Der Wohnraum war sehr geräumig. Auf der Südseite war ein Panoramafenster mit Terrassentür, so konnte man direkt in den Garten schauen. An der Nordwand war über die ganze Wand verteilt, bis hoch zur Decke ein randvoll gefülltes Regal mit Büchern.
Davor standen ein rustikaler Schaukelstuhl und daneben ein kleiner Beistelltisch aus Eiche. Ein paar Zentimeter dahinter stand eine altertümliche Stehlampe. In der Mitte des Raumes befand sich ein rustikales Barock Sofa und dazu gehörten noch zwei Ohrensessel. Zwischen der Garnitur stand ein antiker Tisch aus massiver Eiche.
Alles hatte einen warmen Braunton. An den umliegenden Wänden hingen hochwertige Gemälde, das bemerkte sogar ich. Über der Garnitur hing ein kleiner, klarer Kronleuchter aus Kristall.
Ich setzte mich auf einen der beiden Sessel und Dr. Glas ging zu einem Schrank, der neben der Tür stand. Er holte zwei Gläser aus der Bar, wie ich jetzt erkennen konnte und auch eine Cola, kam dann auf den Tisch zu und stellte beides darauf.
„Bedienen Sie sich.“ sagte er freundlich zu mir und setzte sich mir gegenüber.
„Schön, dass Sie gekommen sind. Sven war Ihr Name, richtig?“ fragte er mich, und ich nickte nur. Dr. Glas unterhielt sich eine Weile über belanglose Dinge mit mir. Er wollte wissen, wo ich herkam, was ich nach der Schule machen wollte. Ich versuchte, mit meinen Antworten ihm immer wieder etwas auszuweichen. Auch passte ich auf, dass ich nicht verriet, dass ich gerade kein wirkliches Zuhause hatte. Auf die Frage.
„Kennst du Herrn McKenzie?“ schüttelte ich den Kopf.
„Leider konnte ich ihn nicht kennen lernen. Mir wurde gesagt, dass er auf einer Geschäftsreise sei. Ich kann nur froh sein, dass er mich gefunden hat.“
„Weißt du eigentlich, was passiert ist, an jenem Tag?“
„Nein, als mich der eine von den Angreifern gerade vergewaltigen wollte, fiel ich in Ohnmacht und wurde erst wieder in dem Bett bei Herrn McKenzie wach. Ich weiß auch nicht, warum er mich zu sich mitgenommen hat und nicht in ein Krankenhaus gebracht hat.“
„Oh, das kann ich dir erklären. Er mag keine Krankenhäuser. Ich bin schon lange sein Hausarzt und er meint immer nur zu mir, man wird am ehesten gesund, wenn man sich wohlfühlt und das könne man nicht in einem Krankenhaus.“
Irritierend schaute ich den Arzt an, aber ich nickte nur wieder einmal, denn was hätte ich denn darauf schon sagen sollen? >>Irgendwie hat er ja Recht<< dachte ich mir nur so nebenbei..
Nach circa einer Stunde meinte er zu mir:
„Komm mit, ich will dich untersuchen, lass uns also runter in meine Praxis gehen.“
Wir gingen also die Treppe nach unten bis zum Keller. Dort gab es einen kleinen Gang, der zu einer weiteren Treppe führte. Wir stiegen die Stufen nach oben und kamen an eine Tür. Der Arzt schloss die Tür auf und sagte zu mir mit einem Lächeln:
„So junger Mann, dann mal rein mit dir.“
Ich drückte mich an dem Arzt vorbei in den Raum, der, wie sich heraus stellte, als Anmeldezimmer diente.
Dr. Glas schloss die Tür und eilte voraus zu einem der Sprechzimmer und meinte dann zu mir:
„Geh schon mal hinein und zieh dich aus. Ich hole mir nur mal schnell ein paar Unterlagen.“
Ich trat in das Zimmer und stand erst einmal unschlüssig da. >>Ist es richtig, dass ich hier her gekommen bin? << stellte ich mir erst einmal in Gedanken die Frage. Doch dann befolgte ich Dr. Glas Anweisung und fing an, mich auszuziehen.
Da ich nicht einfach nur so herum stehen wollte, setzte ich mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Mein Blick streifte durch das Zimmer. Das Sprechzimmer war ein genaues Gegenteil zu seiner Wohnung. Hier war es ziemlich modern eingerichtet, irgendwie sah es nicht wirklich wie ein Sprechzimmer aus, so wie man es kennt bei Ärzten.
„So, junger Mann, dann wollen wir mal loslegen.“ Dr. Glas holte mich aus meinen Gedanken und ich sprang von dem Stuhl auf.
Er trat zu seinem Tisch legte eine Akte ab und sagte zu mir:
„So Sven, ich bräuchte noch einige Angaben von dir.“
Ich riss meine Augen auf >>Scheiße<< ging es mir durch den Kopf.
Dr. Glas musste gesehen haben, dass ich damit Probleme hatte ihm irgendwas Näheres sagen zu müssen. Doch er beruhigte mich und meinte:
„Ich will nur wissen, was für Kinderkrankheiten oder Brüche du schon hattest, ob du irgendwelche Allergien hast. Auch brauche ich deine Körpergröße und dein Gewicht.“
Erleichtert atmete ich aus. >>OK, wenn er mehr nicht wissen will.<<
Ging es mir durch den Kopf. Doch musste ich ihn erst einmal fragen, wie er die Behandlung abrechnen wollte. Schließlich wusste ich ja, dass ich mir diese nicht leisten konnte.
„Dr. Glas ich kann mir Ihre Behandlung nicht leisten.“ Beschämt schaute ich ihn an und seufzte.
Dr. Glas tätschelte mir leicht auf die Schulter und meinte nur zu mir:
„Mach dir keine Sorgen, Herr McKenzie hat schon alles mit mir geklärt und auch für alle Folgebehandlungen gesorgt.“
Nach diesen Worten musste ich mich erst einmal setzten.
„Das versteh ich nicht, warum macht er das? Hat er Ihnen das gesagt?“
Der Arzt schüttelte den Kopf.
„Nein, das hat er nicht, er meinte nur, ich solle mich um dich kümmern.“
Noch immer sprachlos saß ich auf dem Stuhl, als der Arzt erklärte, dass wir jetzt mit der Untersuchung anfangen sollten. Ich stand auf und er maß meine Größe, nahm mein Gewicht auf und schaute sich meine Verletzungen an. Währenddessen fragte er mich über meine Krankheiten, die ich schon gehabt hatte, aus.
„Schön, schön es sieht alles ganz gut aus. Deine Rippe wird noch ein Weilchen brauchen, bis sie vollständig verheilt ist, aber ansonsten brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“
Er verband mich noch einmal fest, während er mir das sagte.
„Achte darauf, dass du nichts Schweres anhebst, oder irgendwelchen Sport treibst.“
Ich nickte nur und nach der Behandlung konnte ich mich endlich wieder anziehen.
„Sven, ich hatte dich schon beim letzten Mal gefragt, ob du mir vielleicht sagen möchtest, woher du die älteren Verletzungen hast. Ich biete dir auch heute meine Hilfe an, und du brauchst keine Angst zu haben, es wird niemand etwas erfahren.“
Ich schaute ihm fest in die Augen, war für ein paar Minuten ganz still. Für einen Moment überlegte ich, ob ich mich ihm anvertrauen sollte. Doch dann senkte ich meinen Blick, schüttelte den Kopf und entschied mich dagegen, es war vorbei und ich wollte auch nicht wieder zurück.
„Nein das ist schon OK.“
Der Arzt schaute mich wieder so wie damals an und sagte freundlich:
„Du kannst zu jeder Zeit herkommen, wenn du willst. Es gibt Möglichkeiten, denjenigen zu bestrafen.“
Ich nickte, sagte aber:
„Wirklich, es ist alles in Ordnung. Vielen Dank für ihre Hilfe.“
Irgendwie fühlte ich, dass ich einfach nur noch hier raus wollte. Der Arzt war so nett zu mir, aber ich hatte so ein schlechtes Gewissen bekommen, bei all der Hilfe, die mir zuteil geworden war.
Ich wanderte durch die Stadt. In meinen Gedanken ging ich das Gespräch mit dem Arzt über Herrn McKenzie noch einmal durch. Wie sollte man auch verstehen, dass ein wildfremder Mensch, den man auch noch nicht einmal kennen gelernt hatte, soviel für jemanden tat? Ist er wirklich nur ein herzensguter Mensch, ja das musste er sein, an eine andere Möglichkeit wollte ich nicht denken.
Mir fiel auf, seit ich von zu Hause weg gelaufen war, hatte ich Menschen getroffen, die mir etwas Gutes taten. Selbst nachdem ich angefallen worden war, gab es einen Schutzengel für mich.
Ich verstand nicht, was das alles sollte. Erst war der alte Mann so nett zu mir, dann half mir Herr McKenzie, den ich persönlich noch nicht kannte. Und zu guter Letzt dieser Arzt, der genauso wenig etwas mit mir zu tun hatte. Auch dieser war so nett und bot mir seine Hilfe an. Doch ich traf auch auf den Menschen, der mein Leben noch auf eine ganz andere Art bereicherte, Mike. Ich wusste, dass ich mich in ihn verliebt hatte, schon in der ersten Minute, als ich ihn auf dem Boden sitzen sah.
Während ich die Straße weiter entlang lief, sprach mich jemand freundlich von der Seite an und holte mich aus meinen Gedanken.
„Hallo Sven, na willst du mich besuchen kommen?“ hörte ich und ich sah in Herrn Schmidts Gesicht.
„Hallo Herr Schmidt.“ ich lächelte ihn freundlich an.
„Ich bin zufällig hier. Ich machte einen Spaziergang, es ist schön, Sie wieder zu sehen.“
Ich schritt direkt auf ihn zu und gab ihm meine Hand. Herr Schmidt begrüßte mich mit seinem festen Händedruck und fragte mich gleich:
„Und, möchtest du kurz mit rein kommen, vielleicht hast du ja etwas Zeit für eine Tasse Tee?“
Ich freute mich darüber und da ich gerade nichts zu tun hatte, nickte ich und wir gingen gemeinsam zu seinem Haus. Er steuerte auch gleich die Küche mit mir an und bot mir einen Platz an.
Ich setzte mich an den großen, runden Tisch der im Raum stand. Herr Schmidt eilte zum Schrank und holte zwei Tassen heraus. Ich sah ihm zu, wie er den Tee zubereitete und wieder bekam ich, wie schon einmal, das Gefühl, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Manche seiner Bewegungen kamen mir seltsam vertraut vor, doch konnte ich mir keinen Reim darauf machen, wieso das so war.
Nach ein paar Minuten setzte er sich mit an den Tisch, stellte die Tasse Tee vor mir ab. Er schaute mich an und grinste:
„Na junger Mann, wie geht es dir eigentlich, was arbeitest du jetzt?“
Ich nahm die Tasse auf und pustete ein wenig auf den Tee und schlürfte etwas daran.
Ich überlegte, was genau ich sagen sollte.
„Mir geht es gut, doch momentan arbeite ich nicht, ich genieße ein bisschen die Ferien.“
Herr Schmidt nickte zustimmend.
„Ja genau, so ist es recht, mein Junge.“
Ich schaute etwas verlegen auf meine Tasse. In mir brannte eine Frage auf der Seele. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, wie ich es anstellen sollte, meine Frage zu stellen.
Als hätte Herr Schmidt meine Gedanken gelesen fragte er mich auch schon:
„Was hast du auf den Herzen, du siehst aus als würde dir irgendetwas durch den Kopf gehen?“
„Mhh, irgendwie schon.“
Herr Schmidt blickte mich an und wartete darauf, dass ich weiter sprach. Ich brauchte etwas Zeit, mir war es peinlich, ihn zu fragen, wusste ich doch auch nicht, wie er darauf reagieren würde.
„Sag schon, was hast du auf den Herzen?“
Ich senkte meinen Blick und schaute auf meine Tasse.
„Herr Schmidt, ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll, doch ich würde gerne wissen, was sie beim letzten Mal gemeint hatten, als wir uns verabschiedet hatten.“ Eine Ewigkeit wie mir schien, blickte ich auf meine Tasse, dann fragte ich ihn einfach geradeheraus:
„Herr Schmidt, beim letzten Mal meinten sie zu mir, sie wären es mir schuldig. Was hatte das zu bedeuten?“
Fragend schaute ich ihm ins Gesicht, doch statt einer Antwort kam mir Nervosität entgegen. Er rutschte mit seinem Stuhl zur Seite und stand auf, Worte versuchten seinen Mund zu verlassen, doch kein Laut kam heraus.
Sein Blick streifte umher. Noch immer blickte ich fragend zu ihm auf. >>Was soll das, warum ist er denn jetzt so komisch drauf?<< lief es mir durch meinen Kopf.
Als auf einmal von ihm kam:
„Warte, ich bin sofort zurück“
Er verließ mit schnellen Schritten die Küche und ich saß alleine da. In mir machte sich ein seltsames Gefühl breit. >>Was sollte denn das jetzt?<< Ich fing an, mir Fragen über Fragen zu stellen und nun wurde ich ganz nervös. Eine Ewigkeit, wie mir schien, saß ich allein in der Küche, bis ich endlich die Schritte von Herrn Schmidt hörte. Mit einem Buch in der Hand setzte er sich an meine Seite. Geöffnet schob er mir das Buch zu. Ohne einen Ton wandte ich meinen Blick dem Buch zu und riss meine Augen auf. Ich meinte zu spüren, wie für ein- zwei Sekunden mein Herz aufhörte zu schlagen. Konnte ich doch nicht verstehen, was ich da sah. Mein Blick wanderte mehrfach über das Bild, welches sich im Buch befand.
„Was...?“ meine Stimme versagte, ich blickte wieder auf das Foto, weil das Bild mich einfing. Lange, sehr lange, so wie mir schien, betrachtete ich das Foto, bis ich wieder versuchte zu fragen:
„Was... genau... soll das? Wie kommen Sie an ein Foto von meiner Mutter?“ Ein trauriger Blick war die Reaktion auf meine Frage. Tränen bildeten sich in seinen Augen, was mich noch mehr verwirrte.
„Herr Schmidt, wieso haben Sie ein Foto von meiner Mutter?“
Noch einmal schaute ich mir das Foto an, ja sie war es. Sie war zwar sehr jung auf dem Foto, aber man konnte sie gut erkennen.
Ein Seufzen kam von ihm und er sagte leise, kaum hörbar und mehr zu sich selbst als zu mir:
„Sie war meine jüngste Tochter.“ In seinen Augen bildeten sich immer mehr Tränen, einzelne davon bahnten sich ihren Weg über seine Wangen.
„Wie soll ich das verstehen, sie war Ihre Tochter?“
Ich wusste nicht wie ich das verstehen sollte, wie es hieß, wenn er ihr Vater war, dann sollte das mein...
Oh nein, das konnte doch nicht sein. Sagte mein Vater nicht die ganze Zeit, es gäbe niemanden mehr? War meine Mutter nicht einfach abgehauen? Nun saß dieser Mann vor mir und erzählt, dass sie seine Tochter war. Und was hieß eigentlich war? In meinem Kopf häuften sich die Fragen und ich wurde sichtlich nervös, während ich immer wieder vom Foto auf den Mann und wieder zurück schaute.
„Sven“ sprach er brüchig meinen Namen aus und holte mich damit aus meinen verwirrten Gedanken. „Sven, es tut mir leid, sehr leid. Ich war mir zwar bis jetzt nicht zu hundert Prozent sicher, doch ich hatte schon von Anfang an, als du zu mir kamst, einen Verdacht. Jetzt hast du es mir bestätigt und ich weiß nicht recht, wie ich dir alles erklären soll. Sven, jetzt kann ich es sagen, ich bin dein Großvater. Ich bin so froh, dass ich dich endlich kennen lernen darf.“ Er brach ab und ich musste schlucken, musste ich doch erst einmal das Gehörte verdauen. Aber bevor ich überhaupt anfangen konnte darüber nachzudenken, erzählte er auch schon weiter.
„Meine jüngste Tochter ist, wie schon gesagt, deine Mutter; leider hatte sie den Kontakt mit mir und meiner Frau abgebrochen. Wir hatten vor ungefähr sechseinhalb Jahren einen extrem heftigen Streit und sie verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen.“
Herr Schmidt, also mein Großvater, stand auf, schaute mich mit einen mitleidigen Blick an und meinte nur ganz leise:
„Ich komme gleich zurück, ich muss nur etwas holen.“
Ich saß nun wieder einmal alleine in dem Raum und nun konnte ich ein wenig das Gehörte mir durch den Kopf gehen lassen. Ich fragte mich, was ich nun erst einmal mit dieser Information anfangen sollte.
Ich versuchte mich an den Tag zu erinnern an dem mich meine Mutter verließ. Sie holte mich aus dem Kindergarten ab. So weit ich es noch wusste, hatten wir einen riesigen Spaß. Wir waren Eis essen, kamen nach Hause, es dämmerte schon. Ich sollte ins Haus und meine Mutter wollte noch etwas draußen erledigen. Meine Mutter verlangte von mir, dass ich in mein Zimmer gehen sollte. Ich sollte wie immer leise im Zimmer sein. Sie meinte, dass ich Papa nicht stören sollte, wenn er nach Hause käme. Ich wusste, was passierte, wenn Papa nach Hause kam. Wenn ich etwas zu laut war, fing er an, mich anzuschreien. Damit ich keine Schimpfe bekam, tat ich was meine Mutter sagte. Ich wartete immer bis meine Mutter in meinem Zimmer auftauchte und mich zum Essen holte. Oder mit mir etwas in meinem Zimmer spielte.
Doch an diesem Abend kam sie nicht, ich wartete den ganzen Abend, saß auf meinem Bett und rührte mich nicht. Irgendwann hörte ich Lärm draußen, doch wollte ich meiner Mutter keinen Ärger machen, also blieb ich brav in meinem Zimmer.
Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn wach wurde ich am Morgen, weil mein Vater mich aus dem Bett riss. Er schrie mich an:
„Los raus, mach dich in den Kindergarten.“ Ich fragte ihn:
„Wo ist Mama? Sie bringt mich doch immer hin.“ Als Antwort bekam ich nur noch zu hören:
„Du gehst ab heute alleine. Deine nichtsnutzige Mutter ist weggegangen, die kommt nicht mehr zurück. Sie hat dich im Stich gelassen.“
Ich saß auf dem Boden, auf den mein Vater mich geschmissen hatte, nachdem er mich aus dem Bett gerissen hatte, schaute zu ihm auf. Tränen rannen mir an den Wangen entlang.
„Los mach hin und hör auf zu heulen, sonst setzt es was.“
Da ich aber nun mal nicht aufhören konnte zu weinen, hatte ich auch an diesem Tag meine erste Ohrfeige bekommen. Schmerzerfüllt hielt ich meine Wange und ich fing noch mehr an zu weinen. Schon hatte ich eine zweite Ohrfeige weg. Meine Wange glühte und ich versuchte mit Macht, dass ich aufhörte, zu weinen, nur ein leises Schluchzen war von mir zu hören. Er verließ das Zimmer noch einmal mit den Worten:
„Los jetzt, beeil dich, sonst setzt es gleich noch eine. In fünf Minuten bist du fertig.“ Ich schaute ihm angsterfüllt nach. Sobald er aus der Tür heraus war, zog ich mich schnell an, wollte ich doch keine weitere Ohrfeige bekommen.
Ich stand in der Küche fertig angezogen vor meinem Vater. „Los mach dich fertig, geh endlich los.“
„Aber ich brauch doch noch etwas zu essen.“ kam es leise von mir. Er schaute mich sehr böse an und ich zuckte zusammen. Mit einem Male schmiss er mir ein Stück trockenes Brot entgegen und meinte mit lauter Stimme:
„Das ist das letzte Mal, dass ich dir was gebe, ab heute kümmerst du dich selbst darum. Deine Mutter hatte auch die Schnauze davon voll, dir alles nachzutragen, deswegen hat sie dich verlassen.“
Enttäuscht und voller Trauer nahm ich dieses Stück Brot und verließ das Haus. Ich schluchzte den ganzen Weg bis zum Kindergarten und biss etwas von dem Brot ab. Seit diesem Tag versuchte ich allen zu verheimlichen, wie es bei mir zu Hause zuging.
Ich hörte Schritte und sah wie sich Herr Schmidt wieder neben mich setzte. Er legte dieses Mal einen Stapel Briefe vor mir hin.
„Wie vorhin schon erwähnt, hatte ich mich mit deiner Mutter sehr heftig gestritten. Ich sah sie fast sieben Jahre nicht mehr. Irgendwann bekam ich einen Anruf vom Krankenhaus. Ich erfuhr, dass deine Mutter auf der Intensivstation lag. Natürlich fuhren deine Großmutter und ich sofort dorthin. Das Bild was sich mir bot, hatte mir das Herz gebrochen. Sie sah schlimm aus. Man sagte uns, es wäre ein Unfall gewesen. Sie war von deinem Vater angefahren worden, es hieß, er hätte sie nicht stehen sehen und als er in die Garage fuhr, zerquetschte er sie zwischen Auto und Wand. Diese Verletzungen waren zwar schon schlimm, doch sie wäre wieder gesund geworden. Aber durch die Erschütterung kippte ein Regal von der Seitenwand und landete ungünstig auf ihr. Sie kämpfte noch drei Monate. Während der Zeit kam auch die Wahrheit heraus. Deine Mutter erzählte mir, dass dein Vater im betrunkenen Zustand und mit Absicht in die Garage gefahren war. Deswegen, weil deine Mutter ihr Auto noch vor der Garage stehen gelassen hatte, weil sie noch etwas erledigen wollte. Doch währenddessen kam dein Vater. Er sah, dass sie die Einfahrt für sein Auto versperrt hatte. Also stieg er aus, stieg in das Auto von deiner Mutter und fuhr mit Wucht in die Garage.“
Für ein paar Sekunden atmete er erst einmal durch und ich saß da und konnte mich keinen Millimeter bewegen. Mein Mund war trocken. Ich hatte Probleme zu atmen, mir liefen der Schweiß von der Stirn und die Tränen aus den Augen.
Mit leiser Stimme erzählte er weiter und ich versuchte, dem zu folgen, was er mir zu sagen hatte.
„Deine Mutter wollte, dass ich dich zu mir holte. Du solltest nicht bei deinem Vater und deinem Stiefbruder bleiben. Ich wollte dich abholen, doch dein Vater ließ mich nicht zu dir, auch hatte er alle Behörden auf seine Seite gebracht und ich hatte keine Chance überhaupt an dich heran zu kommen. Deiner Mutter hatte es das Herz gebrochen. Die letzten Wochen verbrachte sie damit, dir jeden Tag einen Brief zu schreiben. Sie hatte es gewusst, auch wenn ich es nie hören wollte, dass sie nicht mehr lange leben würde.
Jeden Tag war ich mit meiner Frau im Krankenhaus. Doch eines Tages, machten wir uns wie jeden Tag fertig, um ins Krankenhaus zu fahren, als wir einen Anruf bekamen. Es war dein Vater, der nur meinte, eure Tochter ist tot, ihr braucht nicht mehr ins Krankenhaus fahren. Ich habe alles veranlasst für die Beerdigung. Wir wollten wissen wo und wann sie beerdigt werden sollte, doch da legte er schon auf.
Ich schluckte vor Entsetzen und mein Hals brannte, weil noch immer mein Mund trocken war.
„Wir konnten sie nicht noch einmal sehen, um uns zu verabschieden. Durch das Amt erfuhren wir dann, wo sie beerdigt wurde. So konnten wir sie wenigsten an ihrem Grab verabschieden. Dein Vater wollte zum Glück nicht die Sachen deiner Mutter aus dem Krankenhaus. Er wollte, dass sie alles wegschmeißen, doch sie riefen uns an und wir konnten alles abholen, unter anderem diese Briefe. Ich schwor mir, dass ich sie dir irgendwann einmal gegeben wollte.“
Jetzt verstummten seine Worte und er schob mir die Briefe zu. Ich schaute den Stapel an. Kein Ton kam von mir, war ich doch gerade nicht in der Lage, irgendwas zu sagen. Einige Sekunden starrte ich diesen Stapel an und ich wusste nicht, ob ich ihn nehmen sollte oder nicht.
Ruhe, völlige Ruhe herrschte um uns ich hörte nur unsere Herzen schlagen. Nach einer Ewigkeit, wie es schien, nahm ich diesen Stapel, stand ohne ein Wort zu sagen auf, lief zur Tür und verließ das Haus. Ich lief durch die Straßen, ohne zu wissen wohin, auch nahm ich nicht wahr, was rechts und links von mir vor sich ging. Ich lief wie in Trance, konnte keine Gedanken fassen, nichts war in meinen Kopf. Irgendwie war ich weit weg und doch ganz nah. Ich spürte, wie sich Wut, Trauer, Hass und Liebe, Sehnsucht und Verachtung, in mir aufbauten. All diese Gefühle überschwemmten mich wie eine Sturmflut.
Ein Ruck, ein Quietschen und ich wachte aus meinem apathischen Zustand auf. Arme umschlangen mich, ich hörte einen wilden Herzschlag an meinem Ohr. Vor meinen Augen sah ich ein Fahrzeug, wo der Fahrer wild gestikulierte und mich dabei böse anschaute. Verwirrt blickte ich mich um, Menschen sammelten sich um mich herum, alles spielte sich in Zeitlupe ab. Bis ich eine Stimme vernahm:
„He, mach das nicht wieder!“ Ich hob meinen Kopf „Mike“ und in dem Moment wurde mir schwarz vor Augen.
Die Schwärze umhüllte mich. Doch war sie friedlich und ruhig. Mir kam meine Mutter in den Sinn, all die Jahre hatte ich Wut ihr gegenüber verspürt, weil ich in dem Glauben gewesen war, das sie mich verlassen hatte. Das sie einfach weggegangen sei, ohne mich, so wie es mir mein Vater immer wieder gesagt hatte. Ich blieb eine ganze Weile in dieser ruhigen Schwärze, die mich umhüllte, die meine aufgewühlten Gefühle beruhigte. Eine warme Hand legte sich auf meine Stirn, ich konnte sie nicht sehen, doch fühlte ich wie eine angenehme Wärme mich durchströmte. Eine sanfte Stimme rief:
„Bitte komm zurück, komm zu mir zurück.“ Ich kannte diese Stimme, doch konnte ich ihr kein Gesicht zuordnen. Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, aber es ging nicht, meine Lider waren so schwer wie Blei. Noch einige Male hörte ich diese Stimme, dann war völlige Ruhe. Wieder versuchte ich, meine Augen aufzumachen, bis es mir gelang. Ich fühlte, wie jemand mir ein paar Haare aus meinem Gesicht schob und ich blinzelte, weil mich extrem grelles Licht blendete.
Oh nein, wieder einmal wachte ich in einem mir fremden Bett auf, doch dieses Mal war ich im Krankenhaus.
„Na endlich wach?“ hörte ich neben mir und ich drehte meinen Kopf in Richtung der Stimme „Mike?“ rief ich fragend. Er blinzelte mich freundlich an, doch seine Gegenfrage verwirrte mich sehr. „Wer ist Mike?“
Fortsetzung folgt
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2011
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Danke an moonlook für die Überarbeitung