Hallo Dorf?!
Von der verzweifelten Suche nach einem literarischen Schauplatz!
Statt eines Vorwortes
Es gehört sicher nicht zu meiner Art, Leser- und innen, schon zu Beginn eines neues Buches, mit meinen Sorgen und Nöten zu belästigen. Doch um dieses Buch zu verstehen und somit weiterzuempfehlen, es geradezu zu feiern, muss ich leider einräumen, es ist nicht so geworden, wie ich es mir vorgestellt habe. Lesen sie es trotzdem ruhig weiter, denn sie wissen ja nicht, wie ich es mir vorgestellt habe.
Die Grundidee basiert darauf, mir ein beliebiges Dorf in Deutschland zu suchen und die kleinen Alltagsgeschichten dieser einfachen Leute zu Papier zu bringen. Kaum war die Idee geboren, als ich auch schon, das Kinde mit dem Bade ausschütten konnte. Über einhundert Dörfer, in West und Ost, in Nord und Süd, habe ich angeschrieben, um mir die Genehmigung geben zu lassen, ihren Dorfnamen zu verwenden. Ach was fand ich nicht alles an originellen Namen, aus denen sich wunderbar eine Geschichte machen ließ. Wundervolle Charaktere, skurrile, böse, liebestaumelnde und leicht beschränkte Menschen hatte ich im Vorfeld bereits konzipiert. Natürlich darf die Tratschtante, der ehebrechende Bürgermeister, der Misanthrop, die unterdrückte hausfrei, die Dicken und die Doofen und all die herzerfrischenden Figuren nicht fehlen. In aller Ausführlichkeit schickte ich an die Dörfer mein Exposee und war doch sehr erstaunt, verwundert und nicht zuletzt verärgert, dass man mir, oft in unflätigster Tonalität mitteilte, ich dürfe keinesfalls ihren Dorfnamen verwenden, da sich zu viele Bewohner wiedererkannten. Natürlich hätte ich es mir auch leichter machen können und einfach einen Dorfnamen frei erfinden. Wunderbare Kreationen hatten sich bereits ihren Weg, aus meiner Gedankenwelt, hinein in meinen Laptop, geebnet.
Dollhausen an der Wimme
Großpuderbach
Hollderdöselbach am Berge
Und nicht zuletzt mein persönlicher Favorit: Ulfz
Kurz und knapp und doch steckt in dem Namen schon so viel.
Ich befragte als meine Figuren wie und ob ihnen Ulfz gefallen würde. Die Empörung war riesengroß. Keine einzige meiner Kreaturen wollte Bewohner von Ulfz sein. Nächtelang lag ich wach und suchte nach einer Lösung, immer noch hoffnungsvoll, wenigstens einer der Dörfer würde sich melden und froh und dankbar sein, endlich auf Papier gebannt zu werden. Besonders auf ein Dorf setzte ich meine ganze Hoffnung. Dabei handelte es sich sogar um ein Doppeldorf. zum einen um groß ... und um klein ....! Aufgrund der neu geschaffenen Datenschutzgrundverordnung darf der gesamte Dorfnamen nicht genannt sein. Diese beiden Dorfhälften bekämpften sich seit Jahren. Sie waren sich spinnefeind und ich wollte mir das zu nutzen machen, indem ich sie Gegeneinader auszuspielen versuchte. Beiden Hälften teilte ich mit, dass die jeweils andere Hälfte unbedingt mir seinen Dorfnamen zur Verfügung stellen möchte, um so den brachliegenden Tourismus anzukurbeln, und so einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben würde, was die andere Hälfte in der Bedeutungslosigkeit versinken lassen würde. Doch leider kam mein Plan, durch eine Indiskretion heraus, die ich nicht eingeplant hatte. Die Küsterin von Groß ... hatte ein nichtöffentliches Verhältnis mit dem Rektor der Grundschule von Klein. ...! So kam dann alles heraus. Beide Dörfer taten sich zusammen und fusionierten gegen mich.
Damit stand ich vor fünf Ordnern, nur mit Absagen. Ich Ar schon drauf und dran das ganze Vorhaben zu canceln, meine Buchidee zu verwerfen und mir einen anderen Beruf zu suchen, der mir mehr entspricht. Man bot mir sogar eine Stelle als Rezensent beim Feuilleton, aber ich schreibe zwar gerne, doch das Lesen liegt mir nicht. Ich käme niemals auf den Gedanken, etwas was ich geschrieben habe zu lesen.
Eine gräuliche Vorstellung!
Doch manchmal geschieht noch eine wundersame Eingebung und ich nahm sie dankbar an, als sie unvermutet bei mir vor der Tür stand.
Zwar war die Idee nicht ganz legal, aber das war mir in dem Moment vollkommen egal. Ich erzählte meinen Figuren, ich hätte ein wundervolles, romantisches und geradezu idyllisches Dorf gefunden, wo man gerne lebt und wo die Luft noch so rein ist, wie man es sich kaum vorstellen kann. Sofort waren alle, von mir erschaffenen Figuren Feuer und Flamme. Sie waren geradezu begierig darauf, möglichst gleich dort einzuziehen und dort ihr leben zu genießen.
„Hört zu!“, sagte ich und machte ein, möglichst ehrliches und aufrichtiges Gesicht, um der Glaubwürdigkeit meiner nachfolgenden Worte, noch mehr gewicht zu verleihen.
„Das Dorf stellt mir gerne seinen Ortsnamen zur Verfügung, doch nur unter der Bedingung ihn nicht zu erwähnen, denn sie fürchten, sonst von einer Tourismuswelle überrollt zu werden. Es würde doch wohl auch reichen, wenn wir wüssten welches Dorf gemeint ist.“
Diese kleine Kröte waren meine Figuren bereit zu schlucken, wenn ich nun endlich beginnen würde mit der Geschichte, denn sie waren schon sehr neugierig auf das Dorf in dem sie fortan leben würden.
So entstand eine Dorfgeschichte, in der das Dorf nur Dorf heißt.
Wer damit nicht einverstanden ist und versucht ist, sich diesem Buch abzuwenden, dem sei ein alter Meister ans Herz gelegt, der schon vor mehr als fünf Jahren einmal seiner geballten Hand, folgendes in den Mund legte:
„... Name ist Schall und Rauch ...“
Johann Wolfgang von Goethe
Faust I.
Wie ein Lauffeuer machte das Gerücht die Runde in dem Dorf! „Der alte Feldmann ist tot.“ Wo man auch hinkam, sofort wurde einem die Neuigkeit ungefragt mitgeteilt. Es war bereits zum dritten Mal das große Gesprächsthema auf dem Wochenmarkt. Doch dieses mal kamen leichte Zweifel auf. Denn bereits zweimal entpuppte sich die Nachricht als eine Ente.
Im Bürgermeisteramt läutete das Telefon ununterbrochen. Bürgermeister Wilms, eigentlich ein sehr ruhiger und besonnener Mann, war im Stress. Eigentlich war es ja nicht seine Aufgabe persönlich an das Telefon zu gehen, doch seine Sekretärin war in Mutterschutz und er ganz allein. Diese Schwangerschaft kam ihm gerade jetzt mehr als ungelegen. Wobei er nicht ganz unschuldig war an der Situation, denn er war der angehende Vater. Doch dies war ein gut gehütetes Geheimnis, von dem niemand etwas wusste. Besonders seine Frau ahnte davon nichts, sonst hätte sie längst ihre Konsequenz daraus gezogen. Denn bei Fremdgehen verstand sie keinen Spaß. Herr Wilms wusste nur zu gut, wie seine Frau reagieren würde. Frau Wilms war eine sehr resolute Frau, die ein sehr harmonisches Familienleben schätzte und für die Treue nicht nur eine hohle Phrase war. Einen Seitensprung duldete und praktizierte sie nur, wenn ihr auf dem Bürgersteig ein Fahrradfahrer entgegenkam.
„Nur wer im Bett nicht, das bekommt, was er möchte, der geht fremd!“, war ihre Devise, weshalb sie auch stets penibel darauf achtete, wöchentlich die Laken zu wechseln. Herr Wilms wollte etwas anderes und seine Sekretärin war willens, es ihm zu geben. Und Herr Wilms nahm die Offerte mit großem Dank und schlechtem Gewissen an. Sie konnte Dinge, von denen Bürgermeister Wilms nicht einmal wusste, dass es sie überhaupt gab. So etwas war mit seiner Frau kaum durchzuführen. Für sie war es mehr eine Pflicht und auch nur samstags nach dem Baden.
Deshalb zog er es vor, ihr nichts von dem harmlosen Seitensprung zu sagen. Denn er kannte seine Frau nur zu gut und wusste genau, sie würde wieder ein Drama daraus machen. Und vor allem, sie würde es nicht für sich behalten und bald wüsste die ganze Stadt davon. Das käme ihm jetzt nicht sehr gelegen, denn es standen demnächst Wahlen an. Wenn er nun Kratzer an seinem Saubermannimage bekommen würde, könnte es ihn das Amt kosten. Eine Stadt, die durch und durch katholisch ist, hat wenig Verständnis für Bürgermeister auf Abwegen.
Seine schwangere Sekretärin machte ihm das Leben auch nicht gerade erträglicher. Sie nutzte seine missliche Lage schamlos aus und zwang ihn regelrecht, ihr jetzt augenblicklich Mutterschaftsurlaub zuzugestehen. Dabei war sie gerade einmal im dritten Monat. Und so kam es, dass er alleine im Amt saß und jeden Anrufer persönlich entgegennehmen musste.
„Nein, er lebt noch!“, brüllte er ins Telefon.
Der Pfarrer, der am anderen Ende der Leitung war, stieß einen unchristlichen Fluch aus, den er einmal auf einem Schulhof aufgeschnappt hatte und fuhr den Bürgermeister in gleicher Lautstärke an.
„Man wird doch wohl nochmal nachfragen dürfen! Ich erkundige mich schließlich im Auftrag des Herrn.“
„Der soll selbst anrufen, wenn er was von mir will!“, schoss Bürgermeister Wilms unwirsch zurück und legte einfach auf.
Kaum das er aufgelegt hatte, klingelte es erneut. Er warf einen nicht zu verachtenden bösen Blick auf das Telefon, der, wäre das Telefon ein labiler Mensch, vermutlich tot umgefallen wäre. Doch das Telefon, gefühlskalt wie es nun einmal war, ignorierte den Todesblick einfach und klingelte stoisch weiter. Bürgermeister Wilms, fest entschlossen, seine Autorität sich nicht untergraben zu lassen, sprang aus seinem Bürgermeisterstuhl auf, ging zur Telefonbuchse und riss kräftig an dem Telefonanschlusskabel. Dann war es still und zufrieden stand Herr Wilms mit der kompletten Anschlussbuchse in der Hand da. Erleichtert atmete er tief durch und war mit sich und seiner Entscheidung voll und ganz zufrieden.
„Endlich Ruhe!“, seufzte er und ließ sich in seinem Sessel nieder, als sein Handy sich lautstark bemerkbar machte.
Hätte das Handy auch nur annähernd geahnt, welche unangenehmen Folgen das für es haben würde, wäre es wohl in ein Schweigekloster eingetreten. Ohne lange zu überlegen, nahm Herr Wilms das Handy zur Hand, fest entschlossen, es aus dem offenen Fenster zu werfen. Ohne jedoch den Plan, auf seine Durchführbarkeit abzuklopfen, warf er das Handy einfach hinaus. Dass diese Entscheidung nicht sonderlich gut war, machte ihm das laute Scheppern der Fensterscheibe deutlich. Wider erwartend war das Fenster noch geschlossen. Dies war es zwar jetzt immer noch, doch nun mit einer praktischen und dauerhaften Frischluftöffnung.
Wilms blickte, durch die neu geschaffene Öffnung, hinunter auf die Straße. Unten lagen die Trümmer seines Diensthandys. Wenigstens hatte es aufgehört zu klingeln, was man ihm angesichts des Sturzes aus dem vierten Stock auch nicht verdenken konnte.
Die daraus resultierende Stille, die das Büro nun erfüllte, nutzte Bürgermeister Wilms, um eine Schadensmeldung für die Versicherung sich auszudenken, die aber so Garnichts mit dem tatsächlichen Hergang zu tun hatte.
Und all dies nur, weil Feldmann noch lebte.
*
Hochwürden Piotrowski, der polnische Pfarrer des Dorfes, starrte empört in die Luft. Er atmete tief durch die Nase ein, um sich so wieder zu beruhigen.
Trotz mehrmaliger Wiederholung dieses Prozederes trat die gewünschte Beruhigung nicht ein. Zu sehr war der Herr Pfarrer über den Herrn Bürgermeister empört. Wie gerne wäre er jetzt zur hiesigen Presse geeilt und dem Lokalredakteur von der anstehenden Ankunft des unehelichen Kindes des Bürgermeisters zu berichten. Denn die Sekretärin hatte ihn ins Vertrauen gezogen, jedoch leider in Form einer traditionellen Beichte.
Dies zwingt ihn jedoch zur absoluten Diskretion, denn das Beichtgeheimnis ist für jeden katholischen Priester heilig. Im Laufe der Jahre hat sich in Piotrowski`s Kopf so viel Wissen angesammelt, was er nur leider nicht in bare Münze umwandeln darf, weil Rom keinerlei Anstalten macht, das Beichtgeheimnis abzuschaffen oder wenigstens zu lockern.
In Momenten der Schwäche, die auch einmal einen Pfarrer ereilen kann, träumte er von einem erpressten Leben auf den Fidschi-Inseln.
Aber es sind nur ganz seltene Momente, bis ihn wieder die Wirklichkeit einholt, die ihn an seine Stellenbeschreibung erinnert. Doch die ihm angeborene Neugierde trieb seinen Wissensdurst voran. Weshalb er auch zum Hörer griff und Dr. Lichtenberg anrief, der sämtliche Krankheitsfälle, Schwangerschaften und über jedes bevorstehende Ableben, einer seiner Schützlinge, bestens informiert war.
Und dank seiner gerüchteaffinen Sprechstundenhilfe, die immer ein offenes Ohr für jedermann hat, ist er allumfassend informiert. Wer, wenn nicht Dr. Lichtenberg, könnte dem Pfarrer seinen Wissensdurst stillen.
Gerade als das Telefon läutete, hatte Dr. Lichtenberg alle Hände voll zu tun. Herr Immelmann, der einen exklusiven Feinkostladen betrieb, lag mit heruntergelassener Hose vor ihm und ließ die jährliche Prostatauntersuchung über sich ergehen.
Begleitet von einem „Plopp“, zog Dr. Lichtenberg seinen Finger aus Herrn Immelmann, der dabei leicht aufstöhnte, ging zu seinem Schreibtisch und zog seinen Gummihandschuh aus.
„Ich wollte doch nicht gestört werden, Schnuckelchen!“, rief er etwas unwirsch in den Hörer.
„Der Herr Pfarrer möchte sie unbedingt sprechen. Es geht um Tod und Leben, meinte er.“, verteidigte sich Frau Schnuckelchen, die tatsächlich so hieß.
Na gut, wenn es so dringend ist, dann stellen sie durch Schnuckelchen.“
Es dauerte einen kleinen Moment, dann hörte er das katholische Räuspern von Pfarrer Piotrowski. Es war eine Unart von dem Pfarrer, vor jedem Satz erst einmal sich zu räuspern, was seine Predigten regelmäßig etwas in die Länge zog.
„Herr Doktor, stimmt es, Feldmann ist tot?“, begann er sofort ohne Umschweife, beziehungsweise verzichtete er darauf, auf die ortsüblichen Anstandsregeln Rücksicht zu nehmen.
„Ihnen auch einen guten Tag, Herr Pfarrer!“, versuchte Dr. Lichtenberg es mit subtiler Kritik.
Doch dem Pfarrer war jetzt nicht nach Konversation, sondern er wollte Fakten.
„Ist er nun tot oder was?“, erneuerte er seine Frage.
„Das kann, darf und werde ich ihnen nicht sagen. Ich bin an meine ärztliche Schweigepflicht gebunden.“
Doch so leicht ließ sich der Pfarrer nicht abspeisen.
„Dann beichten sie es mir, das fällt dann unter meine Schweigepflicht. Sie sehen, wir sind ja beide gleichermaßen Geheimnisträger.“
Der Arzt dachte kurz nach. Sein Blick wanderte über den entblößten Hintern von Herrn Immelmann hinweg zum Fenster, wo man einen herrlichen Ausblick hatte. In der Ferne konnte er die alte Villa von Feldmann, schemenhaft im aufsteigenden Morgennebel, erkennen.
„Hoffentlich ist es kein Gerücht!“, dachte er.
Solche finsteren Gedanken, die einem Arzt eigentlich nicht gut zu Gesicht stehen, kamen ihm nicht zum ersten mal. Und dafür hatte er auch gute Gründe.
„Herr Pfarrer, ich muss jetzt auflegen. Ich stecke mitten in der Arbeit.“
Ohne ein weiteres Wort legte er auf. Dann wandte er sich wieder Herrn Immelmann zu, der immer noch blank da lag und es kaum abwarten konnte. Er zog sich einen neuen Gummihandschuh über, streckte den Zeigefinger aus und ging enthusiastisch auf sein Ziel zu.
„Na dann wollen wir mal ...!“
Durch die Tür des Behandlungszimmers drang ein leises Stöhnen, was ein unbehagliches Gefühl in der Magengrube, bei einigen männlichen Patienten hervorrief.
*
Des Pfarrers letzte Hoffnung war Frau Schaumüller, die, weit über die Grenzen der Stadt, als zuverlässige Informationsquelle gleichermaßen bekannt und auch berüchtigt war.
„Was Frau Schaumüller nicht weiß, ist auch nicht existent!“, so die einhellige Meinung in der Bevölkerung. Sie war eine hochgeschätzte Institution, jedenfalls so lange, wie es nicht um einen selbst ging.
Und sie musste dafür nicht einmal selbst etwas tun, denn die News kamen zu ihr. Sie hatte einen mobilen Friseurdienst und kam so in jeden Haushalt hinein.
Ihre Zunge, die Schärfer als jede ihrer Scheren war, entlockte jedem Kunden die aktuellen Neuigkeiten. Alleine aus Angst, mit einer unmöglichen Frisur gestraft zu werden, gab jeder notgedrungen Auskunft. Denn man erinnerte sich noch gut an einen Vorfall im letzten Jahr, als ein neu zugezogener alleinstehender älterer Herr, sich zum Spitzen schneiden, bei ihr meldete. Er war nicht nur einsilbig, sondern auch sehr verschwiegen, was seine Lebensgeschichte anging.
Frau Schaumüller wandte alle erdenklichen Tricks bei ihm an, doch zum ersten mal in ihrem Leben erfolglos. Doch der alte Herr musste für seine Standhaftigkeit bitter bezahlen. Gestraft mit einer Dauerwelle und rosa Strähnen, wurde er zum Gespött des ganzen Dorfes. Hohn und Spott musste er über sich ergehen lassen.
Doch nach vier Wochen, als der nächste routinemäßige Friseurtermin anstand, ging er frühmorgens in den Wald, fütterte einige Eichhörnchen mit Nüssen, warf einige Möhren den Hasen zu und verfütterte einen übriggebliebenen Rest des gestrigen Nudelauflaufs an eine Wildschweinrotte. Dann hing er sich an einer Eiche auf. Erst Tage später wurde er von Waldarbeitern entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt war von der Dauerwelle nichts mehr zu sehen, weshalb Frau Schaumüller auch darauf bestand, den alten Herrn nicht im offenen Sarg auf dem Marktplatz auszustellen, da es geschäftsschädigend für sie wäre. Dem widersprach niemand, denn jeder hatte noch die Frisur des alten Herrn in schrecklicher Erinnerung.
Pfarrer Piotrowski griff schweren Herzens zum Telefon und wählte die Nummer, die ihm Aufklärung versprach. Kaum als das erste Klingelzeichen zu hören war, wurde auch schon auf der anderen Seite das Gespräch angenommen.
„Schaumüller! Was gibt es Neues?“, meldete sich Frau Schaumüller, völlig außer Atem.
Ihre Angst, jemand könnte zu schnell auflegen, ohne Informationen zu hinterlassen, trieb sie an. Selbst wenn sie in ihrem Garten, auf einer Leiter stehend, hoch im Geäst Kirschen pflückte, war sie spätestens beim zweiten Klingeln am Telefon.
„Piotrowski hier! Ist Feldmann tot?“
Und dann geschah etwas, was im Leben von Frau Schaumüller, sich als eine absolute Einmaligkeit erwies. Sie schwieg!
Zwar nur für einen Augenblick, aber immerhin. Pfarrer Piotrowski war schon ernsthaft beunruhigt. Sollte sie der Schlag getroffen haben? Unruhe ergriff ihn. Doch dann hörte er ein erlösendes Röcheln.
„Wenigstens ein Lebenszeichen!“, dachte er.
Aus dem Röcheln entwickelte sich langsam ein Satz, in dem die ganze Fassungslosigkeit von Frau Schaumüller zum Ausdruck kam.
„Davon weiß ich nichts!“, schrie sie fast hysterisch. Dieser, eigentlich so simple Satz, der so unbedeutend daher kam, war, wenn man Frau Schaumüller kannte, so etwas wie ein Offenbarungseid. Frau Schaumüller wusste von etwas nichts! Eine Unmöglichkeit. Undenkbar. Damit war die Weltordnung aus den Fugen. Pfarrer Piotrowski wusste sich keinen Rat und hätte am liebsten das Rad der Geschichte zurückgedreht. Aber es war zu spät. Am anderen Ende der Leitung war eine gebrochene Frau. Hilflos und alleine, im Moment größter Not. Ausgerechnet er, der doch Liebe unter die Menschen bringen will, war durch eine unbedachte kleine Äußerung, zum mentalen Mörder an dieser stets bestens informierten „Tageszeitung auf zwei Beinen“ geworden. Doch so abrupt Frau Schaumüller ins Tal der Tränen verfiel, so schnell rappelte sie sich auch wieder auf.
„Das krieg ich schon raus, Herr Pfarrer! Rufen sie mich in fünf Minuten wieder an.“, rief sie ihm resolut zu.
Da war sie wieder, voll auf der Höhe der Zeit und hatte ihren unbändigen Lebenswillen wieder. Beruhigt legte Piotrowski auf, denn er wusste, Frau Schaumüller würde alles unternehmen, um diese Schmach wieder gutzumachen. In spätestens fünf Minuten würde er Gewissheit haben oder Frau Schaumüller wäre nicht mehr Frau Schaumüller. Himmel und Hölle würde sie in Bewegung setzen und nicht eher Ruhe geben, bis der ungeheuerliche Sachverhalt eindeutig geklärt wäre. Schließlich konnte es ja nicht sein, dass hier jemand stirbt ohne sie davon in Kenntnis zu setzen. Früher wäre sie nun von Haus zu Haus gelaufen und hätte alle Leute gefragt.
Zum Teil sogar mit erpresserischen Methoden.
Sie hatte die Macht und das nötige Wissen dazu. Kein noch so kleines Geheimnis blieb vor ihr verborgen. Sie war das berühmte Damoklesschwert, das über jedem Einzelnen schwebte. Niemand verfügte über eine so ausgefeite Verhörtechnik wie sie. Selbst der israelische Geheimdienst Mossad weiß ihre Methoden für sich zu nutzen. Der von ihr herausgebrachte Ratgeber: „Ich weiß, was ich weiß! – Leitfaden für die informierte HausFrau“, gilt in den Agentenkreisen längst als das Standardwerk schlechthin.
Piotrowski sah auf das Kreuz an seinem Handgelenk. Die integrierte Uhr, ein Geschenk seines Bischofs, zeigte an, dass bereits sieben Minuten vergangen waren. Doch noch schwieg das Telefon. Unruhig rutschte er in seinem Sessel. Sollte Frau Schaumüller, trotz ihrer langjährigen Erfahrung versagen? Oder war eine Verschwörung gegen sie im Gange. Ausgerechnet heute war erst Mittwoch. Wäre Sonntag, dann hätte er von der Kanzel eine Predigt gehalten, die sich gewaschen hätte. Er malte sich schon die Worte aus, die seine Gemeinde aufrütteln würde.
„Was seit ihr denn nur für eine Gemeinde, die sich nicht um die Anderen kümmert. Auch Feldmann, der zwar nie einen Fuß in unser Gotteshaus gesetzt hat, der sich nicht an der Spendenaktion für die neue Orgel beteiligt hat und der sich stets weigerte, einen Kuchen für den Weihnachtsbasar zu backen, so ist oder war er doch auch ein Geschöpf Gottes und wir verteufeln ihn trotzdem ...“
Gerade, als er sich langsam in Fahrt geredet hatte, kam das erlösende Klingelsignal.
„Puh!“, dachte er, „Wer weiß wo diese Predigt hingeführt hätte!“
Er wischte sich die Stirn ab, unter Zuhilfenahme seines Ärmels, der zu seinem Diensttalar gehörte.
„Was haben sie herausgebracht, Frau Schaumüller?“
Zeit für Höflichkeitsfloskeln waren jetzt nicht angebracht, dazu war die zu klärende Angelegenheit zu wichtig. Unwirsch wiederholte er seine Frage, da am anderen Ende nur Stille herrschte.
Doch plötzlich sprach es aus der Leitung, mit zittriger Stimme.
„Es ist entsetzlich, Herr Pfarrer!“
„Oh mein Gott!“, entfuhr es ihm, „Er ist tot!“
„Nein, Herr Pfarrer.“
„Gott sei Dank, er lebt.“
„Nein, Herr Pfarrer.“
Piotrowski war verwirrt. War er nun tot oder am Leben? Er entschloss sich, noch einmal nachzufragen, in der Hoffnung, Frau Schaumüller könnte sich für eine Möglichkeit entscheiden.
„Also was jetzt, lebt er oder ist er tot?“
Was folgte, war ein langes nervenzerfetzendes Schweigen, seitens Frau Schaumüller.
Und als wäre alles nicht auch so schon schlimm genug, hörte er nun ein zu herzengehendes Schluchzen, was ihn auf die Palme brachte. Schon im Priesterseminar wurde ihm oft seine aufbrausende Art, im Sinne christlicher Nächstenliebe, vorgehalten.
„Jetzt sagen sie schon ....!“
Seine Ungeduld schwang mehr als überdeutlich in seiner Stimme mit, die zu einem Orkan anzuschwellen drohte, wenn er nicht sofort die Antwort bekam, auf die er hoffte.
Doch inzwischen war Frau Schaumüller so eingeschüchtert, dass sie überhaupt nichts Verständliches mehr herausbrachte.
Dafür erhöhte sich aber die Intensität ihres Schluchzens, in der Hoffnung, damit das gütige Herz des Pfarrers zu erreichen, um es anschließend zu erweichen.
Eine Fehlannahme, wie sich noch erweisen sollte. Und das dauerte nicht lange. Nämlich genau bis jetzt!
„Reden sie endlich Frau Schaumüller. Ihr Schweigen verlängert nur meine Seelenqual.“
Doch so einfach ließ sich Frau Schaumüller weder zu einer Antwort hinreißen, noch bekam sie die geöffneten Schleusen ihres Tränenflusses in den Griff. Für Pfarrer Piotrowski erwies sich dieses doch sehr einseitige Telefonat als eine große nervliche Herausforderung. Es war dringend geboten eine Änderung seiner Taktik vorzunehmen.
Er ging in sich und kramte in seinem theologischen Fundus, ob sich nicht eine fruchtbarere Gesprächsführung finden ließe. Zum Vorschein kam eine leicht schleimige und im Ton verhaltenere Ausdrucksweise, die ihm den erhofften Erfolg bringen sollte. So jedenfalls sein fester Glaube. Und der versetzt bekanntlich ja Berge. Und auf diesem Berg wollte er jetzt seine neue Strategie aufbauen. Deshalb klangen seine Worte auch gleich versöhnlicher.
„Wie geht es denn so Zuhause?“
Er lauschte, wie seine neue Taktik wohl ankam. Ob sie wohl verfangen würde? Doch noch kam von der anderen Seite nichts. Nur das unleidliche Schluchzen war zu vernehmen. Sie wollte ihn wohl zappeln lassen, wie er schmerzlich das Nichtantworten deutete. Piotrowski sah sich gezwungen, noch eine Schippe drauf zu legen. Eine Charmeoffensive sollte ihn nun zum Sieg verhelfen. Es war seine letzte Hoffnung, denn mehr hatte er nicht in seinem Repertoire.
„Die Geranien auf ihrem Balkon sehen ja dieses Jahr besonders zauberhaft aus. Wie machen sie das nur, dass sie so herrlich blühen. Im ganzen Dorf hat niemand eine solche Blütenpracht. Sie sind wahrlich mit einem göttlichen grünen Daumen gesegnet. Feldmann lässt seinen Park ja verkommen. Da müsste ein Blütenengel wie sie einmal Hand anlegen. Apropos, was macht denn der liebe Herr Feldmann so?“
Zu mehr Lobhudelei war er nicht fähig, ohne Gefahr zu laufen, sich zu übergeben. Gespannt lauschte er, wie seine Ansprache nun bei seinem Gegenüber ankam. Zunächst vernahm er nur ein starkes Atmen, was ihn vermuten ließ, Frau Schaumüller würde sich wieder sammeln und dann, sobald sie wieder gefestigt war, ihm die dringliche Information aus Dank übermitteln. Es war seine letzte Chance, aus dem alten zänkischen Weib etwas herauszuholen. Er empfand es schon als persönliche Erniedrigung, überhaupt auf diese Frau angewiesen, zu sein. Aber wenn man eben etwas in Erfahrung bringen wollte, kam man nicht an Frau Schaumüller vorbei. Für das Dorf war sie so etwas wie „Google auf zwei Beinen“.
„Es tut mir so leid!“, durchbrach es plötzlich die unheilvolle Stille. Frau Schaumüller hatte gesprochen.
Der Pfarrer schlug drei Kreuze der Erleichterung. Zwar konnte er mit dieser Information noch nicht viel anfangen, aber wenn Frau Schaumüller schon einmal etwas leidtut, dann war sie auf einem guten Weg. Reue ist ja immer gut. Besonders in seinem Geschäft.
„Na was tut ihnen denn leid, liebe Frau Schaumüller?“
Seine Stimme war sofort in den Beichtmodus umgeschlagen. Eine alte Pfarrerkrankheit, gegen die noch keine Medizin hilft.
„Niemand weiß, was mit dem alten Feldmann los ist!“
Ein Satz, so einfach dahergesagt, der aber doch so viel Sprengsatz beinhaltete, sowohl für Interpretation als auch für Mutmaßungen. Und er rüttelte eine ganze Gemeinde wach. Denn nun war ein ganzes Dorf informiert und gleichermaßen alarmiert. Pfarrer Piotrowski kannte seine Schäfchen und er wusste nur zu genau, jetzt bleibt kein Stein auf dem anderen, bis die Frage geklärt ist. Und er sollte Recht behalten.
Wortlos hing er ein und ließ somit Frau Schaumüller, ohne Absolution, mit ihrer Schmach alleine zurück. Und ohne Absolution war ihr der Weg ins Himmelreich versperrt, wobei niemand ernsthaft annahm, dass man ihr dort Zugang gewähren würde.
Er selbst zog es vor, sich in ein stilles Gebet zurückzuziehen, um daraus neue Kraft zu schöpfen, die er in den Nachfolgenden Stunden dringend nötig haben würde. Doch davon ahnte er nichts, sonst hätte er spätestens jetzt seinen Talar an den Nagel gehängt und sich eine weltliche Stellung gesucht, die sein Nervenkostüm weniger belastet.
Es war die Ruhe vor dem Sturm. Ein Dorf im Ausnahmezustand. Auf dem kleinen Marktplatz versammelten sich die Menschen. Aufgeschreckt von der Nachricht, dass Feldmann entweder tot ist oder eben noch am Leben. Diese Ungewissheit trieb die Menschen auf die Straße. Die beiden einzigen Geschäfte, die es noch gab, waren geschlossen. Die Inhaber, von Neugier getrieben, standen inmitten der Menschentraube. Die Stimmung war angespannt und als Pfarrer Piotrowski den Marktplatz betrat, kochte bereits die Gerüchteküche.
Die Volksseele empörte sich. Selbst diejenigen, die gerade nichtsahnend auf dem Marktplatz erschienen, waren sofort auch von der kollektiven Empörung ergriffen, noch bevor sie überhaupt wussten, um was es ging. Hauptsache mal ordentlich empört. Das bringt den Kreislauf wieder in Schwung. Und das Gemeinschaftsgefühl war ihnen weitaus wichtiger, als zu wissen, was die Empörung überhaupt ausgelöst hatte. Von allen Seiten wurden ihnen zwar Informationen zugeflüstert, doch widersprachen sie sich gegenseitig. Überhaupt wurde man das Gefühl nicht los, keiner der hier auf dem Marktplatz versammelten, wusste warum er sich empörte. Dies mag alles an der menschlichen DNA liegen, dass das Empörungs-Gen so gerne bemüßigt wird.
Und hier, auf diesem ansonsten friedlichen und friedfertigen Marktplatz, schien die Keimzelle der Empörung ihren Ursprung zu haben. Pfarrer Piotrowski stand hilflos da und sah, was er angerichtet hatte.
Frau Schaumüller rannte, mit einem Steno-Block bewaffnet, durch die Reihen und notierte alles akribisch, was sie so aufschnappen konnte.
Zwei Schwangerschaften, ein aufgedecktes Verhältnis und die Insolvenz des Bestatters, konnte sie in Erfahrung bringen!
Doch zu Feldmann kein Wort.
Doktor Lichtenberg kümmerte sich professionell um die ersten Kollabierten, während Bürgermeister Wilms sich auf den Dorfbrunnen gestellt hatte, um die Übersicht nicht zu verlieren. Doch nicht dem Aufruhr seiner Gemeinde galt sein Interesse, er beobachtete vielmehr seine Frau, die in unmittelbarer Nähe der Frau stand, die sein Kind unter dem Herzen trug. Keinesfalls durften sie aufeinandertreffen oder was noch viel schlimmer gewesen wäre, in die Fänge von Frau Schaumüller gelangen. Dies galt es unter allen Umständen zu verhindern. Doch das Unglück nahm seinen verhängnisvollen Lauf, in dem die drei Frauen, aus drei unterschiedlichen Richtungen, zielstrebig aufeinander zusteuerten. Bürgermeister Wilms wurde es heiß und kalt zugleich. Seine gesunde Gesichtsfarbe hatte augenscheinlich seinen Besitzer gewechselt und er sah aus wie jemand, der sich eine gurkenfreie Quarkmaske aufgetragen hatte. Seine Beine zitterten und er hielt sich krampfhaft am Dorfbrunnen fest, dem es jedoch egal zu sein schien. So ein Dorfbrunnen ist zwar anerkannt als Attraktion, der zur Verschönerung des Marktplatzes seine Verdienste sich erworben hat, doch ist seine Meinung nicht gefragt. Er steht halt da und wirkt romantisch. Ein schönes Postkartenmotiv und sonst nichts. Das er unter dieser Situation litt, kann man zwar vermuten, aber er ließ sich nichts anmerken. Damit teilt er das Schicksal mit tausenden von Brunnen weltweit, deren Lebensleistungen kaum gewürdigt werden, mit Ausnahme vielleicht des Trevi-Brunnens in Rom. Der lebt hervorragend von den Touristen, die ihm Geld zuwerfen. Davon kann er gut leben. Man sagt, es brächte Glück, wenn man Münzen in den Brunnen wirft. Von dieser Legende lebt die Stadt sehr gut, die des Nachts die Münzen einsammelt, per Münzstaubsauger. Trotzdem haben sie es immer noch nicht geschafft, das Kolosseum endlich einmal fertigzubauen. Dieser Rohbau ist nach wie vor ein Schandfleck. Längst könnten dort Sozialwohnungen entstanden sein. Italien halt!
Doch Bürgermeister Wilms hatte jetzt beileibe andere Sorgen, als sich um einen unverstanden Dorfbrunnen zu kümmern. Seine Frau, seine hochschwangere Freundin, sowie seine bevorstehende Wiederwahl, standen zur Disposition. Gerade jetzt, da sich sein Leben so wunderbar zusammengefügt hatte, drohte all das, was er sich so mühsam aufgebaut hat, in sich zusammenzufallen.
„Wenn jetzt nicht augenblicklich ein Wunder geschieht, liegt mein Leben in Scherben.“, rief er dem azurblauen Himmel entgegen und auf Lösung hoffend.
Hilfesuchend scannten seine Augen den Himmel ab, doch weit und breit war keine erlösende Antwort zu entdecken. Die Wolken zogen völlig unbeeindruckt ihrer Wege. Nur eine kleine Nachzüglerwolke, die immer ihren Tagträumen nachhing, erbarmte sich und gönnte Wilms etwas von ihrem Regenwasser, was eigentlich für die holländische Tomatenfelder gedacht war. Doch nun erhielt eben Bürgermeister Wilms etwas davon ab. Es reichte gerade, um seinen Anzug völlig nass zu machen. Es war eben auch nur eine kleine Wolke, die sich zudem noch im ersten Lehrjahr befand. Bürgermeister Wilms warf einen bösen Blick der Wolke nach, die sich jedoch keiner Schuld bewusst war. Dennoch erachtete sie, es sei besser Land zu gewinnen und den Anschluss an die Wolkenformation nicht zu verlieren. Sie war schon einmal in der Milchstraße falsch abgebogen. Die Atmosphäre beim Abendessen war entsprechend schlecht.
Bürgermeister Wilms, der für soziale Gerechtigkeit einstand, empfand es als absolut ungerecht, dass ausgerechnet er als einziger Nass gemacht wurde, während alle anderen ausgespart wurden. Sein schwarzer Dienstanzug hing wie ein nasser Sack an ihm. Die letzten Haare, die ihm noch verblieben waren, hingen ebenso triefend herab. Ein Bild des Jammerns gab er ab, ausgerechnet er, der doch eigentlich ein Vorbild für das Dorf vorstellen sollte. Er stand nun auf dem Brunnen wie ein begossener Pudel. Doch was ihn am meisten ärgerte, war, dass niemand ihn beachtete. Für jeden Bürgermeister die Höchststrafe! Unbemerkt inmitten seiner Untertanen.
Ein lautes, weithin markerschütterndes Weinen war es, was ihn aus seinen Gedanken riss. Er rechnete mit dem Schlimmsten, der Offenbarung seines ach so gut gehüteten Geheimnisses. Seine innere Unruhe wechselte in eine ausgemachte Panik. Doch in der Menschenansammlung, die inzwischen den ganzen Marktplatz ausgefüllt hatte, konnte er die Lärmquelle nicht ausmachen. Und so entschied er sich zu einem außergewöhnlichen Schritt. Mit der Autorität seines Amtes erhob er seine Stimme.
„Hört mich an, Bürger meines Dorfes!“
Das Stimmengewirr versiegte, was Bürgermeister Wilms, nicht ohne Stolz, freudig wahrnahm. Alle Blicke richteten sich nun auf den Dorfbrunnen, wo ihr geliebter Bürgermeister stand, als wäre er gerade den Fluten des Roten Meeres entstiegen, weil Moses, bei dem Trick mit der Teilung des Meeres, versagt hatte.
„Beachtet nicht die Feuchtigkeit die mich umgibt, die eine Laune der Natur mir zugefügt hat. Wie mir soeben zu Ohren kam, weint unter uns, ein geliebter Wähler des Bürgermeisters, bitterlich. Niemand sollte Tränen vergießen und deshalb müssen wir diese arme Kreatur finden und ihm all unsere Liebe und Verständnis schenken.“
In den Worten des Bürgermeisters schwang etwas Pathos mit, ein Stilmittel, was er gerne anwandte, da er glaubte, so seine Wähler mitten ins Herz zu treffen. In Wirklichkeit traf er, wie ein sadistischer Zahnarzt, den Nerv einer entzündeten Zahnwurzel. Doch niemand hatte je den Mut gefunden, ihm das direkt ins Antlitz zu sagen. Schließlich waren alle froh, dass er das Amt des Bürgermeisters übernommen hatte, was nichts als Ärger einbrachte, zumal es auch noch ein Ehrenamt war, was sich besonders in der Besoldung niederschlug.
Durch die glückliche Fügung das die Dorfgemeinschaft nun kollektiv schwieg, konnte die weinende Lärmquelle leichter ausgemacht werden. Mit einer großen Geste deutete Bürgermeister Wilms die Menschentraube an, sich aufzulösen. Die Menge tat wie ihnen geheißen und strebte auseinander. Und mitten auf dem Marktplatz erkannte man nun einen kleinen Jungen, der als Lärmquelle ausgemacht wurde und nach wie vor bitterlich weinte. Er blickte starr auf seine Hände, die aufeinanderlagen und in denen er etwas zu verstecken schien.
Die Mutterherzen wurden weich, als sie den kleinen Jungen erblickten. Gestanden Männern trieb es auch die Tränen in die Augen. Empörung und Mitleid machte sich allüberall breit.
„Warum weint das arme Kind? – Skandal! – Kindesmissbrauch! – wo sind die Rabeneltern? – Polizei!!!! – wo ist der Staat? – Wie grausam können Menschen sein!?“
Die Stimmen wurden lauter und Bürgermeister Wilms versuchte alles unter Kontrolle zu bringen. Er stieg hinab vom Brunnen und ging langsam auf den Kleinen zu. Der murmelte etwas mit tränenerstickter Stimme, doch war es so leise, dass niemand verstand, was er nun hatte. Wilms stand nun vor ihm und sah hinab zu dem Jungen, der nun auch noch zusätzlich Angst bekam.
„Sie machen ihm doch Angst, Herr Bürgermeister! Knien sie sich vor ihn!“, rief eine besorgte Frau.
Diese Aufforderung missfiel Wilms zwar, doch aus Angst vor Ausschreitungen tat er ihr den Gefallen und beugte sich hinab zu dem Knaben und putzte ihm erst einmal die Nase.
„Das bringt Wählerstimmen!“, dachte er sich.
Und das einfache Wahlvolk zeigte sich begeistert.
„Er putzt ihm die Nase, der Herr Bürgermeister.“, schluchzte eine Oma vor Rührung.
Auch andere Stimmen zeigten sich schwer beeindruckt von so viel Menschlichkeit und Fingerspitzengefühl. Alle waren der festen Ansicht, hier arbeitet endlich einmal ein Politiker für sein Volk. Keiner der nur Sonntagsreden hält, sondern der die Probleme anpackt.
„Der macht sich für uns die Finger schmutzig! Hurra, Hurra, Hurra!“, rief der Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr, nahm Haltung an und salutierte zackig.
Und das Wahlvolk stimmte mit ein. Der Bürgermeister, ein gewiefter Parteistratege, erkannte das Momentum, schob den kleinen Rotzbengel zur Seite und winkte der Menge freudenstrahlend zu. Jetzt, da war er sich sicher, brauchte es nur eine kleine Ansprache an sein Volk und ein fulminanter, wenn nicht sogar erdrutschartiger Sieg, wäre ihm gewiss. Mit beiden Händen gelang es ihm, beruhigend auf die Menschen einzuwirken und sich Ruhe zu erbeten. Und aus einem vormals lauten Marktplatz entstand eine andächtige Pilgerstätte. Es wurde es mucksmäuschenstill. Bürgermeister Wilms war selbst gerührt von dem, was sich hier abzeichnete. Innerlich feierte er bereits seinen fulminanten Sieg, den er einfahren würde. Wenn das Volk ihn nun auf den Schultern durch die Dorfstraßen tragen würde wollen, wer wäre er, das nicht zuzulassen. Schließlich ist das Volk der Souverän und er nur sein treuer Diener. Er überlegte kurz, ob nicht jetzt gerade eine günstige Gelegenheit wäre, seine Diäten hochzusetzen. Dann fiel ihm ein, dass es ein Ehrenamt ist, was seine Euphorie über den bevorstehenden Geldsegen dämpfte.
„Pssst!“, rief jemand in die Stille des Augenblicks hinein, „Der Herr Bürgermeister will zu uns sprechen.“
Damit handelte er sich böse Blicke ein, denn alle warteten bereits gespannt auf das, was ihr geliebter Bürgermeister zu verkünden hatte. Der Pressevertreter des kostenlosen, an alle Haushalte gelieferten Anzeigen- und Werbeorgans, trat demütig näher an den Bürgermeister heran, um auch nicht ein einziges Wort zu versäumen. Er ahnte, hier und jetzt, würde Dorfgeschichte geschrieben. Alleine und vollkommen unbeachtet, stand hinter dem Bürgermeister der kleine Junge, der zwar nun wieder frei durch die Nase atmen konnte, aber immer noch leise vor sich hin schluchzte. Selbst die Vögel, die im Geäst der alten Dorfeiche ihre Nester hatten, wiesen scheinbar ihr Küken an, den Schnabel zu halten. Die Ruhe war geradezu gespenstisch, die wie der Morgentau eines Herbstnebeltags über dem Dorf lag. Eine vollkommene Ergriffenheit ergriff einen jeden, der an diesem Tag dabei war. Und mit tränenunterdrückter Stimme begann Bürgermeister Wilms, jedes Wort genau abzuwägen, mit der Rede, die ihn unsterblich machen sollte, jedenfalls wenn es nach ihm ging. Und so nahm Bürgermeister einmal mehr tief Luft, um dem folgenden sprachlichen Feuerwerk die nötige Kraft zu verleihen, damit seine Stimme über den gesamten Marktplatz zu vernehmen sei.
„Bürger, Dorflinge, Freunde!“
Begeisterter frenetischer Jubel, schon nach den ersten drei Worten, die so noch nie zu hören gewesen waren. Das nun noch zu steigern, eine wahre Herkulesaufgabe für den Bürgermeister.
„Das ihr heute alle hierhergekommen seid, nur um mich zu sehen und hören, macht mich stolz, glücklich und unendlich dankbar. Und ich werde euch nicht enttäuschen.“
Aus dramaturgischen Erwägungen wischte sich Wilms eine imaginäre Träne aus dem Auge. Hunderte von Taschentüchern flogen ihm spontan zu.
„Er weint. – Er weint für uns!“, jubelte Fleischermeister Molke, vollkommen fassungslos.
Doktor Lichtenberg hatte alle Hände voll zu tun. Nervenzusammenbrüche, Ohnmachtsanfälle, sowie zwei leichtere Schwächeanfälle und eine Magenverstimmung, forderten seinen ganzen Einsatz. Er war ernsthaft in Sorge das, wenn der Herr Bürgermeister so eindrucksvoll weiterspricht, die Dorfgemeinschaft weiter dezimiert werden könnte. Dessen ungeachtet, setzte Bürgermeister Wilms, der den Wind unter seinen Flügeln verspürte, seine Rede fort.
Auf schmerzhafte Verluste konnte er nun keine Rücksichten nehmen, denn nun war der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort, das zu sagen, was zu sagen seine tiefe Überzeugung war. Und so setzte er unbeirrt fort. Er vergaß alles um ihn herum. Seine Frau, seine schwangere Freundin und an den kleinen Jungen, der hinter ihm stand. An den konnte er sich, auch nur noch sehr wage erinnern.
„Brüder und Schwestern, eure grenzenlose Liebe zu mir ist das größte Geschenk, welches ihr mir geben könnt.“
Bis auf Pfarrer Piotrowski, der befand, dass der Bürgermeister in seinem Textfundus unerlaubt stöberte, waren alle anderen begeistert. Der Bürgermeister blickte in strahlende und dankbare Gesichter. Nur des Pfarrers Angesicht hatte sich verfinstert, was der Bürgermeister aber einfach übersah.
„Ihr lieben guten Menschen! Ich spüre eure Kraft, die ihr mir aus ganzem Herzen schenkt. Wer bin ich denn, der daraus nicht die richtigen Schlüsse zieht. Eurem Wunsch gemäß werde ich auch in Zukunft euch führen, lenken und in eine rosige Zukunft führen, wo Milch und Honig fließen werden. Ich bin nur der Acker, aber ihr seid die Saat, die ohne mich nicht aufzugehen vermag. Es ist euer erklärter Wille, die keiner unwürdigen Bürgermeisterwahl mehr bedarf und so erkläre ich mich, durch eure Unterstützung, zum alten und neuen Bürgermeister auf Lebenszeit. Der Wille des Volkes hat gesprochen! Ich danke euch aus vollem Herzen, indem so viel Liebe für euch steckt. Ich schließe jeden Einzelnen in meine Gebete ein.“
Jetzt reichte es dem Pfarrer. Er wollte gerade Einspruch erheben, doch wurde er von lautstarken „Wilms – Wilms – Wilms“ Rufen übertönt.
Und so ging des Pfarrers Intervention, im Jubel des gemeinen Volkes unter. Niemals bekam er, nach einer seiner Predigten, solch eine Begeisterungswelle zugebilligt. Wer ihn nun ansah, der konnte eine Enttäuschung in seinem Gesicht erkennen. Doch niemand sah zu ihm hin. Alle waren wie elektrisiert von der grandiosen Rede des Bürgermeisters, der es meisterlich verstand, die Stimmung in seinem Sinne hochzupeitschen. Neben dem zutiefst traurigen Pfarrer gab es nur noch eine einzige Person, der den ganzen Trubel nicht verstand. Jener kleine Junge, der ja eigentlich die Ursache für diesen Tumult war. Er stand immer noch im Schatten des Bürgermeisters, der ihm so selbstlos die Nase geputzt hatte, eine Tat, die gerade jetzt einer dringenden Erneuerung bedurft hätte, denn der Rotz lief ihm schon am Kinn herunter. Er war gezwungen, mangels politischer Unterstützung, nun sich seines Ärmels zu bedienen. Damit fuhr er sich einmal durch sein kindliches Gesicht, wobei er nach wie vor darauf achtete, das das, was er in seinen Händen verbarg, weiterhin vor aller Augen geschützt war. Inzwischen war ein riesiger Run auf den kleinen Marktkiosk im Gange, von wo kistenweise Sekt, da er keinen Champagner im Sortiment hatte, herbeigeschleppt wurde. Die ohnehin ausgelassene Stimmung wurde, durch den Sekt im Überfluss, in ungeahnte Höhen getrieben. Im Taumel des Glücks hatte der Herr Bürgermeister überhaupt nicht bemerkt, dass er sowohl seine ihm angetraute EheFrau, als auch seine, die von ihm ordnungsgemäß geschwängerte Freundin, im Arm hielt. Beide bekamen abwechselnd einen Kuss auf ihre Lippen gedrückt, den sie der jeweils anderen auch krawallfrei gönnten. Die Mitglieder der örtlichen Blaskapelle, machten sich eiligst auf nach Hause um ihre Instrumente zu holen und schon nach kurzer Zeit wurde auf dem Marktplatz das Tanzbein geschwungen.
Mit Argwohn beobachtete der Pfarrer das Geschehen. Es erinnerte ihn irgendwie an die biblische Geschichte vom Tanz um das Goldene Kalb. Die Israeliten schufen sich dieses Götzenbild, während Moses sich von seinem Chef die Firmenleitlinien geben ließ. Damals tat Moses, als er vom Berge Sinai herabstieg, genau das Richtige. Er zerstörte das Götzenbild. So steht es jedenfalls geschrieben, so oder so ähnlich. Aber im Kern so!
Pfarrer Piotrowski, der nicht nur aus einer tiefverwurzelten katholischen Familie abstammte, sondern auch noch Pole war, ein Land, welches einmal den Papst stellen durfte, konnte dieses Sodom und Gomorra, was hier gerade am Entstehen war, nicht kampflos den Philistern überlassen. Ihm schauderte davor, was, wenn er nicht eingreifen würde, hieraus noch an Auswüchsen entstehen würde. Denn offenbar waren ihm seine Schäflein, die er jahrelang gut behütete, mit Ausnahme des erfolgreich fremdgegangenen Bürgermeisters, entglitten und waren nun auf dem besten Wege, der dunklen „Macht der Versuchung“ zu erliegen. Und in den späteren Geschichtsbüchern würde man ihm die Schuld dafür geben. Damit wären seine Ambitionen, eines Tages in den hohen Klerus oder noch besser, in die Kurie aufgenommen zu werden und damit auch die Berechtigung, im modischen Purpur gekleidet zu sein, für immer verbaut. Dieser grausame Gedanke konnte, sollte und dürfte nicht eintreten und so besann der Herr Pfarrer sich auf seine eigene Karriere und ersann einen Plan, der diesem Treiben ein abruptes Ende bereiten sollte. Einmal beim Konklave wahlberechtigt zu sein, ein Traum, der wohl für immer ein Traum bleiben würde. Mehrere Stoßgebete später, musste er jedoch erkennen, es mangelte ihm sowohl an ausreichender Fantasie, als auch an krimineller Energie, die ihm eine Lösung hätten bringen können. So einsam und alleine hatte er sich lange nicht mehr gefühlt und er beschloss, sich zu dem kleinen Jungen zu gesellen, der ebenso wie er, alleine umherstand.
„Na du weinst ja immer noch. Was ist denn los?“, fragte der Pfarrer den kleinen Jungen.
„Keinen interessiert es das er tot ist!“, schluchzte das Kind und gab seiner Enttäuschung zusätzlich Gewicht, indem er das, was aus seiner Nase herauslief, wieder geräuschvoll hochzog.
„Ja aber wer ist denn tot? Meinst du vielleicht Feldmann? Ist Feldmann tot?“
Der Pfarrer überschlug sich fast mit seiner Stimme. Denn wenn Feldmann wirklich tot sein sollte, so wäre das eine Neuigkeit, die das ganze Dorf sofort wissen müsste. Und er wäre es, der diese ungeheuerliche Nachricht verkünden könnte. Dann würde er wieder auf der Welle des Erfolgs schwimmen. Und als Verkündungsengel gefeiert!
„Dann ist dieser Provinzbürgermeister aber sowas von abgemeldet!“, dachte er, nicht ohne Häme.
„Ich weiß nicht wie er heißt!“, meinte der kleine Junge und sah traurig zu dem Pfarrer hinüber.
„Ich – Ich hab ihn totgemacht!“, fuhr der Junge fort.
Der Pfarrer sah ihn entsetzt an. Sollte dieser nette kleine, Nase laufende Junge, wirklich ein Mörder sein? Er konnte es einfach nicht glauben.
„Bist du dir sicher, dass er tot ist?“
Der kleine Junge nickte nur leicht mit dem Kopf.
Der Pfarrer schwankte zwischen pastoraler Unterstützung und dingfestmachen eines kaltblütigen, aber geständigen Gewaltverbrechers. Er entschied sich für Letzteres, denn seiner Meinung nach war es die größere Neuigkeit, um die Aufmerksamkeit der Dorfgemeinschaft wieder zu erlangen.
„Das war aber jetzt keine Beichte oder?“, vergewisserte er sich, denn dann wäre er ja im Beichtgeheimnis gefangen gewesen. Doch zum Glück verneinte der Junge dies, indem er abermals mit dem Kopf nickte, doch dieses mal waagerecht. Senkrecht genickt, dann wären dem Pfarrer die Hände gebunden. Doch weil es waagerecht war, standen dem Pfarrer alle Möglichkeiten offen, die Information auszuschlachten.
„Etiam, etiam!“, rief der Pfarrer, um so seiner Freude Ausdruck zu verleihen. Das war lateinisch und bedeutet übersetzt so viel wie „yes, yes!“
Denn nun stand ihm kein Hindernis mehr im Weg und er konnte seine Neuigkeit unter das Volk bringen.
„Herhören! Alle herhören!“, rief er, so laut es ihm möglich war. Doch das Volk war lauter. Er drang mit seiner Botschaft nicht durch. Ein Problem, mit dem er jeden Sonntag zu kämpfen hatte. Doch dieses mal wollte er sich nicht so einfach geschlagen geben. Es musste unbedingt ein guter Plan her, der ihm die nötige Aufmerksamkeit einbringen sollte. Piotrowski dachte angestrengt nach. Doch alles, was ihm so in den Kopf kam, verwarf er, entweder als wirkungslos oder es widersprach seinem Berufsethos. Zum ersten mal in seinem Leben stand ihm sein Beruf absolut im Wege. Keine seiner Ideen, die ihm in den Sinn kamen, waren mit seiner Moralvorstellung kompatibel. Er stand vor seinem persönlichen Gordischen Knoten, den er einfach nicht entwirren konnte. Eine pastorale Katastrophe biblischen Ausmaßes! Doch dann durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke, der ihn aus seinem Dilemma befreien konnte. Der Junge musste einfach freiwillig gestehen und es hier vor der Dorfgemeinschaft freiwillig kundtun. War nur die Frage, wie er ihn dazu bringen könnte und wie sollte diese kleine schmächtige Jungenstimme durchdringen? Pfarrer Piotrowski war mit seinen Überlegungen offenbar noch nicht ganz zufrieden und zog sich abermals, in seine Gedankengänge, zur Klausur zurück und versprach sich selbst in die Hand, nicht eher wieder aufzutauchen, bis er die ultimative Lösung gefunden habe. Damit ihm der kleine Junge nicht währendessen abhandenkommen würde, hielt er ihn an der Hand fest. Sehr zum Missfallen des Kleinen, der zwar geistig noch nicht ausgereift war, aber dennoch bereits freiheitsliebend. Und jetzt drehte der richtig auf. Eine Sirene war dagegen eine sinnliche musikalische Erfahrung.
Die beiden lieferten sich einen harten Wettstreit, wer von ihnen lauter schreien und dadurch mehr Aufmerksamkeit erlangen würde. Jedoch gegen die aufgebrachte Meute war es, nur schwer zu bestehen. Nach wenigen Minuten mussten sie das auch erkennen und hielten erschöpft inne. Auf dem Sockel des Dorfbrunnens fanden sie ein Plätzchen, um in Ruhe ihre emotionale Niederlage zu verarbeiten. Jeder von ihnen tat es auf seine ureigenste Weise. Pfarrer Piotrowski suchte sein Heil in einem stillen Gebet, der Junge fand in seiner Hosentasche ein durch mehrere Waschmaschinenbesuche nicht aufgelöstes Karamellbonbon, was er sich frustriert zu Gemüte führte. Das Auswickeln des verblichenen Bonbonpapiers, erwies sich als nicht ganz unkompliziert, da er den Inhalt seiner Handinnenflächen, weiterhin vor den Augen Neugieriger schützte. Doch mit der Gewandtheit eines achtjährigen und unter Zuhilfenahme einiger, ihm bekannter Flüche, gelang es ihm schließlich. Letztere blieben dem Pfarrer verborgen, der sich konzentriert dem Ende seines Gebets näherte.
„Wer ist denn nun eigentlich verstorben?“, eröffnete der Pfarrer, nachdem er beim „Amen“ angelangt war, sein Gesprächsangebot an den kleinen Jungen, der unbekümmert, mit offenem Mund, auf seinem Bonbon herum lutschte.
Doch der kleine Junge reagierte nicht darauf. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, dem Treiben auf dem Marktplatz zuzusehen.
Und dort tat sich so einiges, was eine Seltenheit, in dem sonst dahinvegetierenden Dorfes war. Das Wissen oder das Nichtwissen um den Tod Feldmanns oder eben seines Lebens, brachte alle auf. Am schlimmsten war diese grässliche Ungewissheit, die keine Ruhe einkehren ließ. Für Bürgermeister Wilms keine leichte Situation, zumal er noch dafür sorgen musste, dass das Geheimnis um seine bevorstehende Vaterschaft, weiterhin nicht an die Öffentlichkeit drang, zumal seine Frau ja auch ein Teil dieser Öffentlichkeit war. Doch inzwischen hatte sich die Lage etwas entspannt, denn die Menge hatte seine geliebte Gattin, von seiner Geliebten und zukünftigen Mutter seines Kindes, getrennt. Dies gelang durch einen neu initiierten Fackelzug, der sich gerade aufmachen wollte, zum Hause Feldmanns zu ziehen, um vor Ort zu erfahren, was nun los sei. Eilig stürzte Bürgermeister Wilms zu der Gruppe hin, um sich vor ihr aufzubauen.
Offenes Feuer und eine nichtgenehmigte Demonstration, gleich zwei Verstöße gegen die Gemeindeordnung, waren für ihn inakzeptabel. Er war nun einmal die gewählte Autorität des Dorfes und das musste er nun unter Beweis stellen. Jetzt war die richtige Zeit und der passende Ort, wo er seine Kompetenz und sein eindrucksvolles Verhandlungsgeschick, vor den Augen all seiner Wähler, demonstrieren konnte.
„Haltet ein!“, rief er aus voller Kehle.
„Platz da Bürgermeister. Wir wollen jetzt endlich Klarheit!“, entgegnete Metzgermeister Molke, der in einer geheimen Abstimmung, zum Fackelträgerführer bestimmt wurde. Und so standen zwei gegnerische Schwergewichte sich unversöhnlich entgegen.
Der eine Schwergewicht durch die Kraft seines Amtes, der andere Kraft seines Eigengewichts. Die ganze Dorfgemeinschaft hielt den Atem an. Wer würde sich wohl bei dem Kräftemessen durchsetzen. Sofort bildete sich eine Wettgemeinschaft, die auf den Metzger setzte. Einige wenige, ausnahmslos dorfbekannte Vegetarier, hofften hingegen auf den Bürgermeister. Stirn an Stirn, jeder Muskel angespannt, starrer Blick! So standen sie einander gegenüber. Keiner bereit, auch nur einen Millimeter Terrain aufzugeben. Und so standen sie da. Minuten vergingen, ohne das sich etwas tat. Unbeweglich und doch jederzeit auf dem Sprung, falls der Gegner plötzlich versuchen würde sich vorbeizumogeln. Wilms versus Molke! Fleisch gegen Bürokratie! Der Kampf des Jahrhunderts! Und hinter jedem der Dorfgladiatoren versammelte sich die jeweilige Anhängerschaft. Ein Dorf, geteilt, wie einst das Rote Meer.
Hier wäre jetzt eine ausgleichende und versöhnliche Stimme gefragt. Eindeutig eine Herausforderung für den Pfarrer. Doch der hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den kleinen Jungen zum Reden zu bewegen. Dies erwies sich jedoch als eine Sisyphusarbeit, denn der Junge war eindeutig rhetorisch nicht gut aufgelegt. Er erwies sich als verstockt, mundfaul und zutiefst unkommunikativ. Doch auch der Pfarrer war ein harter Hund, der persönliches Versagen als Niederlage verstand. Unablässig sprach er gegen diese achtjährige Wand des Schweigens an, um, wie einst die Trompeten von Jericho, die Mauer zum Einsturz zu bringen. Piotrowski war fest im Glauben und in diesem Glauben glaubte er fest daran, was in der Bibel funktionierte, muss bei einem Achtjährigen doch erst recht klappen. Doch man darf achtjährige Jungen nicht mit der Bibel vergleichen.
Mit Engelszungen versuchte der gute Pfarrer Piotrowski, den Kleinen weichzuklopfen, der sich jedoch scheinbar ein selbstauferlegtes Schweigegelübde gegeben hatte.
„Geduld zahlt sich aus!“, so sein unerschütterliches Credo, was sein Leben bestimmte.
Doch in diesem Falle sollte seine Geduld auf eine harte Probe gestellt werden. Denn der, auf den er hier einredete, erwies sich als ebenbürtiger Gegner. Zwar noch klein an Statur, aber eine übergroße Sturheit an den Tag legend.
Der Pfarrer setzte sein oftmals gerühmtes, seelsorgerisches und bedeutungsschwangeres, geradezu gewinnbringendes Lächeln auf, was sanft seine Lippen umspielte. Dazu setzte er gezielt einen pastoralen Grundton ein. Durch jahrelanges Training war ihm dies, ohne weiteres möglich. Dafür musste er sich nicht lange vorbereiten. In seiner theologischen Ausbildung hatte er sich das Rüstzeug dazu angeeignet. Und so gut ausgerüstet, hatte er die berechtigte Hoffnung den Jungen knacken zu können. Doch nach mehreren Anläufen musste er vor sich selbst einräumen, an seine Grenzen gestoßen zu sein. Dieser kleine Rotzlöffel ließ sich von der ganzen pastoralen Professionalität in keiner Weise beeindrucken. Jeden Versuch, mit dem Jungen ins Gespräch zu kommen, ließ dieser gekonnt an sich abperlen. Innerhalb weniger Minuten gelang es dem Jungen, ohne das er aktiv tätig wurde, dass der Pfarrer genau so traurig neben ihm saß, wie er selbst. Zwei Häufchen Elend, alleine und verlassen, auf dem Sockel des Dorfbrunnens, die nicht mitbekamen, was um sie herum los war. Vielleicht hätte sie sonst das Angebot des Gratishackfleischs auch interessiert und ihre Stimmung gehoben.
Die beiden ausgewiesenen Kriegstreiber hingegen, unerschütterlich in ihren konträren Positionen, übten sich derweil in einem rhetorischem Säbelrassen.
„Ich mach Hack aus dir!“, murrte, ganz Geschäftsmann Metzgermeister Molke.
Unterstützung erhielt er dabei von seiner Frau, die fleißig Hackfleischangebotswerbezettel verteilte.
„Die Würde des Bürgermeisters ist unantastbar!“, rief der körperlich unterlegene Wilms, der fürchtete, sowohl sein Amt als auch sein Körper könnten in Mitleidenschaft geraten.
„Gut gesprochen Mann!“, unterstützte ihn seine Frau und stellte sich demonstrativ hinter ihn.
Eine Geste, die nicht unbeantwortet bleiben konnte, dachte sich Frau Molke und reagierte mit der Gelassenheit einer schwarzen Mamba, die gerade dabei gestört wurde, wie sie eine Beutelratte verdaute. Unerschrocken stellte sie sich neben ihren Mann.
„Weib, dein Platz ist hinter mir. Wenn Wilms plötzlich durchbrechen will, gibt es kein Halten mehr.“
„Genau!“, bestätigte Bürgermeister Wilms, der sich jedoch innerlich ärgerte, dass man seine ausgeklügelte Strategie durchschaut hatte.
Eine gewisse Hilflosigkeit konnte man in seinem Gesicht erkennen, denn an einen Plan B hatte er nicht gedacht.
Die ganze Dorfgemeinschaft hatte sich in einträchtiger Zwietracht, hinter ihrer jeweilig präferierten Partei verschanzt. Nur zwei Frauen standen abseits. Zum einen die hochschwangere Geliebte des Bürgermeisters, die erste Wehen verspürte und zum anderen Frau Schaumüller, die mehr als verärgert war, weil sie nun nicht mehr die Aufmerksamkeit erhielt, die sie gewohnt war.
Zwar hatten nun alle die jeweiligen Seiten bezogen und der Angriff könnte beginnen, doch niemand traute sich, den ersten Schritt zu wagen. Und so blieb es auch eine Zeitlang. Weder Wilms noch Molke wagten einen Blitzangriff. Sie standen nur da, blickten sich unversöhnlich an und bewegten sich keinen Zentimeter. Wie eingefrorene Säulenheilige. Sie hatten es einfach versäumt, für einen unparteiischen Schiedsrichter zu sorgen, der, Kraft seines Amtes, den Kampf anpfeifen würde. Selbst Doktor Lichtenberg, eigentlich ein ausgleichender Charakter, konnte dafür nicht eingespannt werden. Er stand mal hinter Wilms, wechselte dann zu Molke und wieder zurück. Er konnte oder wollte sich nicht entscheiden, denn für den Fall das es zu einem Gemetzel kommen sollte, müsste er ja sowieso sämtlichen Parteien ärztlich versorgen. Ganz gleich wie diese Schlacht auch ausgehen mag, Doktor Lichtenberg wird auf jeden Fall als Sieger vom Platz gehen.
Und immer dann, wenn eine Situation vollkommen verfahren ist, ein Ausweg weit und breit nicht in Sicht ist und selbst EheFrauen mit der Drohung von Sexentzug nicht auf ein Einlenken hoffen können, dann hilft nur noch die Ankunft eines sogenannten „reitenden Boten“. In früheren Zeiten, als das Internet noch nicht in aller Munde war, hatte des Königs reitender Bote die oftmals unerfreuliche Aufgabe, gute sowie schlechte Nachrichten zu überbringen. War die Nachricht gut, wurde er reich belohnt, war sie hingegen schlecht, so war sie auch für den Boten schlecht und nicht selten wurde ihm dafür der Kopf abgeschlagen. Wenngleich der Bote meist nichts für die Nachrichten konnte, er war ja nur der Bote, der Überbringer, ließ der König seine Laune an ihm aus. Danach war er natürlich als Bote nicht mehr zu gebrauchen, was besonders der Bote bedauerte, denn er war nicht nur kopflos, sondern auch seinen Job los. Den wohl berühmtesten Boten gab es in Bertolt Brechts Dreigroschenoper. Dort sollte sein Protagonist Macheath, genannt Mackie Messer, als ermittelter Verbrecher aufgehängt werden. Das war natürlich ein sehr unschönes Schlussbild für einen erbaulichen Theaterabend. Und das wusste auch Brecht, weshalb er durch einen findigen Trick, den Abend unblutig enden ließ.
Er schickte einfach einen schlechtbezahlten Schauspieler, der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Rolf Bidinger
Tag der Veröffentlichung: 06.11.2019
ISBN: 978-3-7487-1988-5
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