar Tagen erledigt und noch einmal würde ich das Ganze nicht durchstehen.
Also entschloss ich mich schließlich dazu, einfach für ein paar Stunden das Haus zu verlassen. Irgendwann müssten sie schon einsehen, dass ich nicht fähig war ein derartiges Gespräch zu führen. Wozu auch? Wir hatten bereits alles geklärt!
„Emily“, wisperte meine Oma, während ich im Flur stand und mir die Schuhe anzog.
„Ich verstehe es nicht“, gab ich ehrlich zu. „Warum hast du einen wildfremden Mann einfach so in unser Haus gelassen?“
„Er ist kein Fremder“, entgegnete sie trocken.
„Wie bitte?“ Ungläubig starrte ich sein. Was hatte das alles zu bedeuten?
„Du solltest noch einmal mit ihm reden.“ Sie ergriff meine Hand. „Ihr müsst das klären, hörst du!“
„Was weißt du denn schon?“, schrie ich und ohne, dass ich es wollte, hatte ich ihre Hand beiseite geschoben.
„Mehr als du denkst“, war das einzige, was sie von sich gab, ehe Chris plötzlich dazu kam und sich einmischte. „Sie hat recht, Emily. Es gibt da etwas, was ich dir verschwiegen habe.“
Mein Blick wanderte von ihm zu meiner Omas und wieder zurück.
Was ging hier verdammt noch mal vor?
Das Gefühl von Angst durchströmte mich, denn ich ahnte Schreckliches. Doch was konnte schlimmer sein, als all das, was ich schon erlebt hatte?
Dass sie ihn kennt, dass sie aus einem unerklärlichen Grund mehr weiß als ich selbst.
Ja, genau diese Erkenntnis ließ mich fast wahnsinnig werden, sodass ich schließlich zögernd einwilligte.
„Ich gebe euch fünf Minuten, um mir alles zu erklären. ALLES!“
„Das wird dafür nicht ausreichen“, sprach Chris beherrscht, während meine Oma ihm nickend zustimmte.
„Komm doch erst einmal mit ins Wohnzimmer. Wir müssen das doch nicht zwischen Tür und Angel klären.“
„Ich hätte es wissen müssen“, entgegnete ich stattdessen nur, „du kannst es einfach nicht lassen mich anzulügen und jetzt ziehst du auch noch meine restliche Familie da mit rein. Warum bist du nicht einfach in Summerville geblieben?! Woher wusstest du überhaupt meinen Wohnort?“ All das sprudelte einfach so aus mir heraus und ich hoffte inständig, dass ich dieses eine Mal eine ehrliche Antwort bekommen würde.
„Weil ich dumm war, Emily! Ich dachte, du würdest den Rest der Geschichte sowieso nicht hören wollen.“
„Das beantwortet noch immer nicht meine Frage, wie und warum du hierhergekommen bist?“
„Weil ich dich vermisst habe... sehr sogar. Und weil ich schauen wollte, ob es dir gut geht. Nachdem du fort warst, bin ich noch einmal zur WG gegangen und habe mit Kayla über dich gesprochen. Sie hat mir deine Adresse gegeben, weil sie davon überzeugt war, dass unsere Liebe noch eine zweite Chance verdient hat. Ihre eigene Liebe hatte diese Chance nicht. Sie hat sich von Tyson getrennt!“
Ich musste schlucken. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass meine letzten Worte sie zur Besinnung bringen würden.
Vielleicht ist sie aber auch selbst darauf gekommen
, dachte ich. Irgendwann verlor jeder von uns seine rosarote Brille, meistens dann, wenn wir am wenigsten damit rechneten.
„Wie du siehst geht es mir gut“, antwortete ich trotzig, begab mich jedoch nun ins Wohnzimmer, um mehr über den Rest der Geschichte zu erfahren. Denn noch immer verstand ich nicht, was meine Oma mit alldem zu tun hatte.
„Du solltest dir anhören, was er zu sagen hat.“
„Darf ich auch mithören?“ Mein kleiner Bruder schritt zaghaft ins Wohnzimmer. Ihm schien die ganze Situation nicht geheuer zu sein, das sah man seinem Gesichtsausdruck an.
„Ich weiß nicht“, gab Chris unschlüssig von sich.
„Ich denke, er sollte erfahren, wer ihm damals das Leben gerettet hat.“ Die Augen meiner Oma wurden von einer unglaublichen Wärme erfüllte, sie strahlten wie zwei funkelnde Sterne am Himmel. So dankbar hatte ich sie noch nie gesehen.
„Du hast mir das Leben gerettet?“, fragte Joshua verwirrt und setzte sich neben Chris, der nicht so recht zu wissen schien, was er darauf antworten sollte.
Auch ich war in diesem Moment sprachlos. Langsam entwickelte sich das Ganze zu einer Sache, die ich nicht mehr kontrollieren konnte. Anscheinend war etwas in der Vergangenheit geschehen, was die Zukunft sehr stark beeinflussen konnte. Mir wurde bewusst, dass ich gleich ein ganz anderes Bild von Chris bekommen würde, eines, das eigentlich schon seit Jahren existierte. Ob es mich positiv oder negativ beeinflussen würde, wusste ich jedoch noch nicht.
„Erzähl es ihnen“, bat meine Oma.
Bevor das erste Wort über Chris Lippen glitt, sah er mir noch einmal tief in die Augen. Er wollte, dass ich ihm aufrichtig zuhörte und genau das tat ich jetzt auch. Vielleicht hatte er ja doch eine zweite Chance verdient. Eine, die ihm 6 Jahre lang verwehrt geblieben war und die nur ich ihm geben konnte. Denn wie ich nun erfuhr, war er tatsächliche etwas Besonderes.
Mein Lebensretter.
[Flashback - Der 2 Teil]
Ein helles Licht blendete meine Augen. War das der Himmel?
Fühlte sich so das Sterben an?
Ich spürte nichts, sah nicht, außer dieses ungewöhnliche Licht. Es tat nicht weh, es störte mich nicht und dennoch wollte ich wissen, um was genau es sich handelte.
Ich versuchte meine Augenlider zu bewegen, doch es war fast unmöglich. Immer wieder, wenn ich glaubte etwas würde sich verändern, wurde ich wieder zurückgezogen. Die Schwärze blieb nicht lange, aber sie machte mir mehr Angst als das Licht. Es gab mir Hoffnung. Hoffnung, dass du noch alles gut werden würde.
Doch war Sterben etwas Gutes?
Gab es noch etwas außerhalb dem Leben auf der Erde?
Wenn ja, dann wollte ich darum kämpfen! Vielleicht konnte ich ja als Engel über diese Welt wachen und den Menschen beim Leben zuschauen.
Moment mal, kam es mir plötzlich in den Sinn, wieso sollte man einen Menschen wie mich in den Himmel lassen?
Ich wusste zwar nicht mehr, was passiert war, doch aus irgendeinem undefinierbaren Grund war ich mir sicher, dass ich den Himmel nicht verdient hatte. Dass ich in die Hölle gehörte! Vielleicht war dieses Licht eigentlich eine Flamme. Ein Feuer, von dem ich für immer umgeben sein würde.
Ich versuchte noch einmal meine Augen zu öffnen, in der Hoffnung, doch noch etwas zu erkennen und tatsächlich schien es zu funktionieren.
Meine Sicht war zwar verschleiert, aber ich konnte jetzt das Licht deutlich erkennen. Es handelte sich jedoch weder um den Himmel, noch um die Hölle.
Ich lebe, dachte ich, als ich den riesigen Lichtstrahl vor unserem Auto erkannte. Er war ein paar Meter weiter weg, sodass für uns keine Gefahr bestand.
„John, wir müssen hier raus“, begann ich leise zu krächzen, doch von meinem Freund kam keine Antwort. Erst als ich meinen Blick zur Seite wand, wusste ich warum.
Es war ein schreckliches Bild, was ich niemals in meinem Leben vergessen würde. Sein Kopf hing schlaff herunter, während sein ganzer Körper mit Blut besudelt war.
Sofort starrte ich an mir herunter, denn auch ich hatte eine Menge Schäden davon getragen. Aber ich lebte!
Die Schmerzen waren auszuhalten, sodass ich schließlich durch die kaputte Autoscheibe hindurch kriechen konnte. Wenige Sekunden später lag ich also im kühlen Gras, während sich mein Freund noch immer in diesem verdammten Wrack befand. Ich wollte ihn daraus holen, ihn retten, doch insgeheim wusste ich, dass jede Hilfe bereits zu spät kam.
„Warum?“, wisperte ich. Hätte ich in diesem Falle nicht auch den Tod verdient?
Ich verstand es erst, als das Licht wieder in mein Bewusstsein Drang. Erst hier draußen konnte ich erkennen, dass es sich tatsächlich um Flammen handelte. Das andere Auto hatte Feuer gefangen. Es brannte so stark, dass es wahrscheinlich keine Überlebenden mehr geben konnte.
Und wenn doch, dachte ich plötzlich, was ist, wenn sie noch gerettet werden können?
Ich musste schlucken, fasste jedoch schnell wieder neuen Mut und kroch schließlich zu der anderen Unfallsstelle. Das Auto lag auf dem Kopf, genau wie unseres, allerdings hatte es einen viel größeren Schaden davongetragen.
Es könnte explodieren, kam es mir in den Sinn. Ja, das konnte tatsächlich passieren, doch komischerweise war es mir egal. Ich war die einzige Hilfe, die es weit und breit gab. Genau deshalb lebte ich wahrscheinlich noch. Um sie zu retten!
Obwohl ich nun immer deutlicher die Schmerzen spüren konnte, die sich in meinen Armen und meinen Beinen ausbreiteten, tastete ich mich immer weiter voran. Mein Kopf brummte, aber mein Wille kämpfte dagegen an.
„Ist da jemand?“, rief ich schließlich mit brüchiger Stimme. Zuerst blieb es still und ich wollte schon wieder umkehren, doch dann hörte ich eine kleine Jungenstimme antworte: „Hilfe! Der Qualm. Mami, Papi.“
Das Kind weinte und das war für mich Grund genug, um mich noch näher an das Auto und den Flammen heranzuwagen.
„Ich werde dir helfen. Wo bist du?“
„Hier.“ Die Stimme dieses kleinen Jungen wurde immer schwächer.
„Halte durch.“ Ich kämpfte mich durch die Flammen, bis ich ihn irgendwann entdeckte. Er lag eingeklemmt in seinem Kindersitz, die Augen vom Weinen rot geschwollen und die lockigen blonden Haare völlig durcheinander. Es war ein Anblick, der mir für immer im Gedächtnis bleiben würde.
„Keine Angst. Ich hole dich hier raus.“ Schnell befreite ich ihn aus seinem Kindersitz und brachte ihn dann geschützt aus dem Auto.
„Es tut so weh“, quengelte er, nachdem ich ihn in das feuchte Gras gelegt hatte.
„Alles wird gut.“
„Mami, Papi, Emily“, flüsterte der Junge noch, eher auf einmal die Augen schloss. Ich kontrollierte seinen Puls, der noch immer vorhanden war.
„Ich werde sie retten.“ Dann kämpfte ich mich erneut durch die Flammen und erkannte schließlich das Mädchen, von dem er gesprochen hatte. Sie schien bewusstlos zu sein und an ihrem Hinterkopf klebte Blut. Ich hoffte inständig, dass sie noch lebte.
„Du darfst nicht sterben, hörst du?“ Ihr Puls ging ganz schwach, aber es war immerhin ein Zeichen dafür, dass sie noch lebte. „Du musst durchhalten!“
Es fiel mir schwer sie zu befreien, denn der Gurt, der sich um ihren Körper befand, klemmte.
„So ein Mist!“ Ich rüttelte daran, doch nichts tat sich. Stattdessen wurden die Flammen um uns herum immer größer. War das, das Ende?
Hatte ich meine letzte Aufgabe erfüllt, indem ich dieses kleine Kind gerettet hatte?
Wenigstens ein würdiger Tod, dachte ich, als mir plötzlich bewusst wurde, dass es ohne mich und John ja überhaupt nicht dazu gekommen wäre.
John! Meine Augen füllten sich mit Tränen, aber ich versuchte diese zu unterdrücken.
Ich durfte jetzt nicht aufgeben! Dieses Mädchen hatte ein Recht auf ihr Leben!
Ich weiß nicht mehr wie, doch aus einem unerklärlichen Grund ließ der Gurt sich plötzlich öffnen. Sofort nahm ich das Mädchen in meine Arme und beförderte sie hinaus in die kalte Nacht. Ich legte sie neben den kleinen Jungen, bei dem es sich – so wie es aussah – um ihren kleinen Bruder handelte. Dann fiel mein Blick wieder zu dem brennenden Auto, das völlig unverhofft explodierte.
„In dem Auto befinden sich noch die Eltern“, beteuerte ich immer wieder, doch keiner der Anwesenden schien das zu interessieren. Nachdem ich die beiden Kinder aus dem Auto befreit hatte, kam mir jemand zur Hilfe, der den Notruf informierte.
Jetzt befanden sich jede Menge Polizisten und Sanitär um uns, die das ganze Gebiet absperrten und uns in ein Krankenhaus bringen würden.
„Verstehen Sie denn nicht“, versuchte ich meinen Satz zu wiederholen, „in dem Auto befinden sich noch die Eltern der beiden Kinder.“
„Bitte beruhigen Sie sich erst einmal“, antworteten die Sanitäter stattdessen. Man hatte mich auf eine Trage gelegt und an einen Tropf angeschlossen. Doch meine Gesundheit interessierte mich nicht, denn hier ging es immerhin um zwei Menschen, die noch nicht außer Lebensgefahr waren.
„Jemand sollte mal nachsehen gehen und sie aus dem Auto befreien.“
„Das haben wir bereits!“
„Und?“, fragte ich unsicher nach.
„Was glauben Sie denn?“ Auch wenn ich mir das nicht eingestehen wollte, ich ahnte bereits, dass sie tot waren.
„Es besteht doch noch eine Chance, oder?“
„Hören Sie: Das Auto ist explodiert, es gibt also keine Überreste mehr. So etwas kann kein Mensch überleben.“ Auch wenn der Sanitäter ganz ruhig und bedacht mit mir sprach, fühlte es sich in diesem Moment an, als würde eine Welt für mich zerbrechen.
„Und warum habe ich dann überlebt?“
„Weil Sie Glück hatten!“
Nach einer Woche durfte ich das Krankenhaus verlassen. Ich war der erste von uns Überlebenden, der entlassen wurde, obwohl ich es am wenigsten verdient hatte.
Dieser Gedanke machte mich schier verrückt, doch seitdem ich hier war, versuchte ich ihn zu unterdrücken. Das quälende Gefühl war so zwar noch immer da, aber ich konnte besser damit umgehen, wenn ich es einfach ignorierte.
„Sie dürfen gehen?“ Eine raue Stimme drang an mein Ohr und als ich mich umdrehte, stand eine ältere Dame vor mir. Ihre Augen wirkten trübe und dennoch strahlte sie voller Hoffnung und Zuversicht.
„Ich... ja“, antwortete ich einfach nur, denn zu mehr war ich in diesem Moment nicht fähig. Diese Frau war die Oma der beiden Kinder. In den letzten Tagen hatte ich immer wieder darauf geachtet ihr nicht zu begegnen, denn ich wusste, dass sie mich abgrundtief hassen musste. Doch als sich ihre Lippen plötzlich zu einem liebevollen Lächeln formten, stutzte ich.
„Ich wollte mich dafür bedanken, dass sie meinen Enkelkindern das Leben gerettet haben.“ Was redete sie da? Ohne mich und ihm – dessen Namen ich noch nicht einmal in Gedanken aussprechen konnte – wäre es doch gar nicht soweit gekommen.
„Ich glaube nicht, dass sie mir danken müssen, immerhin war es meine Schuld...“ Ich stockte und fügte stattdessen hinzu: „Es tut mir leid.“
„Das weiß ich doch. Das wissen wir alle.“ Sie drückte ihre Hand an meine Schulter, was mich tatsächlich ein wenig zu beruhigen schien. „Was passiert ist, ist passiert. Wichtig ist doch nur, was sie daraus gemacht haben. Sie haben zwei jungen Menschen das Leben geschenkt.“
Und zwei älteren Menschen das Leben genommen, dachte ich, sprach es jedoch nicht aus. Ich wollte die alte Frau nicht mit meinen Schuldgefühlen belästigen.
„Kommen Sie mit. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“ Unsicher folgte ich ihr auf die Intensivstation und nachdem sie einige Minuten mit einem Arzt gesprochen hatte, hielt sie mir schließlich einen Kittel entgegen. „Vielleicht wird es ihr helfen.“
Gemeinsam betraten wir das Zimmer und sofort erkannte ich das Mädchen von dem Unfallort. Sie war an unzähligen Monitoren angeschlossen, doch ihre Werte lagen im Normalbereich.
„Die Ärzte haben gesagt, dass sie wieder gesund wird, allerdings braucht ihr Körper erst einmal eine Auszeit. Darum liegt sie hier und nicht auf einem normalen Zimmer.“
„Und ihr Bruder?“, fragte ich zaghaft nach. Ich wusste zwar bereits, dass er auf der Kinderstation lag und es ihm schon besser ging. Genaueres hatte man mir jedoch verschwiegen.
„Er ist auf dem Wege der Besserung. Heute Mittag habe ich sogar ein bisschen mit ihm reden können.“
Ich nickte. „Das ist schön.“
„Nehmen Sie ihre Hand, vielleicht spürt sie ja ihre Anwesenheit. Die Ärzte haben gesagt, dass ihr das beim Aufwachen helfen könnte.“
„Haben Sie es schon probiert?“
„Ja, aber es hat nicht funktioniert, deshalb bitte ich ja Sie darum.“
Warum ausgerechnet ich?, dachte ich, obwohl ich die Antwort ganz genau wusste.
Ich war ihr Lebensretter!
[Flashback Ende]
Ungläubig starrte ich von einem zum Anderen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass meine Oma ihn kannte.
Wusste sie etwa von Anfang an, dass es sich um DIESEN Chris handelte?
Meine Gedanken und Gefühle waren völlig durcheinander. Ich musste mich zurücklehnen und die Augen schließen, erst dann konnte ich all die Fragen stellen, die mir noch auf dem Herzen lagen.
„Das... ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich verstehe es nicht“, gab schließlich ehrlich zu.
„Das musst du auch nicht, Schätzchen. Ich wollte nur, dass du weißt, warum ich Chris einfach so ins Haus hineingelassen habe.“
„Wusstest du es von Anfang?“
„Ich kannte ihn, aber nein, ich wusste natürlich nicht, dass du genau diesen Chris in Summerville kennengelernt hast.“
„Erst als ich vorhin vor eurer Haustür stand, hat sie mich erkannt“, fügte er hinzu.
„Ich habe ihn hereingebeten und er hat mir von euch erzählt. Davon, dass er einen großen Fehler begangen hat. Verstehst du, Emily? Wenigstens diese eine Sache solltest du wissen.“
„Aber warum hast du mir das nicht schon viel früher erzählt?“, wand ich mich wieder an Chris, dem das Ganze noch immer sehr unangenehm war.
„Hättest du es mir geglaubt? Hättest du mir überhaupt zugehört, wenn ich es dir an diesem Abend erzählt hätte? Du warst so schnell weg. Es hätte keinen Unterschied gemacht.“
„Doch“, schrie ich, „das hätte es! Du Trottel hast mich im Glauben gelassen, dass du meine Eltern in die Tod befördert hast. All die Jahre habe ich mich gefragt, wieso mein Bruder und ich noch leben – wie wir aus diesem brennenden Auto entfliehen konnten. Dabei war die Antwort ganz simpel.“ Mit voller Wucht boxte ich gegen seinen Oberarm, was ihn aber nicht zu stören schien. Immer und immer wieder, bis meine Oma schließlich dazwischen ging.
„Ey, ey... Schätzchen, bitte lass das sein. Das bringt doch nichts.“ Sie nahm mich in den Arm und wiegte mich hin und her – wie ein kleines Kind.
Ich begann zu schluchzen. „Wieso hat mir denn niemand davon erzählt?“
„Ich wollte es nicht“, gab Chris leise zu, „nachdem ich deine Hand ergriffen habe und du eine halbe Stunde später die Augen aufgeschlagen hast, bin ich aus dem Raum gerannt. Ich habe deine Oma darum gebeten, euch beiden nichts von mir zu erzählen. Ich wollte nicht Bestandteil eures Lebens werden, denn das hatte ich – meiner damaligen Meinung nach – nicht verdient.“
„Und du hast seinen Wunsch einfach so erfüllt?“, fragte ich an meine Oma gewandt.
„Was hätte ich denn machen sollen? Ich war ihm schließlich noch einen Gefallen schuldig.“
„Komisch“, meldete sich mein kleiner Bruder zum ersten Mal wieder zu Wort. Die ganze Zeit über hatte ich vergessen, dass er ja ebenfalls anwesend war. Hoffentlich schockierte ihn das Ganze nicht zu sehr. Doch seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, freute er sich sogar. „Irgendwie kann ich Chris gar nicht böse sein.“
„Aber er hat uns doch angelogen“, beteuerte ich.
„Mag sein, aber trotzdem ist er doch immer noch ein Held, oder nicht?“
Ich nickte. „Vielleicht ein bisschen.“
„Helden zeigen sich immer erst zum Schluss, sonst wäre es ja langweilig.“ Er machte eine abwerfende Handbewegung, als würde er nicht über unser Leben, sondern einen Film reden. So einfach konnte er ihm also verzeihen? Ich verstand es nicht!
„Danke, Chris“, sagte er schließlich und umarmte ihn einfach. Etwas überrascht erwiderte dieser die Geste mit einem sanften Lächeln. Dieses Bild war so neu und schön, dass es erst eine Weile dauern würde, bis ich es wirklich realisieren könnte.
Kinder dachten nicht so kompliziert wie Erwachsenen, das wurde mir in diesem Moment wieder einmal bewusst. Für sie zählten nicht die Umständen, sondern nur die Ergebnisse. Und in diesem Falle war Chris tatsächlich eine Art Held.
„Danke.“
Kapitel 25
– You're the reason
Ein Monat später
Die letzten Wochen waren wie im Fluge vergangen. Meiner Oma ging es von Tag zu Tag besser, jedoch benötigte sie trotzdem noch Hilfe im Haushalt. Wahrscheinlich würde sie nie mehr alles alleine bewerkstelligen können, aber das brauchte sie auch nicht, denn sie hatte ja jetzt mich. Nie wieder würde ich von ihrer Seite weichen!
Joshua ging es ebenfalls gut, allerdings beschwerte er sich ständig über die Schule, was ich meistens mit einem genervtem Seufzen hinnahm. Er kam jetzt halt in ein schwieriges Alter und irgendwann würde auch diese Zeit vorüber gehen.
Zeit
– das war etwas, was ich mir nun viel öfter nahm. Ich wollte versuchen, jede Minuten zu genießen, denn wenn ich eins gelernt hatte, dann, dass das Leben außerordentlich kostbar war. Alles konnte von dem einen auf den anderen Moment verloren gehen, doch daran dachte ich so wenig wie möglich. Das was zählte, war der Augenblick, in dem wir uns befanden.
Und in diesem Moment wollte ich nur eins: So schnell wie möglich bei ihm
sein!
Ich räumte das restliche Geschirr in die Spülmaschine, nahm meine Jacke vom Hacken und verließ das Haus. Auch wenn der Frühling nun vollends eingetroffen war, spürte man noch immer einen Hauch des Winters. Die Sonne hatte noch nicht genügend Kraft, um gegen die Kälte anzukämpfen, doch schon bald würde sie sich durchsetzen können.
Ich stellte mir vor, wie wir an einem heißen Sommertag am Strand liegen und die Cocktails genießen würden. Die Sonnenstrahlen würden meine Haut kitzeln und sein
hübsches Gesicht noch mehr zur Geltung bringen. Ich würde dann endlich einmal seine
Sommersprossen zu Gesicht bekommen, die er
aus einem undefinierbaren Grund nicht mochte, obwohl er
damit bestimmt wunderschön aussah.
Auch wenn das nur eine Illusion meiner Gedanken war, ich mochte diese Vorstellung und es gab nichts, was ich mir sehnlicher wünschte.
„Hey“, hörte ich ihn
sagen und wenige Minuten später stand ich vor ihm
. Er
wirkte jetzt viel erholter als noch vor einem Monat. Seine
blonden Haare glänzten im Licht, während mich seine
blauen Augen so intensiv musterten, dass mir warm ums Herz wurde. Auch wenn es eine Weile gedauert hatte, ich wusste jetzt, dass mich kein anderer Mann je glücklicher machen könnte. Vielleicht gab es Menschen, die so etwas nicht nachvollziehen konnte, die uns für verrückt erklärt hätten. Nach all dem, was passiert war, sich noch einmal auf den anderen Partner einzulassen, war schwer, aber es war nicht unmöglich. Natürlich brauchte dies Zeit, aber genau diese würden wir uns nehmen.
„Wie geht es dir?“ Er
musterte mich fragend.
„Ganz gut, denke ich. Oma macht einen Mittagsschlaf und Joshua ist bei einem Freund.“
„Nein, ich wollte wissen, wie es dir geht?“ Seine
Hand berührte zaghaft meine. Es fühlte sich noch immer komisch an, wenn wir uns berührten. Nicht auf die unangenehme Art und Weise, eher, weil wir uns plötzlich wieder so fremd waren. Nachdem er
mir von damals erzählt hatte – von dem Ereignis, dass uns schon seit 6 Jahren verband, fühlte es sich auf einmal an, als würde ein Fremder
vor mir sitzen. Obwohl er
mir damals so vertraut vorgekommen war – weil ich tief in meinem Herzen spürte, dass wir uns schon einmal begegnet waren – hatte sich das nun völlig geändert. Vielleicht auch gerade deshalb, weil mein Herz nun die Wahrheit kannte.
Das war zumindest die einzig logische Erklärung dafür.
„Mir geht es... also, ich fühle mich komisch.“ Wir hatten beschlossen immer ehrlich zueinander zu sein und auch, wenn wir das bisher nicht immer einhalten konnten, wollte ich heute den ersten Schritt machen. Es stimmte ja auch. Auf der einen Seite war da dieses befreiende Gefühl, auf der anderen Seite hatte ich aber auch Angst. Unsere Vergangenheit verband uns so stark, dass sie – wenn wir nicht aufpassten - auch alles wieder zerstören konnte. Nur unser vollstes Vertrauen ineinander würde uns vor einer weiteren Niederlage schützen.
„Das kann ich verstehen. Für mich ist es auch noch immer schwer zu begreifen“, sprach er
und zum ersten Mal glaubte ich ihm
. Ich war mir nun sicher, dass er
mich tatsächlich erst später erkannt hatte – damals, als wir im Schnee lagen und ich ihm von meinen Eltern erzählt hatte. Und wenn ich ganz ehrlich war, dann konnte ich seine
Reaktion sogar ein bisschen nachvollziehen, obwohl mir die Erinnerung an das Geschehene für immer verwehrt bleiben würde.
Er ist mein Lebensretter und gleichzeitig ein Fremder.
„Glaubst du, es wird zwischen uns irgendwann wieder wie früher sein?“, fragte ich an seine
Brust gewandt. Das Wort früher
klang so weit weg, dabei handelte es sich nur um ein paar Monate. Ich musste an den Abend denken, als wir miteinander geschlafen hatten. Genau dieses Gefühl wollte ich irgendwann wieder verspüren.
„Wenn wir es beide von ganzen Herzen möchten, warum nicht? Für mich hat es einen Grund, warum wir uns heute an diesem Punkt befinden.“
„Du meinst...?“
„Wer weiß.“ Er
zuckte die Achseln und fügte hinzu: „Vielleicht sind wir ja tatsächlich für einander bestimmt.“ Genau dasselbe hatte ich auch schon gedacht.
Der Unfall, seine
Rettung, unsere erneute Begegnung... Konnte es möglich sein, dass uns da jemand glücklich machen wollte?“
Ich starrte zum Himmel empor. „Meinst du, sie können uns sehen?“
„Ja“, antwortete er
plötzlich voller Überzeugung. Er
begann zu lächeln und blickte ebenfalls in den Himmel.
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich ihre Anwesenheit spüre. Klingt verrückt, oder?“
„Nein, ganz und gar nicht. Mit John geht es mir ähnlich. Weißt du... mag sein, dass er nicht ganz unschuldig an dem Unfall war, aber ich konnte ihm nie wirklich böse sein. Ich habe immer nur mir die Schuld gegeben, weil ich ja überlebt habe.“
„Aber du bist nicht schuld! Niemand ist schuld!“, entgegnete ich und erwiderte zum ersten Mal wieder seinen
Händedruck.
„Diese Selbsterkenntnis habe ich aber nur durch dich bekommen. Ich möchte dir danken, Emily.“
„Dafür? Ich habe dich für einen Mörder gehalten“, sprach ich schuldbewusst.
„Und das war völlig richtig. Ich glaube, wenn du von Anfang an gewusst hättest, dass ich dich und deinen Bruder aus diesem brennenden Auto geholt habe, dann hätten wir uns nicht so sehr aufeinander eingelassen.“ Da musste ich ihm
recht geben. Denn Gefühle für einen Menschen zu entwickeln, mit dem man so Schreckliches verband, war für mich unmöglich. Doch jetzt, wo die Gefühle sich durch dieses Unwissen entwickelt hatten, schien es plötzlich möglich zu sein.
Es war verwirrend, aber es ergab immerhin einen Sinn.
„Wenn du es mir gesagt hättest, dann hätte ich mich nicht weiter auf dich eingelassen und wir wären uns nicht näher gekommen“, gab ich schließlich zu und hielt auf einmal geschockt inne. Meine Gedanken drifteten erneut zu dem Abend, an dem wir zum ersten Mal miteinander vereint waren. Ich versuchte das Gefühl zu ergründen, was ich damals verspürt hatte. Es war etwas, was ich noch nie für einen Mann empfunden hatte. „Liebe“, wisperte ich.
„Was?“ Verwundert sah er mich an.
„Ich liebe dich, Chris
.“
Epilog
Ich bin davon überzeugt, dass all unsere Wünsche und Hoffnungen in Erfüllung gehen können, wenn wir nur fest genug daran glauben. Manchmal kann es Jahre dauern, bis wir unser Glück gefunden haben, aber lohnt es sich dann nicht, all dieses Leid in Kauf zu nehmen, wenn zum Schluss doch noch alles gut wird?
Ich weiß jetzt, dass Chris der Mensch ist, nach dem ich all die Jahre gesucht habe. Nach dem Tod meiner Eltern fehlte ein Teil von mir, doch anders als ich bisher vermutet habe, befand sich dieser Teil noch auf der Erde. Ich musste ihn nur finden, um mich endlich wieder als Ganzes zu fühlen.
Wenn ich jetzt an früher denke, dann immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Nachdem ich ihm meine Liebe gestanden habe, ist er vollends nach Columbia gezogen. Summerville war einfach nicht die Stadt, in der wir glücklich werden konnten und seine Heimatstadt Chicago konnte es genau so wenig sein.
Natürlich war es am Anfang komisch, ihn nun immer bei mir zu wissen, aber meine Oma spürte, dass er der Richtige war.
Und was soll ich sagen? Sie hatte recht!
Wir brauchten einfach nur einen Stups in die richtige Richtung. Jetzt – 10 Jahre später – kann ich mit Gewissheit sagen, dass er mehr als nur mein Lebensretter ist. Er ist derjenige, der mich glücklich macht – den ich von ganzen Herzen liebe.
Mein Traummann.
* * *
Ich hoffe, das Ende hat euch gefallen?
Ich habe absichtlich nicht geschrieben, ob Chris und Emily nun verheiratet sind,
Kinder haben oder sonstiges, denn so kann sich jeder noch ein wenig sein
eigenes Happy End vorstellen. :3
Ich danke allen, die diese Geschichte gelesen und ihr einen Stern gegeben haben.
Liebe Grüße, Mona
Texte: Die Geschichte und die einzelnen Charaktere sind von mir frei erfunden und dürfen daher nicht "ohne Absprache" kopiert oder verbreitet werden. Das Cover wurde von mir bearbeitet, gehört aber dennoch einem Mitglied von deviantart.com.
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für einen ganz besonderen Menschen.