1.
Dieses hirnrissige Kamel Tarek hatte mir das eingebrockt! Seit mehr als einer halben Stunde saß ich hier in dieser Spelunke in der Innenstadt und hörte mir öde Lebensgeschichten im Zeitraffer an!
„Du musst mal wieder unter Leute, Vera!“ hatte mein allerbester Freund und Nachbar geflötet, wobei ich in seinen Augen las, dass er „unter Männer“ meinte. „Ich hab’ da was arrangiert“ hatte er stolz gesagt und mir mit der Anmeldung für dieses bescheuerte Speed-Dating vor der Nase herumgewedelt. Wenn Tarek was arrangiert, ist Vorsicht geboten. Die letzte in einer langen Reihe von Verabredungen, die er mit einer muskulösen Sportskanone in einem Kletterwald arrangiert hatte, beendete ich mit einer geprellten Rippe und einem abgebrochenen Schneidezahn. Er weiß doch, wie unsportlich ich bin!
„Da sind sicher jede Menge tolle Typen. Und du brauchst unbedingt wieder einen Kerl, unausstehlich wie du bist!“ hatte er schroff gemeint. Einige Ouzos später hatte er mich weichgeklopft und ich hatte meine Einwilligung gelallt. Ich hasse Ouzo.
Jetzt saß ich also hier mit einer Johannisbeerschorle und einem dicken Kater in der Birne. Der billige Tisch vor mir war in der Mitte durch eine Blende getrennt, damit das Visavis nicht die Notizen des jeweils anderen erspähen konnte. Mein Blatt war noch fast leer, obwohl ich schon 4 Kandidaten hinter mir hatte.
Der erste, ein offensichtlicher Jünger des Kunstsonnenkults mit Namen Jens war nicht schüchtern und quatschte ununterbrochen über seine letzte Beziehung zu einer gewissen Claudine, die ihn mit seinem Anlageberater hintergangen hatte und, ganz ehrlich, als nach 10 Minuten das Hupsignal die nächste Runde ankündigte, konnte ich die gute Claudine unbekannterweise zu ihrem Wechsel nur beglückwünschen. Gegen Jens war jeder Börsencrash ein Komödienstadel.
Dann rutschte ein Mittzwanziger mit dauernd zuckenden Mundwinkeln nach. Kerzengerade sitzend schoss Theo seine Fragen wie Gewehrsalven über den Tisch: Ob ich Kinder wolle (nein), wieso nicht (zu laut), ob ich treu sei (kommt drauf an), worauf (auf die Situation) und machte sich dabei fleißig Notizen. „Und jetzt du“, forderte er mich auf. Ich fragte ihn nach seinem Beruf, was er zackig mit „Feldwebel Z 12“ beantwortete um sogleich von den segensreichen Aktionen der Bundeswehr zu schwärmen. Das war ja klar! Ich versuchte über die Zeit zu kommen, indem ich ihm Fragen zu Waffengattungen, Dienstgraden, Disziplinarmaßnahmen im allgemeinen sowie den Umgang mit Homosexuellen innerhalb der Institution Bundeswehr im besonderen stellte und als die Hupe ertönte musste ich grinsen als ich sah, wie er einen dicken Strich quer über seinen Block zog.
Die Kandidaten Numero 3 und 4 waren erst gar nicht der Rede wert. Langweilige Typen mit langweiligen Gesichtern, langweiligen Berufen und noch langweiligeren Hobbys. Ein langweiliges Leben hatte ich selbst und was bringt es schon, wenn man Langeweile noch verdoppelt? Eben!
Dass der Abend ein Totalausfall, war ja sonnenklar! Ich fragte mich, ob man den Veranstalter belangen könnte, weil er nicht für eine gewisse Ausgewogenheit in der Materialauswahl gesorgt hatte. Muss man nicht als Speed-Dating-Organisation auch Sorgfaltspflichten beachten?
Als ich zwischendurch gelangweilt zum Fenster schaute, sah ich Tarek, der mich mit hoffnungsvollem Gesicht angriente und die Hand zum Victory-Zeichen erhoben hatte. Der gute Tarek - ich hätte ihn erwürgen können.
Gut, ich konnte in letzter Zeit nicht mit vielen Liebschaften aufwarten, ja, und die letzte war jetzt auch schon wieder zwei Jahre her. Vielleicht wären Frank und ich sogar noch zusammen, wenn er nicht mein Konto geplündert, unter meinem Namen bei ebay nicht vorhandene Elektronik vertickt und, wenn auch aus Versehen, meinen Kater gekillt hätte. Ohne Tarek hätte ich mich wahrscheinlich im Fluss versenkt oder vom Funkturm geschmissen. Er zerrte mich aus meinem Schneckenhaus zu Vernissagen, Geflügelzüchtertreffen und Strandpartys. Er war ein richtiger, wahrer Freund, aber leider nicht mein Typ, genauso wenig wie ich seiner war.
„Mööööp“ – das Signal für die nächste Runde riss mich aus meinen Gedanken.
Von meinem nächsten Gegenüber sah ich zuerst nur eine einzige, buschige Augenbraue, die sich durchgehend von der linken zur rechten Schläfe zog.
Auf den zweiten Blick sah ich einen nicht zu sehr gebogenen Zinken, der sich zwischen zwei nutellabraunen Augen erhob, die ihrerseits von dunklen, gebogenen Wimpern bekränzt wurden, was dem maskulinen Gesicht, das mir da gegenüber saß, einen weibischen Touch verlieh. Insgesamt sah der Typ aber trotzdem gar nicht übel aus und das schien er auch zu wissen. Sofort ging er in die Offensive: „Hi, ich bin Kostas, esse am liebsten Knödel und suche eine Frau.“
Ach, ein Witzbold! Na, da konnte ich mithalten: „Ich bin Vera, hasse Ouzo und wurde gezwungen, herzukommen!“ erwiderte ich offenherzig.
„Du siehst nicht so aus, als ob man dich zu irgendetwas zwingen könnte“, meinte er mit, wie ich meinte, süffisantem Unterton. Ich packte meinen bösesten Blick aus und fragte, ob das eine Anspielung auf meine möglicherweise etwas kompakte Figur sein sollte. „Falls ja, kannst du dich gleich verpfeifen, Monobraue!“, zischte ich giftig hinterher.
Jetzt wurde er tatsächlich rot über dem Kragen seines nachlässig gebügelten Button-Down-Hemdes und beinahe bedauerte ich meinen Ausbruch. Aber wirklich nur beinahe.
„Ich bin nicht sonderlich geübt in solchen Sachen. Entschuldige!“, sagte er zerknirscht. Ich nippte an meiner Schorle und sagte in versöhnlicherem Ton: „Lass stecken. Genau genommen bin ich auch schon länger nicht mehr im Training. Aber in puncto Figur habe ich schon vorher keinen Spaß verstanden“ versicherte ich und beschloss, ihm noch eine Chance zu geben.
„Also“, fing ich an, „was gibt es noch über dich zu sagen, Knödelfreund?“
Kostas erzählte, dass er seit kurzem Betreiber eines kleinen Enthaarungsstudios in der Innenstadt sei. „Wir Griechen kennen uns schließlich aus mit überschüssiger Körperbehaarung!“ ergänzte er lächelnd und fuhr sich mit der Hand durch die dichten Locken, die sein Gesicht dekorativ umrahmten. Ich kannte seinen Laden: Am „Hairkules“
kam ich öfter vorbei und über die zur Eröffnung verteilten Buttons mit der Aufschrift: „Ich bin ein Achselfaschingsmuffel“ hatte ich mich köstlich amüsiert.
„Aber die Geschäfte gehen schlecht“, klagte Kostas jetzt, „mein Partner hat sich abgesetzt, meine Freundin ist abgehauen und die Kunden bleiben auch weg. Wenn nicht noch ein Wunder passiert, kann ich den Schuppen bald wieder dicht machen.“
Das berührte mich, ehrlich gesagt, nicht besonders und das sagte ich Kostas gleich, auch wenn ich seine spontane Offenheit mutig fand. Ich könnte nämlich gar nicht verstehen, warum jemand auf die idiotische Idee kommen sollte, sich unter höllischen Schmerzen unerwünschte Haare an ziemlich empfindlichen Stellen herausrupfen zu lassen.
Nach meiner Meinung wäre das vergleichbar mit dem Hexenhammer im Mittelalter, mit dem einzigen Unterschied, dass die Frauen sich heutzutage dieser Folter freiwillig nach einem von Männern aufoktroyierten Modediktat unterziehen und der Scheiterhaufen, sprich Behandlungsstuhl, gut gepolstert ist. Während ich Luft holte, um meine Tirade fortzuführen merkte ich, dass mich der gute Kostas verwirrt ansah und den Kopf mit den wirklich herrlichen Locken schüttelte.
„Ähhh“, stammelte er, „das ist doch an den Haaren herbeigezogen!“ und bevor ich ihm meine weiteren Ansichten nahe bringen konnte, zerstörte die „Mööööp“-Sirene unser Geplauder, das eben leidlich interessant zu werden begann.
Das Speed-Dating war offenbar beendet, denn alle standen jetzt auf und sofort war Kostas von einer gackernden Horde Weiber umringt. Ich hatte genug gesehen und gehört und ging grußlos nach draußen, wo Tarek entspannt an einer Laterne lehnte und grinsend an seiner Zigarette zog. „Du Depp!“ rief ich, „schön, dass wenigstens du deinen Spaß hattest!“
„Beruhige dich mal!“, beschwichtigte Tarek. „Einen Versuch war’s doch wert und der letzte Kerl sah doch nicht mal übel aus!“
Damit hatte Tarek völlig Unrecht. Kostas sah nämlich sogar unverschämt gut aus! Durch die Scheibe konnte ich beobachten, wie sich Kostas mit rudernden Armbewegungen aus dem Kreis der offenbar sehr interessierten Frauen zu befreien versuchte.
„Klar, dann nimm ihn doch du!“ entgegnete ich giftig. „Der Typ ist ein menschlicher Ladyshave und bald pleite!“
Ich packte Tarek am Oberarm und zerrte ihn auf die andere Straßenseite. „Für diesen Klops wirst du mich jetzt noch auf einen Absacker einladen!“
Wir kippten noch ein paar Drinks in einer benachbarten Kneipe bevor ich mit Tarek in Richtung Heimat schwankte.
Er warf mir mangelnde Flexibilität in Männerfragen vor und ich wies ihn darauf hin, dass er auch nicht sonderlich flexibel reagiert habe, als er vor zwei Jahren seinen damaligen Loverboy Danny mit dem Bofrost-Mann in der Speisekammer erwischt hatte, wo sich beide ihre augenscheinlich alles andere als tiefgefrorenen Lenden präsentierten. Die anschließenden Ermittlungen wegen Körperverletzung waren nur wegen meiner Interventionen und guten Polizeikontakte im Sande verlaufen. Seitdem fühlte er sich nach irgendeiner Art Tarek-Kodex für mein Wohlergehen verantwortlich, was manchmal zwar anstrengend, insgesamt aber beruhigend ist, denn Tarek war noch vor ein paar Jahren eine ziemlich große Nummer im Kickboxen. Außerdem hat er immer was zu Beißen im Kühlschrank, während sich mein Nahrungsmittelvorrat meist in Bier, latschigen Sandwichlappen und Dickmanns erschöpft.
2.
Am nächsten Morgen, die alte Schlampe Schicksal hatte vielleicht auch ein Faible für mich, kam ich zufällig am „Hairkules“
vorbei, als ich für Tarek eine Besorgung machen sollte.
Kostas saß, wie ich durch das Fenster sah, am Empfangstresen und blätterte gelangweilt in einer Zeitschrift.
Ich hatte ein reichliches Frühstück genossen, was meinen Spontanitätslevel als auch meine Laune ordentlich gehoben hatte, deshalb betrat ich den Laden ohne zu zögern und quasselte einfach drauflos: „Hellas, alter Grieche! Wie viele Dates hast du denn gestern klargefahren?“
„Oha, die Amazone!“ rief er aus. „Wieso bist du gestern so schnell abgehauen? Ehrlich gesagt, die Unterhaltung mit dir hat mir am besten gefallen, obwohl du mich ja ziemlich hast auflaufen lassen.“
„Nimm’s nicht persönlich!“, bat ich ihn, „du warst wirklich der Lichtblick des Abends. Aber nach all den Flachmännern war ich so gefrustet, dass ich ein bisschen streitlustig war. Entschuldige!“
„Angenommen“, grinste Kostas und streckte mir seine behaarte Hand entgegen, die sich seltsam anfühlte, so, als hielte ich ein Wiesel in der Hand.
Ich sah mich um. An den weiß gekalkten Wänden des mit Tresen und zwei Stühlen recht spärlich möblierten Entrees waren sepiafarbene Abbildungen von muskulösen Männerbrüsten, formvollendeten Frauenbeinen und sparsam bekleideten Bikinizonen zu sehen. Hinter Kostas trennte ein blau-weiß gestreifter Vorhang den vorderen Bereich von den hinteren Räumen, in denen sicherlich die Folterkammern zu finden waren. In diesem minimalistischen Ambiente wirkte der kompakt gebaute Kostas wie ein haariger Büffel in einem türkischen Bad.
„Ich kann mir nicht helfen“, sagte ich, „schon rein optisch bist du für ein Enthaarungsstudio eine Fehlbesetzung. Hast du schon mal über eine Änderung des Geschäftsfeldes nachgedacht?“
Kostas wirkte beleidigt. Er habe schon immer mit Haaren im Allgemeinen und Enthaarung im Speziellen zu tun gehabt und dieser, eigene Laden sei sein Traum. Angefangen hatte es im Schlachthaus beim Abflammen der Schweinehälften, bis er dieser Tätigkeit überdrüssig wurde und sich auf das Enthaaren von Menschen spezialisiert hatte. Ich verkniff mir die Frage, wieso er selbst dann wie Yetis Neffe unterwegs war. Ich hatte zwar noch nicht viel von ihm gesehen, aber wenn ich Augenbraue, Dachstube und Hände richtig deutete, dürfte auch der Rest gut bepelzt sein.
„Sicher bin ich sowieso bald erledigt“, griente er jetzt und wedelte mit einem Papier. „Das ist schon der zweite, anonyme Brief in diesem Monat. Irgendjemand will mich fertig machen!“
Ich sah mir das Schriftstück an, das in klassischer Erpresser-Zeitungsbuchstaben-Collage mitteilte, dass Kostas es „bitta behräuen“ würde, sollte er nicht zum Ende des Quartals das erkleckliche Sümmchen von 100.000 Euro berappen. Weitere „Inschtrukzionen“ würden folgen.
„Tztztz, das tut ja schon beim Lesen weh. Da hat aber jemand ordentlich die Deutschstunde geschwänzt“ stellte ich fest. „Hast du irgendeine Idee, wer dir da ans Bein pinkeln will?“
Kostas schüttelte seine Locken. „Aber im letzten Brief hat der Typ damit gedroht, er würde mir mit Glaspulver präparierte Wachsstreifen unterjubeln. Kannst du dir vorstellen was passiert, wenn ich jemanden damit behandle? Dann bin ich noch wegen Körperverletzung fällig!“
„Bist du sicher, dass es ein Typ ist?“ fragte ich ihn jetzt. „Bist du deiner Ex vielleicht auf die Füße gestiegen oder will sich eine unzufriedene Kundin rächen, weil du ihr die Landebahn versaut hast?“
Wieder schüttelte Kostas den Kopf. Meiner Frage, ob er denn noch nicht bei der Polizei vorstellig geworden wäre, wich er aus. Ich bohrte ein bisschen und es stellte sich heraus, dass das Hairkules gewerbetechnisch nicht gemeldet war. Gewerbesteuer, Umsatzsteuer und sicher sitze einem ständig die Berufsgenossenschaft im Nacken, so käme er ja nie zu Reichtum, meinte er dümmlich. Kostas betrieb also ein schwarzes Studio und hatte nicht mal eine Haftpflichtversicherung.
„Du bist ja ein Trottel!“, sagte ich so freundlich ich konnte und Kostas zuckte wieder dusselig mit den Schultern.
Hinter ihm schob sich auf einmal der Vorhang zur Seite und plötzlich sah ich scheinbar doppelt: Ein Mann, der Kostas bis aufs letzte Härchen ähnlich war, trat in den Raum, mit den gleichen Nutellaaugen, der gleichen gebogenen Nase, der gleichen, doch eigentlich einzigartigen Monobraue! Den Kerl gab es doppelt! Ich sah, wie Kostas Eins mich ansah und sich unauffällig aber mit deutlicher Symbolik über die Lippen fuhr, was sicher bedeuten sollte, dass das Thema Erpressung momentan nicht weiter vertieft werden sollte.
„Oh, darf ich vorstellen“, sagte er mit einem plötzlich recht fröhlichen Tonfall, „Vera, das ist mein Bruder Ypsilandis, genannt Yps. Mein Zwillingsbruder!“
Ich rang mir ein Lächeln ab. „Na, das hätte ich nie erraten! Eure Eltern müssen Flokatis gewesen sein!“, versuchte ich meine Überraschung zu übertünchen.
Kostas wieherte laut und schlug mit der flachen Hand lachend auf den Tresen, während Ypsi mich wort- und regungslos anstierte.
So sehr sie sich äußerlich ähnelten, ihr Sinn für Humor schien alles andere als gleich zu sein. Seine Augenbraue zuckte kurz und offenbar lag ihm nichts daran, mich kennen zu lernen, denn er fasste seinen Bruder an der Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dass es griechisch war, erkannte ich an den seltsam zischenden „S“-Lauten, die ich aus dem „Olymp“ gut kannte. Dann nickte mir der Kostas-Klon kurz zu, drehte sich um und ging wieder nach hinten, wo kurz darauf eine Tür ins Schloss fiel.
„Tut mir leid“, sagte Kostas, „ich will dich nicht verscheuchen, aber ich muss dringend weg.“
„Schon gut, ich muss auch weiter. Aber wenn du über die Erpressersache reden willst, ruf mich an“, erwiderte ich und kritzelte meine Nummer auf einen Zeitungszipfel. Kostas lächelte und hob die Hand: „Ja, vielleicht mache ich das wirklich!“
Das muss man sich mal vorstellen! Ich! Ich gebe einem Mann ungefragt meine Telefonnummer. Sollte es nach den europäischen Datingstatuten nicht eigentlich umgekehrt sein? Bin ich so tief gesunken? dachte ich noch, als ich hinausging.
3.
Verschwiegenheit gehört nicht zu meinen Kardinaltugenden. Also erzählte ich Tarek die Geschichte brühwarm, als er am Abend auf ein Bier bei mir auftauchte. Er schaute ungläubig aus seinem affigen Ed Hardy-Shirt. „Du wirst dich in diese Räuberpistole doch nicht etwa einmischen wollen!“, ihm war mein aufgeregter Blick offenbar nicht entgangen.
„Tarek“, sagte ich mütterlich, „kein Schwein sagt mehr ‚Räuberpistole’“
„Lenk’ nicht ab, Vera! Du hast den Burschen zweimal gesehen. Der kann dir Gott weiß was erzählen. Vielleicht hat er sich die Story selbst ausgedacht, weil, äh, weil, ach ich weiß nicht! Ich kannte mal einen Griechen, der war tagsüber Industriemechaniker und in der Nacht verzierte er Frauenköpfe mit Sechskantmuttern! Keiner hat das von ihm gedacht, er war der nette Kerl, der keiner Mücke was machte, bis man ihn in flagranti über einer mausetoten Rothaarigen erwischte. Halt’ dich da raus!“ flehte er.
„Es waren Flügelmuttern“, erwiderte ich, „klar erinnere ich mich. Stand ja in jeder Zeitung! Bleib’ mal locker, Schätzchen: Weil du mal einen Griechen mit Schraubentick kanntest, sind jetzt alle Griechen geisteskrank, oder was? Schau mal: Der olle Liberace war schwul und ich habe von seinem Klaviergeklimper sogar ein regelrechte Aversion gegen Tasteninstrumente im weitesten Sinn, weil meine Eltern den Kerl vergötterten und jeden Tag seine Platten liefen. Wenn du mich mit einer Panikattacke sehen willst, spiel auf dem Klavier! Und? Hab’ ich deswegen was gegen Schwule? Siehste!?“ beendete ich meine, wie ich fand, ziemlich schlüssige Argumentationskette.
Tarek weiß, wann er verloren hat. „Und, was hast du vor?“, stöhnte er und nahm einen tiefen Schluck vom Jever. „Jedenfalls rufe ich ihn nicht an“, erklärte ich. „Wenn er sich meldet, sehe ich weiter, wenn nicht, ist die Sache gegessen!“. Insgeheim war mir klar, dass das eine Lüge war. Ich würde am Ball bleiben, das wusste ich. Und Tarek wusste es auch.
4.
Die Tage vergingen jedoch und Kostas hatte sich noch immer nicht gemeldet. Hatte ich anfangs noch dauernd nach dem Telefon geschielt und öfter per Freizeichenaufruf geprüft, ob die Leitung auch in Ordnung war, geriet die Sache immer mehr in meinen gedanklichen „Forget about it!“-Speicher.
In der übernächsten Woche ließ ich mir wie sehr oft in der Mittagspause auf dem Marktplatz die erste, noch ziemlich schwache Frühlingssonne ins Gesicht scheinen. Das Marktcafé war optimistisch und hatte bereits die Terrasse möbliert, wo sich schon einige Unverfrorene niedergelassen hatten. Ich dachte gerade träge über die Zweideutigkeit des Wortes „Bestuhlung“ nach, als ich an einem Tisch des Cafés Kostas mit einer blonden Frau entdeckte. Die Blondine gestikulierte mit ausschweifenden Handbewegungen und quatschte auf Kostas ein, der sich hilflos an einer Kaffeetasse festzuhalten schien.
Seinen Gesichtsausdruck konnte ich aus dem Halbprofil, das er mir zuwandte, nicht recht deuten. Aber die Blonde redete und redete und stach mit ihrem spitzen Zeigefinger immer wieder in Kostas’ Richtung und wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte mich das ziemlich genervt. An den Nebentischen fingen die Leute schon an zu gaffen und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen.
Sollte ich hinübergehen und ihn begrüßen? Und sollte ich den Blödmann fragen, warum er mich nicht angerufen hatte, wo ich ihm meine Nummer und damit mich selbst schon fast auf dem Silbertablett serviert hatte?
Ich stand auf, noch immer unentschlossen. Anscheinend hatte Kostas mit der Ische an der Backe augenblicklich genug zu kauen, also entschied ich mich für den geordneten Rückzug und ging nach links in Richtung Rathaus. Die ersten Touristengruppen hatten die Stadt schon wieder vereinnahmt und eine Truppe mit Japanern stand ehrfürchtig vor der Marienkapelle.
Sie schienen eine Art Wettbewerb zu veranstalten, wer die meisten Fotos von der goldenen Maria schießt, die majestätisch im Strahlenkranz oben auf der Kirchturmspitze wohnt. Weil sich alle Japaner-Objektive nach oben richteten, fiel mir ein Mann auf, der unauffällig aber für mich nicht unauffällig genug seine eigene Kamera auf die Außenanlage des Cafés hielt und kräftig drauflos knipste.
Sofort sprangen meine geschulten Verschwörungs-Sensoren an. Mit Sicherheit waren in der Gruppe von Cafégästen Kostas und seine blonde Begleitung das Ziel des Fotografen. Um meine Sicherheit bezüglich dieser Beobachtung zu verstehen muss man wissen, dass ich im Rathaus meine kargen Brötchen verdiene, der Schaltzentrale von Klüngelei, Hintenrumgeschäften, Vetternwirtschaft und Intrigen. Ich wundere mich, dass man die Antennen, die mir in den zwanzig Jahren gewachsen sind, noch immer nicht auf meinem Kopf sehen kann. Innerhalb der Kollegenschaft nennt man mich hinter vorgehaltener Hand gerne „Sputnik“, was ich, offen gesagt, nicht sehr schmeichelhaft finde.
Der Kostas-Paparazzo wendete mir seinen Rücken zu. Er trug eine schmuddelige, grüne Schimanski-Jacke und eine dieser idiotischen, schwarzen Strickmützen. Schon wegen seiner Größe ragte er über die Japsen-Fototruppe hinaus. Als er sich aus der Traube löste und in die Domstraße einbog, heftete ich mich an seine Fersen. An seinem linken Schuh war der Absatz lose und flappte laut vernehmlich bei jedem Schritt.
Flappflappflapp.
Der Fotograf hatte wohl nicht so viel zu tun, wenn er sich nicht mal einen Besuch beim Schuster leisten konnte. Er lief nicht schnell, aber es war kurz vor Ostern und die Stadt war überfüllt mit Leuten. An der „Nordsee“ rempelte mich ein Rentner mit einem Fischbrötchen an und schon hatte ich ihn aus den Augen verloren. Verdammt! An meiner Observierungstechnik sollte ich wohl dringend arbeiten.
Der Fotograf hatte mein Jagdfieber wieder geweckt und ich überlegte ernsthaft, ob ich Kostas nicht anrufen sollte. Vielleicht hatte sich die Erpressergeschichte schon in Wohlgefallen aufgelöst und ich machte mich hier völlig umsonst zum Deppen?
5.
Kostas kam mir zuvor. Am übernächsten Abend stand er vor meiner Tür. „Alter Grieche!“, begrüßte ich ihn schnippisch. „Wie zur Hölle kommst du denn zu meiner Adresse, Sir Taki?“
Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Kostas’ massive Gestalt füllte den Türrahmen beinahe aus.
„Du hast mir deine Telefonnummer gegeben, schon vergessen?“
„Ähhh, nein? Ich weiß ja nicht, wie das in Griechenland so läuft, aber hier heißt eine Telefonnummer so, weil man eine Telefonnummer anruft und nicht den Telefonnummerninhaber in seiner Wohnung überfällt!“
Ich hatte jedes Recht, kratzbürstig zu sein, fand ich. Auf Herrenbesuch war ich nämlich gerade gar nicht eingestellt. Erstens fielen meine Haare ungewaschen und in schweren, traurigen Strähnen von meinem Kopf, zweitens war ich vollkommen ungeschminkt. Ungeschminkt die Tür zu öffnen war für mich eigentlich genauso schlimm, als stünde ich splitterfasernackt gefesselt im Olympiastadion. Niemand kannte mich ungeschminkt, außer meiner Mutter, Frank, Tarek und vielleicht noch dem Postboten.
Die alte Vettel von nebenan streckte neugierig ihre Lockenwickler aus der Tür und glotzte herüber. Ich packte Kostas am Arm und zog ihn mit einem Seufzer in meine Wohnung. Kostas guckte überrascht. Hatte er gedacht, ich würde mich sofort willig auf ein Lammfell werfen, nur weil er und seine Augenbraue nach zwei Wochen den Weg zu mir gefunden hatten?
Ich schubste ihn sanft ins Wohnzimmer, wo er mir das Prinzip der „Inversionssuche“ erklärte, bei der man anhand einer Telefonnummer den Teilnehmer und mit Glück auch die Adresse herausfinden konnte. Davon hatte ich tatsächlich noch nie gehört. Aber hatte die Telekom nicht ohnehin vor kurzem mit den Daten geschlampt?
Er roch dezent nach Philosykos. Mhhh, dieser Duft war mir schon seit Ewigkeiten nicht mehr unter die Nase gekommen, aber er war unvergesslich. Tief atmete ich in seinem Windschatten ein. Er schälte sich aus seinem Parka und mein Blick fiel auf sein ausgewaschenes, enges T-Shirt. Er musste sich jetzt bücken, denn die Jacke rutschte ihm beim Aufhängen aus der Hand.
Ich erstarrte: Kostas trug die Jeans so, dass seine in Türkistönen karierte Boxershort etwa eine Handbreit über den Hosenbund hinausragte. Ich habe es noch nie, nie, nie jemandem erzählt, aber wenn es ein, hmmm, sagen wir persönliches Aphrodisiakum gab, für mich ist es eine Boxershort, die etwa eine Handbreit über den Hosenbund hinausragt.
Zusammen mit dem Duft, den Kostas verströmte, machte mich dieser Anblick gehörig unruhig.
Kostas hatte im Poäng Platz genommen, der sich unter seinem Gewicht bedenklich gen Boden neigte. Zwar wäre ich jetzt zu gerne, trunken von Kostas’ Duft und Optik hemmungslos über ihn hergefallen, aber ich riss mich zusammen und kniff mich selbst unauffällig in den Arm. Ungefragt drückte ich ihm ein Jever in die Hand und ließ mich selbst in sicherer Entfernung auf dem Sofa nieder. Wegen meiner gewöhnungsbedürftigen Begrüßung musste sich Kostas wohl erst einmal sammeln. Ohne abzusetzen leerte er mit einem Zug die Flasche.
„Kannst du das Gejaule leiser machen?“ fragte er und verdrehte seine Augen. Na, der hatte ja Nerven, meine neue Joss-Stone-Scheibe als Gejaule zu bezeichnen! „Tut mir leid, meine Panflöten-CD habe ich gerade ausgeliehen!“ erwiderte ich bissig. Himmel, warum war ich nur schon wieder so aggressiv? Ich beschloss, mich zusammenzureißen.
„Erzähl! Was führt dich zu mir?“ eröffnete ich das Gespräch. „Was gibt’s Erfrischendes an der Erpresserfront?“
Er winkte ab und seufzte: „Ein neuer Brief ist gekommen, mit den Übergabemodalitäten. Ich hab alles verkauft was ich hatte und den Rest wollte ich meiner Oma aus dem Kreuz leiern. Deswegen war ich bis gestern ein paar Tage in Griechenland. Hat aber nicht geklappt. Sie will, dass ich in den Schoß der Familie zurückkehre. Für einen Ausländer gibt sie kein Geld, sagt sie.“
„Eine Frau mit Prinzipien, das gefällt mir!“ munterte ich ihn auf und jetzt dämmerte mir, dass es dann gar nicht Kostas gewesen sein konnte, den ich auf dem Marktplatz gesehen hatte, sondern sein Bruder Yps. Den Spaßbremsen-Bruder hatte ich ja ganz vergessen!
„Und du bist wirklich erst gestern wieder zurückgekommen?“ vergewisserte ich mich.
„Natürlich! Wieso fragst du?“
Ich erzählte Kostas von meinen Beobachtungen im Café und auch, dass ich der festen Überzeugung war, dass sein Bruder Ypsidingsda und dessen Begleitung von einem Schimanski-Typen nach Paparazzo-Manier fotografiert worden war. „Beschreib’ mir die Blondine!“ forderte er mich auf.
Nach mehr als einer Woche war das aber leichter gesagt als getan. Mehr als „blond, gelockt, keine Brille, fragwürdiger Modegeschmack, kleiner Busen und künstliche Nägel“ wollte mir partout nicht einfallen. Keine allzu präzise Beschreibung, zugegeben, aber schließlich bin ich nicht Miss Marple!
Kostas runzelte die Stirn über seiner Braue.
Mir kam da ein Gedanke: „Du scheinst alle netten Gene von euren Flokati-Eltern mitgekriegt zu haben“, sagte ich. „Offen gesagt kann ich deinen Bruder nicht leiden. Hat er vielleicht mit der Sache zu tun? Was macht der eigentlich?“
„Quatsch! Yps handelt mit Autos, sogar angemeldet. Er hat vielleicht nicht den besten Umgang, deshalb will meine Familie nichts mehr mit ihm zu tun haben, aber sowas würde er nie tun. Er ist ein guter Kerl, genau wie ich!“ schob er nach und grinste. „Schon klar“, stöhnte ich, „Blutsbande und so ein Kram. War ja nur eine Idee. Aber leiden kann ich ihn trotzdem nicht!“, bekräftigte ich meine Abneigung. Humorlose Menschen haben meist eine Leiche im Keller, das ist meine Ansicht.
Ich stand auf, um meine Zigaretten vom Sideboard zu holen. Gleich stieg mir wieder der Philosykos-Duft in die Nüstern. Das Kribbeln, das meinen Körper ganz plötzlich durchströmte, hatte sein Epizentrum zweifellos dort, wo beim Vorbeigehen mein Bein Kostas’ Hand auf der Armlehne gestreift hatte.
Fast verspürte ich eine gewisse Erleichterung, als es wieder an der Tür klingelte. So konnte ich nämlich unauffällig den plötzlichen Impuls verdrängen, Kostas anzuspringen und meine Nase an seinen phylosikosgeschwängerten Hals zu pressen. Eine Liason mit einem Pleitegeier-Griechen, dem scheinbar die Scheiße an den Hacken klebte wie Fliegen am Misthaufen war wirklich das Letzte, was ich brauchte.
Tarek war meine Rettung! Natürlich hatte die alte Vettel von Nachbarin bei Tarek wegen meines Männerbesuchs gepetzt. Der Gute wollte nur nach dem rechten sehen. Er ging durch ins Wohnzimmer, wo beide Männchen dem abschätzenden Blick des jeweils anderen stellten. „Tarek – Kostas, Kostas – Tarek“, machte ich die beiden kurz miteinander bekannt und informierte den Griechen darüber, dass Tarek in die eben erörterte Geschichte bereits eingeweiht war, weswegen er offen sprechen könnte. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte mich diese Indiskretion ziemlich geärgert; Kostas hingegen schaute mich mit seinen vorbildlich bewimperten Augen freundlich an fragte, ob er noch ein Bier kriegen könnte. Ich holte also Nachschub für alle und wollte dann wissen, wie der Analphabeten-Erpresser sich die Übergabe vorgestellt hatte.
Kostas wurde ernst. Er sollte das Geldpaket in eine grüne Tüte gewickelt am nächsten Sonntag um 12.00 Uhr in den Mülleimer neben dem Bratwurststand auf dem Marktplatz versenken. „Der Kerl denkt besser, als er schreibt“, befand ich. Besagter Sonntag wäre nämlich der erste, verkaufsoffene Sonntag in diesem Jahr. In hellen Scharen würden sich an diesem Tag sämtliche Provinzköpfe aus der Umgebung in der Stadt versammeln. Kein Mensch würde auf den Abfalleimer achten.
„Woher weiß er, dass du nicht zu den Bullen gehst? Wer verdammt weiß, dass du deinen Laden schwarz führst?“
„Naja“, druckste Kostas herum, „meine Familie natürlich. Und meine Ex. Sonst keiner.“ Das hatte ich mir schon gedacht. Wäre Kostas’ Familie und seine Ex genauso verschwiegen wie ich, dürfte sich die Zahl der Eingeweihten im mittleren, zweistelligen Bereich bewegen. Das war eine Menge Holz und überforderte selbst meine Kombinationsgabe.
Ich trank mein Jever aus und drehte nachdenklich die Flasche zwischen meinen Händen.
„Tja, ich schätze, wir werden mitspielen müssen. Wir brauchen einen Plan, wie wir dem Kerl die Übergabe vermasseln. Tarek, du wirst mitmachen. Du bist der einzige, der über die körperlichen Voraussetzungen verfügt, dem Drecksack seine Erpresser-Idee, ähhh, auszureden. Zur Polizei können wir ihn nicht bringen, ohne dass die hinter Kostas’ kleines Schwarzbetriebsgeheimnis kommen. Sehen wir deinen Einsatz doch einfach als erzieherische Maßnahme!“
Natürlich war Tarek nicht begeistert. Nur eine kleine Erinnerung an die Episode mit Danny und den Bofrost-Mann brauchte ich, um ihm nicht nur sein Einverständnis abzuringen, sondern auch die Zusage, dass er als Verstärkung seinen Kumpel Ali „Die Faust“
Surkamp aus seinem Gym mitbringen würde. Wer weiß, wie der Erpresser konstituiert war? Handelte es sich um ein eher bulliges Exemplar, würde auch der wendige aber doch recht kurz geratene Tarek vielleicht schnell an seine körperlichen Grenzen kommen.
„Und du“, jetzt wandte ich mich Kostas zu, „wirst deinen Schuppen gleich am Montag anmelden! Falls unsere, ähm, Missionierung nicht fruchten sollte und der Typ dich doch bei der Polizei verpfeift, wird die Strafe nicht gar so hoch ausfallen, schätze ich.“
Tarek und Kostas wechselten vielsagende Blicke, blieben aber still sitzen. Kostas hatte wohl resigniert vor meiner keinen Widerspruch duldenden Courage, vielleicht bewunderte er auch meine Tatkraft, lahmarschig wie er selbst war.
Wir besprachen ausführlich, um welche Zeit wir uns wo positionieren wollten, um den besten Blick auf den Mülleimer zu haben und den Mistkerl zu stellen und Kostas fertigte eine Skizze.
Was wir dann mit ihm anstellen wollten, wussten wir noch nicht im Detail, das würden wir dann vor Ort entscheiden.
Weil Kostas nur ein Drittel des Geldes beschaffen konnte, entschlossen wir uns, Zeitungspapier in die Tüte zu wickeln, worüber sich eine längere Diskussion entspann. Wie viel mussten 100.000 ¤ in Scheinen überhaupt wiegen? Ich holte meine digitale Küchenwaage und einen Geldschein, um das ungefähre Gewicht zu ermitteln. Pi mal Daumen mussten ungefähr 1 kg Zeitung zerschnippelt und in die Mülltüte gepackt werden, was Tarek aus meinen Altpapierbeständen sofort in Angriff nahm. Als gelernter Kindergärtner waren Bastelarbeiten schließlich sein täglich Brot.
Der Bierkasten wies erhebliche Lücken auf, als Kostas und Tarek gegen 2.00 Uhr morgens meine Wohnung verließen. Wir hatten eine Menge Spaß gehabt, ganz so als hätten wir uns irgendeine Geschichte aus Langeweile aus den Fingern gesogen. Erst als ich die Tür hinter Tarek und Kostas schloss wurde mir klar, was ich da angeleiert hatte. Ich musste nicht ganz dicht sein.
6.
Der verkaufsoffene Sonntag war ein Reinfall. Es goss wie aus Eimern und nur einige hartgesottene Landeier hatten den Weg in die nasse Innenstadt gefunden. Auf dem Platz herrschte gähnende Leere, nur die Marktfrauen harrten standhaft zwischen ihrem Gemüse aus.
Ali „Die Faust“
Surkamp, Tareks Gym-Kumpel, kannte ich nur vom Sehen. Jetzt, da er in paramilitärisch angehauchten Klamotten an meinem Hinterhalt beim Kräuter-Sepp vorbeimarschierte, konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass Tarek und er mal was miteinander gehabt hatten. Tarek hatte aus Gründen, die er mir nie gesagt hatte, Schluss gemacht, trotzdem seien sie noch Freunde, hatte er erzählt.
Hoffentlich hatte Tarek ihn auch ordentlich eingenordet! Wir wollten hier schließlich kein Blutbad!
Wie abgesprochen positionierten wir uns an den abgesprochenen Plätzen, die gegenseitigen Handynummern frisch eingespeichert. Ich hatte den besten Blick auf den Mülleimer und beobachtete, wie Kostas die Tüte wie gefordert im Mülleimer neben dem Bratwurststand versenkte. Dann lief er, die Hände tief in die Jackentaschen gegraben, wie ausgemacht weiter und bezog hinter dem Stand von Blumen-Beller Stellung. Durch die großen Glasfronten hatte er ebenfalls eine gute Sicht auf den Abfalleimer. Unter seiner tief ins Gesicht gezogenen Yankees-Kappe war er fast nicht zu erkennen. Dafür, dass er als Betroffener von uns allen die meiste Anspannung verspüren musste, wirkte er sehr gelassen. Entweder war er ein toller Schauspieler oder einfach eine coole Sau. Vielleicht war er aber auch einfach nur dumm.
Es war jetzt kurz vor 12 und endlich hörte es auf zu regnen, sogar die Sonne blitzte herunter und blendete mich. Wie auf ein geheimes Kommando strömten die Leute jetzt aus den angrenzenden Kaufhäusern und bevölkerten den Marktplatz. Das plötzliche, lebhafte Geplapper ringsum lenkte mich ab und ich musste mich tierisch konzentrieren, um nicht den Mülleimer aus dem Blickfeld zu verlieren, der immer öfter von Passanten verdeckt wurde. Mehr als eine halbe Stunde verging und niemand, auch kein Erpresser ließ sich blicken. Ich telefonierte mit Tarek, ich wählte auch Kostas und sogar Ali an – keiner hatte etwas Verdächtiges bemerkt, außer dem Freak, der ein halb aufgegessenes Bratwurstbrötchen und der jungen Mutti, die eine dick gefüllte Babywindel in den Behälter plumpsen ließen. Hoffentlich hatte Mutti die Pampers nicht richtig verschlossen, dachte ich. Hoffentlich langte der Typ, wegen dem wir uns hier die Beine in die Bäuche standen, richtig dick in die Scheiße!
Als ich versonnen die Liebstöckel-Sträuße vom Kräuter-Sepp betrachtete, hörte ich ein Geräusch, das mir bekannt vorkam. Flappflappflapp. Ich kannte dieses Geräusch, aber, verdammt, woher?
Angestrengt untersuchte ich den Liebstöckel und hoffte, der Kräuter-Sepp wäre beschäftigt genug, um mich nicht zu bemerken. Ein schneller Seitenblick ergab, dass er tief im Kundengespräch steckte, in dem er eine schwerhörige, silbrigblau-gefärbte Oma über die Verwendung von Mariendistel aufklärte. Mariendistel? Maria? Maria im Strahlenkranz? Himmelarschundzwirn! Das Flappflappflapp war der Fotograf mit dem kaputten Absatz, der Kostas’ Bruder Ypsi und die Blondine an der Marienkapelle observiert hatte! Das war doch kein Zufall!
Ich drückte blind auf die obere, rechte Taste des Telefons in meiner Jacke. Jetzt würde es bei Kostas klingeln, der die Telefonkette dann an Tarek und Ali weitergab.
Das Flappflappflapp entfernte sich und zwischen den Liebstöckelzweigen erkannte ich die schmuddelige Schimanski-Jacke wieder und die Wollmütze, die sich langsam aber zielstrebig dem Abfalleimer näherten.
Jetzt verließ ich mein Versteck und hoffte, die anderen würden auch reagieren. In einer Art Sternformation wollten wir zugreifen, wenn der dreckige Erpresser nach dem Päckchen fingerte. Ich sah Tarek, Ali und Kostas wie zufällig näher kommen. Na, das lief ja wie geölt!
Der Fotograf stand jetzt direkt vor dem Behälter. Um als Berber durchzugehen, war er passend gekleidet – versaute Jacke, kaputte Schuhe – niemand nahm ihn zur Kenntnis.
Er bückte sich jetzt und kramte im Abfall. Nur ein Penner für die anderen – nur ein Erpresser für uns!
Als er die Tüte aus dem Abfall hob, schloss sich ein Kreis aus unseren Leibern um ihn und wir nahmen den Paparazzo kräftig in die Zange.
Kostas schnappte die Tüte und warf sie zurück in den Abfall. Er hakte den Kerl am linken Arm unter, mit seiner freien Hand griff Kostas nach der Pranke des Fotografen. Gleichzeitig packte Ali seinen rechten Arm und drehte ihn flugs auf den Rücken, wobei er mit seiner massiven Statur das Heck des Fotografen verdeckte. Manchmal war es doch ganz praktisch, dick zu sein.
Tarek und Kostas warfen mir einen panischen Blick zu, während Ali die Ruhe selbst war. Sicher verdrehte er jeden Tag irgendwelchen Typen die Arme, so selbstverständlich, wie ich mir morgens einen Kaffee koche.
Weil Ali mir also momentan am souveränsten erschien, raunte ich ihm ein „Komm mit!“ zu und übernahm die Führung unserer kleinen Prozession. Weil mir nichts Besseres einfiel und wir ja blöderweise nichts weiter geplant hatten, lotste ich die drollige Truppe in die Krypta der Marienkapelle, die wir, Maria sei Dank, ganz für uns allein hatten.
Kostas ließ den Drecksack los, Tarek hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere und war völlig durch den Wind. Ich schloss die Tür der kerzenbeschienenen Krypta und Ali drückte den Fotografen so sanft es ihm möglich war, also eher rustikal, in die hölzerne Bank, die bedenklich knirschte.
Von den Männern wusste natürlich wie immer niemand was zu sagen. Die drei standen vor der Holzbank wie Falschgeld und starrten den Mistkerl an, als ob sie nur per Telepathie miteinander kommunizieren könnten! Weicheier, die!
Einmal mehr musste ich wohl das Heft in die Hand nehmen! Ich wusste zwar nicht so recht, wie ich anfangen sollte, aber hey, ich hatte ein prima Frühstück! Ich war schließlich spontan, und wie!
Ich baute mich also auf und richtete das Wort an den Drecksack: „So, jetzt mal die Titten auf den Tisch, Alter!“ Huch? Woher kannte ich denn so ein Vokabular? Da hatte ich wohl irgendwann mal auf den falschen Fernsehsender gezappt! „Wer bist du und was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?“ zischte ich etwas zivilisierter.
An der Tür rüttelte jemand. Kostas öffnete einen Spalt, faselte was von „Beichte abnehmen“, „Notfall“ und „Letzte Ölung“, verbat bat sich jede weitere Störung und drückte die Tür wieder ins Schloss. Na, ging doch! Auch für Kostas schien Spontanität kein Fremdwort zu sein!
Wir sahen uns grinsend an. Hehe, letzte Ölung, wie im Film!
Während wir mit Feixen und Kichern beschäftigt waren entging uns, dass der Fotografendrecksack in seine Jacke fasste und ein ziemlich langes Messer zückte. Als ich mich ihm wieder zuwandte, war er schon aufgesprungen, machte einen riesigen Satz und stieß Kostas das Messer bis zum Anschlag in die Brust.
7.
Ich dachte zuerst, ich müsste kollabieren. Aber wie immer, wenn der Organismus in physische oder psychische Grenzsituationen geführt wird, hält er erstmal ein Weilchen durch. Ich sah Kostas zu Boden gehen, ich sah den Fotografen mit dem Messer vor der Bank stehen, ich sah Tarek, wie er sich die Hand vor den Mund schlug und ich sah Ali, der da stand und nur dröge glotzte.
Obwohl es sich nur um Zehntelsekunden handeln konnte, kam mir die Zeitspanne unendlich lang vor. Ich bewegte mich zuerst und sauste auf Kostas zu, fast gleichzeitig kam Ali endlich angesprungen und stand jetzt an der Seite des Fotografen. Er nahm ihm mit einer gekonnten Handbewegung das Messer aus der Hand und beide schauten mir zu.
Ich kniete neben Kostas, versuchte wie blödsinnig aber vollkommen erfolglos, mich an längst überholte First-Aid-Regeln zu erinnern.
Irgendwas war komisch. Ich sprang auf und wollte zur Tür hechten, als mich eine Hand am Knöchel packte. Sofort geriet ich aus dem Gleichgewicht und konnte mich gerade noch halbwegs an einer Bank abfangen, um nicht mit dem vollen Körpergewicht auf den Steinboden zu knallen. Meine rechte Seite brannte, als hätte sie jemand angezündet und als ich mich wieder Kostas zuwandte, mussten meine Augen so riesig sein wie eine Autofelge: Er lag nicht mehr, er saß jetzt auf dem Boden und schaute mich an. Nun dämmerte mir, dass nirgends Blut zu sehen war. Weder an Kostas, noch am Boden, noch sonst irgendwo. Alles trocken. Staubtrocken. Wie die Wüste Gobi. Selbst die Maria, die traurig von ihrem Platz in der Wand auf mich herunterschaute, hatte kein Tröpfchen Blut am Gewand.
Komisch, dachte ich, bevor mein Organismus die Grätsche machte und ich doch noch kollabierte.
8.
Als ich wieder zu mir kam, roch es durchdringend nach Sterillium; tot war ich also nicht. Im Himmel gibt es kein Desinfektionsmittel, soviel ist sicher. Ich fasste an meinen Kopf und meine Finger ertasteten einen dicken Verband.
Die dicke Schwester, die jetzt ins Zimmer kam, schien freudig überrascht, mich mit offenen Augen zu sehen. „Hach, Frau Ohlsen, uns geht’s ja besser!“ rief sie und sofort wollte ich antworten: „Mir schon, und Ihnen?“
Aus meinem Mund kam zwar nur ein angedeutetes „Mmmmpfpf“, aber ich spürte, dass es nicht lange dauern würde, bis ich wieder auf dem Damm war. Zumindest mein Sarkasmuszentrum war ja schon wieder gebootet. Viel mehr wusste ich nicht.
Die Tür öffnete sich schon wieder. Das war ja richtig Stress hier! Ich erkannte Tarek, den lieben Tarek, den Fels in der Brandung, den einzigartigen Tarek, soweit ich mich erinnern konnte. Er war nicht allein, mit ihm kam eine Augenbraue in den Raum. Ach richtig, Kostas hieß die Augenbraue mit dem Parka. Als ich ihn zuletzt gesehen hatte, hatte man ihm ja ganz frisch ein Kochmesser ziemlich tief in die Brust gerammt. Ähhh, Moment mal! Stop! Wo drückt man hier nochmal auf Rewind?
Sie setzten sich links und rechts an mein Krankenhausbett und nahmen meine Hände. „Ich fang’ einfach mal an!“ sagte Tarek sanft. „Ich muss dir wohl einiges erklären.“
Er atmete tief durch und fuhr fort: „Du warst so unausstehlich in der letzten Zeit! An jedem Mann hattest du was auszusetzen! Der erste war ein dauerbenebelter Steroidjunkie, nur weil er Muskeln hatte, der nächste ein notgeiler Feinripprentner, weil er nicht mehr 25 ist, der dritte ein Chauvinistenschwein, weil er gerne thailändisch isst, der vierte ein Langweiler, nur weil er die Filialleitung bei der Volksbank hat und so weiter und so fort. Und mit jedem Date wurdest du schlimmer und schlimmer. Vor lauter Bösartigkeit war von dir selbst fast nichts mehr zu sehen! Das war nicht mehr aushalten!“
Ich runzelte die Stirn. Verstand ich, was Tarek da verzapfte, oder nicht? Mein Gehirn war wohl noch ziemlich erschüttert.
„Ich musste also jemand ganz besonderen finden, eine Art eierlegende Wollmilchsau, wenn du so willst! Jemanden, der nicht langweilig ist und nicht zu alt, jemanden der körperlich was hermacht, dir gewachsen ist und bei deinem schrägen Humor nicht gleich Reißaus nimmt.“
Langsam kam mein Gedächtnis wieder: Die Erpressung, unsere Aktion auf dem Marktplatz, die Krypta. Ich begriff nur langsam und in meinem lädierten Gehirn schwirrten Fetzen wie Puzzleteile herum, die nie im Leben zusammenpassen würden.
Es klopfte und die Tür öffnete sich schon wieder. Eine weitere Augenbraue kam ins Zimmer. Klickklickklick. Das musste Ypsilandis sein, der missmutige Zwilling! Tarek stand auf, nahm den Zwilling in den Arm und gab ihm einen festen Kuss auf den Mund. Oh! Ich glaubte, wieder ohnmächtig werden zu müssen, aber mein Körper tat mir den Gefallen nicht.
Stattdessen setzte sich Tarek wieder hin und nickte auf die andere Seite des Bettes. Nun ergriff Kostas das Wort: „Ypsi gehört doch das Olymp. Vor ein paar Wochen, als ich in der Küche aushelfen musste, habe ich dich mit Tarek dort gesehen und ähhh, naja, ich habe mich verliebt in dich. Dabei wusste ich von Ypsi und Tarek schon, dass du eine, äähhh, harte Nuss bist.“
Ich war noch immer zu matt zum Sprechen. Aber meine Hirnleistung nahm Fahrt auf. Ich erinnerte mich an den Besuch im Olymp. Der Zaziki dort war großartig.
„Inszeniert? Alles?“ nuschelte ich. Für vollständige Sätze war ich offenbar noch nicht bereit.
Jetzt kam Tarek wieder an die Reihe: „Ja, ich fürchte, wir haben das ein bisschen weit getrieben“, sagte er. „Aber damit du anspringst, musste es etwas Außergewöhnliches sein, etwas, was man nicht einfach bei Aldi an der Käsetheke erlebt, etwas beispiellos Brillantes. Eine richtige Räuberpistole eben.“
Ich wollte es nicht glauben. Das sollte alles nur ein Fake gewesen sein?
Er beichtete jetzt umfassend, dass alles, wirklich alles eingefädelt war. Das erste Zusammentreffen mit Kostas beim Speed-Date, die „Besorgung“ für Tarek am Tag darauf.
Er wusste, dass ich früher oder später ins Hairkules kommen würde. Wenn mir jemand hinterher lief, ließ er mich kalt. Ich wollte diejenige sein, die das Heft und die Kontrolle in der Hand hat. Und einen simplen Enthaarungsstudiobesitzer mit einer Augenbraue hätte ich sicher abblitzen lassen, wenn er mir nicht mit einer sensationell interessanten Geschichte gekommen wäre. Tarek kannte mich wohl besser als ich mich selbst.
„Was ist mit dem Fotografen?“ Na, ich kam ja schon wieder in Übung! Jetzt meldete sich Ypsilandis zu Wort: „Das war unser Cousin Aristoteles, ein echter Fotograf übrigens!“
Ach, ist auch mal was echt an der Sache, dachte ich, sagte aber nichts. „Dass du ihn auf dem Marktplatz gesehen hast, als er mich und unsere Nichte fotografierte, war zwar reiner Zufall, hat aber dann doch ganz gut ins Verschwörungspuzzle gepasst!“ grinste er. Ich hätte ihm jetzt gerne eine auf die Nase gehauen, aber das musste ich mir für später aufheben. „Und weil er gerade nichts zu tun hatte, haben wir ihn als Erpresser engagiert!“, schob er nach.
„Ja, und in der Krypta haben wir wohl unser Schauspiel ein bisschen übertrieben“, meinte Kostas jetzt. „Wir wollten die ganze Sache dort auflösen, aber Ari hielt es für wirkungsvoller, mich mit seinem falschen Messer aus dem Theaterfundus ‚niederzustechen’. Er wollte volles Drama auf der ganzen Linie! Wir haben ihm schon den Marsch geblasen, das kannst du uns glauben!“
Ich sank ins Kissen und schloss die Augen. Verarscht. Ich fühlte mich komplett verarscht. Trotzdem erkannte ich auch in meinem lädierten Zustand den guten Willen hinter der Sache. War ich wirklich eine so gefühlskalte, egozentrische und meschuggene Idiotin, dass mein Freund Tarek keinen anderen Ausweg als die Inszenierung einer Art von griechischer Tragödie sah, um mir zu einem Lover zu verhelfen, der sich allein nicht an mich herantraute? Wie armselig war das denn?
„Wir wollten dich mit der Auflösung überraschen. Wir wollten etwas ganz Besonderes machen, weil du etwas ganz Besonderes bist!“ schob Tarek kleinlaut hinterher.
„Arschloch“, konnte ich noch sagen, bevor mich die selige Ohnmacht endlich wieder erlöste.
Als ich wieder aufwachte, war es draußen schon dunkel. Im schummrigen Licht erkannte ich Kostas Parka über der Lehne des Stuhls an meinem Bett. Er selbst saß in einem Sessel in der Ecke und schlief. Noch nie hatte jemand sich so um mich bemüht und sich gleichzeitig alle Mühe gegeben, seine Bemühungen nicht bemüht aussehen zu lassen!
Das rührte mich irgendwie. Eigentlich kannte ich Kostas ja gar nicht richtig, ich kannte nur seine gefakte Geschichte. Ich beschloss, ihm vielleicht noch eine Chance zu geben, wenn ich nur endlich hier raus war. Dann schlief ich wieder ein.
9.
Drei Tage später durfte ich die Klinik endlich verlassen. Tarek holte mich ab und wir sprachen nur das Nötigste miteinander. Als wir in meine Wohnung kamen, herrschte dort schon buntes Treiben. Die zwei Monobrauen, Ari der Fotograf, Ali und die blonde Nichte mit den künstlichen Fingernägeln hatten meine Küche in ein griechisches Lokal verwandelt.
Auf dem Tisch war ein Buffet aufgebaut und inmitten von Pastizio, Souvlakispießen und Fetasalat prangte eine Schüssel mit Knödeln. Ich schaute Kostas an und stellte fest, dass ich plötzlich sehr wohl in der Lage war, die Zwillinge zu unterscheiden. Die beiden sahen sich ja überhaupt gar nicht ähnlich, irgendwie! Die Nasen, die Wangen, sogar die Ohren waren anders! Wie konnte ich die beiden jemals verwechselt haben?
Ich hatte Witterung aufgenommen, es roch leicht nach Philosykos und ich konnte erneut nicht widerstehen. Am Ende der Duftspur stand Kostas und lächelte mich unsicher an, mit einem Stamperl in der Hand. „Yammas“ rief er in die Runde und hielt mir das vereiste Glas unter die Nase.
„Hi, ich bin Kostas, esse am liebsten Knödel und möchte nochmal von vorn anfangen!“
Sanft nahm ich ihm das Glas aus der Hand näherte mich schnuppernd seinem duftenden Hals und zischte: „Und ich hasse Ouzo, weißt du nicht mehr?“
Epilog:
Kostas Pleitegeschichte war nicht gelogen. Der Laden war zwar angemeldet, lief aber wirklich miserabel und war nicht zu halten.
Meinen Job im Rathaus mache ich nur noch halbtags, die andere Hälfte kümmere ich mich um die Buchhaltung von Kostas’ florierendem, neuen Geschäft.
Der Grieche hat tatsächlich immer noch mit Haaren zu tun, allerdings mit denen von Tieren. Er betreibt einen Beautysalon, das „Doggie Style“ und kann sich vor Aufträgen nicht retten. Neuester Renner in der upper class-Hundeszene sind die Extensions für den Köter. Sogar ein handelsüblicher Rauhaardackel wird so hastenichtgesehen zum gottverdammten Windhund. Die upper class-Kundinnen himmeln Kostas an wie einen griechischen Gott, aber er verehrt nur mich, was ich ihm auch geraten haben will.
Zusammen arbeiten wir an der Herstellung einiger, kleiner Flokati-Kinder, die, so wünsche ich mir innigst, dereinst meinen gemäßigten Haarwuchs aufweisen werden.
Tarek und Ypsi sind nach Griechenland gezogen und jagen sich tagtäglich zu ihrem und zum Spaß aller Nachbarn nackt durch ihren Olivenhain, aus dem sie hervorragendes, natives Öl in die ganze Welt exportieren.
Aristoteles, der Fotograf/Erpresser ist heute gefeierter Regisseur am „Apollon-Theater“ in Grevenbroich, ein Kulturprojekt der dortigen griechischen Gemeinde und die blonde Nichte betreibt, was Wunder, ein Nagelstudio in Offenbach.
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Chianti, treuer Begleiter in tiefdunkler Nacht