Das Vermächtnis Georg Büchners, es hat sich offenbar eingekuschelt unter einer großen Bettdecke, liegt kalt und brach, wie in einem Grab. Senilität, Depression, Neurosen - die Diagnose für einen menschlichen Kadaver, der das Bettnässen und Alpträume als Zwangsmechanismen für sein Überleben anerkannt hat und sich bald danach aufgibt: der Staatsfeind des 21. Jahrhundert ist der am oder unter dem Existenzminium lebende Mensch, der gezügelt, gebändigt, gegängelt, bestraft werden muss.
Beinahe zweihundert Jahre sind vergangen und was würde Georg Büchner, einer der ersten Sozialdemokraten, ein Menschenfreund, ja - aus der Perspektive seiner Zeit gesehen - Anarchist, wohl sagen zu unserem heutigen Zustande. Wäre er wieder bereit, für die Masse, zu sterben. Auf der Suche nach Antworten hat er sein Leben gelassen. Doch selbst wir haben sie noch nicht gefunden: die Antworten, besonders die auf die große Magenfrage. Der Kapitalismus zeigt sein bestialisches Antlitz und hat den Feudalismus, von einigen wenigen sozialdemokratischen Lücken abgesehen, abgelöst. Kurze Zeiten des sozialen Miteinanders sind der Isolation und der Herrschaft der Mächtigen gewichen. Oligarchien schießen wie Pilze aus mit Blut durchtränkten Waldböden. Wirtschaftsmacht, Medienmacht, Ohnmacht. Jeder ist sich selbst der Nächste. Nichts in der Welt hat mehr Bestand. Der historische Fatalismus beseitigt unser tiefstes menschliches Empfinden: Nächstenliebe.
Dein Wert wird am Besitz gemessen. Du bist kein Mensch ohne Geld. Deine Armut ist dein Aushängeschild, auf dem traurig, aber wahr, dein mickriges Leben vorgezeichnet scheint. Der große Fernseher vor dir beweist dir tagtäglich aufs Neue: Ich bin nichts wert, denn ich koste Geld. Ich gehe arbeiten oder auch nicht, das spielt eigentlich keine Rolle mehr. Den meisten geht es so, der Mehrheit. Sie leiden unter dem Schweigen, lassen sich zuregnen mit Kreditsegnungen von Banken, um weiter dem Konsum zu frönen oder sind jene, die weder ein Konto, eine Krankenversicherung noch ein menschenwürdiges Leben haben. Sie versuchen zu verdrängen, zu vergessen, doch die meisten landen beim Arzt oder unter der Brücke. Der Staat hat mit ihnen experimentiert. Zunächst wird ihnen eine Krankheit namens "Dummheit" diagnostiziert, wie sie nur das Denken aufgeben, dem Staat überlassen konnten, dann kam die "Arbeitslosigkeit", dann "Hartz IV" und "Depression" und manchmal "Suizidversuch 1 bis 3" oder Krieg, Flucht, Abrgenzung, Abschiebung, je nachdem. Bevor sie sich einkuschelten unter der großen Decke, haben es die meisten x-Mal versucht, ihr Aushängeschild abzulegen, ohne Chance. Sie werden von oben herab behandelt oder gar nicht. Sie werden links oder rechts am Straßenrand liegen gelassen und warten auf das große Glück, das nicht kommt. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, sagen jene, die es sich leisten können. Abschätzig blicken die meisten von ihnen auf die, die mit einer eigentümlichen Decke umherrennen. Sie sind ganz vermummt, nur ihre Augen sind zu sehen. Nein, es ist nicht die vom Staat befohlene Burka, es sind Decken, die er ausgegeben hat, auf denen Hartz IV oder Hartz IV in Zukunft in großen Lettern prangt. Man sieht es ihnen an. Manche versuchen die Decken zuhause zu lassen, aber Depression und Angst haben ihren Lebensweg gezeichnet. Das lässt sich nicht einfach ablegen. Die Decke sollte eigentlich zum Schutz vor Kälte, dummen Sprüchen und Experimenten dienen, aber bei den meisten ist sie schon vollkommen zerfetzt, Flecken von Urin zeichnen sich ab, sie hat Löcher, die sich mit dem bisschen Liebe, was man noch in sich hat, kaum flicken lassen. Und es werden mehr.
Es gibt sie noch die Szenen aus Woyzeck und es wird sie wieder geben, die Szenen aus Dantons Tod. Der Staat experimentiert mit seinen Kindern und muss sich nicht wundern, wenn sie zu Bestien mutieren.
Und wenige sind irgendwo dazwischen. In einer Anderwelt, dicht dran und doch so weit entfernt. Sie sind die, denen der Vorwurf gemacht werden kann, das sie zugesehen haben, die darüber stehen: Mediziner, Lehrer, Anwälte, Bänker, Politiker, Journalisten etc. , die Intellektuellen, die alte Bourgeoisie, die nicht das Volk regieren, die keine Macht haben, doch tagtäglich die Ohnmacht sehen, wie Büchner eben. Ihre Aufgabe ist es zu vermitteln, zu helfen, los zu lassen von angeblichen Privilegien. Sie müssen wieder anknüpfen an das Büchnersche Vermächtnis, müssen es aus dem kalten Grab zerren, es wach küssen, baden und anziehen, ihm Hoffnung und zu Essen geben.
Woyzeck, schläfst du noch?
"Talem intelligo philosophiam naturalem, quae non abeat in fumos speculationem subtilium aut sublimium, sed quae efficaciter operetur ad sublevanda vitae humanae incommoda." Francis Bacon
"Ich verstehe Naturphilosophie so, daß sie nicht in die Rauchschwaden von spitzfindigen und hochfliegenden Spekulationen abirrt, sondern erfolgreich tätig ist zur Behebung der Gebrechen menschlichen Lebens."
S´ist so kurios still.
Georg Büchners Popularität geht zum größten Teil auf seine politische und revolutionäre Sprengkraft zurück, die offenbar wird in seinem "Hessischen Landboten" ("Friede den Hütten! Krieg den Palästen!") und auch in seinem kurz danach erschienenen Drama, in "Dantons Tod". Die ersten Studienjahre waren überschattet von energischen Umtrieben und der Komporomittierung des Medizinstudenten als Aufrührer, so dass ihm nach dem der Flugschrift folgenden Haftbefehl nicht mehr blieb, als aus Deutschland zu flüchten und sich der Naturforschung in Straßburg und Zürich zu widmen. Diesen letzten Jahren seines ohnehin kurzen Lebens haben wir weitere literarische Werke zu verdanken, die vor dem Hintergrund und unter Berücksichtigung der naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien entstanden. Georg Büchner zog sich nämlich im Gegensatz zur aufrührerischen Zeit nun eher zurück und suchte mit szientfischem Blick den Dingen auf den Grund zu gehen.
Dieses Buch behandelt ein Thema im Grenzbereich von Wissenschaft, Philosophie und Literatur, womit signalisiert sein soll, dass es nicht möglich ist, das Schaffen Georg Büchners exakt nach bestimmten Richtungen zu trennen, es sei denn man traut es sich zu, das vorherrschende Moment in des "Frühvollendeten" (Rudolf Loch, 1988) Schriften und Äußerungen herauszukristallisieren, ohne dabei andere wesentliche Akzente zu übergehen. Doch das ist schon methodisch durch die Vielfalt der von Büchner studierten Bereiche nicht möglich, und letzten Endes verlangt das Thema der Untersuchung geradezu nach einer interdisziplinären und auch einfühlsamen Herangehensweise. Von vornherein ist demnach die Autonomisierung des ästhetischen Bereiches, die Konzentration auf das dichterische Werk allein, abzulehnen. Büchners Dichtungen "resultieren aus den Koordinaten eines Bewußtseins, das sich auch zwischen politischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Interessen spannt" (Axel Schmid, 1991). Das - nicht nur auf den ersten Blick - uneinheitliche Werk Georg Büchners ist wohl dem zeitgenössischen Umfeld geschuldet. Nirgendwo tritt dieser Aspekt offensichtlicher zutage als in seiner Abkehr von seinen politischen und revolutionären Umtrieben und der Hinwendung bzw. Flucht in die Naturforschung (Engelbert Schramm, 1989), wobei auch innerhalb seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten im Vergleich zu seinem dichterischen Werk wieder eindeutige Widersprüche zu finden sind, was zu zeigen sein wird.
Vor dem Hintergrund seiner medizinischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien in Gießen, Straßburg und Zürich zwischen den Jahren 1833 und 1837 soll sein letztes über uns gekommenes Fragment gebliebenes Drama "Woyzeck" begutachtet werden. Hierzu gehört vor allem die Frage nach der Einordnung Georg Büchners in die zeitgenössische Naturphilosophie und die Abgrenzung von den noch bestehenden und vermeintlich schon überwundenen philosophischen Ansichten. Besonders die kritischen und schriftlich erhalten gebliebenen Auseinandersetzungen des dichtenden Naturforschers mit den frühneuzeitlichen Philosophen Descartes und Spinoza stellen einen wichtigen Ansatz dar, da man sie als mögliche Faktoren für die Ablehnung der Philosophie seiner Zeit, dem Idealismus, halten kann.
Nicht zu vernachlässigen sei in diesem Zusammenhang auch die Hinwendung Büchners zur Wirklichkeit und sein designierter Materialismus, von dem sein naturphilosophisches Denken allerdings nicht handelt, "ein Denken in Widerständen" (Reinmar Zons, 1976), das keine Grenzen kennt. Es sind die konkreten sozialen Probleme, das Elend des größten Teils der Bevölkerung, die ihn ringen lassen um direktes Eingreifen ("Der Hessische Landbote") und um die Wiedergabe der Wahrheit auf dem Felde des Dramas. Das ist gerade in der Epoche des Vormärz nicht selbstverständlich, da sie sich mehr dem politischen Agieren widmet, das heißt, dass sich vor allem der dritte Stand gegen die Privilegien des Adels zu wehren suchte. Hier ging es um die Gleichberechtigung der Bourgeoisie, nicht um den größeren Wohlstand der breiten Masse des Volkes. Aber im Gegensatz zu den Ansprüchen der dichtenden Zeitgenossen geht es Büchner in "Woyzeck" genau um die Wiedergabe des sozialen Elends. Er "versucht keine unmittelbare Agitation" mehr, "die sich auf Einzelprobleme bezöge, sondern (...) vor allem eine Darstellung seiner gesellschaftlichen Gegenwart: die Wiedergabe der historischen Totalität." (Albert Meier, 1980)
Die intensiven Reaktionen Büchners auf die Zustände seiner Umwelt stehen isoliert in seiner Zeit. Sein politisch-sozialkritisches Engagement und das daraus entstandene literarische Lebenswerk blieben lange im Verborgenen, weil man die Radikalität der Äußerungen, die philosophischen Betrachtungen und die aus der politischen Erfahrung gewonnenen thematischen und formalen Konsequenzen in der Gestaltung seiner Texte nicht verstehen wollte und konnte. "Zum erstenmale in Deutschland tritt darin ein Demokrat nicht für die geistigen Güter der Gebildeten ein, sondern für die materiellen der Armen und Unwissenden; zum erstenmale ist hier nicht von Preßfreiheit, Vereinsrecht und Wahlcensus die Rede, sondern von der >großen Magenfrage<; zum erstenmale tritt hier an die Stelle der politisch-demokratischen Agitation die socialdemokratische Klage und Anklage." So schrieb Karl Emil Franzos 1878, der erste Herausgeber der Werke Büchners über den "Hessischen Landboten" und diese Ausführung könnte genau so unter dem "Woyzeck" stehen.
Aber Georg Büchner geht auch über die reine Abbildung der Wirklichkeit hinaus, setzt sich intensiv auseinander mit den philosophischen Diskursen seiner Zeit und wird nicht müde, Woyzeck die anthropolgische Stimme einzuhauchen, die das menschliche Individuum, das von seiner Umwelt in die Ausweglosigkeit getrieben wird, in den Mittelpunkt rückt und zwar mit kontinuierlich fluktuierendem Sinn und Verstand. Er muss sich diese "Parabel des zerstörten Individuums" (Georg Büchner, W&B) nicht ausdenken. Die individuelle Tragik ist der Geschichte entnommen, wird gefüllt mit parataktischen Wahrheiten und bildet die "ästhetische Parallele zu Büchners naturwissenschaftlicher Teleologiekritik" (Albert Meier, 1980).
Der Büchnersche Weg der Suche nach dem Gesetz des Seins beinhaltet Widersprüche vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Studiums und zeigt zugleich Parallelen mit der romantischen Naturphilosophie auf. Diese Antinomien, die auch im "Woyzeck"-Fragment sichtbar werden, bedürfen jedoch keiner Aufklärung. Denn gerade in ihrer vermeintlichen Unvollkommenheit liegt die Vollkommenheit der Natur, wenn wir sie mit Büchners Augen sehen.
Georg Büchner ging es in entscheidendem Maße um die Behebung der Gebrechen menschlichen Lebens, wie dies eingang als Aufgabe der Naturphilosphie nach Baconscher Interpretation in Abgrenzung zur spekulativen Philosophie vorgestellt wurde, doch ließ ihn der gräßliche Fatalismus der Geschichte (Georg Büchner, 1834) einen anderen als den aktiv-politischen Wirkungskreis ansteuern. Seine Humanität, die vor dem Hintergrund des zu behandelnden Dramas aufleuchtet, zeichnet ihn aus in dieser Zeit des Pauperismus und der aufkommenden Experementierfreudigkeit seines medizinischen Kollegenkreises, "ein Klima der Menschenverachtung, die nicht ohne Weiteres sichtbar ist" (Thomas Henkelmann, 1976). Er nimmt sich der Natur des Geringsten an und steht damit isoliert vor einem sich abwendenden Publikum.
Es ist die Natur, die Woyzeck kommt, aber niemand will sie sehen. Es sind die Vorstellungen, die er hat von Gott und vom Tod, aber niemand will sie hören. S´ist so kurios still (Georg Büchner, Woyzeck) um seine philosophische Dimension bis in die Gegenwart hinein, denn niemand nimmt diese ernst. Sie schreiben, man liest sie nicht; sie schreien, man hört sie nicht; sie handeln, man hilft ihnen nicht. (Georg Büchner, Brief an seine Familie, 1833)
Als ich vierzehn war, kam mein Vater eines Tages mit dem ersten Exemplar einer Reihe des Heftes „Phänomene“ nach Hause, das auch den ersten Schwung Tarot-Karten enthielt, das sich, so man Heft für Heft kaufte, vervollständigte. Nun, auf mein Bitten hin, kaufte man mir Heft für Heft und immer tiefer drang ich in die Welt parapsychologischer, astrologischer, mystischer und unvorstellbarer Ereignisse ein. Das Ungreifbare nahm mich schneller gefangen als ich es mir hätte erträumen können und ich wünschte mir damals, dass mir auch so etwas Unvorstellbares passieren möge. Weit über zwanzig Jahre später sitze ich hier und merke, dass all diese Phänomene gar keine sind. Nicht nur, weil ich tatsächlich innerhalb dieser Zeit und auch schon davor, nur nicht bewusst, Zeuge von Dingen wurde, die ich bis heute nicht erklären kann, aber die zu unserer Welt dazu gehören und wertvoll sind. Wertvoller vielleicht als die meisten von uns meinen. Denn sie bedeutet auch Rückzug in die friedliche Sphäre des Daseins.
Die Problematik des beginnenden 21. Jahrhunderts besteht nicht nur in der Vielfalt der Möglichkeiten im Außen, in der materiellen Welt, sondern nach wie vor vor allem in der Verachtung für das Innen, der seelischen Welt. Das Prinzip der Resonanz bringt jede Zehntel Sekunde ein neues unfassbar schönes, aber auch ein neues unfassbar grässliches Bild des Menschen zum Vorschein. Die Welt im Kleinen bildet sich im Großen ab. In allen Religionen, Weltanschauungen, Kulturen findet sich diese Symbiose des Guten und des Bösen. Beginnen wir die Welt des Bösen ausschließlich nach außen zu verlegen und unser Inneres zu schonen, achtsam und freundlich zu gestalten, stets zu meditieren, so würde sich im Umkehrschluss alles, was wir als moralisch verwerflich verachten, wir in die dunkelste Kammer sperren möchten, nicht etwa auflösen, sondern es würde sich wie auch immer manifestieren. Was ist also ein Krieg? Ein Gedankenspiel unserer verletzten Gefühle, eine Büchse der Pandorra, die aufgrund von Selbstherrlichkeit geöffnet wurde, ohne zu wissen wie man sie wieder schließen kann? Ja, so etwas in der Art!
Büchner erkannte die Zeichen seiner Zeit, doch aus der Geschichte betrachtet, war er zu früh geboren. Die Mehrzahl der Menschen waren noch nicht bereit für sozialdemokratische Grundsätze, für die Erkenntnis, dass sich der Mensch nur verändert, wenn sich auch die Umstände verändern und dass er sich, wenn sich seine Umstände nicht verändern, unter der Bettdecke verkriecht. Und man möchte meinen, dass Büchner und Woyzeck und Leonce und Lena, die einen verzweifelnd am duckmäuserischen Verhalten ihrer Umwelt, die anderen gezeichnet von Experimenten und Umständen, die nächsten einfach naiv und dumm, den Rückzug als einziges moderates Mittel sehen, sich der Welt und ihrer Ungerechtigkeit nicht auszusetzen.
Der junge Arzt erkannte in der Vielzahl der Eindrücke, die er vor allem aus Straßburg mitbrachte, aber auch in der Naturphilosophie Lösungsmöglichkeiten für die Gebrechen der Menschen. Er war in seiner Zeit so radikal in seinen Ansichten wie Friedrich Nietzsche oder Thorwald Detlefsen für das 20. Jahrhundert. Dazu im Folgenden mehr.
Die sparsamen Ansätze in der Büchner-Literatur zu einer Behandlung der Frage nach der Bedeutsamkeit der Naturphilosophie in Georg Büchners Werk, unter besonderer Berücksichtigung des "Woyzeck", werden den Hinweisen, den Indizien, die man durchgehend finden kann, einfach nicht gerecht. "Die literarischen Texte sind so dicht durchsetzt mit philosophischen Reflexionen, daß es naheliegt, sie als konstitutiv einzuschätzen." (Henri Poschmann, 1999) Doch auch in der neueren Forschung ist man sich, was den philosophischen Hintergrund betriff, nicht sicher und befürchtet wohl bei einer ernsthaften und nicht komisierenden Auseinandersetzung mit diesem Thema eigens in ein "Komischwerden" abzugleiten. (Günter Österle, 1983)
Die Frage nach der vermeintlichen Einheit des Werkes wurde in beträchtlichem Maße an den politischen Aktionen und der folgenden "Resignation" des Dichters gemessen. Die Naturauffassung Büchners, ihre Begründung in den uns überlieferten naturwissenschaftlichen Schriften und philosophischen Auseinandersetzungen, besonders aber seine Arbeit als Philosophiehistoriker, ist jedoch bis heute, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, vernachlässigt worden. Es mag sein, dass gerade die Position, die Büchner hier bezog, schwer greifbar ist. Jedoch sollte das Interesse an diesen Verständnisbereichen, die sichtbar unter der Oberfläche verweilen, nicht aus diesem Grund erlöschen. Auch, wenn die Hinwendung des Dichters in diese Sphären außerordentlich marginal erscheint, ist der Gegenstand vor allem in der Lebens- und Schaffenszeit Büchners ein Konglomerat an widersprüchlichen Diskussionen der Zeitgenossen und sollte schon aus dem (leider) über allem stehenden Interesse an der Einheit des Werkes aus diesem wissenschaftlichen Blickwinkel betrachtet werden.
"Büchner konnte den Beginn der Moderne als ein höchst kontroverses Spannungsfeld philosophischer, naturwissenschaftlicher, politischer Ideen und Handlungsformen gestalten, weil er Philosoph, Naturwissenschaftler, Politiker und Dichter in einer Gestalt war." (Silvio Vietta, 1979) Die Reihenfolge der Bezeichnungen kann in der Tradition der Büchner-Forschung bis heute im Wesentlichen unverhältnismäßig genannt werden, obwohl die philosophiegeschichtlichen Manuskripte Büchners eindeutig in diesem Sinne sind. "Sie sind aber der Leserschaft und ihr voran der Büchner-Forschung ein Buch mit sieben Siegeln geblieben."(Henri Poschmann, S. 925)
Diese Tür wurde erstmals von dem Zoologen Jean Strohl (1936) aufgestoßen, der wie nach ihm folgende wenige Forscher versuchte, die naturphilosophischen Diskurse der Zeitgenossen Büchners ausführlich darzustellen und damit einen neuen Bereich der Büchner-Forschung zu erschließen. Allerdings beschränkt sich seine Untersuchung, neben den biographischen und wissenschaftshistorischen Einzelheiten auf eher unbedeutsame und auf der Oberfläche gehaltene Paraphrasen, die uns die Naturauffassung Büchners kaum eröffnen können. Des Weiteren beschäftigte sich Karl Vietor (1949) in seiner Büchner-Monografie unter dem Kapitel "Wissenschaft", jedoch in einer etwas unklaren Einbindung in die "Geschichte des deutschen Geistes", mit dieser Frage. Unter der einseitigen Benutzung der Worte des Dichters verbleiben wissenschaftshistorische Fakten der Zeit im Dunkeln, und Vietors Analyse bleibt subjektiv. Einerseits stellt er Büchner in den Zusammenhang mit der "Herkunft aus der Denküberlieferung der naturphilosophischen Schule", andererseits findet man die Aussage, dass "Büchner (zur Philosophie der idealistischen Epoche) mit Bewußtsein keine unmittelbare Beziehung gehabt zu haben" (Karl Vietor, S. 249) scheint.
Gerade diese Zusammenhänge sind aber greifbar und werden auch Bestandteil der folgenden Ausführungen sein. Dem Vorwurf der Vernachlässigung dieser Verbindung kann sich Hans Mayers Büchner-Monografie (erstmals 1946) in jedem Fall entziehen. Er legt umfassend die zeithistorischen und gesellschaftlichen Hintergründe dar, hinterfragt damit das Schaffen Büchners und macht deutlich, dass gerade die verschiedenen Bereiche, Dichtung, Politik und Naturforschung, in denen sich Büchner auskannte und die er in seinen Werken verarbeitete, für die Büchner-Forschung zu einem Problem werden. So schreibt er: "Die Sphären getrennt zu halten und unter die Fachleute aufzuteilen man den Geboten gesellschaftlicher Arbeitsteilung genügen, bedeutet aber gleichzeitig den Verzicht auf tiefere Einsicht in Büchners Leben und Schaffen (...). Der Mangel an innerer Einheit, das Auseinanderfallen dieses Lebens in heterogene, untereinander nicht verbundene Bereiche scheint zweifellos. Allein dies festzustellen heißt noch nicht: erklärt oder gedeutet zu haben. Auch Widersprüche zwischen Sein und Denken oder zwischen den verschiedenen Handlungsweisen des gleichen Menschen können einheitlicher Deutung fähig sein, wenn sie als Ungereimtheiten erkannt werden, die im besonders gearteten Charakter eines besonderen Menschen ihre Wurzel und Ursache haben." (Hans Mayer, 1980) So eröffnet sich auch und gerade bei dem hier zu bearbeitenden Thema ein Sammelsurium an Termini und Andeutungen, welche in ihrer Bedeutung für Büchners Leben und Schaffen nur vor dem Hintergrund der Zeitgeschichter erfahrbar gemacht werden können. Die philosophischen Betrachtungen sollen nichr herausgerissen wirken aus dem Ganzen, sondern sie sollen als Teil des literarischen Werkes Beachtung finden und Büchners Welt- und Menschenbild vor dem Auge des Lesers aufleuchten lassen. "Es geht eben nicht an, die Welt des Philosophen Georg Büchners zu durchmessen und das Weltbild des Naturforschers dabei außer acht zu lassen." (Hans Mayer, S. 18f)
Innerhalb dieser Schrift kann jedoch kaum über diese Bereiche hinaus ein Einblick gegeben werden. Die vorliegenden Seiten können in philosophiegeschichtlicher Hinsicht auch niemals vollständig sein, so dass von Vornherein festzustellen bleibt, dass eine subjektive Auswahl von philosophischen Ansichten nicht zu umgehen war. Doch bemüht sich die Untersuchung darum, die prägnantesten Positionen Büchners innerhalb der Naturphilosophie festzuhalten. Dabei ist die von Mayer so gepriesene "unheimliche Einheitlichkeit und Geschlossenheit in allen seinen Lebensäußerungen" gerade in seiner philosophischen Weltanschauung, will man diese als Einheit betrachten, allerdings nicht zu finden. "In Büchners Naturaufassung, aber auch in seiner Bezugnahme auf die >Natur< des Menschen in den dichterischen Werken wird der Wandel des Naturverständnisses in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sichtbar, der in Büchners Schriften sich nur als Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit manifestieren kann." (Fritz Bergemann in W&B, S. 473)
Nach den sinnvollen Fragestellungen Mayers, trotz des von mir für diese Arbeit abgelehnten Einheitsbegriffs, sind es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum mehr Untersuchungen, die sich eingehend mit diesem Bereich beschäftigen, die jene Ansätze entwedre für zu spärlich hielten oder Büchner in eine andere Kategorie einordneten.
Geht es um die philosophischen Berührungspunkte im Werk Büchners, so schweigt man (in Anbetracht der nicht mehr zu überblickenden Literatur, die Georg Büchner in den politischen Rahmen einbettet) demnach lieber, als dass man die Indizien sauber zurecht legt und für den Dichter sprechen lässt. Die neueste Forschung zur Georg Büchner bemüht sich den philosophischen und wissenschaftlichen Hintergrund seiner Werke und damit seines Lebens zu beleuchten, doch die Betrachtungen kommen meist zu dem Schluss, dass die medizinisch-wissenschaftliche und naturphilosophische Produktion des Dichters einem Spezialgebiet angehört, welches für eine lückenlose Interpretation nur Beiwerk ist und sonst keine wesentliche Funktion inne hat, sie "so überwiegend fremden Mustern folgen, dass sie nur als Vorarbeiten zu einer geplanten Vorlesung, nicht aber als selbstständige Darstellung gelten können." (Fritz Bergemann, W&B; S. 473) Diese Untersuchung soll ein Beitrag sein, der diesem Urteil entschieden widerspricht. "Denn Büchners philosophisches Interesse, das sich hier in einem historisch definierten Bezugsraum verdichtet, strahlt bis in jede Zeile von ihm aus."(Henri Poschmann, SB&D, S. 925) Außerdem kann die Einschätzung Bergemanns, die noch immer als ein offensichtlich unüberwindliches Echo zugegen ist, lediglich für die "Geschichte der griechischen Philosophie" gelten, nicht aber für die Schriften über Descartes (Cartesius) und Spinoza, die zeigen, dass sich Büchner, genuin, wenn auch nicht vollständig mit dem Ursprung des historischen bürgerlichen Subjekts und der Metaphysik auseinandersetzt.
Grundlegend für meine Ausarbeitungen waren deshalb Forschungen, die sich vordergründig mit den Umständen beschäftigten, die Büchner dazu motivierten, sich mit den Fragen seiner Zeit zu beschäftigen und sie, wie ich es hier mit dieser Abhandlung versuchen will, in philosophisch-kritischen, wenn auch marginalen Studien und in seinen literarischen Werken zu verarbeiten, und zwar auf der Basis der Interpretation des Dichters in der "Wissenschaft". Hier seien deshalb besonders J.W. Bierbach (1961), Otto Döhner (1967), Thomas Henkelmann (19769, Soon-Nan Chang (1988) und Peter Ludwig (1998) genannt. In einzelnen Monographien erscheint auszugsweise der Begriff Naturphilosophie und seine Bedeutung für das Leben und Werk Georg Büchners, so unter anderem bei Jan-Christohp Hauschild (1992), Jens-Fietje Dwars (1994) oder Jürgen Seidel (1998). Anregungen für die Interpretation des Woyzeck unter Berücksichtigung der naturphilosophischen Erkenntnisse Büchners und anderer Philosophen bekam ich insbesondere durch Gerhart Baumann (1976), Gerhard P. Knapp (erstmals 1977), Gerhard Jancke (1979), Albert Meier (1980), Rudolf Loch (1988) und ebenso Hans Mayer (1993).
Den Mangel meiner philosophischen Kenntnisse jener Zeit suchte ich durch Lorenz Oken (1809), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1799ff), Friedrich Herbart (1813ff), nicht zuletzte Immanuel Kant (1799) und Ausführungen über Descartes (durch Tom Sorell, 1987) und Spinoza (durch Helmut Seidel, 1994) auszugleichen. Einen Überblick über die Naturphilosophie verschaffte ich mir durch Untersuchungen von Karl-Friedrich Wessel, Gerd Ludwig, Reinhard Pester (1988) und übergreifend durch Johannes Hirschberger (erstmals 1948), Odo Marquardt (1987), Wolfgang Bonsiepen (1997) und Karl Jaspers (erstmals 1971). Darüber hinaus fand ich in verschiedenen Aufsätzen Anregungen für diese Ausführungen, insbesondere durch Wolfgang Martens (1957/58), Jochen Golz (1964), Reinmar St. Zons (1976), Wolfgang Proß (1977), Silvio Vietta (1983). Henri Poschmann (1988), Emgelbert Schramm (1989), um nur einige wichtige zu nennen. Nicht zu vergessen sind hier die jüngst erschienenen, für dieses Thema wesentlichen Arbeiten von Michael Glebke (1997) und Seiji Osawa (1999).
Vor allem Michael Glebke ist es zu verdanken, dass endlich ein Überblick über die Philosophie Georg Büchners geboten wurde. Auch er entdeckt die Widersprüchlichkeit in Büchners Denken und Handeln, führt die Philosophie dahingehend als Moment der Vereinheitlichung an, wobei er auch eindeutig betont, dass die Naturphilosophie "eine Sonderstellung innerhalb der Büchnerschen Weltanschauung" (Michael Glebke, 1995) einnimmt. Einblicke in diese oder jene Untersuchungen seien mir im Laufe meiner Ausführungen gestattet. Hier sollte lediglich eine Überschau geboten werden.
Jedes Mal vor den Wahlen, so viele Ziele, so viele Lügen, so viel Blindheit oder Augenwischerei. Das ist nicht neu. Der Mensch will betrogen werden, will das Gute hören und das Schlechte nicht wahrhaben. Büchner ging es um die Basis, nicht um einzelne Rechte und Freiheiten. Er versuchte zu verstehen, wo der kleinste gemeinsame Nenner bei der Mehrheit lag und doch war die Angst vor der Obrigkeit, vor der Regierung noch zu groß. Die Menschen verrieten ihn und er musste fliehen. Heute wird die Annäherung an die Wahrheit meist mit Gelächter bestraft. In der Demokratie gibt es das Recht auf Meinungsfreiheit und wir lachen uns über jene zu Tode, die diese nutzen wollen. Es scheint ein Widerspruch zu sein, sich gegen die Regierung zu äußern, denn innerhalb der Regierung gibt es Stimmen, die Woyzecks Stimme sind. Da sind sie doch, aber sie werden nicht gehört. Dabei geben sie keine Prophezeiungen zum Besten und locken auch überhaupt nicht mit Versprechen. Ganz im Gegenteil: Sie geben den Ist-Zustand wieder. Das Dramatische daran ist, dass die gefährlichste
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Nadine Taubert
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6231-9
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieser philosophische Versuch entstand aus meiner 1. Staatsexamensarbeit zum Thema "Die weltanschauliche Bedeutung der Naturphiosophie für Georg Büchners dichterisches Werk. Die Probebühne "Woyzeck" an der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 2000 und ist
allen unter Armut, Krieg und Not leidenden Kindern
gewidmet
und
Fragment geblieben.