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Als Papalonien gegen Mamasien in den Krieg zog

1 Es gibt traurige Geschichten, die trotzdem erzählt werden müssen. Besonders tragisch wenn sie Kinder betreffen. Wenn, statt auf dem Spielplatz sich zu vergnügen, sie im Krankenhaus liegen und gegen eine schlimme Krankheit ankämpfen müssen. Der kleine Jonas ist so ein Fall. Er steht stellvertretend für die vielen kranken Kinder, mit denen es das Schicksal nicht so gut gemeint hat. Jonas, ein eigentlich aufgeweckter Junge von zehn Jahren, kämpft gegen den Krebs. Wie es um ihn bestellt ist, ahnt er nicht. Die Eltern, die ihn abwechselnd besuchen, denn sie sind geschieden, sprechen nicht mehr miteinander. Die Mutter kommt morgens und der Vater abends nach der Arbeit. An den Nachmittagen kommt oft der Großvater, der in einem Seniorenheim lebt, was direkt neben dem Krankenhaus liegt. Besonders auf ihn freut sich Jonas. Denn der Großvater ist ein lustiger Mann, der für allerlei Späße zu haben ist. Um seinen Enkel etwas aufzumuntern, erzählt er ihm immer Geschichten, die er sich ausgedacht hat. Auch an diesem Nachmittag kommt der Großvater Jonas besuchen. Heute hat er sich eine rote Pappnase angezogen. Doch das von ihm erhoffte Lächeln des Enkels bleibt aus, als er durch den Türspalt hereinschaut.

„Hallo Jonas.“, sagt er mit verstellter Stimme, so wie er sich die Stimme eines Clowns vorstellt. Als er näher an das Krankenbett kommt, sieht er die verweinten Augen des Jungen. Instinktiv nimmt er die Pappnase ab, die ihm jetzt deplatziert vorkommt. „Was hast Du denn?“, fragt er ganz sanft und streicht dem Jungen über den kahlen Kopf. Früher hatte Jonas strohblondes Haar, doch die sind ihm inzwischen alle ausgefallen. Alle haben ihm erklärt, die Haare kämen wieder zurück,
doch wussten sie, es wird nicht passieren.

Der Großvater nimmt seinen Enkel fest in den Arm.

Wortlos verweilen sie so eine Zeit. „Warum hast du denn geweint?“, fragt der Großvater leise.

Traurig schaut Jonas seinen Opa an.

„Mama und Papa haben sich nicht mehr lieb.“
„Ja ich weiß.“
Der Satz fällt dem alten Mann sehr schwer und er kann nur schwer seine Tränen zurückhalten. Aber er weiß, für seinen Enkel muss er jetzt stark sein. „Und alles ist meine Schuld.“, schluchzt der Kleine.

Seinem Großvater zerreißt es fast das Herz, denn so ganz unrecht hat Jonas nicht. „Nein, das darfst Du nicht denken.“, versucht er, den Jungen zu trösten.

„Dieser blöde Krebs. Der hat alles kaputtgemacht.“,
schluchzt Jonas. In seiner Hilflosigkeit fällt dem Großvater nichts anderes ein, als seinen Enkel noch fester an sich zu drücken. Er weiß genau, der Junge hat ein feines Gespür und die richtigen Schlüsse gezogen. Aber das kann er ihm natürlich nicht sagen. In der Tat hat die belastende Diagnose die Eltern überfordert. Und ein schleichender Prozess der Entfremdung setzte ein, an deren Ende die Trennung stand. Es war zwar eine gütliche, aber dennoch endgültige Trennung. Sie sprachen zwar davon, für einige zeit etwas Abstand voneinander zu brauchen, doch sie ahnten, ein zurück würde es nicht mehr geben. Lange schon lebten sie nur noch nebenher statt miteinander. Eine ganze Weile spielten sie noch, Jonas zuliebe, ihm die heile Welt vor.

Doch jeder gemeinsame Besuch wurde für sie zur Belastung. Auch Jonas merkte, dass irgendetwas nicht mit ihnen stimmt. Aber das wiederum bemerkten sie nicht. Auch das Jonas mit der zeit immer stiller wurde,
fiel ihnen nicht auf. Heute Morgen nun, hatte sich die Mutter ein Herz gefasst und ihm gesagt, dass sie sich scheiden lassen. Jetzt hatte Jonas zwar Gewissheit, dennoch war es ein großer Schock für den kleinen Jungen. Er gab sich und seiner blöden Krankheit die Schuld. Und es trieb ihn die Sorge um, bei wem von beiden er wohnen würde, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wird. Er konnte ja nicht wissen, dass es dazu nicht mehr kommen wird. Der Großvater hatte schon lange befürchtet, dass es zu einer Trennung kommen wird, doch hatte er gegenüber seinem Sohn und der Schwiegertochter nie etwas gesagt.

Vieles in den letzten Wochen deutete darauf hin. Früher wurde er regelmäßig sonntags zum Kaffeetrinken eingeladen, doch in letzter Zeit blieben die Einladungen aus oder wurden kurzfristig abgesagt. Meist unter fadenscheinigen Gründen. Der alte Herr ärgerte sich darüber. Nicht wegen der vielen Absagen, sondern weil sie ihm nicht die wirklichen Gründe nannten. Aber das war nun nebensächlich. Seine ganze Sorge galt nun Jonas. Dessen Zustand hatte sich in den letzten Wochen verschlechtert. Der Großvater sah es als seine Aufgabe an, den Kleinen aufzumuntern.

In den letzten Tagen gelang es ihm jedoch immer schlechter. Und heute scheiterte er mit seiner aufgesetzten roten Nase auf ganzer Linie.

„Soll ich Dir jetzt wieder eine Geschichte erzählen?“
Doch Jonas schüttelt nur den Kopf.

„Was wollen wir dann heute machen?“
„Halt mich einfach fest.“, meinte Jonas.

„Das tue ich mein Junge. Das tue ich.“, sagt der Großvater leise, mit einem Kloß im Hals.

Eine ganze Weile saßen sie da, ohne ein Wort zu sprechen. Erst als die Krankenschwester hereinkam, um Jonas Blut abzunehmen, setzte er sich auf den Stuhl neben dem Bett.

Für Jonas war es schon zur Normalität geworden, einmal am Tag Blut abgenommen zu bekommen. Die Krankenschwester lächelte ihn an, als sie vorsichtig die Nadel in den Arm stach. Jonas verzog keine Miene.

„Tapferer kleiner Junge.“, dachte der Großvater.

Als es draußen dämmerte, verabschiedete er sich.

„Kommst Du morgen wieder?“
„Natürlich.“
Er gab Jonas einen Kuss auf die Wange und winkte ihm zum Abschied noch einmal zu.

„Opa“, rief Jonas ihm nach, „Du hast noch die rote Pappnase auf der Stirn.

Der Großvater zog sie herunter, grinste und setzte sie wieder auf die Nase.

Jetzt lächelte auch Jonas. Es war das erste Mal heute. *
Am Abend telefonierte er mit seinem Sohn. „Vater, es ist unsere Entscheidung, die wir uns nicht leicht gemacht haben.“
„Aber gerade jetzt braucht Jonas euch beide.“
„Wir sind ja beide für ihn da.“
„Aber nicht mehr als Familie.“, sagte der Großvater vorsichtig.

„Vater, es geht einfach nicht mehr. Lass uns bitte nicht weiter darüber sprechen. Die Entscheidung ist gefallen.“
„Mir geht es nur um Jonas. Der Junge leidet schon so genug.“
„Bitte Vater. Denkst Du, wir wissen das nicht.“
„Redet doch noch einmal miteinander.“, versuchte der Alte erneut.

„Vater!“
Die Härte, mit der der Sohn das sagte, erschreckte ihn.

„Schon gut mein Sohn. Ich sage nichts mehr.“
Nur noch ein kurzes und knappes „Tschüss“ und das Gespräch war beendet.

Die halbe Nacht lag der Großvater wach und dachte darüber nach, wie er morgen seinen Enkel aufmuntern konnte. Er haderte mit sich und der Welt. Und dann tat er etwas, was er seit Jahren nicht mehr tat. Er betete.

*
Als der Vater abends zu Jonas kam, war er unruhig. Seine Frau hatte ihn auf der Arbeit angerufen, um ihm mitzuteilen, dass sie Jonas von der Absicht sich scheiden zu lassen, in Kenntnis gesetzt habe. Daraufhin wurde der Vater so wütend, dass er einfach auflegte. Für ihn war das ein unmöglicher Vorgang, ohne Absprache mit ihm zu handeln. Er war der festen Überzeugung, die Ehe wäre noch zu retten, denn er liebt seine Frau immer noch. Sie war es, die die Scheidung haben wollte und nun hatte sie für ihn eine Linie überschritten, die er nicht tolerieren konnte.

„Hallo mein Junge. Wie geht es Dir heute?“
Die Frage hätte er nicht stellen müssen, denn er sah einen blassen Jungen, der am Tropf hing. Jonas lächelte leicht seinem Vater zu.

„Ganz gut.“, sagte er leise.

Dass dies nicht stimmte, wussten beide. Der Vater nickte und lächelte nun ebenfalls, obwohl ihm eher zum Heulen zumute war. „War Opa schon da?“
„Ja.“
„Und hat er Dich wieder zum Lachen gebracht?“
„Er hat es versucht.“
„Und wie?“
„Er hat sich eine rote Nase aufgesetzt.“
„Das ist ja lustig.“
„Na ja.“, antwortete Jonas knapp und zeigte mit seinem ausgestreckten Daumen eher Richtung nach unten, als wäre er Kaiser Nero, der überlegt, ob er den Gladiator begnadigen soll, der im Duell „Mensch gegen Löwe“ nur Zweiter wurde.

„Vielleicht kommt er morgen ja komplett als Clown verkleidet.“
„Das wäre doch peinlich.“, meinte Jonas und rollte mit den Augen.

„Das ist deinem Opa egal, wenn er Dich nur zum Lachen bringen kann.“
„Papa, sind wir jetzt keine Familie mehr?“
Da war er nun, der von dem Vater so gefürchtete Satz.

Unvermittelt und ohne Vorwarnung. Den ganzen Nachmittag hatte er darüber nachgedacht, wie er reagieren sollte und nun, da es Thema war, saß er da am Bett seines Sohnes und wusste nicht weiter. Er lächelte nur leicht gequält und schwieg. „Papa, sag was!“, forderte der Kleine. „Ach weißt Du... ich... wir... also das ist alles noch nicht entschieden.“, stotterte der Vater etwas unbeholfen.

„Mama will ausziehen.“
„Hat sie das gesagt?“
„Ja.“
Der Vater versank in tiefes Schweigen. Solange sie noch zusammen wohnten, hatte er noch die Hoffnung alles zum Guten wenden zu können. Jetzt hörte er von einem bevorstehenden Auszug zum ersten Mal. „Du wirst jetzt erst einmal gesund und ich spreche mit Mami. Wir kriegen das schon wieder hin.“, versuchte er,
den Jungen zu beruhigen. Wohl wissend, es war eine doppelte Lüge. „Glaubst Du?“
„Ja, ganz sicher. So und jetzt, was soll ich dir vorlesen?“,
wechselte er abrupt das Thema.

„Ich bin müde.“, entgegnete Jonas.

„Dann schlafe etwas. Ich warte noch, bis du eingeschlafen bist, und gehe dann. Jonas schloss seine Augen. Sein Vater hielt ihm die Hand.

Als er eingeschlafen war, legte er sie vorsichtig ab und ging leise zur Tür hinaus. Draußen auf dem Parkplatz atmete er tief durch. Irgendwie war es ihm gelungen, so glaubte er wenigstens, das Gespräch gemeistert zu haben. Aber warum fühlte er sich dann nicht besser? *
Mit lautem Sirenengeheul und Blaulicht, versuchte der Rettungswagen sich durch den Feierabendverkehr, zu manövrieren. Von Weitem konnten sie schon die Menschentraube sehen, die sich um den Verletzten gebildet hatte. Sofort als der Wagen anhielt, stieg der Notarzt aus und mühte sich durch die Menge. Kopfschüttelnd bemerkte er einen jungen Mann, der mit seinem Smartphone alles filmte. Gerne hätte er ihm noch ein paar Worte seiner Empörung gesagt, doch der Verletzte hatte Vorrang. „Er ist einfach in sich zusammengefallen.“, erklärte eine Frau, die ihm ihre Jacke unter den Kopf gelegt hatte.

Zwei Sanitäter brachten eine Krankenbahre und zu dritt legten sie den Bewusstlosen darauf. Die Menschentraube löste sich auf, denn hier gab es für heute nichts mehr zu sehen und zu bestaunen. Zu diesem Zeitpunkt war das Video bereits im Netz und erfreute sich großer Beliebtheit. Eifrig wurde es geteilt und kommentiert. Von herzlicher Anteilnahme bis hin zu bissigen Bemerkungen wie
„Selbst Schuld“, war so ziemlich alles dabei. *
„Jonas. Aufwachen.“
Sanft rüttelte die Krankenschwester an seiner Schulter.

Der Junge öffnete die Augen und sah sich um.

„Ist mein Opa schon da gewesen?“ „Nein. Aber er kommt sicher gleich.“, antwortete die Schwester und legte ihm einen neuen Zugang.

Doch an diesem Abend erschien der Großvater nicht. 2
„Ich habe eine Überraschung für Dich.“, sagte der Krankenpfleger, der in der Tür stand.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 11.05.2025
ISBN: 978-3-7554-8079-2

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