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Ein Blick in die Vergangenheit




Noch immer halte ich das Telefon an meinem Ohr und ich habe das Gefühl, ich mache gerade eine Zeitreise. Es ist, als wäre alles erst gestern passiert. All diese Gefühle und Empfindungen formen sich zu Bildern und ich erlebe noch einmal diesen Tag.

***

Ein kleines schummriges Licht, scheint in mein Zimmer. Die Lichtstrahlen dringen durch die drei oberen Reihen meines Rollos. Meine Hände liegen zu Fäusten geballt neben mir. Wut brodelt tief in meinem Inneren.
Heute ist mein achtzehnter Geburtstag und ich liege in meinem Bett alleine zu Hause in meinem Zimmer herum.
Draußen scheint die Sonne, der Tag heute soll der heißeste im ganzen Sommer sein. Ich fühle nichts von der Hitze, hat sich doch Kälte in meinem Körper ausgebreitet und festgesetzt. Den ganzen Tag schüttelt es mich schon, aber niemand ist da, der mir annähernd Wärme spenden könnte.
Wie schon in den letzten vier Jahren ist meine Mutter vor zwei Tagen weggefahren. Mein Vater verbringt auch heute wieder den Tag in seiner Stammkneipe. In den letzten Jahren, hat sich sein Konsum von Alkohol immer weiter gesteigert.
Das erste Jahr nach dem tragischen Tag, haben sie versucht noch etwas Normalität rüber zu bringen, obwohl Mam vorher weggefahren war, kam sie schon am Nachmittag wieder. Ich habe es da schon gespürt, dass es zu schwer für sie war und so geschah es, dass auch bereits im Jahr darauf, sie nicht mehr nach Hause gekommen war. Geschenke legten sie mir mit einem Gruß einfach im Wohnzimmer auf den Tisch. Auch Dad war im ersten Jahr noch ziemlich verträglich, versuchte, sich zusammenzureißen, doch es gelang ihm nicht. Ich habe den Schmerz und den Verlust in seinen Augen gesehen und er konnte da nicht mehr heraus.
Ich weiß, dass sie mir die Schuld geben, an dem, was vor fünf Jahren geschehen ist, egal ob sie etwas anderes behaupten.
Sie bestrafen mich, ich weiß es, doch können sie nicht sehen wie sehr er mir auch fehlt. Wie ich selbst unter dem Verlust leide.
Träge bewege ich mich, drehe mich leicht zu meinem Nachtschrank, ziehe die obere Schublade auf. Mit einer Hand nehme ich einen in Gold gefassten Bilderrahmen auf. Das letzte gemeinsame Bild, was von uns aufgenommen wurde, bevor er mich alleine zurück ließ.
Ich ziehe mit meinem rechten Zeigefinger die Konturen über das glatte Glas nach, das vertraute Lächeln, was er mir immer wieder schenkte, das Durchstreifen meiner Haare mit seinen warmen Fingern.
Der junge Mann, sechs Jahre älter als ich, hält mich in seinen Armen. Seine schwarzen Haare sind durcheinander und einzelne Strähnen hängen ihm ins Gesicht.
Wir haben einige Minuten vorher eine Wasserschlacht veranstaltet. An diesem Tag ist es so heiß gewesen, dass in wenigen Sekunden Sachen und Haare schnell trockneten. Nur einzelne kleine Stellen an seinem und meinem T-Shirt sind Zeugen von der heftigen Schlacht, die wir ausgefochten haben. Mama hatte das Foto gemacht, ich kann noch immer ihr Lachen hören. Freudig rief sie über den Hof, wir sollten in ihre Richtung schauen. Mit einem Kreischen verlor ich den Boden unter meinen Füßen und wurde mit Wucht an seinen Körper gedrückt. Lachend schauten wir in die Kamera und bevor ich wieder auf den Boden aufkam, küsste er mich auf die Wange.

Während ich daran denke, streift meine rechte Hand, die einst von ihm geküsste Wange und ich fühle, wie Feuchtigkeit darüber läuft.

„Daniel“, leise flüstere ich seinen Namen.
Fest drücke ich das Foto auf meine Brust und mein Schluchzen wird immer stärker. Ich vermisse ihn. Ich vermisse ihn so sehr.

Ein klirrendes Geräusch holt mich aus meinen Gedanken. Ich schrecke zusammen und bleibe still auf meinem Bett liegen. Mittlerweile ist es draußen dunkel geworden und ich weiß, wer nach Hause gekommen ist.
Jetzt werde ich noch weniger mein Zimmer verlassen. Ich ärgere mich, dass ich mir nicht vorher noch einmal etwas zu trinken ins Zimmer geholt habe. Duschen war ich zum Glück heute schon. Ich möchte ihm nicht über den Weg laufen, denn gerade heute ist es am schlimmsten. Gerade heute ist die Trauer und die Sehnsucht in seinen Augen am deutlichsten zu erkennen, aber auch seine Schuldzuweisung mir gegenüber spiegelt sich heute am deutlichsten darin. Dies zu sehen, ihn zu sehen, lässt mein Herz sich zusammen ziehen und meine Schuldgefühle immer wieder von neuem ansteigen.

Ich drehe mich auf die Seite, schließe meine Augen. Ich weiß, dass sich jetzt gleich die Tür öffnet, er tut es jedes Jahr, genauso wie jetzt auch.
Leise höre ich, wie sich die Tür bewegt, nur einen kleinen Spalt öffnet sie sich. Ich fühle seinen Blick auf meinem Rücken, kann den Alkohol bis zu meinem Bett riechen. Es sind nur Sekunden, ich weiß es und doch kommen sie mir immer wieder wie Stunden vor.
Ich versuche, meinen Atem ruhig zu halten, bewege mich keinen Millimeter. Täusche vor, dass ich schlafe, wie immer in den letzten Jahren.

Leise schließt sich die Tür und ich drehe mich zurück auf den Rücken, schaue an die dunkle Decke und atme meine fest angehaltene Luft aus. Tief sauge ich neuen Sauerstoff in meine Lungen und verhindere ein Schluchzen.

Warum kann nicht wieder alles so sein wie damals, bevor…? Ich breche meine Gedanken ab. Ich will nicht daran denken. Ich will nicht und doch kann ich es nicht ändern. Ich bin so dumm gewesen. Ja ich weiß es, es war meine Schuld. Ganz allein meine Schuld. Warum habe ich nicht aufgepasst. Ich war alt genug, ich hätte aufpassen müssen.

Mit dreizehn, ist man doch alt genug und nur weil es mein Geburtstag war und mich die Aufregung, dass ich einen ganzen Tag mit Daniel verbringen konnte, fast auffraß, hätte ich auf passen müssen. Ich weiß es. Ja ich weiß es und diese verdammte Schuld bekomme ich nicht mehr aus mir heraus.
Ich hatte mich so auf den Tag gefreut. Daniel hatte eine Überraschung für mich zu meinem Geburtstag, er hatte den ganzen Tag geplant, bis unsere Eltern am Abend von der Arbeit nach Hause gekommen wären.
Der Grund warum ich mich noch mehr darauf gefreut hatte, war, dass es sein letzter Tag bei uns war. Er wollte sein Studium beginnen und mit schwerem Herzen hatte er mir klar gemacht, dass er im Ausland studieren wollte und daher nur noch selten zu Hause wäre. Ich wollte nicht, dass er geht, habe Tage lang nicht mit ihm gesprochen und war so gemein und zickig zu ihm, wie ich noch nie zuvor gewesen war. Um mit mir Frieden zu schließen hatte er mir diesen Tag versprochen. Meinen Tag, meinen Ehrentag, wie er es nannte. Ich durfte mir alles wünschen, was ich von ihm wollte und er wollte mit mir noch so vieles tun.
Ich hole tief Luft weil mir wieder einmal bewusst wird, dass ich bis heute nicht weiß was die große Überraschung gewesen wäre.

Doch dann, was genau es war, das meine Aufmerksamkeit so auf sich gelenkt hat, dass ich nicht aufgepasst habe, ich weiß es nicht einmal mehr. Ich sehe nur immer wieder die Straße vor mir, über die ich so unachtsam hinüber renne. Einen Schrei von Daniel nehme ich noch wahr und ich fühle einen kräftigen Stoß, der mich nach vorn fallen lässt.
Mein Kopf geht ruckartig nach hinten, als ich das Quietschen von Reifen überdeutlich wahrnehme. Ein dumpfer Aufprall dringt in meine Ohren. Verschwommen, von der Hitze, die die Luft flimmern lässt und meine Tränen, die anfangen sich zu lösen, sehe ich, wie Daniel über zehn Meter mitgerissen wird. Er wurde über den Asphalt gerollt und blieb regungslos liegen. Das war das Letzte, was ich sehen konnte, dann wurde es schwarz vor meinen Augen.

Aufgewacht bin ich im Krankenhaus, Mam und Dad saßen neben mir am Bett.
Tränen rannen beiden über das Gesicht und für den ersten Moment wusste ich nicht einmal, was geschehen war.
Langsam kam die Erinnerung an den Unfall zurück. Mit leiser und rauer, mir völlig fremder Stimme fragte ich nach, wo mein Bruder sei, wie es ihm ginge.
Sie beruhigten mich, meinten er liege in einem anderen Zimmer, aber er würde wieder gesund werden und ich solle mir keine Gedanken machen.


Ich schließe meine Augen und atme tief die Luft ein. Sarkastisch gebe ich ein Grunzen von mir.
‚Ja klar, er wird wieder gesund.‘ Die Worte verfolgen mich nun schon seit fünf Jahren, seit er im Koma liegt. Wo Mama heute an seinem Bett sitzt, weil es der Tag ist, an dem sie ihren Sohn an das Koma verloren hat. Wo mein Vater sich betrinken geht, um seinen Sohn trauert, weil er ihn nicht in diesem Krankenbett besuchen kann, weil das Bild ihn schlichtweg zusammenbrechen lässt.
Und ich liege in meinem Bett, weil die Sehnsucht nach meinem Bruder mich mehr schmerzt, als alles andere und weil ich ihn seit vier Jahren nicht mehr besuchen gehen durfte.
Ich hatte mich so dagegen gewehrt, dass sie mir es verbieten. Ich wollte ihm auch nahe sein. Ich möchte auch seine Hand halten, doch haben mir beide nur gesagt, dass es das Beste wäre, wenn ich ihn nicht sehen würde.
Ich solle versuchen, nach vorn zu blicken, mich lieber mit Freunden treffen und mir keine weiteren Gedanken machen und sobald er aufwacht, darf ich auch sofort zu ihm.
Ich warte schon so lange auf diesen Tag, dass er aufwacht. Und bei jedem Jahr, was verstreicht, merke ich, dass die Hoffnung bei uns allen immer mehr verschwindet.

Ich schließe meine Augen, versuche endlich Schlaf zu bekommen, doch es gelingt mir nicht. Obwohl ich das Gefühl habe, nicht wirklich zu schlafen, schrecke ich auf, als ich die Haustür höre. Verwirrt schaue ich auf meinen Wecker. Es ist elf Uhr nachts. Wer kann das sein? Papa liegt doch schon längst im Bett und Mama kommt doch eigentlich nicht vor Morgen oder Übermorgen zurück.
Langsam und mit wirklich heftigem Herzklopfen stehe ich auf und schleiche leise auf meine Tür zu.
Durch den kleinen Spalt unter der Tür dringt Licht aus dem Flur herein. Ist Mama doch schon zurück? Leise öffne ich meine Tür und trete vorsichtig in den Flur. Sie steht vor mir, Tränen laufen ihr über das Gesicht und ohne ein Wort geht sie an mir vorbei und öffnet die Schlafzimmertür. Ich stehe da, kann mich nicht bewegen, schaue ihr einfach hinterher. Was ist passiert? So aufgelöst habe ich sie doch schon lange nicht mehr gesehen.
Kurz überlege ich noch, dann folge ich ihr. Ich kann es hören, ihr Weinen ist stärker geworden. Vor dem Schlafzimmer bleibe ich stehen, die Tür ist noch immer weit offen und meine Mutter sitzt auf dem Bett, wo mein Vater sie in den Armen hält.
Beide halten sich. Geben sich gegenseitig Halt und ich verstehe nicht, was geschehen ist, habe aber auch Angst, zu fragen. Eine Ahnung macht sich in meinem Inneren breit. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich spüre, wie mir schlecht wird, wie mir die Beine anfangen zu zittern. Meine Hände werden feuchter. An meinem Rücken fühle ich, wie sich Schweiß bildet und mir hinab läuft.

„Es ist vorbei.“, nehme ich die leise Stimme meiner Mutter wahr. „Ich hätte es beinahe nicht getan.“, dringen weitere Worte zu mir her. Was hätte sie beinahe nicht getan?
Doch bevor ich sie fragen kann, redet sie an meinem Vater gewandt weiter. „Ich wollte wirklich einen Rückzieher machen. Ich wollte einfach die Hoffnung nicht aufgeben.“ Mein Vater sieht sie an. Irgendwie wirkt er nicht mehr betrunken, hält nur seine Frau fest und versucht, sie zu trösten.

Da ich das Gefühl habe, sie haben mich völlig vergessen, stelle ich nun doch die Frage in den Raum: „Was hast du beinahe nicht tun können?“ Beide zucken erschrocken zusammen. Sie haben wirklich nicht bemerkt, dass ich in ihrer Tür stehe und sie sehen und hören kann.
Meine Mutter senkt den Blick, mein Vater drückt sie noch näher an sich. Schweigen herrscht zwischen uns, ein seltsames, erdrückendes, schweres und unbeschreiblich unangenehmes Schweigen. Ich schaue zwischen den beiden hin und her, habe das Gefühl, dass mir keiner von ihnen, wie so lange schon, wieder nichts sagen will.
Doch dieses Mal spüre ich, es ist anders, es ist noch viel bedeutender, dass ich weiß, dass ich erst recht ein Recht darauf habe, es zu erfahren. So kommt es, dass ich energischer als ich es wollte und auch lauter, als ich es beabsichtigt habe, meine Frage noch einmal stelle: „Was ist es, das du beinahe nicht konntest?“
Dad ist es, der mich ansieht, mit einem Ausdruck in den Augen, den ich beim besten Willen nicht deuten kann und dann knallen mich seine Worte, die ich vernehme, an die gegenüberliegende Wand. „Deine Mutter musste heute entscheiden, ob wir Daniel endlich gehen lassen.“


Luft! Ich brauche Luft. Ich muss atmen, doch auf meinem Brustkorb liegt ein Druck, der es mir unmöglich macht, zu atmen. Meine Lungen fangen schon an zu brennen und noch immer bekomme ich keinen Sauerstoff in sie hinein. Meine Hände krallen sich an die Wand hinter mir. Ich versuche, mich auf den Beinen zu halten, versuche, die Information zu verarbeiten. Ich weiß, was das bedeutet. Ich weiß es und doch kann ich es nicht glauben und frage gepresst und völlig atemlos noch einmal nach: „Was heißt das, ihn gehen lassen?“
Beide schauen mich an, als wäre ich dumm und so fühle ich mich jetzt auch. Ja ich bin dumm, wenn ich die Worte nicht wirklich verstanden habe, die mir mein Vater gesagt hat. JA ich bin dumm, wenn ich nicht begreife, was gerade hier geschieht. Noch einmal wiederholt mein Vater die Worte: „Deine Mutter hat heute freigegeben, dass man Daniel von den Maschinen nimmt. Das bedeutet, dass er nun endlich frei ist.“

Frei. Frei? Wie, er ist frei? Warum haben sie es mir nicht gesagt? Warum haben sie mir das nicht gesagt? Und genau diese Frage stelle ich. Stotternd kommt sie über meine Lippen.
„Warum…warum habt ihr….? Verdammt, warum habt ihr mir das nicht gesagt?“, schreie ich sie dann doch an.
Beide sehen mich an. Mama völlig verheult und immer noch schluchzend. Papa mit ernstem Gesicht und noch immer mit beruhigendem Streicheln von Mamas Rücken.
„Nimm dich etwas zurück in deinem Ton, es ist sowieso schon schwer genug für deine Mutter.“

Ich fange heftig an zu husten. Schwer für sie? Ja natürlich ist es schwer für sie, das weiß ich doch. Schon wieder bleibt mir die Luft weg. Was ist mit mir? Was ist mit mir? Denken sie vielleicht, es ist einfach für mich? Denken sie, ich habe ihn einfach so abhaken und vergessen können?

Mein Puls rast. In meinen Ohren rauscht es. Alles verschwimmt vor mir. Ich fühle die Tränen, mit denen sich meine Augen füllen und wie sie ungefragt einfach hinab fließen. Mein Herz, wie es schmerzt, wie es sich immer mehr zusammenzieht. Meine ganzen Eingeweide scheinen sich selbständig zu machen. Ich möchte mich krümmen, dem Schmerz entgegen treten und doch stehe ich an der Wand und sehe meine Eltern nur verschwommen.

Ich fange an zu schreien. Schreie meine Sehnsucht und meine Wut und meine Schuld in den Flur, dann versuche ich meinen Blick zu klären, indem ich die Tränen wegblinzle.
Ich sehe die beiden Menschen auf ihrem Bett sitzend an und mit einem Mal bricht es heraus. Ich weiß, dass ich es nicht zurück halten kann, ich weiß, dass es jetzt und hier der ungünstigste Moment ist und doch kann ich nicht mehr.

„Was denkt ihr Zwei eigentlich…? Warum habt ihr das getan? Ich hatte ein Recht darauf, das zu erfahren, was ihr vorhabt. Ihr hättet es mir sagen sollen. Ihr hättet mich mitnehmen sollen. Ich hätte zu ihm gehen sollen.“ Mein Atem ist hektisch, mein Körper zittert und mein Vater nutzt die Pause, in der ich Luft holen muss, um mir ins Wort zu fallen.
„Und was hätte es geändert? Wir wollten nicht, dass du ihn so sieht. Kannst du das nicht verstehen? Wir wollten, dass du ihn so in Erinnerung behältst, wie er war. Außerdem…“
Jetzt ist es an mir, ihm das Wort abzuschneiden.
„Was außerdem? Außerdem bin ich zu jung, in die Entscheidung mit einbezogen zu werden, oder außerdem ist es meine Schuld, dass es überhaupt erst passiert ist.“ Ich schreie sie an.
„Das hat doch gar keiner gesagt, dass du schuld bist.“, mischt sich meine Mutter jetzt auch in die Diskussion ein. Doch ich kann es in ihren Blick sehen. Ja, ihr Blick sagt etwas anderes. Auch in ihrer Stimme habe ich es hören können. Es ist wie eine Ohrfeige, die schlimmer nicht sein könnte.

Aber genau die macht mir eines bewusst und ich presse die nächsten Worte heraus:
„War es nicht schon genug, dass der Unfall an meinem Geburtstag war? Musstet ihr mich jetzt auch noch bestrafen und ihn an meinem Geburtstag sterben lassen?“
Ich weiß nicht wie, aber es ging so schnell und ich fühle nur noch ein heißes Brennen auf meiner Wange. Dad steht vor mir, noch immer die Hand erhoben. Wie konnte er so schnell bei mir sein? Sein Blick zeigt pure Wut.
Ja komm schon, es ist nur noch ein kleiner Schritt, sag es, sag was du schon all die Jahre zu mir sagen wolltest.
Ich sehe ihn an, meine Hand an meiner brennenden Wange. Er hatte mich noch nie geschlagen.
„Wie kannst du nur so egoistisch sein? Denkst du wirklich, dass es leicht für deine Mutter war?“
Die Worte treffen mich mit all der Wut, die er gerade verspürt.
Egoistisch? Bin ich wirklich gerade egoistisch? Wenn es wirklich egoistisch ist, dass ich von meinen Eltern wissen wollte, was sie vorhatten, ja, dann bin ich es wohl, aber ich hatte ein Recht darauf und warum genau heute, warum genau dieser Tag?
Ein Blick auf meinen Vater und ich erkenne in seinen Augen, wie sich auf einmal Resignation breit macht und sein Körper reagiert darauf. Die drohende Gestalt vor mir macht einem kleinem Häufchen Elend Platz. Seine Hand, mit der er mir die Ohrfeige verpasst hat, greift in seine Haare. Zieht kräftig daran, als würde er sie heraus ziehen wollen.
Doch er wendet nicht den Blick von mir und ich erwidere ihn die ganze Zeit. Leise vernehme ich seine Stimme:
„Wenn… Wenn du doch nur aufgepasst hättest!“, bei diesen Worten senkt er den Blick und atmet tief die Luft ein. Ich kann sehen, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt und seine Stimme ist brüchig, als er weiter spricht. Ich höre fast atemlos zu. „Wie konnte man mit dreizehn Jahren nicht aufpassen, wenn man über die Straße läuft. Wenn du damals nicht einfach losgerannt wärst, dann würde er noch…“ Er bricht ab, aber er muss es auch nicht aussprechen. Wir beide wissen genau, was er sagen will. Jetzt senke ich meinen Blick, kann ihn keine weitere Minute mehr ansehen. Kurz versuche ich den Blick von Mam einzufangen, doch auch sie senkt ihn, sagt dazu kein Wort, lässt mich völlig alleine stehen. Ich habe keinen Halt mehr, keine Familie mehr.

Mein Herz schlägt mit Wucht gegen meinen Brustkorb. Ich habe das Gefühl, dass es beinahe durchbricht.
Mein Magen krampft und ich widerstehe dem Drang, mich gegen den Schmerz zusammenzukrümmen. Minuten, so kommt es mir vor, stehe ich da, versuche mich zu konzentrieren. Versuche, in meinem Kopf etwas klar zu bekommen und dann, als hätte ich einen Schlag mit dem Hammer auf den Schädel bekommen, wird mir bewusst, ich muss hier raus. Ich muss weg. Ich kann keine Minute länger mehr hier bleiben. Sie haben mich mit ihm sterben lassen. Ich habe das Gefühl, sie wollen lieber gar kein Kind, als nur eins verloren zu haben. Noch immer steht mein Vater vor mir.
Die Kraft, die sich in mir ausbreitet, ich weiß nicht wo sie her kommt, doch mit einem kräftigen Stoß schiebe ich ihn von mir weg. Er strauchelt, hält sich am Türrahmen fest. Verwirrt sieht er mich an, doch ich sage nichts, renne, stolpere, stürze fast in mein Zimmer.
Ich greife in meinen Schrank, hole mir eine Tasche heraus und packe wahllos Sachen zusammen. Ich schnappe mir mein Handy, meine Jacke, meine Schlüssel und laufe so schnell ich kann zur Tür. Noch immer steht mein Vater im Flur an der Schlafzimmertür. Er beobachtet alles, aber sagt nichts, versucht nicht, mich aufzuhalten. Ich ziehe mir meine Schuhe an. Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass auch meine Mutter jetzt im Flur steht. Sie will einen Schritt auf mich zu kommen, doch mein Vater hält sie am Arm fest. Die Schuhe hab ich an, noch einmal schaue ich auf, schaue beiden in ihre Augen. Mam senkt sofort den Blick, ich weiß nicht, ich kann es nicht deuten, was er zu bedeuten hat, doch ist es mir gerade egal. Sie sagt nichts, auch sie hält mich nicht auf. Mein Vater bleibt starr stehen, in seinen Augen spiegelt sich wieder Wut, Bedauern und Resignation wieder. "Ich muss hier weg.", ist der letzte Gedanke, bevor ich die Tür öffne und die Wohnung verlasse.

***

Ich schließe die Augen, versuche mit Macht meine Gedanken ins Hier und Jetzt zu bringen. Wie oft haben wir danach noch gestritten und beleidigt, habe ich immer wieder die Schuldzuweisung mir anhören müssen, an dem, was geschehen ist.
Im Gegenzug habe ich sie dafür verurteilt, dass sie mir dir Chance genommen haben, meinen Bruder noch einmal zu sehen, mich von ihm zu verabschieden. Zur Beerdigung hatte mich eine Freundin begleitet, bei der ich unterkommen war. Sie lebte schon in einer eigenen Wohnung, da sie ein Jahr älter war als ich und auch schon eine Lehrstelle hatte. Mit dem Geld und mit der Unterstützung ihrer Familie, konnte sie sich eine zwei Zimmerwohnung leisten.

Ein paar Wochen hatte es gedauert, bis meine Eltern sich bewusst geworden waren, dass sie noch eine Verpflichtung mir gegenüber hatten. Sie haben mir meine erste Wohnung finanziert, da ich keinen Tag mehr unter ihrem Dach leben wollte. Auch haben sie, wie es sich für Eltern gehört, mein Studium bezahlt, doch habe ich kein Wort mehr mit ihnen gesprochen. Ich versuchte mir mit kleinen Nebenjobs, den größten Teil meiner Ausgaben selbst zu finanzieren, was mir soweit auch gelang. Nach meinem Studium habe ich angefangen, ihnen das Geld zurück zu zahlen. Natürlich wollten sie es erst nicht, doch ich habe darauf bestanden, ich wollte nicht mehr in ihrer Schuld stehen. Ich wollte von ihnen einfach nichts mehr haben. Sie hatten Jahre zuvor schon nichts mehr für mich getan, da wollte ich ihr Geld auch nicht behalten.
Unser Verhältnis hat sich nie mehr geändert. Egal, wann wir uns doch noch gesehen haben oder uns über den Weg gelaufen sind. Ich konnte es noch immer in ihren Augen sehen, so wie ich ihr Verhalten nicht verzeihen konnte. Nach den zwei Jahren, die ich noch in der Architekturfirma gearbeitet habe, konnte ich nicht mehr, ich musste weg. Ich brauchte eine neue Umgebung, ein neues Umfeld für ein freieres Leben.
Marius fand die Idee genauso gut, dass wir umziehen und in eine eigene Wohnung ziehen sollten. Wir sind in die Stadt von seinen Eltern gezogen und zwischen meinem alten Leben und meinem neuen lagen nun vierhundertfünfzig Kilometer und ich schwor mir, nie wieder, nie wieder zurück zu blicken und mit meinen Eltern kein einziges Wort mehr zu sprechen.

Nie habe ich den Schritt bereut, meine eigene Firma aufzumachen, auch wenn es am Anfang schleppend und ziemlich schwer war. Ich habe alles andere verdrängt, mich nur auf die Arbeit konzentriert. Die letzten fünf Jahre habe ich kaum noch daran gedacht. Nur meinen Geburtstag habe ich nie wieder gefeiert. Marius hat es verstanden. In den ersten Jahren, die wir zusammen waren, hatte er mir immer etwas schenken wollen, doch hatte ich es ihm immer wieder zurück gegeben. Schmerzlich hatte er dann daraus gelernt, als ich in einem Jahr das Geschenk ihm an den Kopf geworfen habe und ihn angeschrienen habe, er solle endlich damit aufhören. Ich habe es nicht verdient an diesem Tag irgendetwas zu bekommen. Danach hatte er mich an meinem Geburtstag in Ruhe gelassen. Wir haben den Tag so gelebt wie jeden anderen auch, nur dass ich an diesem Tag nicht wirklich gesprächig war.
Tja und die Ironie an der ganzen Sache ist, ich habe meine Verdrängung so perfektioniert, dass ich selbst ganz vergessen habe, dass ich heute Geburtstag habe.

Die Erinnerung an diesen Tag bringt mir nun mein Telefon zurück, mit meinem Vater am anderen Ende.

Täusche ich mich? Er hört sich alt und erschöpft an.
Ich will nicht mit ihm reden, doch kann ich auch nicht auflegen.
Die Tränen laufen mir mittlerweile stärker an meinen Wangen herunter, als ich es beabsichtigt habe. Normalerweise wollte ich nicht weinen. Es sollte mich kalt lassen, dass er mich anruft. Ich sollte auflegen.
Wir haben so lange kein Wort mit einander gesprochen. Seit fünf Jahren sind wir uns noch nicht einmal mehr über den Weg gelaufen. Ich sollte eigentlich damit abgeschlossen haben.

Dad fragt mich irgendetwas, aber seine Worte dringen nicht bis zu meinem Gehirn vor. Ich verstehe den Sinn auch nicht. Die einzige Frage, die lautstark in meinen Gedanken kreist: Warum heute? Warum jetzt?
Ich weiß, er fordert meine Aufmerksamkeit. Irgendwas sagt er über Mama, doch ich kann ihm einfach nicht folgen. Ohne auch nur einen Ton zu sagen, lege ich auf und lasse das Handy neben mich fallen, während ich seitlich auf die Decke zu Boden gehe.
Wie ein Embryo rolle ich mich zusammen und schluchze mir die Seele aus dem Leib, solange, bis es an meiner Tür klingelt.
Einmal. Zweimal. Ich höre es, doch ich stehe nicht auf. Keinen Millimeter bewege ich mich, ich kann nicht. Noch ein paar Mal nehme ich das Klingeln wahr, bis es energisch an meiner Tür klopft. Erst dann dringt es in mein Bewusstsein ein und mein Körper reagiert fast von alleine. Ich stehe auf, tappe langsam zur Tür. Das Klopfen scheint noch eine Nuance stärker geworden zu sein und dann ist es, als würde ich aufwachen, als ich die Stimme hinter der Tür vernehme. „Lisi!“ Meine Hand hält auf der Türklinke inne. Alexis. Natürlich, sie wollte doch heute Abend wieder kommen, aber doch erst gegen sieben. Sollten wir es wirklich schon so spät haben?
Ich kann nicht. Sie soll mich nicht so sehen. Noch einmal klopft sie und ich höre, wie sie meinen Namen ruft: „Lisi!“ Sie weiß, dass ich da bin, schließlich brennt bei mir Licht und wir hatten uns ja auch verabredet.
Ich lege meine Hand an die Tür, stockend und flehend ist meine Stimme, als ich durch die verschlossene Tür sage:
„Entschuldige…“, tief ziehe ich die Luft ein. „Es tut mir leid, aber können wir uns ein anderes mal treffen?“ Ich versuche mit Macht ein Schluchzen zu unterdrücken, doch es gelingt mir nicht. Mit zittriger Stimme rede ich weiter: „Ich melde mich bei dir, ja? Mir ist leider etwas dazwischen gekommen.“
Meine Stirn habe ich mittlerweile an die Tür gelehnt und das kühle Holz ist angenehm.
„Lisi, weinst du?“, werde ich durch die geschlossene Tür gefragt. Sie geht natürlich nicht auf meine Bitte ein. Warum auch? Sie weiß ja nicht, warum.
Noch einmal schluchze ich und schüttle den Kopf. Irrsinnig, sie kann es ja nicht sehen und wenn sie mich sehen könnte, wäre das Kopfschütteln auch nutzlos gewesen, meine Augen und die Tränenspuren sprechen ja für sich. Aber genau weil sie mich nicht sehen kann, sage ich mit letzter Kraft, die in mir ist: „Nein, es ist alles Ok. Ich kann mich nur gerade nicht mit dir treffen. Bitte ja, ich melde mich bei dir.“
Ich sacke an der Tür langsam zu Boden und lehne mich mit dem Rücken nun an die Tür. Ich kann und will jetzt niemanden sehen.

Ruhe kehrt auf der anderen Seite ein und für einen Moment macht sich Enttäuschung in mir breit. Anscheinend ist sie gegangen, vielleicht wollte ich, dass sie doch etwas hartnäckiger gewesen wäre, dann hätte ich eventuell doch die Tür aufgemacht.
Nein, das stimmt nicht, ich hätte die Tür nicht geöffnet, ich wäre vielleicht noch laut geworden und hätte sie eventuell sogar zum Teufel gejagt und das wollte ich nicht. Wirklich nicht.

Vergangenheit- Gegenwart- Zunkunft


Draußen vor meiner Tür ist es ruhig. Wie lange es schon so ruhig ist, weiß ich nicht. Doch ich sitze noch immer an der Tür, mit dem Kopf an diese gelehnt. Meine Hände liegen zu Fäusten geballt neben mir, um das Zittern zu verhindern.
Ich versuche wirklich ruhig und konzentriert zu atmen und meine wirren Gedanken zu ordnen. Nur fällt mir das ziemlich schwer, denn aus dem Wohnzimmer höre ich die ganze Zeit schon mein Handy klingeln.
Ich tippe auf zwei Möglichkeiten, wer mich mit Macht versucht zu erreichen.
Mein Vater, der noch einmal mit mir reden möchte. Schließlich habe ich vorhin einfach aufgelegt.
Oder es ist Alexis, denn sie wird wissen wollen, was mit mir auf einmal los ist. Sie hat mich vorhin weinen gehört und ich habe sie einfach so weggeschickt, ohne eine wirkliche Erklärung.
Wahrscheinlich war mein Verhalten einfach zu übertrieben, es muss seltsam auf sie gewirkt haben. Doch konnte ich sie vorhin einfach nicht sehen, geschweige mit ihr sprechen.
Meine Meinung hat sich bis jetzt auch nicht wirklich verändert, denn ich will keinen von beiden sprechen.
Obwohl, bei Alexis bin ich mir dann doch nicht mehr sicher. Warum eigentlich? Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie jetzt da wäre.

Doch bevor ich weiter darüber nachdenke, sollte ich dieses dumme Ding im Wohnzimmer endlich zur Ruhe bringen, denn es hört einfach nicht auf zu klingeln. Meine Nerven liegen blank, so dass ich schon am überlegen bin, das Ding einfach aus dem Fenster zu schmeißen.
Um mein Handy abschalten zu können, muss ich erst einmal aufstehen und genau das fällt mir momentan ziemlich schwer.
Mit einem lauten Seufzen ziehe ich die Luft tief in meine Lungen. Leicht kneife ich die Augen zusammen, es schmerzt ein wenig in meiner Brust, hervorgerufen durch die vielen kurzen Atemzügen, die das Weinen verursacht hat.
In meinem Gesicht laufen noch immer die Tränen herunter und das Klingeln dröhnt förmlich in meinem Kopf.
Etwas schwerfällig stehe ich auf und bleibe ein paar Sekunden stehen, da meine Beine eingeschlafen sind, bevor ich mich in mein Wohnzimmer gehen will.

Völlig zusammen zuckend, drehe ich meinen Kopf Richtung Tür, als ich von draußen ein Geräusch wahrnehme.
Ich halte meinen Blick auf meine Wohnungstür gerichtet. Sie kann nicht geöffnet werden, denn außer mir hat niemand einen Schlüssel. Ich lege meine Hand auf die Klinke, was würde ich jetzt nicht alles dafür geben, so einen Türspion zu haben. Das wäre eine sichere Methode, um nachzusehen, was dahinter geschieht.
Den Gedanken behalte ich auf jeden Fall für die Zukunft im Hinterkopf.
Mit gespitzten Ohren versuche ich, das Geräusch zu analysieren. Es hört sich nicht so an, als würde jemand nach oben gehen oder sich im Hausflur unterhalten. Jedenfalls dringen keine Stimme, von außen zu mir durch.

Während ich überlege, ob ich die Tür öffnen soll, um herauszufinden wer vielleicht im Hausflur ist, dringt schon wieder das Klingeln meines Handys zu mir durch. Dieser Ton erinnert mich daran, was ich eigentlich vorhatte. Das Ding endlich zum Schweigen zu bringen. Ich habe das Gefühl in meinen Ohren ein Dauerklingeln zu hören und mein Kopf quittiert es mit einem Hämmern.


Völlig genervt gehe ich nun in mein Wohnzimmer und hebe das Handy vom Boden auf. Der Gedanke, es doch aus dem Fenster zu werfen, verlockt mich, als es schon wieder in meiner Hand anfängt zu klingeln. Ich sehe den Eintrag auf dem Display. Wie erwartet ist es Alexis. Unter der Anrufliste erkenne ich, dass mein Vater auch mehrfach versucht hat mich anzurufen. Ein winziges Schmunzeln legt sich auf meine Lippen, zwanzig Mal hat Alexis angerufen und auch eine SMS wird angezeigt.
„Wow“, sie ist verdammt hartnäckig, doch wie hartnäckig sie wirklich ist begreife ich erst, als ich mit festem Herzklopfen und zittrigen Fingern ihre SMS lese.
Bei den Worten habe ich das Gefühl, mir fallen gleich die Augen aus dem Kopf und ich muss sie dreimal lesen, um zu verstehen, was da wirklich steht.
Ich kann es jedenfalls nicht glauben und doch bewege ich mich ungläubig und kopfschüttelnd, mit dem Blick noch immer auf das Handy gerichtet, auf meine Wohnungstür zu. Währenddessen hat mein Handy noch zweimal geklingelt. Für ein paar Sekunden schließe ich meine Augen und ziehe tief die Luft ein und während ich ganz langsam wieder ausatme, öffne ich meine Tür nur einen kleinen Spalt breit.
Es stimmt, es stimmt wirklich!!
Leicht schüttle ich den Kopf und blinzle mehrmals, aber ja es stimmt, sowie sie es in der SMS geschrieben hat.
Sie wartet vor der Tür. Unschlüssig ob ich sie sofort wieder schließen soll, oder Alexis doch herein lasse, stehe ich da und schaue sie an.
Ihr Blick zeigt mir eine Entschlossenheit, die mir wohl verrät, dass auch, selbst wenn ich jetzt dieses Brett mit der eiskalten Klinke in meiner Hand schließe, sie nicht geht und weiterhin vor der Tür stehen bleibt.

Noch immer sehe ich sie an. Hatte ich mir nicht insgeheim gewünscht, dass sie doch hartnäckiger gewesen wäre. Tja, mein innerlicher Wunsch hat sich wohl erfüllt, die Frage ist jetzt nur, will ich das wirklich? Alexis macht keine Anstalten, sich zu bewegen.
Ganz ruhig steht sie vor meiner Tür und sieht mich an. Ein kleines, fast unscheinbares Lächeln, was sich auch in ihren Augen widerspiegelt, liegt auf ihren Lippen. Wie viel Zeit ist eigentlich schon vergangen, seit ich die Tür geöffnet habe und wie lange, verflucht noch mal, steht sie eigentlich schon hier?
Warum steht sie eigentlich noch immer vor meiner Tür, ich hatte ihr doch gesagt, dass sie gehen soll. Obwohl mich ihr winziges Lächeln und ihre Anwesenheit erst ein wenig beruhigt hatten, so macht sich auch eine Art Wut in mir breit. Es ist keine Wut, die man sonst verspürt, wenn man auf irgendetwas oder irgendwen sauer ist, nein es ist anders, aber ich kann es nicht deuten und nachvollziehen schon gar nicht und doch brodelt es in mir.
„Warum bist du noch hier?“ Aus meiner Stimme kann man meinen Gemütszustand sehr gut heraus hören, denn selbst mir kommt sie viel zu tief und rau vor.
Das Schulterzucken von ihr, irritiert mich und auch ihre Worte schaffen es gerade mal so in mein Bewusstsein.
„Ich habe dich weinen gehört, also muss etwas vorgefallen sein. Ich möchte gerne wissen, was es ist und solange ich nicht weiß, dass es dir gut geht, bleibe ich einfach hier stehen.“
Was? Aber warum? Warum will sie hier stehen bleiben? Ich meine, ok wir waren verabredet und ja, irgendwie haben wir uns auch schon einige Gefühle für einander eingestanden, aber so ganz verstehen kann ich es trotzdem nicht. Wir kennen uns doch kaum.
Ist es ihr so ernst mit mir? Ich kann das nicht ganz glauben, noch lange nicht und doch steht sie hier und wartet darauf, dass ich irgendetwas tu. Aber was, was soll ich denn jetzt tun?
„Es tut mir leid, wegen heute Abend und mach dir keine Sorgen, mir geht es gut. Wirklich. Es ist nur etwas dazwischen gekommen. Wie gesagt, ich melde mich bei dir.“ Mit einem schiefem Lächeln versuche ich sie zu beruhigen und sie zum Gehen zu bewegen. Noch immer bin ich nicht bereit, sie herein zu lassen.
Doch nun macht Alexis einen Schritt näher zur Tür, mit einem leichten Druck öffnet sie die Tür noch etwas weiter, aber nicht soweit, dass sie herein könnte. Nein, nur dass sie besser vor mir stehen kann, mir noch besser in die Augen sehen kann und ihr intensiver Blick sorgt dafür, dass ich meinen von ihr abwende. Ich sehe auf ihre Füße, sie trägt karamellfarbene Sandalen, die zu ihrer Jeans passen, die fast den gleichen Farbton hat wie ihre Schuhe. Ihre Beine kommen in der Hose unwahrscheinlich gut zur Geltung und da ich noch immer ihren intensiven Blick spüre, sind ihre Schuhe und Hose doch ziemlich interessant.

Ok, ich sehe es ein, sie geht nicht, bevor sie sich nicht wirklich sicher ist, dass es mir gut geht und das kann ich ihr nicht glaubhaft rüber bringen.
Aber vor der Tür kann ich sie auch nicht mehr ewig stehen lassen. Ohne den Blick zu heben drehe ich mich um und bevor ich in Richtung Küche gehe, öffne ich die Tür noch ein wenig weiter.
Mein Herz macht zu dieser Entscheidung einige schnelle freudige Schläge. Es hat gewusst, dass sie nicht einfach so gehen wird und tief in mir spüre ich einen befreiten Jubel.
Ich höre, wie sie die Tür schließt und aus dem Augenwinkel kann ich Alexis sehen, wie sie im Türrahmen meiner Küche zum Stehen kommt.
Um mich zu beschäftigen, stelle ich die Kaffeemachine an. Ich brauche wirklich etwas zu tun, denn ich weiß nicht, was ich sonst machen oder tun soll. Ich fühle meinen innerlichen Aufruhr und meine stetig ansteigende Nervosität. Verdammt, ich bin es nicht gewöhnt, dass jemand so hartnäckig ist und mich nicht in Ruhe lässt, obwohl ich es verlangt habe.
Ich kann es sehen, sie beobachtet mich, aber sie sagt nichts. Seltsam, irgendwie fühlt es sich aber auch gut an, dass sie hier bei mir ist. Nur weiß ich nicht, woran das wirklich liegt, nur dieses Gefühl in mir, möchte ich nicht mehr verlieren.
Noch einmal drängt sich der Gedanke auf, dass wir uns gerade mal eine Woche lang kennen und doch fühlt es sich schon an wie eine Ewigkeit.
Ich verstehe das alles nicht. Ich verstehe sie nicht. Ich meine wir kennen uns doch noch gar nicht richtig. Ja wir haben bei unseren Treffen über uns gesprochen, haben über unser Leben geredet, doch kennen?
Geräuschvoll atme ich die Luft tief ein und drehe mich dann doch zu ihr um. So kann es ja nun auch nicht weiter gehen, das weiß ich.

Unsere Blicke treffen sich. Ich fühle wie meine Augen schon wieder anfangen zu brennen. Ihre ruhige Stimme hilft mir, meine Tränen zurück zu drängen.
„Was ist passiert?“
Noch einmal blinzle ich. Ich will nicht zu heulen anfangen, schon gar nicht vor ihr und schon gar nicht wegen so alter Sachen, die nichts mehr in meinem Leben zu suchen haben.
Ich greife nach zwei Tassen und fülle sie mit Kaffee, eine davon reiche ich Alexis, die sie auch sofort ergreift.
„Es ist okay, mir geht es wirklich gut. Es war nur…“
Mhh, was sage ich nur? Ich will nicht darüber reden, aber ohne eine Erklärung wird sie mir nicht glauben. Aber ich weiß, wenn ich jetzt etwas sage, dann wird sie mehr wissen wollen.
So ist es doch immer, es wird gleich darauf weiter gefragt, bis man seine Neugierde befriedigt hat. Man weiß doch vorher schon, dass man demjenigen in den meisten Fällen nicht helfen kann, und doch macht man es immer wieder.
„Also, naja, ich hatte einen Anruf, mit dem ich nicht gerechnet habe.“
Ich werde sicherlich nicht ins Detail gehen und irgendwelche Fragen werde ich auch nicht beantworten. Aber sie hat wenigstens eine kleine Erklärung verdient, warum ich auf einmal so abweisend bin.
„Es war mein Vater. Ich hatte dir ja schon gesagt, dass ich mit meinen Eltern keinen Kontakt mehr habe und naja heute hat mich mein Vater, den ich seit fünf Jahren nicht mehr gehört oder gesehen habe, angerufen. Es hat mich gefühlsmäßig völlig aus der Bahn geworfen.“
Ich höre meine eigenen Worte und komme mir dumm vor. Wenn man es in Worte fasst, hört es sich nicht wirklich dramatisch an, aber genau das ist geschehen. Bei seiner Stimme war es, als würde sich mein ganzes Inneres zusammen ziehen und genau das hat mich aus der Bahn geworfen. Ich kann es in Alexis Augen sehen, dass sie gerne mehr wissen möchte, doch ich halte mich zurück. Ich will nicht mit ihr darüber reden. Selbst Marius wusste nur einen kleinen Teil, dass halt mein Bruder an meinem Geburtstag verstorben ist und dass ich mich mit meinen Eltern so verkracht habe, dass ich immer mehr den Kontakt mit ihnen verringerte, bis zu dem Punkt, als wir umgezogen sind und ich den Kontakt ganz abgebrochen habe. Marius hatte zwar oft versucht, die genauen Gründe zu erfahren, doch ich konnte es ihm nie erzählen.

Nun steht Alexis vor mir, hält ihre Tasse in der Hand und sieht mich mit einem beruhigenden Ausdruck an. Sie nickt leicht
„Dein Verhalten zeigt mir, dass du nicht darüber reden möchtest. Das sehe ich doch richtig?“
Dies ist keine Frage, sondern eine Feststellung und ich sehe sie nur völlig verblüfft an.
Also mit der Reaktion habe ich nun nicht gerechnet. Ich habe mit der Frage gerechnet, ‚ob ich darüber reden möchte‘ jedenfalls hätte jeder andere sie gestellt, aber sie nicht. Sie steht da, sieht mich an und ich nicke nur. Mir verschlägt es die Sprache. Ich hatte die Antwort ‚ich möchte nicht darüber reden‘ schon längst auf meiner Zunge. Doch nun fehlen mir einfach die Worte.

Was verdammt nochmal, was ist das für eine Frau, für eine Person, für ein Wesen? Warum weiß sie immer wieder genau, wie sie sich mir gegenüber verhalten, was sie sagen und tun muss, damit alles passt?
Sie ist einfach unglaublich. Unglaublich! Ich schüttle den Kopf und lächle sie an, während ich zu ihrer Feststellung nur noch einmal nicke. Ja ich will nicht darüber reden und gerade jetzt macht sich in meinem Körper ein wohlbekanntes Gefühl breit, was ich immer wieder in ihrer Gegenwart verspüre.
Alexis sieht auf ihre Uhr und hebt ihre rechte Augenbraue.
„Also, wir haben es jetzt kurz nach acht. Was hältst du davon, wenn wir irgendwo hin gehen und was trinken.“
Auch ich schaue auf die Uhrzeit von meinem Handy. Es ist seit ihrem Auftauchen gerade mal knapp eine Stunde vergangen und mir kommt es wie eine Ewigkeit vor.
„Ok“, leicht nicke ich zur Bestätigung meiner Antwort. Warum nicht? Es wird mich ein wenig ablenken. Gerade heute sollte ich wohl wirklich nicht an meine Vergangenheit denken. „Ich ziehe mir nur etwas anderes an.“ Mit diesen Worten will ich an ihr vorbei gehen, doch komme ich nicht weit. Arme legen sich um meine Hüften und mein Körper wird an ihren gedrückt.
Ich weiß nicht warum, aber ich lasse es zu. Ich lege sogar meinen Kopf an ihre Schulter und umklammere sie mit meinen Armen. So stehen wir da und schon wieder muss ich aufpassen, nicht los zu heulen. Nur kurz ist unsere Umarmung, dann lässt mich Alexis los und ich kann in mein Schlafzimmer, wo ich erst einmal tief einatme und mich dann umziehe.

Eine halbe Stunde später sitzen wir in einer kleinen Bar, die nur zwei Straßen entfernt von mir ist. Alexis hatte zugestimmt, als ich ihr den Vorschlag gemacht habe.

Jetzt sitzen wir hier an der Bar. Während ich die ganze Zeit über immer wieder in meine eigenen Gedanken abdrifte, hat Alexis für uns bestellt. Vor uns stehen nun ein Glas Cola und ein Drink, wobei ich nicht einmal weiß, was das für einer ist. Ich setzte ihn an und mit einem Zug kippe ich mir die Flüssigkeit in meinen Rachen. Es brennt ein wenig, doch es stört mich nicht, denn in mir breitet sich ein angenehmes Kribbeln aus.
Mit einem Handzeichen, gibt Alexis dem Barkeeper Bescheid, mir das Gleiche noch einmal zu bringen. Der Mann stellt das Glas vor mir ab und neben mir vernehme ich die bekannte ruhige Stimme von Alexis.
„Sowie ich das einschätze, brauchst du etwas Stärkeres heute, wenn die Gefühle so stark sind, die dein Vater bei dir hervorgerufen hat.“
Ich nicke nur und mit einen leisem Schnauben, lasse ich meinen Frust raus.
„Ja, das stimmt. Wie kann er nur nach allem was geschehen ist, einfach bei mir anrufen und am Telefon so tun als wäre nichts gewesen.“
Die Getränke kommen und mit einem Schluck trinke ich das kleine Glas sofort leer. Die Flüssigkeit brennt noch immer in meiner Kehle, aber es ist angenehmer als das Gefühl meines Herzens, als mein Vater am Telefon war.
Schnell stellt der Barkeeper noch ein Glas vor mir ab. Wahrscheinlich hat Alexis ihm noch einmal einen Hinweis gegeben, doch das habe ich nicht wahrnehmen können, da mein Blick schon fast starr auf den Tresen gerichtet ist.

„Der Gedanke, dass dich jemand so verletzt hat, dass es dich so fertig macht, stört mich. Egal wer es ist.“ Kurz hebe ich meinen Blick und sehe sie an, bevor ich wieder die feuchte Spur auf dem Tresen beobachte die durch das gekühlte Cola Glas verursacht wurde. „Warum? Warum sollte es dich stören? Außerdem, war es meine Schuld…“ Ich halte inne. Wahrscheinlich warte ich darauf, dass Alexis nachfragt, worin meine Schuld besteht, doch es kommt nichts.
Noch einmal setzte ich das kleine Glas an und trinke es sofort aus. „Wenn ich vorher doch nur nicht so zickig zu ihm gewesen wäre.“ Meine Zunge löst sich, ich kann es nicht abstellen.
„Auch wenn du meinst, du bist schuld, so muss es doch irgendwann einmal gut sein.“
Ihre Worte dringen wie ein Schleicher zu mir durch und dann schüttle ich heftig den Kopf.
„Es kann nie gut sein. Es verfolgt mich in meinen Träumen, jedes verdammte Jahr. Jedes Jahr und heute auf den Tag genau seit zwanzig Jahren.“ Meine Finger spielen mit dem kleinen Glas und ich fühle mich, als wäre ich weit weg vom Hier und Jetzt.
„Seit zwanzig Jahren quälst du dich mit deinem Schmerz herum?“ Verwundert stellt sie die Frage. Natürlich ist sie verwundert, sie kennt meine Geschichte schließlich nicht. Rau ist meine Stimme nur ein kleines „Ja“ und ein Nicken bestätigen ihre Frage.
Ich lege meine rechte Hand in den Nacken, fange an ihn leicht zu massieren, dabei schließe ich meine Augen und lege meinen Kopf etwas nach hinten.
„Ja zwanzig Jahre. Erst jetzt wird es mir wirklich bewusst. Warum hat er ausgerechnet meinen Geburtstag gewählt, mir den Tag zu schenken?“ Es ist eine dumme Frage und doch stelle ich sie mehr zu mir selbst. „Er hätte einfach gehen sollen. Ich war so gemein zu ihm gewesen die Tage zuvor. Er hätte einfach gehen sollen.“ Ich weiß, dass ich versuche, meine Schuld abzugeben, aber ich weiß auch, dass es nichts hilft. Der Schmerz bleibt, die Schuld genauso. „Darf ich fragen wie alt du bist?“ Verwirrt schaue ich nach rechts. Natürlich, Alexis sitzt neben mir. Meine Gedanken streifen immer wieder zu diesem Tag zurück, so dass ich schon ganz meine Umgebung vergessen habe. „Dreiunddreißig“, antworte ich leise. Ich beobachte sie in dem Spiegel, der hinter der Bar längelang an der Wand angebracht ist. Kurz verzieht sie ihr Gesicht. „Du warst dreizehn?“
Ich nicke. „Wir hätten zu Hause bleiben sollen, doch Daniel wollte unbedingt, bis meine Eltern nach Hause kommen, mit mir den Tag verbringen. Ich war so gemein zu ihm, nachdem er mir gesagt hatte, dass er ins Ausland geht. Er war doch mein Held, mein großer Bruder. Er konnte mich doch nicht einfach so alleine lassen.“ Ich fühle schon wieder dieses Brennen in meinen Augen. Ich will nicht mehr weinen. Warum kann ich es nicht einfach vergessen?
Ich spüre eine Hand auf meinem Rücken auf und ab wandern. Alexis sieht mich über den Spiegel an und lächelt. Es ist ein kleines Lächeln und doch beruhigt es mich. Es wirkt, ein klein wenig verziehen sich auch meine Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln.
„Es ist also heute dein Geburtstag.“ Ich reagiere nicht auf ihre Feststellung. Denn ich habe es ihr ja indirekter weise gesagt. „Meinst du er wollte, dass du dein Leben lang trauerst an diesem Tag?“ Erschrocken drehe ich meinen Kopf in ihre Richtung. Was soll das? Warum fragt sie mich das? Sie weiß doch gar nicht, was passiert ist. „Ich habe kein Recht, diesen Tag zu feiern“, gebe ich daher auch schnippisch zurück.
„Schon klar, auch wenn ich nicht genau weiß, was geschehen ist, um deine Gefühle zu verstehen, so glaube ich nicht, dass du solange dich selbst dafür bestrafen solltest.“ Ich versuche gerade tief Luft zu holen, denn ich habe sie bei ihren Worten angehalten.
Ich trinke das wer-weiß-wievielte Glas leer, bevor ich brumme:
„Du hast keine Ahnung. Du weißt nicht was geschehen ist. Es war meine Schuld. Ich hätte einfach nicht über die verdammte Straße rennen dürfen, dann hätte er mich nicht retten müssen und es wäre alles in Ordnung geblieben. Mein Vater hätte mir nicht zeigen müssen, wie sehr er mich deswegen hasste. Meine Mutter hätte nicht einen Nervenzusammenbruch erleiden müssen. Sie hätte nicht entscheiden müssen, an meinem achtzehnten Geburtstag den Stecker von Daniels lebenserhaltenden Geräten zu ziehen. Er hätte jetzt eine Familie haben können. Es ist meine Schuld, dass meine Familie zerbrochen ist. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte mein Vater nicht angefangen zu trinken. Wir hätten glücklich sein sollen…, können. Was auch immer…. Es ist meine Schuld….“ So bissig wie meine Stimme geworden ist, sind die letzten Sätze leise und kleinlaut über meine Lippen gekommen.
Arme legen sich um mich, ziehen mich an einen warmen Körper, ruhig streicheln Hände über meinen Rücken. Tränen laufen mir unentwegt die Wangen herunter. „Ich vermisse ihn so sehr. Er fehlt mir. Ich hätte an seiner Stelle sein sollen.“ Der Druck wird stärker und ohne zu überlegen schlinge ich meine Arme um sie und schmiege mich fest an sie. Sie hält mich. Das erste Mal nach den ganzen Jahren habe ich das Gefühl, etwas fängt mich auf. „Was würde er sagen wenn er dich hier jetzt so sehen würde? Würde er dir auch die Schuld geben?“ Die Fragen dringen in mein Inneres. Ich weiß es nicht. Daniel war kein Mensch, der anderen die Schuld gegeben hat, für Entscheidungen die er selbst gefällt hat. Er war kein Mensch von Traurigkeit. Er hat in allem etwas gesehen, was vorherbestimmt war. Schulterzucken begleitet meine nächsten Worte:
„Ich bin nicht wie er.“ Das ist Antwort genug für sie. Sie nickt, ich spüre die Bewegungen. Sehen kann ich es nicht, ich habe mein Gesicht in ihre Halsbeuge vergraben. „Wie würde er handeln, wenn er wüsste wie deine Eltern darauf reagiert haben. Was würde er sagen, wenn er wüsste, was aus ihnen geworden ist und wie sie zu dir waren?“
Ich weiß es nicht. Ich habe mir diese Fragen nie gestellt. Es ist einfach so, dass ich in all den Jahren immer wieder das Gleiche durchlebe, mit dem Wissen, dass es wegen mir geschah. Doch wie würde er reagieren? Was würde er sagen? Wahrscheinlich, dass ich ein dummes Ding bin, dass ich gefälligst aufhören soll, mir Vorwürfe zu machen. Dass ich mein Leben genießen soll. Dass ich nicht weinen soll. Wie oft hatte er mir immer wieder gesagt, ich solle nicht weinen. Jeden Tag, den ich weine, ist ein verlorener fröhlicher Tag. Was für ein Spruch und nach all den Jahren fällt er mir wieder ein. „Ich soll nicht weinen, denn jeden Tag den ich weine verliere ich einen fröhlichen Tag.“, nuschle ich laut an ihren Hals. Ein leises Kichern kommt von ihr.
„Dein Bruder muss ein wundervoller Mensch gewesen sein.“ Ich nicke: „Ja das war er.“
„Und warum gedenkst du seiner nicht so, wie er es verdient hat?“ Ich löse mich aus ihrer Umarmung und sehe ihr fragend ins Gesicht. Doch bevor ich auch nur einen Ton heraus bekomme, kommt sie mir schon zuvor. „Na, ich meine, er hat es verdient, dass du seiner so gedenkst wie er war. Egal, was mit deinen Eltern geschah und was zwischen euch passiert ist. Wichtig ist, dass du dich genau so verhältst, wie er es für dich gewollt hätte. Damit würdest du seiner so gedenken wie er es verdient hat.“ Sie trinkt einen kleinen Schluck von ihrer Cola und spricht dann weiter: „Er muss ein sehr positiver Mensch gewesen sein. Er war dir auch nicht böse, dass du zickig warst. Er wollte, dass du einfach einen wunderschönen Tag verbringst. Meinst du nicht, dass du ihm das schuldig bist, dass gerade dieser Tag ein außergewöhnlicher Tag für dich ist und ich meine nicht in Trauer. Er hat dir diesen Tag geschenkt. Zwar auf eine ganz andere Weise, aber dieser Tag gehört euch. Er hatte vor, dir zu zeigen, dass er immer für dich da ist, egal wo er hingeht. Dieses Versprechen löste er zwar viel zu früh ein aber trotzdem hat er das getan. Ich weiß nicht was und wie es genau geschehen ist, doch habe ich es so verstanden, dass er sein Leben für dich gegeben hat. Das ist der größte Liebesbeweis, den ein Mensch bekommen kann. Dieser Tag, so tragisch wie er auch geendet hat, sollte euch noch viel näher bringen als du es dir bisher vorgestellt hast. Dir wurde es verwehrt, diesen Tag so anzunehmen wie es richtig gewesen wäre. Nach deinem Verhalten hier und dem, was ich von dir erfahren habe, hast du seit der Zeit nie mehr deinen Geburtstag gefeiert. Wahrscheinlich haben es deine Eltern auch nicht.“ Ich kann sie nur ansehen und ihr zuhören. Ihre Worte dringen so tief in mich. Mein Herz rast und der Druck in meiner Brust wird immer stärker. Ich weiß nicht, woher das kommt, doch habe ich das Gefühl, dass die Worte von ihr etwas in mir lösen. „Ich nehme mal stark an, dass du als Kind alleine warst und später hast du dich immer wieder zurückgezogen, so wie heute.“ Ihr Lächeln glitzert in ihren Augen. Es ist ein wissendes Lächeln und ich bekomme einfach kein Wort über meine Lippen. Weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Sie ist einfach unglaublich. Eine Bewegung holt mich aus meiner Starre heraus. Erst jetzt bemerke ich, dass ich sie die ganze Zeit angestarrt habe. Alexis bestellt zwei Gläser Sekt, die auch ziemlich schnell vor uns stehen. Eines davon gibt sie mir in die Hand und ohne zu überlegen greife ich danach.
„Jetzt werden wir deines Bruders gedenken, so wie er es verdient hat.“ Damit hebt sie das Glas ein wenig in die Höhe und ich spiegle die Geste wider. Dann dringen ihre Worte an mein Ohr und in mir löst sich ein Knoten. „Auf deinen Bruder, der mit voller Liebe auf seine Schwester aufgepasst hat. Auf die Vergangenheit, der du endlich Ruhe gönnst. Auf die Gegenwart, in der du anfängst zu verstehen, was dir geschenkt wurde und auf die Zukunft, dass du nie wieder vergisst, wer du bist, was du bist und wie sehr du von deinem Bruder geliebt wurdest.“ Mit einem flüchtigen Kuss auf meine Lippen besiegelt sie ihre Worte und wir trinken gemeinsam.

Ist es wirklich so einfach? Kann ich wirklich auf diese Weise meinem Bruder näher sein. Kann ich seiner wirklich so gedenken, darf ich wirklich an diesem Tag fröhlich sein? Wenn ich an seine Worte denke, dann weiß ich es. Ja, Alexis hat Recht. Irgendwie ist es fast schon eine Pflicht, ihm diesen Tag zu schenken. Erst jetzt verstehe ich, dass es reiner Zufall war, dass es ausgerechnet mein Geburtstag war. Ein ehrliches, zwar noch schüchternes Lächeln kommt über meine Lippen. Ja, ich sollte es endlich annehmen, das Geschenk, was mir Daniel zu meinem dreizehnten Geburtstag gemacht hat. Mit einem festen Entschluss in meinem Herzen und in meinem Kopf akzeptiere ich es und somit deute ich noch einmal eine Prost Geste an und trinke hastig den Rest des Sektes aus.


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Tag der Veröffentlichung: 23.01.2013

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