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Aussteiger

Alles beginnt und endet jedenfalls mit einem schlafenden Autofahrer und es dauert jeweils nur wenige Sekunden bis die Erkenntnis eintritt, dass man entweder zu viel oder zu wenig getan hat um ihn zu wecken. 

Ken, ein schmächtiger blonder Junge von vierzehn Jahren, sah jedenfalls nicht so aus als wäre er auch nur im Entferntesten in der Lage gewesen, dies zu tun. Ja, er hätte nicht einmal einen Zweijährigen mit einem Roller davon abhalten können, durch das Beet von Trudi, der stets hungrigen Nachbarin, zu fahren. Und dieser Ken packte soeben seine Sachen für eine Reise ins Ungewisse, denn er hatte es satt. 

Es war ihm egal, dass die Ferien nach dem Kalender erst in vierundreißig Tagen beginnen sollten. Er war einer dieser Jungs, denen innerhalb ihrer kurzen Lebenszeit bereits eine so dicke Akte angelegt worden war, dass es für fünf schlafende Autofahrer gereicht hätte. Er wollte nicht mehr auf die gut gemeinten Ratschläge der Erwachsenen hören, die sowieso nicht halfen. Ken packte seinen Rucksack und damit aus, denn er hinterließ allen, die ihn lesen wollten, einen Brief, der sich gewaschen hatte, bevor er zu dem bereits mehrfach erwähnten Autofahrer in den Wagen stieg, aus diesem noch ehe der Tag zu Ende geht, in Hochgeschwindigkeit hinaus befördert werden wird und zwar durch die Windschutzscheibe in Richtung eines Baumes, unter dem er jetzt begraben liegt. 

Vielleicht war ja alles ein Irrtum, weil es so schnell ging. Gestern Abend hatte er noch mit Natalie über die Zukunft gesprochen, hatte ihr das Kunstwerk auf seinem Rücken gezeigt und heute war er bereits auf dem Weg. Er überlegte, ob er schon jetzt von dem Käsebrot abbeißen sollte, da er wieder diesen Mordshunger verspürte. Aber im selben Moment dachte er daran, dass es vielleicht besser wäre, sich das Essen einzuteilen. Die Spione sah man ja auch nie essen und seine Mission verlangte Präzision und körperlichen Einsatz. Er schaute sich noch einmal in seinem Zimmer um. Da hingen rechts neben der Tür die Medaillen, die er und Levin gewonnen hatten. Vor allem Gold und Silber. An der Pinnwand Fotos von ihm und Mama, Vater und Oma Erni. Natalies trug er immer bei sich. Über dem Bett waren hauptsächlich Poster von Motocross-Maschinen. Nur in der Mitte da hing dieses alte Gemälde vom Meer und dem Segelschiff seit er denken konnte. Levin hatte dieses Bild geliebt und er tat es ihm gleich. Manchmal dachte er sich Geschichten aus, wie er damit davon segeln würde, eines Tages. Auf dem Kopfkissen lag das Kuvert. Er ging noch einmal hin, um es zuzukleben. "Für Levin" stand vorn drauf. Seine Schrift war krakelig als hätte er erst vorhin mit Levin auf dem Bett gesessen und Schreiben geübt. Er knallte sich selbst eine. Jetzt ist aber genug mit der Rührseligkeit, Alter. Du musst los. 

 

Anhalter 1

Herr Kling überprüfte noch einmal das Bremslicht wie üblich, wenn er sich auf eine längere Dienstreise begab, die er stets mit seinem geliebten Volvo zu unternehmen pflegte, küsste seine Frau, die ihren Kopf wie gewöhnlich durch die Scheibe der Fahrerseite steckte, zum Abschied auf die Stirn und vergrub sich in seinem Mantel, hinter seinem Steuer und unter - wie später noch zu sehen sein wird  -  seinem Leben.

Es war keiner von den Volvos, den man bei irgendeinem Autohändler kaufen konnte. Darauf hatte er wert gelegt, sondern es war ein aus Schweden importierter Wagen mit allen Schikanen, naja, zumindest die, die vor zwanzig Jahren üblich waren, denn so lange hatte er sein treues Gefährt schon. Es wurde regelmäßig seinem Freund Dieter in der Autowerkstatt vorgestellt und der Motor lief wie ein Bienchen. Nur eine kleine Stelle konnte letztes Jahr an der Karosserie ausgemacht werden, ein 1cm großes Loch an der Unterseite, das aber unter der Aufsicht Dieters in mühevoller Bastelei gekittet und lackiert wurde. Die farblich abgestimmten bequemen Ledersitze mit der obligatorischen Sitzheizung für die kalten Winter Schwedens, die er bis heute nur ein einziges Mal benutzt hatte, hatten eher seiner Frau gefallen, aber die souveräne Fahrweise und der Motor, der mit über 100 PS bereits für damalige Verhältnisse als absolut geeignet für einen Außendienstmitarbeiter eines renomierten Verlages betrachtet werden konnte, überzeugte letztlich auch seine Frau, die einen erheblichen Teil der Summe zum Kauf des Ungetüms, wie sie es nannte, beisteuerte. Bei ihr war es allerdings eine bei fahrbaren Untersetzen nicht unwichtige Zutat, die sie zu ihrem Entschluss bewog: das Sicherheitssystem. Sie hatte sich belesen, es gab kein Besseres. Heute mag das gewiss anders sein, aber die Invesititon hatte sich in jedem Fall gelohnt. Bis jetzt. 

Langsam rollte das graue Schiff die Ausfahrt hinunter und setzte sich in Richtung Autobahn in Bewegung. Es war ein sonniger Morgen und im Radio ertönte gerade in dem Moment als er an der ersten Kreuzung hielt, eine Durchsage, die alle an dieser Geschichte Beteiligten auf ungeahnte Weise betreffen wird: Ein riesiger Laster mit einer Ladung Hühner war nach einer Rutschpartie mit für den Fahrer ungeahntem Bremsweg so unglücklich auf die Seite zum Stehen gebracht worden, dass die Autobahn Richtung Hamburg sowohl durch den LKW als auch durch die entflohenen Hühner, die zum Teil glücklich, zum Teil weniger glücklich ihrem Gefängnis entkommen waren, vollkommen gesperrt werden musste. 

Zunächst war Rainer überfordert. Das, was in den letzten zwanzig Jahren so wunderbar funktioniert hatte, ergab nun gerade keinen Sinn mehr: Die Autobahn war eine Schnellstraße, auf der man eben gerade nicht schnell voran kam. Flüche über ein gerade nicht funktionierendes Navigationssystem halfen da wenig und es gab nur eine Lösung, die sich - für Rainer Kling auf ungewöhnlich schnelle Weise - vor ihm auftat: Er musste den Umweg nehmen, den seine Frau bevorzugte, wenn sie gemeinsam zu seiner Schwiegermutter fuhren. Er hasste diese Vorstellung ungemein, ja, in diesem Moment gab es wirklich nichts Schlimmeres, aber es musste wohl sein. 

Es hupte. Die Ampel zeigte Grün, er fuhr mit einem Blick in den Rückspiegel los, konnte aber in der Eile nicht erkennen, wer ihn da so aus seinem Tagtraum gerissen hatte und setzte seinen Weg in bekannter Richtung, nun aber über die Landstraße, fort. 

Es ging nicht vorwärts. Das war ja alles beschaulich, das musste er unumwunden zugeben, aber die unendliche Langsamkeit des Seins des sich Fortbewegens konnte er wirklich nur ertragen, wenn das Ziel seine Schwiegermutter und nicht Irmchen aus dem Chefsekretariat seines Unternehmenschefs war, in die er sich vor vier Jahren unsterblich verliebt hatte. Kein Klassiker, denn dann wäre er ja der Chef. Die SMS war schon geschickt, Irmchen sauer, Chef noch mehr und Rainer frustriert als ihn in einer Kurve ein Schild mit zwei Beinen überraschte, das er bis dahin noch nicht gesehen hatte: Da stand mit großen roten Buchstaben HAMBURG drauf. Das konnte kein Zufall sein. 

Rainer hielt zum letzten Mal in diesem Leben von allein an. 

Anhalter 2

Ken hatte sich etwas in der Zeit geirrt und doch länger zum Packen seines neongrünen Rucksackes gebraucht als er für seinen Fluchtplan eingerechnet hatte. Das gestern auf dem Schulflur geklaute Handy sollte ihn mit den nötigen Informationen versorgen falls der von ihm berechnete Weg nach Hamburg doch einer Änderung bedurfte. Selber Schuld, wenn man ein so komfortbales Gerät mit in die Schule nimmt, versuchte er sein Gewissen zu beruhigen, denn eigentlich machte er so etwas nicht. Er hatte bisher noch nie etwas geklaut, naja, nichts, was schon im Besitz eines anderen Menschen war. In Kaufhäusern sah das natürlich ganz anders aus, aber da ging es ihm stets darum, dass man ihn erwischte. Das war schräg, aber er konnte es nicht erklären. Vermutlich hatte sich da seit diesem einen Tag etwas angestaut und er musste die Wut alle paar Monate einfach raus lassen. Dafür suchte er sich stets einen dieser Erwachsenen aus, niemals Kinder, denn Letztere vergötterte er. Besonders Männer sollten leiden müssen, wie er. Er hasste sie und er hasste es, dass er selber wuchs. Er wollte nicht so werden wie sie. Groß und dumm und schwerhörig und blind und stumm.

Es lief immer nach dem selben Schema ab: Wie ein Agent spionierte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 14.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6450-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Levin

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