„Du gehst? Wohin? Und wann kommst Du wieder?“
Wie ein Maschinengewehr feuerte sie ihre Salven ab, ohne auch nur eine Zwischenphase für eine Antwort ihm zu gewähren. Für ihn nichts Ungewöhnliches. Es war ihr alltägliches Ritual. Längst erwartete sie keine Reaktion und er hatte jeglichen Versuch eingestellt, ihr in die Parade zu fahren.
Nur diesmal war etwas anders. Er lächelte, als er die Tür leise hinter sich zuzog. Kein Blick zurück. Kein „Bis gleich.“
Sie war bereits im Schlafzimmer und machte die Betten. Erst am Abend, als er immer noch nicht zuhause war, wurde sie etwas unruhig, dann nervös und später panisch.
„Mein Name ist Schmitt, mit Doppel-T. Geborene Schlotzmeier mit Ei.“, erklärte sie dem Wachhabenden am Telefon und ihre Stimme überschlug sich fast.
„Na nun beruhigen wir uns erst einmal.“, versuchte der Beamte zu beschwichtigen.
„Sie können sich ja beruhigen, aber ich bin und bleibe aufgebracht. Schließlich ist es mein Mann, der mir abhandengekommen ist.“, regte sich Frau Schmitt auf.
„Ich habe ja auch gar keinen Mann.“, offenbarte der Polizist sehr Privates.
„Dann halt ihre Frau!“, warf Frau Schmitt ein, der es gleichgültig war, in welchen Lebensumständen der Polizist sich eingerichtet hatte.
Der seufzte tief bei dem Gedanken, zuhause würde eine Frau auf ihn warten.
Sein bisheriges Leben hatte ihn dankbarerweise verschont und er genoss sein Singledasein. Er begnügte sich mit kleinen Tagesaffairen, die ihm seinen Hormonhaushalt wieder in Gleichklang brachten. Auf diese Weise bekam er, was er wollte und eheähnliche Nebenwirkungen waren ausgeschlossen. Der Markt ähnlich gelagerter Damen war reichhaltig und er konnte aus dem Vollen schöpfen.
Er war ein Mann der Abwechslung und konnte seine Diensthandschellen auch jederzeit zum Einsatz bringen, wenn die dementsprechende Partnerin auf Zeit dem zustimmte. Doch dies war sein gutgehütetes Geheimnis und er sah nicht den geringsten Grund, dies Frau Schmitt unter die Nase zu reiben. Wahrscheinlich hätte sie ohnehin momentan kaum den Kopf dafür.
„Ich fordere Sie auf, unverzüglich eine Hundestaffel, Helikoptereinsätze und Bundeswehr, in Alarmbereitschaft zu setzen, damit mein Mann gesucht, gefunden und mir wieder zugestellt wird.“, forderte sie nun in schneidigem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Herr Kreuzmeier, der an der anderen Leitung langsam unruhig wurde, versuchte vergebens Frau Schmitt, zu beruhigen.
„Vielleicht ist er noch bei einer Freundin.“
Doch damit stieß er in ein Wespennest.
„Mein Mann hat mich, da braucht er keine Freundin. Ich gebe ihm alles, was ein Mann sich von einer Frau nur wünschen kann.“, empörte sich Frau Schmitt.
„Vielleicht ist er dann bei einem Freund?“, versuchte Herr Kreuzmeier, seinen Fauxpas wieder glattzubügeln.
Doch was gut gemeint war, führte bei Frau Schmitt dazu, sich aufzumachen und die erstbeste Palme zu erklimmen.
„Was erlauben Sie sich. Mein Mann ist ein Mann. Der braucht keinen anderen Mann. Wie können Sie ihm nur so was unterstellen. Außerdem geht Sie unser gutes funktionstüchtiges Sexualleben nichts an. Oder sind Sie einer, der sich ...“
Frau Schmitt war jetzt so aufgebracht, dass ihr die Worte ausgingen.
„Der sich was ....?“, entgegnete Herr Kreuzmeier nun, der den Beginn einer Beamtenbeleidigung roch.
Doch Frau Schmitt sah sich außerstande den Satz zu vervollständigen und entging so noch einmal einer drohenden Haftstrafe. Stattdessen setzte sie nun ihrerseits Herrn Kreuzmeier unter Druck, indem sie nach seinem Vorgesetzten verlangte.
„Ich bin mein eigener Vorgesetzter!“, stellte dieser klar.
„Aber es muss doch jemanden geben, der ihnen sagt, wann sie zum Dienst erscheinen müssen oder ihnen urlaub zubilligt?“
„Das entnehme ich dem Dienstplan.“, rechtfertigte sich Herr Kreuzmeier.
„Und wer erstellt diesen Dienstplan?“, rief Frau Schmitt, nicht Willens ihn vom Haken zu lassen.
„Den erstelle ich selbst, nach Rücksprache mit mir.“, gab Kreuzmeier freimütig Interna heraus, wofür ihm ein Disziplinarverfahren anhängig werden könnte, wenn er sich bei sich melden würde.
Frau Schmitt zeigte sich entsetzt über den Filz, der offensichtlich in der Behörde herrschte, die sie mit ihren Steuergeldern am Laufen hielt.
„Wenn das so ist, möchte ich mich offiziell bei Ihnen über sich beschweren.“, forderte sie nun, der Logik gehorchend.
Nun waren Herrn Kreuzmeier die Hände gebunden. Die Beschwerde einer Bürgerin musste er verpflichtend nachgehen, wenn er sie nicht noch auf den letzten Drücker besänftigen konnte. Einen Versuch war es zumindest wert.
Aus Angst unter Repressalienleiden zu müssen, die er gegen sich, nach einer monatelang dauernden internen Untersuchung, womöglich aussprechen müsste, falls er zu dem Schluss käme, er sei schuldig, konnte er nur so entgehen, wenn er sie sich gewogen machen könnte.
Mit einem besonders freundlichen und zugewandten Tonfall, ja fast flötend, gab er sich plötzlich handzahm.
„Verehrte gnädige Frau Schmitt, lassen Sie uns doch wieder gute Freunde und Helfer sein, so wie es das Motto der Polizei ist. Wie kann ich denn ihren seelischen Schmerz lindern, der so sehr auf ihr Gemüt drückt?“
Der plötzliche Stimmungswechsel des Herrn Kreuzmeier fiel bei Frau Schmitt auf gutbegründete Skepsis.
„Männer!“, pfiff sie nur in abfälligem Ton, durch ihre sanierungsbedürftige vergilbte Kauleiste.
Herr Kreuzmeier hörte einen gewissen Zweifel aus dem herausgehauenen Geschlechterbegriff und legte rasch noch eine Schippe, angefüllt mit genügend Charmeoffensive, drauf.
„Junge Frau, nicht alle Männer sind gleich zu bewerten. Ich persönlich werde nichts unversucht lassen, mich ihnen als ein guter dienstbarer Geist zu beweisen.“
„Flirten Sie etwa mit mir?“, rief Frau Schmitt und im Unterton konnte man es vorsichtig erahnen, sie fühlte sich geschmeichelt.
„Nur mit ihrem Einverständnis und wenn es nicht gegen ihre Religionszugehörigkeit nicht verstößt.“, versicherte Kreuzmeier.
„Hannelore. Ich heiße Hannelore.“, warf sie ihm einen kleinen Knochen hin.
„Hannelore. Das klingt so melodisch, wie aus einem Gedicht von Hölderlin entsprungen. Hannelore, so Mozärtlich und schillernd. Hannelore, wie eine leichte Nordseebrise. So wie das lichtdurchflutete von Gerhard Richter gestaltete Fenster im Kölner Dom. Hannelore, ein symphonisches Glockenspiel.“
„Weiter! Weiter! Mehr!“, seufzte Frau Schmitt, eingehüllt von den ekstatischen Worten, für den ihr Mann nie die Muße fand.
Und Kreuzmeier, ein Name in dem schon der Wesenskern des eigenen überschätzten Geschlechts enthalten ist, enthielt sich nicht und fuhr, ohne sich der Brisanz seiner Worte bewusst zu sein, unaufhaltsam fort.
„Wohliges willfähriges Weib, wo Wonne wild wabert, wie Winde warm wehen, wagen wir weit weniger, wie Wotan wohl weise wohlfeil wüten würde. Wisse Weib, wehklagen wir wissend weiter. Wollust will weiter wachsen.“
„Wahre Worte, wertvoller Werber weiblicher Wünsche.“, entgegnete Frau Schmitt, dem Wahn seiner Worte folgend.
Längst hatte sie den Grund ihres Anrufs verdrängt und sich der Stimme am anderen Ende vollends hingegeben.
Hätte Herr Kreuzmeier nur annähernd geahnt, was er mit seinen Worten ausösen würde, so entfernte er sicherlich das „W“ aus seinem persönlichen Alphabet. Doch diese Einsicht kam nun zu spät. Denn das unbeabsichtigte Saatgut was er gestreut hatte, stand bereits in voller Blüte.
Die letzten Worte, ehe das Gespräch abbrach, hatte Frau Schmitt ausgesprochen und er konnte nicht mehr rechtzeitig dazu Stellung zu beziehen.
„Ich komme rasch vorbei, um Auge in Auge, meine Fürbitte vorzubringen.“
Zurück blieb ein verstörter Herr Kreuzmeier, der spürte, dass sein glückliches Singledasein an einem seidenen Faden hing.
Ohne es zu beabsichtigen hatte er einer hilfesuchenden Frau Hoffnung gemacht. Hoffnung auf ihn. Bei dem Gedanken, der bei ihm einschlug wie eine Bombe, erschrak er zutiefst und er suchte rasch nach Ausflüchten oder Gegenmaßnahmen, die das Schlimmste noch verhindern konnten. Und die zeit lief ihm davon. Er war kurz davor es der vorbildhaften Zeit gleichzutun und seinen Fluchtreflex auszulösen. Doch noch war er ein Gefangener seiner Dienstzeit und so waren ihm die Hände gebunden. Er begriff, die Zeit war sein größter Feind, neben dem persönlichen Erscheinen Frau Schmitts, die, wenn ihre Stimme auf ihr Aussehen schließen ließ, er aufs Schlimmste gefasst sein müsste. Der Vergleich einer Stahlbürste, die man über eine Schultafel zieht, war nicht abwegig. Die Vorstellung über ihr Äußeres übertraf alles das, was er an Vorstellungskraft aufbringen konnte, obwohl er es nicht wollte. Grauen und Schaudern, Schrecken, Furcht und Panik, waren nur einer der wenigen Gefühle, die bei ihm hervortraten. Am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt, wenn er nicht so schmerzempfindlich gewesen wäre.
Inständig hoffte er auf einen Anruf, wo ihm ein Mord, eine Entführung oder wenigstens eine Geiselnahme angezeigt würden. Selbst mit einem Fahrraddiebstahl könnte man ihm eine Freude machen. Doch ausgerechnet er musste in einer Kleinstadt Dienst tun, wo nicht einmal jemand sich aufraffen kann um Tauben zu vergiften, da es überhaupt keine hier gibt. Selbst denen scheint es hier zu langweilig zu sein, wohl auch wegen des öden Nachtlebens. Gerade einmal eine einzige registrierte Prostituierte versah noch ihren Dienst an der Gesellschaft, wenngleich sie längst schon in Rente war. Ein letzter Stammkunde war ihr noch geblieben und pflichtbewusst wie sie nun einmal war, fuhr sie mit ihrem Rollator Woche für Woche ins Seniorenheim und tat, was zu tun war.
Zum Glück geschah dies alles sehr diskret und so gibt es weder Foto- noch Filmaufnahmen davon, die verstörend auf die Jugend wirken könnten oder die Tristesse des sonntäglichen Gottesdienstes aufwerten. Dafür kniet der Pfarrer auf Knien, denn sonst müsste er in seiner Predigt darauf Bezug nehmen. Erschwerend kommt für ihn hinzu, in dieser Materie von Lust und Leidenschaft, wenig erbauliches sagen zu können, da es ihm an fundiertem Basiswissen fehlt.
Und das, was er weiß, wäre nur Hörensagen. Denn ein aberwitziges jahrhundertealtes Gesetz verbietet es ihm, aus Beichtgesprächen Kapital zu schlagen.
Alles dort Erfahrene muss er runterschlucken und bleibt für alle Zeiten in seinem Magen, der noch sicherer ist als jedes Schweizer Bankschließfach. Unbestätigten Gerüchten zufolge, soll sich so mancher Bußwillige in seine Beichte reingesteigert haben, dass der Pfarrer erst den Beichtstuhl wieder verlassen konnte, nachdem sich die Soutane wieder beruhigt hatte. Manche beichten eben so, dass sie auch dort noch als toller Hengst oder Hecht oder sonst ein passendes Tier, sich ihre Bestätigung abholen. Je mehr Rosenkränze zu beten sind, desto mehr Bestätigung für den Buße tuenden, der, nachdem sein Sündenkonto wieder auf Null gesetzt ist, sich aufmacht es wieder aufzufüllen. Nicht ohne Grund wird ein Beichtstuhl auch Bußgang oder Stuhlgang genannt.
*
Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, atmete Herr Schmitt tief aus. Eine Last fiel von seinen Schultern und erst recht von seinen Lenden. Fröhlich pfeifend stieg er das Treppenhaus hinunter. In seinem Übermut übersprang er sogar zwei Stufen auf einmal. Von Muff und Piefigkeit befreit und was ihn dabei am meisten freute, war, er versäumte es, dies seiner Frau mitzuteilen. Für ihn gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder heimlich verschwinden oder ihr ein rostfreies Käsemesser in den Rücken zu treiben. Nur Letzteres ist vor dem Gesetz strafbar, weshalb er sich für die französische Abschiedsmethode entschied. Ohne Gezeter, ohne Vorwürfe, ohne falsche Tränen. All dies blieb Herrn Schmitt erspart. Bewusst hatte er diesen einsamen Entschluss nur sich anvertraut, als einem der wenigen zuverlässigen Freunde die ihm geblieben waren. Unter teils fadenscheinigen Entschuldigungen hatte einer nach dem anderen sich von ihm losgesagt.
„Ich werde mich einer Südpolexpedition anschließen, um dort die bedrohten Antilopen zu retten.“, so einer seiner besten Freunde aus Kindertagesstättenzeiten.
Selbst sein Kegelklub entschloss sich urplötzlich zu einem gemeinsamen Ankauf einer vorgelagerten kleinen Insel im Pazifik. Leider erwies sich dies als eine Fehlinvestition, denn aufgrund der Klimaerwärmung versank die Insel, noch ehe sie ihre importierte Bundeskegelbahn einweihen konnten. Alle „Neune“ ertranken mit dem Eiland auf unbestimmte Zeit. Nur sein alter Religionslehrer blieb in der Kleinstadt zurück, ließ sich jedoch körperlich operativ verändern und trug fortan sein haar offen und nannte sich Petra, ohne Herrn Schmitt davon in Kenntnis zu setzen. Sie lernten sich dann zufälligerweise einmal in einem Kino für erwachsene kennen und hatten für zwanzig Minuten eine orale Affäre, ohne das Herr Schmitt ahnte, wer ihm diesen Lustgewinn bescherte und es gab auch seinerseits, keinen Grund das er sich beschwerte. Er genoss die leichte Zwischenmahlzeit. Nur der Hauptgang, den er zu Hause einnehmen musste, lag ihm noch tagelang schwer im Magen. In der Ehe fehlte es ihm an der Würze, sowohl am Herd als auch in dem gemeinsamen Schlafzimmer, auf das Frau Schmitt bestand, alleine schon wegen der Nachbarn.
„Wir wohnen Wand an Wand mit den Müllers zur linken und den rechten Börings. Wenn die nun und unsere Wände sind dünn wie Butterbrotpapier, nichts nachts hören von uns, denken sie noch, wir hätten nichts mehr miteinander.“, gab Frau Schmitt zu bedenken und fürchtete um ihr Ansehen beim Bäcker, wo nächtlich stöhnende Frauen mit einem hintergründigen „Na“ stets begrüßt werden. Das war ein hausfraulicher Geheimcode, den alle kannten. Diese und hunderttausende andere Gründe fand Herr Schmitt ausreichend, um seinen Entschluss vor sich zu rechtfertigen und in die Tat umzusetzen.
Jetzt, wo er vor dem Haus stand und die Erleichterung war ihm anzusehen, denn er lächelte, etwas was er verlernt hatte. Doch plötzlich kam ein müh Reue in ihm hoch.
„So ganz ohne ein Zeichen kann ich dann doch nicht gehen.“, begann er ein Zwiegespräch mit sich, was nicht ganz ungefährlich war, denn wenn er nicht aufpasste, könnte es passieren, er überredet sich zum Abblasen seiner Aktion. Entsprechend vorsichtig taktierend begann er sich zu antworten auf eine Aussage, die bewusst nicht als Frage gestellt war. Ein langwieriges Re und Kontra ergab sich und bis in die Abendstunden war nicht klar, welche Seite gewinnen würde. Zu dieser Zeit, als er noch diskutierend vor der eigenen Haustür stand, hatte Frau Schmitt bereits mit Herrn Kreuzmeier telefoniert und auch ihn in eine existenzielle Lebenskrise geführt.
Schließlich wurde Herrn Schmitt die Diskussion zu hitzig und er bot sich einen Kompromiss an, dem er dann zähneknirschend zustimmte.
„Na gut, überredet, ich sende ihr ein kleines Zeichen, damit sie Bescheid weiß.“, sagte er sich und machte sich sofort ans Werk. Mit filigraner Fingerfertigkeit löste er die Abdeckung der Klingelanlage und strich dann mit einem Filzschreiber das Wort „Familie“ und schrieb ein „Frau“ dazu. Jetzt stand dort zu lesen: Frau Schmitt.
Eindeutiger konnte man die getroffene Entscheidung nicht öffentlich zur Schau stellen, so sein Fazit.
Damit war die Trennung vollzogen, für alle sichtbar und er ging von dannen, ohne einen Blick zurück im Zorn. Er hatte sie da längst schon unwiederbringlich aus seinem Gedächtnis ausgelöscht.
Nur noch der gemeinsame Nachname, den er ihr bei der Eheschließung leichtfertig aufgedrängt hatte, erinnerte noch an dieses dunkle Kapitel seines Lebens. Und so war dann sein erster Schritt nur konsequent, der ihn zu einem Notar führte, der im Rathaus saß und für wenig Aufwand viel Geld verlangte. Dort wurde Herr Schmitt vorstellig und ließ seinen Nachnamen ändern, um, fortan als Herr Schmidt, ein befreites Leben führen zu können. Kaum hatte Herr Schmidt das Notariat verlassen, wollte er seine neugefundene Freiheit auskosten und austesten. Er ging zu seiner Bank, um dort das von ihm erarbeitete Geld abzuheben, damit seine Frau auch neu anfangen konnte, nur eben ohne sein Geld.
Er sah das als seine moralische Verantwortung, ihr noch diesen letzten Dienst zu erweisen. Voller Stolz grüßte er jeden Bankkunden, der ihm entgegenkam, ob der nun traurig, weinend oder beglückt die Bank verließ.
„Einen schönen Tag. Mein Name ist jetzt Schmidt!“
Nur wenige grüßten zurück. Nur eine Frau, die bereits deutlich das Rentenalter überschritten hatte, fiel ihm in die Arme und weinte.
„Gute Frau, Sie müssen doch deswegen nicht gleich weinen. Ich bin doch der Alte, nur mit neuem Namen.“, versuchte er, sie zu beruhigen.
„Lassen Sie mich sofort los. Wüstling! Polizei!“, schluchzte die Frau.
Dann zeigte sie Herrn Schmidt die Schlagkraft ihres aus Elfenbein geschnitzten Gehstocks, mit der goldziselierten Darstellung einer Schlange, die sich um den Stock schlang. Trotz oder gerade wegen ihrer Yves Saint Laurent Brille mit Goldrahmen, traf sie vermehrt das Nasenbein des Herrn Schmidt, dem ein Knirschen oder Knacken nicht entging, ausgelöst von der Nasentreffsicherheit der alten Dame.
„Aber Frau Baronin!“, rief ein eiligst herbeieilender Kundenbetreuer und fuchtelte mit seinem Zeigefinger, so wie es nur all zu oft Mütter bei ihren Kindern tun und ihnen pädagogisch wertvoll klarmachen: „Du, du, du, das darf man doch nicht. Böses Kind du.“
Nach einem letzten schweren Hieb aufs Kinn, den Herr Schmidt nicht kommen sah, mit ihrer kostbarteuren Louis Vuitton Handtasche, ging die Baronin gramgebeugt, aber erhobenen Hauptes ihrer Wege, direkt zur Tafel, wo sie fortan ihre Einkäufe erledigen muss, wie ihr Bankberater ihr mitteilte, der ihr Aktiendepot verwaltete.
„Sie müssen entschuldigen Herr Schmitt ...“
„Schmidt ... ich heiße Schmidt“, korrigierte Herr Schmidt den Bankmenschen, der auch sein Vermögensverwalter war.
„Aber das weiß ich doch Herr Schmitt.“
„Eben nicht. Ich heiße Schmidt seit eben.“
Der Geldverwahrer sah ihn an, lächelte leicht gequält und nickte professionell zurückhaltend und dachte sich seinen Teil.
Herr Schmidt, ein Mann der Tat, zückte seinen neu ausgestellten Personalausweis und hielt ihm dem Ungläubigen unter die Nase, die im Gegensatz zu seiner, weder angeschwollen, blutend, noch angebrochen war.
Unter enormen Schmerzen, folgte Herr Schmidt dem kundenorientierten Mitarbeiter an den Schalter, wo er sein Anliegen vorbrachte.
„Mein Herr, was kann ich denn für Sie tun?“, eröffnete er, im bankenüblichen Tonfall und umging so geschickt das Aussprechen des kontroversen Nachnamens.
Mit seinem geschäftsmäßigen und bankenfreundlichen, sowie unverbindlichen Lächeln schloss er seine Anfrage und wartete auf eine Aussage Herrn Schmidts, die ihm Eine Handlungsoption ermöglichen sollte.
Jener angesprochene Herr Schmidt, der gerade dabei war Bluttröpfchen auf dem Schalter zu hinterlassen, sah nun seine Zeit gekommen und nutzte die Sprechpause des eifrigen Schaltermitarbeiters und brachte seinerseits vor, was ihn hergetrieben hat.
„Ich möchte mein Konto auflösen und alle Besitztümer, die ich hier in Verwahrung gegeben habe, mitnehmen, auch zu ihrer Entlastung. Meine komplette Entfernung aus unserer Kleinstadt steht bevor und ich gedenke, ohne Mitteilung einer neuen Adresse, einen anderen Lebensmittelpunkt zu beginnen.“
„Sie brechen also mit uns und lösen jegliche geschäftliche Verbindung! Ein bedauerlicher Schritt, der uns zutiefst zerknirscht, wenn ich das im Namen unserer Bank zum Ausdruck bringen darf.“, sagte der Sachbearbeiter sein Sprüchchen auf, was er brav auswendig gelernt hatte und so klang es auch.
„So ist es. Kappen wir unsere Beziehung, professionell und ohne Gefühlsduselei.“, stellte Herr Schmidt fest.
Der Bankangestellte erschrak. Noch nie hatte es ein Kunde so brutal auf den Punkt gebracht.
Ein verkniffenes Gesicht deutete sich nun bei dem Sachbearbeiter an. Und der Hauch von schwerer Wehmut lag in seiner Stimme. Abschiedsschmerz lag in der Luft, der auch der inzwischen sehr langen Schlange an Geldsüchtigen, nicht entgangen war, die sich hinter Herrn Schmidt gebildet hatte. Ungeduldig klappten sie ihre Geldbörsen auf und zu, die gefüllt werden wollten. Auch bei Herrn Schmidt stellte sich etwas Trauer ein. Trauer über die skandalöse Tatsache, dass sich der Bankdirektor nicht zum Abschied einfand und ein paar rührende Worte an ihn richtete.
Auch wurden keine mundgerechten Kanapees mit Lachs angereicht, geschweige ein Abschiedstrunk, was Herrn Schmidt unangenehm aufstieß. Alleine schon diese Kundenunfreundlichkeit bewies ihm, dass er mit seiner Kontoauflösung richtig lag. Es wurde ja Nichteinmal der Versuch unternommen, ihn als Kunden zu halten.
Herr Schmidt nahm sich fest vor, sobald diese unselige Geschäftsverbindung abgebrochen ist, einen geharnischten Beschwerdebrief an seine Exbank zu formulieren und öffentlich in der Lokalpresse zu veröffentlichen.
„Na dann werfen wir mal einen Blick in den Computer.“, meinte der Bankmitarbeiter.
Gespannt wartete Herr Schmidt auf die Mitteilung seines Gesamtvermögens. Eigens für den Transport hatte er eine reißfeste Jutetasche mit dem Aufdruck: keine Wertsachen inliegend. Dieses ausgeklügelte Sicherheitssystem hatte er sich selbst erdacht und war mächtig stolz darauf. Niemand würde bemerken, dass er mit seinem Gesamtvermögen unterwegs war.
Ein erstes „Oh“ was der Bankmensch ungefragt ausstieß, beunruhigte ihn etwas. Ein zweites „Oh“ verstärkte sein Gefühl.
„Mein Geld ist doch wohl nicht weg? Sagen Sie mir die volle Wahrheit. Schonen Sie mich nicht.“, ließ Herr Schmidt wissen.
„Die Summe ist aber sehr überschaubar. Den Begriff „Vermögen“ können wir wohl streichen. Aber die gute Nachricht ist, Sie sind nicht im Dispo.“
„Mit anderen Worten, Sie haben schlecht investiert!“, knallte Herr Schmidt einen Vorwurf auf den Schalter, unterstützt von seiner Faust, die wie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: rolf Bidinger
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2022
ISBN: 978-3-7554-2695-0
Alle Rechte vorbehalten