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Prolog

Die Würfel sind gefallen

 

Ein Meer aus Dunkelheit und Totenstille umrangen mein Bewusstsein, meinen Körper, welcher inmitten des Raumes schwebte. Kein Windhauch, der durch meine Haare wehte. Kein Duft, der in der Luft lag. Sie war so erdrückend, dass es einem schwer fiel zu atmen. Wo war ich? Eine Frage, die mir sofort durch den Kopf schoss, doch durch meine Adern floss Angst vor der Wahrheit. Mein Verstand suchte nach einem Weg ins Freie, dennoch konnte ich mich nicht bewegen. Jeder Muskel in mir schien erstarrt zu sein und es fühlte sich an, als würde mein Herz still stehen. Trotz allem gab es nicht den geringsten Hauch an Panik in mir. Ganz im Gegenteil. Mein Atem war ruhig und gelassen, als wäre es das Normalste auf der Welt hier zu sein. Obwohl ich nicht wusste wo ich mich befand und mein Herz eigentlich drei mal so schnell schlagen sollte wie gewöhnlich, blieb ich erstaunlich ruhig. Es war fast so, als hinderte etwas, ein vertrautes Gefühl, mich, oder viel mehr dieses Empfinden, daran seinen Lauf zu nehmen.

Eine Minute nach der anderen verging und bildete eine gefühlte Ewigkeit. Ich konnte überhaupt nicht einschätzen wie lange ich eigentlich schon hier war. Die Hoffnung fast schon aufgegeben, sah ich plötzlich etwas. Ein Licht, welches diese erdrückende Dunkelheit durchdrang. Es riss mich aus meiner Trance und im nächsten Moment, wie auf Knopfdruck, begann ich auch schon zu schreien.

„Hallo? Ist da jemand!?“

Keine Antwort. Nicht, dass ich eine erwartet hätte. Dennoch schrie ich weiter und weiter ohne eine Pause. Mein Hals fing an zu kratzen und Tränen liefen mir die Wange hinunter, während ich versuchte mich von diesen unsichtbaren Fesseln zu befreien, doch es gelang mir einfach nicht. Ganz im Gegenteil. Sie schlangen sich, entgegen meines Willens, immer fester um meine Hand- und Fußgelenke. Entmutigt ließ ich meinen Kopf hängen, verbittert und wütend.

„Warum...? Wieso bin ich hier..? Ich will zurück...zurück zu meiner Familie..bitte.“, jammerte ich kläglich, doch wie zuvor gab es keinerlei Antwort auf meine Fragen. Eine Weile lang herrschte Stille. Nur das Schluchzen und Wimmern meinerseits hallte in diesem, scheinbar unendlich großen Raum, bis das Licht begann sich auszubreiten und mich komplett umhüllte, die Dunkelheit verjagend. Meine Augen geschlossen, fühlte ich, wie das warme Licht sanft auf meiner Haut lag und eine mir unbekannte Geborgenheit schenkte, wie ein großes, flauschiges Bett in dem ich sofort einschlafen könnte. Wie gern ich jetzt in meinem eigenen Bett liegen würde. Ich würde eins meiner Lieblingsbücher lesen und schließlich mit Kopfhörern auf den Ohren einschlafen, während meine Lieblingsmusik leise im Hintergrund lief.

Doch ich war hier. Ein fremder Ort voller Rätsel und Fragen und es sah nicht so aus, als würden mir diese bald beantwortet werden.

Kapitel 1

Das grelle Licht umhüllte mich noch eine ganze Weile, bis es schließlich langsam verblasste und ich meine Augen wieder öffnen konnte, ohne Angst haben zu müssen blind zu werden. Nachdem ich mich an die Helligkeit, die im deutlichen Kontrast zur vorherigen Finsternis stand, gewöhnt hatte, erschien vor mir eine völlig neue Kulisse. Vier Wände, die mich umschlossen. Ein Dach über dem Kopf und ein Boden unter meinen Füßen. Die beige-beklebten Wände und der Boden, mit braunem Teppich ausgelegt, ließen alles sehr heimisch erscheinen. In einer der Ecken stand ein schwarzes Ledersofa, darauf eine dazu farblich, passende Decke. Davor stand ein Holztisch mit einer weißen Tischdecke darauf. Sie war mit bunten Blumen verziert und inmitten davon stand eine kleine, violette Vase mit einer Orchidee darin. Die Fensterbänke waren ebenfalls dekorativ mit Pflanzen bestückt, darüber weiße Gardinen, die das ganze Bild abrundeten. Meiner Meinung nach war hier alles schön gestaltet. Es hatte irgendwie etwas Besonderes an sich.

Nun jedoch erhob ich meinen Blick und meine Aufmerksamkeit galt dem oberen Teil der Räumlichkeit. Fasziniert von den Wänden, die verziert waren mit allerlei Dekorationen, Fotorahmen oder Gemälden versank ich in Gedanken. Sie kamen mir bekannt vor. Irgendwo hatte ich sie schon einmal gesehen. Doch wo?

Es dauerte mehrere Augenblicke bis ich realisierte wo genau ich mich befand. Ich kannte diesen Ort besser als jeder andere, immerhin hatte ich mehrere Jahre hier zusammen mit meinen Eltern und meiner Schwester gelebt. Es war mein zu Hause. Erfreut und gleichzeitig erleichtert, dass ich wohl nur einen schlechten Traum gehabt hatte, konnte ich mich wieder ein wenig beruhigen, doch es gab etwas, was mich störte. Es war nicht die Sendung, die im Fernsehen lief, oder die Tatsache, dass ich mich eben noch in einer Art schwarzen Loch befand. Es waren die Bilder, welche die Wohnzimmerwände bedeckten. Viele dieser Fotos kannte ich, doch es waren deutlich weniger als sonst. Meine Schwester war auf keinem der Bilder zu sehen. Nicht einmal ich, zumindest ab einem gewissen Alter. Weder ihre Einschulung in die Grundschule, noch meine. Unsere Ausflüge, Klassenfahrten, Familienfotos oder Geburtstage, nichts davon. Die Vermutung, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte, wurde mir wenige Sekunden später bestätigt.

 

Mit einem Ruck öffnete sich die Wohnzimmertür und ein kleines Mädchen kam hereingelaufen, grinsend wie ein Honigkuchenpferd. Dahinter eine schlanke Frau mit einem silbernen Tablett in der rechten Hand. Sie hatte lange braune Haare, die zu einem Zopf gebunden waren und ihre linke Schulter hinunter hingen. Sanfte, blaue Augen und eine schmale Gesichtsform ergänzten ihr liebevolles Lächeln. Auf dem Silbertablett stand ein großer Schokoladenkuchen, geziert mit vielen bunten Streuseln.

„Mutter...“, murmelte ich, fast schon mit offener Kinnlade. Aber wenn das meine Mutter war, bedeutete das, dass es sich bei dem kleinen Mädchen tatsächlich um mich handelte?

Nachdem der Kuchen abgestellt war, wurden die Kerzen angezündet und man erkannte die Schrift darauf.

'Alles Gute zum 3. Geburtstag!'

Mein dritter Geburtstag? Wie war das überhaupt möglich? Es war fast so, als hätte ich eine Zeitreise gemacht, doch meines Erachtens nach, war dies doch gar nicht möglich, oder? Gut. Wer weiß, was in so manchen Laboren für Experimente durchgeführt wurden. Das hier überstieg jedoch meine kühnsten Vorstellungen.

„Mama! Ich möchte das Papa auch hier ist!“, rief mein jüngeres Ich begeistert, woraufhin meine Mutter mit einem Lächeln erwiderte, dass er bestimmt gleich hier sein würde. Damals hatte er gerade eine neue Stelle als Polizist bekommen und war deshalb sehr oft unterwegs. Manchmal sogar bis spät in die Nacht. Einer der Gründe warum ich ihn zu der Zeit kaum zu Gesicht bekam. Dennoch hatte meine Mutter recht. Kurze Zeit später kam auch er ins Wohnzimmer spaziert und gesellte sich dazu. Wie versteinert stand ich da und beobachtete das Ganze mit aufgerissenen Augen und Verwirrung in meinem Herzen.

„Entschuldigung...Hallo?“, begann ich die drei auf mich aufmerksam zu machen, doch sie hörten mich nicht. Als ich näher an sie herantrat, sprang meine Mutter plötzlich auf. Ich erinnerte mich. Sie hatte vergessen ein Messer aus der Küche mitzubringen. Alles war so surreal...wie ein Traum. Unvorstellbar und doch fühlte es sich real an. War es das? Ein Traum? Würde ich irgendwann einfach aufwachen? So als wäre nichts passiert? Als wäre das hier und jetzt nicht wahr?

Nun drehte sie sich zu mir um und blieb für einen Augenblick stehen. In der Hoffnung, dass sie mich sah, begann ich nach ihr zu greifen, aber alles was geschah, war, dass sie einfach weiterging. Durch mich hindurch. Wie als sei ich Luft für sie, als wäre ich gar nicht da.

Entmutigt und mit einem Gefühl, welches ich nicht beschreiben konnte, ließ ich meine Hand wieder sinken und biss mir verbittert auf die Unterlippe, versuchend, meine Tränen zurückzuhalten. Mein Kopf neigte sich dem Boden zu und verzweifelt krallte ich mich in meine Hosenbeine.

Was konnte ich tun? Wo war ich? Ich war zu Hause, dennoch sah und hörte mich keiner. Egal wie laut ich schrie, es würde keine Antwort kommen. Blieb mir also nichts anderes übrig als abzuwarten? Hier zu stehen und nichts zu tun?

Nachdenkend, welche Möglichkeiten ich noch in Betracht ziehen könnte, wanderte mein Blick aus dem Fenster, doch ich sah nicht den blauen, wolkenlosen Himmel vor mir. Nein. Es war eine dunkle, schwarze Gestalt und augenblicklich lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Man erkannte die Umrisse eines Menschen, doch weder das Gesicht, noch der Körperbau war identifizierbar. Sie sah einfach nur hinein und beobachtete uns. Wer war sie? Was machte sie hier? Panisch drehte ich mich zu den anderen um und begann zu rufen.

„Hey! Ihr müsst mir zuhören! Euch beobachtet jemand!“, rief ich warnend, aber wie erwartet, schien es niemanden zu interessieren. Mich von einem Fixpunkt zum anderen wendend, dachte ich angestrengt darüber nach was ich tun könnte. Diese Entscheidung wurde mir wenige Augenblicke später abgenommen. Das friedliche Familienbild vor mir wurde plötzlich zerteilt von allerlei Rissen, die sich immer weiter in meine Vision fraßen und schlussendlich dafür sorgten, dass alles um mich herum zu Staub zerfiel.

Ich befand mich wieder am Anfang, im Dunkeln und ohne einen Plan in welche Richtung ich gehen sollte. Obwohl ich mich dieses Mal bewegen konnte, fiel es mir schwer einen Schritt nach vorne zu setzen. Meine Beine waren so schwer wie Blei. Während ich versuchte meinen Körper in Gang zu bekommen, bildete sich urplötzlich ein leuchtender Pfad vor mir, der weit in die Ferne ragte. Ich wusste nicht wohin er führte, doch soweit ich sehen konnte, war dies der einzige Weg, den ich gehen konnte. Also beschloss ich ihm zu folgen.

Kapitel 2

 Einen Fuß nach dem anderen schritt ich voran. Unter mir ein Pfad aus Lichtkugeln über einem scheinbar bodenlosen, dunklen Abgrund. Ich achtete genauestens darauf nicht daneben zu treten, weil es für mich mit ziemlicher Gewissheit den unmittelbaren Tod bedeuten würde. Wie tief das Meer aus Finsternis tatsächlich war, konnte ich nicht sagen. Herausfinden wollte ich das ganz bestimmt nicht - so viel stand fest.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erschien mir ein Ende in Form eines Tores vor Augen. Das grelle Licht, welches mir direkt ins Gesicht schien, blendete mich, sodass ich schwer sagen konnte, wie der Durchgang vor mir direkt aussah. Alles was ich sehen konnte war, dass es an den Seiten gerade herunterging, verbunden durch einen großen Halbkreis oben in der Mitte. Selbst als ich davor stand, konnte ich nicht erkennen was sich auf der anderen Seite befand, weshalb mir wohl oder übel keine Wahl blieb als schlussendlich hindurch zu gehen.

Wieder einmal umhüllte mich ein warmes, mir allzu bekanntes Licht und verblasste rasch wieder. Als ich meine Augen öffnete befand ich mich auf einer grünen Wiese. Bunte Blumen in den unterschiedlichsten Formen und Größen, verschiedene Sträucher, die sich dem Wind hingaben und Bäume, die mit ihren Blättern den gesamten Platz umrahmten, schafften eine wirklich idyllische Atmosphäre. Es war erfrischend hier zu stehen und einfach den Moment zu genießen.

Ein kurzer Augenblick genügte, um mich kurzzeitig von meinen negativen Gedanken abzubringen und alle meine Sorgen zu vergessen. Dennoch hielt es nicht für lange. Ich befand mich augenblicklich wieder im hier und jetzt, zurückgeschleudert aus meiner Trance, als ich bemerkte, dass mir dieser Ort ebenfalls sehr bekannt vorkam. Meine Schwester und ich sind damals mit meinen Eltern aufs Land gefahren, um dem ganzen Stadttumult für ein paar Tage zu entfliehen.

Während unsere Mutter und unser Vater sich einen schönen Nachmittag machten, der in sofern daraus bestand auf der Terrasse zu sitzen, mit einem Glas Sekt in der Hand und einfach nur die Sonne zu genießen, beschlossen wir uns auf Erkundungstour zu machen.

Wir liefen durch die Straßen von diesem kleinen Örtchen und bemerkten bald, dass es hier nicht viel zu sehen gab. Zumindest nicht direkt hier.

Wie von selbst trugen mich meine Beine an jenen Ort, an dem wir uns damals zu diesem Zeitpunkt befanden. Es dauerte nicht lange, bis wir in Sichtweite waren und ich meine Schwester und mich beobachten konnte. So komisch es sich auch anfühlte, es kam mir so bekannt vor und die beiden Mädchen da drüben waren wirklich wir. Wenn ich es jemandem erzählen würde, dann erklärte man mich bestimmt für bescheuert oder täte es als Halluzination ab. In dem Moment wäre mir das allerdings ziemlich egal.

Doch wieder einmal kam die Frage in mir auf: Was suchte ich eigentlich hier? Wieso sah ich das alles? Was sollte es mir sagen? Der Gedanke, ich könnte im Koma liegen und das hier alles sei lediglich eine bildliche Produktion meines Unterbewusstseins, um mich in Sicherheit zu wägen, während mein Körper versuchte wichtige Funktionen aufrecht zu erhalten, ließ mich erschaudern. Was, wenn ich nie wieder aufwachte? Wenn ich, ohne es zu merken in der Realität dahinstarb, gefangen in einer Endlosschleife, in der ich vergebens immer und immer wieder versuchte einen Ausgang zu finden. Aber das konnte nicht sein. Egal wie stark ich versuchte mich an irgendetwas zu erinnern – Es fiel mir nichts ein, das mich in solch eine Situation gebracht haben könnte.

Meine depressiven Gedanken durchbrochen, wanderte mein Blick nach oben auf uns. Dieser Moment..

Wir wollten gerade wieder umdrehen, als wir einen Wald in unserer Nähe entdeckten. Meine Schwester war damals noch sehr klein, weshalb ich immer auf sie aufpassen musste, auch wenn ich selbst nicht viel älter war. Um genau zu sein war ich 8 Jahre und sie war gerade mal 5. Sie wollte unbedingt den Wald erkunden und anfangs war ich total dagegen, erklärte ihr, dass unsere Eltern etwas dagegen hätten, doch sie wollte einfach nicht auf mich hören. Sie wurde bockig und schmiss sich direkt vor mir auf den Boden, jaulte, dass sie nicht zurückwolle, bis sie nicht wusste, was sie dort drin erwartete.

„Aber...du bleibst an meiner Hand, in Ordnung? Und du läufst nicht vor!“, mahnte ich sie, bevor ich ihr meine Hand entgegenstreckte und sie sich von mir hochhieven ließ. Ihr trauriger Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein breites Grinsen.

„Danke Schwesterherz! Jetzt los!“ Voller Tatendrang riss sie mich auch schon mit sich. Durch die dicht verzweigten Äste und deren Blätter, drang nicht viel Licht zu uns durch, was den Weg eher düster erscheinen ließ. Während ich mit meiner Angst, die ich als Kleinkind nun einmal besaß, zu kämpfen hatte, schien meiner Schwester die Dunkelheit überhaupt nichts auszumachen. Im Gegenteil – Sie war noch aufgeregter als vorher. Dennoch war ich die Ältere von uns beiden und sah es daher als meine Pflicht, sie zu beschützen. Ich achtete darauf, dass sie nicht vom Weg abkam und wir hinterher auch wieder zurückfinden würden, aber als ich einen Moment nicht aufpasste, riss sie sich los und lief voraus.

So schnell mich meine Beine tragen konnten, lief ich ihr hinterher.

„Liz! Ich sagte doch, du sollst ni-“ Ich erhob gerade meine Stimme, als mir die Worte im Halse stecken blieben. Vor mir tat sich eine atemberaubende Landschaft auf. Grünes Gras, Bäume, die einen umrangen und Blumen, die in einem Takt mit dem Wind schwankten. Alles sah aus wie aus einem Bilderbuch und ließ mich alles um mich herum vergessen.

Meine Schwester, die voraus gelaufen war, saß an einem Abhang etwas weiter vorne und summte friedlich vor sich hin. Ich kramte mein Handy hervor und fotografierte das Szenario. Das musste einfach für die Ewigkeit festgehalten werden.

Wenn ich so darüber nachdachte, müsste das Foto sich immer noch auf meinem Handy zu Hause befinden. Sollte ich von hier wegkommen, dann werde ich es definitiv suchen und meiner Schwester zeigen. Sie würde sich bestimmt wahnsinnig darüber freuen.

Nun jedoch bemerkte ich einen kalten Windzug, der mir nicht bekannt vorkam. Das war komisch. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es an diesem Tag geregnet hatte. Abgelenkt von dem Wetter war meine Aufmerksamkeit auf die graue Wolkenfront über mir gerichtet, die immer dunkler zu werden schien.

„Moment..!“ Rasch blickte ich zu meiner Schwester und da sah ich sie. Diese schwarze Gestalt, direkt hinter ihr stehen. Ich dachte nicht lange nach und fing an zu laufen.

„Finger weg, von meiner Schwester!“, schrie ich und drängte mich zwischen die beiden. Ich erschrak. Viele Stellen waren immer noch ins Dunkle gehüllt, doch ich erkannte zwei eisblaue Augen, die mich regelrecht durchbohrten. Ich verfiel in eine Schockstarre und konnte mich eine ganze Weile lang nicht bewegen.

Ich fasste schließlich meinen Mut zusammen und wollte sie konfrontieren, doch wenige Sekunden später löste sie sich in Luft auf. Wie auch schon beim ersten Mal schien alles um mich herum zu zersplittern.

Nach einem kurzen Augenblick befand ich mich erneut in einem dunklen Nichts und vor mir tat sich ein Pfad auf. Wohin er mich dieses Mal führen würde? Sollte ich ihm überhaupt folgen? War gerade das mein Fehler?

Kapitel 3

 Meine Hände, die inzwischen zu Fäusten geballt waren, begannen zu zittern. Würde ich hier jemals heraus finden? Wenn ich nicht bald in Erfahrung bringen konnte wo ich mich befand, dann wusste ich, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ich meinen Verstand verlor. Ich konnte nicht einmal sagen wie lange ich schon hier war, denn mein Zeitgefühl hatte inzwischen komplett nachgelassen. Es lag wahrscheinlich an der ganzen Atmosphäre, die diesen Ort zu dem machte was er war und somit Verwirrung in mir auslöste.

Verzweifelt dachte ich über eine Lösung nach, verbittert, dass es nur eine zu geben schien und das war einfach weiterzugehen und zu schauen, was sich mir noch zeigte.

„Verdammt nochmal....Ist denn hier niemand!?“, begann ich zu schreien. Ich schätze, ich wollte einfach nicht wahr haben, dass dies die einzige Möglichkeit war, die ich in Betracht ziehen konnte. Wieder einmal, so wie auch sonst, gab es keine Antwort. Es frustrierte mich noch mehr als sonst.

Vor Wut und auch aus Angst in einem schlussendlich endlosen Kreis gefangen sein zu können, fing ich an zu gehen. Meine Schritte wurden immer schneller und schneller, bis ich schließlich, so schnell mich meine Beine tragen konnten, rannte. Ich steuerte direkt auf die nächste Tür zu und bemerkte in den wenigen Sekunden, bevor ich hindurch trat, dass das Leuchten, das von ihr ausging, eine andere Farbe angenommen hatte.

 

Das Erste, was ich bemerkte, war der angenehme Wind, der mir ins Gesicht blies und die erfrischende Kühle auf meiner Haut, während ich mit dem Kopf nach unten gebeugt nach Luft schnappte. Als mein Herz sich langsam beruhigte, richtete ich mich wieder auf und erkannte vor mir einen Pfad, der einen Berg hinauf lief. Mein Blick folgte dem Weg vor mir und beobachtete die Sonne, wie sie langsam verschwand und somit die Nacht einläutete. Es war ruhig. Nur das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Blätter waren zu hören.

Für einen Moment schloss ich meine Augen und genoss einfach nur diese Geräuschkulisse, die mich umgab. Ich schaffte es mich, wenigstens für wenige Augenblicke, zu entspannen, auch wenn es nicht gerade der passendste Zeitpunkt dafür war. Allerdings brachte es mir rein gar nichts, wenn ich vor Panik, Verzweiflung und Angst den Weg nicht fand und meine Vision von all diesen negativen Gefühlen getrübt wurde.

Mehrmals atmete ich tief ein und aus, bis ich beschloss in Ruhe weiterzugehen und das, was nun kam einfach so hinzunehmen, mich damit abzufinden, dass ich nichts tun konnte. Dennoch war ich mir sicher, dass diese schwarze Gestalt sich erneut zeigen würde. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt etwas dagegen tun konnte, weil sie anscheinend ein Teil meiner Erinnerung war, doch durch das bloße Herumstehen konnte ich rein gar nichts herausfinden.

Mein Verstand schien auf einmal viel klarer zu sein und mein Herz beruhigte sich von einer Sekunde auf die andere. Ein paar Meter weiter war ein Zeltlager aufgebaut und da fiel es mir wieder ein. Auch an diesen Ort konnte ich mich sehr gut erinnern.

Vor mir befanden sich mehrere Schulkinder, zusammen mit ihren Lehrern. Sie kamen gerade von einer Wandertour wieder und waren dabei ein Lagerfeuer zu machen. Mehrere Eltern hatten ihnen Teig für Stockbrot mitgegeben, welches sie genüsslich verspeisten. Sie saßen in einem Kreis, um das Feuer herum und lachten, teilten und hatten einfach Spaß miteinander. Das war einer meiner besten Klassenfahrten gewesen. Ich war sorgenfrei und konnte einfach das Hier und Jetzt genießen, ohne auf die Konsequenzen für das spätere Leben zu achten. Der Schulstress hatte noch nicht begonnen und somit musste ich keinen Pflichten nachkommen. Ich konnte einfach nur leben.

 

So schön ich es hier auch fand und so gern ich darauf zurückblickte, wusste ich, dass ich eigentlich nach etwas anderem suchen musste. Meinen Blick von links nach rechts schweifend, bemerkte ich die schwarze Gestalt recht schnell und dieses Mal erkannte ich wieder mehr von ihr. Braunes, kurzes Haar und eisblaue Augen formten das Gesicht. Die Statur war die eines Mannes, doch ich kannte ihn nicht. Ich wusste nicht wer er war, oder was er wollte, allerdings hatte ich ihn damals sicher nicht bemerkt.

Mit fest entschlossenem Blick und geballten Fäusten ging ich direkt auf ihn zu. Ich rechnete fast schon damit, dass, kurz bevor ich ihn erreichte, sich alles wieder in Luft auflösen würde, doch entgegen meines Glaubens, geschah es nicht. Nun stand ich hier, direkt neben ihm und konnte ihm tief in seine Augen sehen. Er sah mich nicht, noch realisierte er, dass ich ihn musterte.

„Wer sind sie?“, fragte ich ruhig, aber hören konnte er mich anscheinend auch nicht. Vielleicht konnte ich ihn berühren und ihn so auf mich aufmerksam machen? Ich hob vorsichtig meinen Arm und war bereits wenige Millimeter von seiner Haut entfernt, als ein plötzlicher Windstoß aufkam und meine Sicht, wie ein dichter Vorhang, blockierte. Als es aufhörte und ich endlich wieder etwas sehen konnte, war diese Person weg. Er hatte keine Spur zurückgelassen und wieder einmal blieb ich erfolglos.

Langsam begann ich zu denken, dass jemand nicht wollte, dass ich mit ihm in Kontakt trat oder herausfand wer er war. Wieso beobachtete er mich all diese Jahre lang? Fragen über Fragen und sie schienen nicht weniger zu werden.

Nachdem ich, immer noch in Gedanken versunken, hinüber zu den Kindern blickte, waren sie verschwunden. Die Kulisse blieb allerdings weiterhin bestehen. Etwas war anders als die letzten beiden Male. Was es war wusste ich nicht, doch ich war gewillt es herauszufinden.

 

Als ich mich umdrehte um den Weg, den ich zuvor gekommen war, wieder zurückzugehen, war dieser ebenfalls verschwunden. Ich stand wieder vor der Frage, wohin ich gehen sollte.

 

Kapitel 4

Ich wusste wo ich war, an welchem Ort ich mich befand und somit auch, wohin ich gehen musste, um ihn zu verlassen. Tief in Gedanken versunken, stand ich wie angewurzelt da und obwohl ich losgehen wollte, versuchen wollte hier heraus zu kommen, bewegten sich meine Beine keinen Millimeter. Mein Körper war wie erstarrt. Er war müde und sah keinen Sinn dahinter weiterzugehen.

Was würde ich finden? Nur noch weitere Erinnerungen? Was würde es mir bringen? Finde ich so einen Ausgang oder war ich verdammt dazu mein ganzes Leben hier drinnen zu verbringen. Ohne die Hoffnung das Tageslicht jemals wieder zu sehen? Mein Hals begann zu schmerzen und ich konnte spüren wie ein verbittertes Zittern meinen Körper übernahm. Nein! Ich wollte zurück zu meiner Familie, zu meinen Eltern, meiner Schwester und nicht an diesemOrt verrotten. Mitten im nirgendwo, ohne einen Ausgang, ohne einen freien Willen, ohne die Möglichkeit eigene Entscheidungen zu treffen. Ich spürte den Schmerz in meinen Gelenken als ich versuchte mich zu bewegen. Meine Augen fingen an zu tränen von diesem überwältigenden Gefühl, dem Misch aus Wut, Trauer, Angst und Verzweiflung. Entgegen meines Willens schaffte ich es schlussendlich mich von dieser Starre loszureißen und fing an zu laufen.

So schnell mich meine Beine tragen konnten, raste ich den Berg hinunter. Mit dem Gefühl mehrere Tonnen auf dem Rücken zu tragen rannte ich immer weiter, verbittert, ohne Hoffnung, doch ich wollte einfach nicht aufgeben. Das alles hier zu akzeptieren war keine Option für mich – niemals!

Ich wollte alles, das Lächeln meiner Schwester wiedersehen, die Liebe meiner Eltern spüren, neue Erinnerungen sammeln und ich wusste, dass es sich dafür lohnte zu kämpfen. Egal wie lange es dauern sollte, bis ich einen verfluchten Ausgang fand – ich würde ihn finden!

 

Ich sah sie vor mir. Die Klippe, auf die ich geradewegs zu rannte und obwohl ich in meinen sicheren Tod stürzen würde, zögerte ich keinen Moment als ich das Ende erreichte und hinuntersprang. Die Schwerkraft trieb meinen Körper nach unten und meine Haare, die durch die Windmasse nach oben gedrückt wurden, zeigten gen Himmel. Es dauerte nicht lange und um mich herum wurde wieder alles schwarz. Wie als hinge ich an einem unsichtbaren Faden blieb ich mitten in der Luft hängen und wurde sanft zu Boden getragen. Über mir ein grelles Licht, welches meine Augen blendete und mich dazu brachte zur Seite zu schauen.

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mich wieder an einem völlig neuen Ort befand, doch auch dieses Mal kam er mir sehr bekannt vor. Es handelte sich um das Haus meiner Großeltern und sofortig richtete ich mich auf. Der süßliche Duft von selbst gebackenen Keksen zog mir in die Nase und mein Blick ging automatisch in Richtung Küche. Ich folgte dem Gang und entdeckte meine Großmutter, die mit meiner Mutter fröhlich am Herd stand und das Essen zubereitete, während wir Kinder draußen im Garten einen Schneemann bauten.

Es war mitunter das beste Weihnachten, was ich je hatte und mir kullerten just in diesem Moment die Tränen die Wange hinunter. Ich war glücklich das Gleiche noch einmal erleben zu können. Ich erinnerte mich noch genau daran, was danach geschah.

Wenige Tage später erhielten wir einen Anruf von der Polizei. Meine Großeltern wollten nur einkaufen gehen und da passierte es. Es geschah in einer schmalen Seitenstraße. Der Autofahrer hatte nicht richtig aufgepasst und hatte sie gerammt. Sie wurden dabei von der Straße gedrängt und fuhren gegen einen Laternenpfahl. Der Motor hatte dem Druck nicht stand gehalten und das Auto ertrank in lodernden Flammen, mit ihm die Menschen darin.

Ein solch schreckliches Szenario konnte ich mir gar nicht vorstellen, doch meine Träume ließen mir keine Wahl. Mehrere Nächte hatte ich geweint und doch konnte ich keinen Trost finden. Nach ein, zwei Monaten hatte sich alles wieder beruhigt und wir konnten alle unser normales Leben weiterführen, in Gedanken an meine Großeltern natürlich. So wurde das schönste Weihnachten zu einer meiner traurigsten Erinnerungen und egal wie oft ich daran dachte, es wurde einfach nicht besser.

 

Nun jedoch stand ich hier und sie lebten noch, wenn auch nur in meiner Erinnerung. So sehr ich mir auch wünschte, dass es auch in der Realität so ist, wusste ich, dass es unmöglich war. Wenn ich ehrlich war, ganz tief in mir drin wusste ich, dass ich das auch gar nicht wollte. Es gab eine natürliche Reihenfolge. Manche Menschen starben früher, manche später – keiner kann sich seinen Tod aussuchen. Das Leben schreibt unsere Geschichte und wir sind lediglich die Hauptrollen. Wie oft ich das wohl schon gedacht hatte?

Viele Male in meinem Leben hatte ich diesen Punkt erreicht und doch machte ich immer weiter. Ich wusste genau, dass ich einen vorherbestimmten Weg hatte, den ich beschreiten müsste und egal wie sehr ich es auch versuchen würde, von diesem Pfad abzukommen – irgendwann führte mich das Schicksal wieder darauf zurück.

Ich wollte jedoch nicht weiterhin hier stehen bleiben und einfach nichts tun, weshalb ich beschloss zu meiner Schwester und mir nach draußen in den Garten zu gehen. Gesagt – getan. Ich verließ also das Gebäude durch die Vordertür hinaus in den, mit Schnee bedeckten, Garten. Die Schneedecke glitzerte und verlieh dem Stückchen Land etwas Magisches.

Der Teich, welchen meine Eltern und wir gemeinsam vor 2 Jahren angelegt hatten, war durch die Kälte komplett zugefroren, sodass wir uns den Spaß machten darauf zu laufen. Unsere Eltern meinten immer, das sollen wir nicht machen, weil es gefährlich ist. Die Eisdecke könnte einbrechen, doch das war uns egal – wir taten es jeden Winter erneut und bis heute war auch nichts passiert. Ich schätze, wenn es in all den Jahren doch dazu gekommen wäre, hätten wir unsere Lektion wahrscheinlich gelernt.

Diese Erinnerung belächelnd, wandte ich meinen Blick zur Seite und blickte direkt auf eine Seitengasse, die sich gegenüber vom Haus befand. Wie als hätte ich sie bereits erwartet, stand dort wieder diese seltsame Gestalt. Von selbst machte ich mich auf den Weg dorthin. Es hieß alles oder nichts. Entweder er würde wieder direkt vor meinen Augen verschwinden oder ich könnte ihn endlich auf mich aufmerksam machen und fragen wer er war. Wenn er jedoch zu meiner Erinnerung gehörte, dann verstand ich nicht, wie ich ihn damals nicht bemerken konnte. Wenn ich ihn nicht sah, wie kam es, dass er zu meinen Erinnerungen gehörte und in scheinbar jeder einzelnen vorhanden war und mich beobachtete. Bedeutete es, dass ich mein ganzes Leben lang beschattet wurde von diesem Mann? Das konnte nicht sein...oder doch?

 

Ich wusste, wenn ich einfach hier stehen bleibe und nichts tun würde, dann würde ich es nie herausfinden, weshalb meine nächste Handlung mir schon glasklar vor Augen schwebte. Wenige Augenblicke später stand ich auch schon wieder vor ihm und zögerte keine Sekunde und hob meine Hand.

„Hey!“, rief ich und griff nach seiner Schulter. Ich rechnete nicht damit, dass ich ihn wirklich zu packen bekam, weshalb ich mit aufgerissenen Augen ein paar Schritte zurücktaumelte als er mich anschaute. Er konnte mich sehen? Aber wieso gerade jetzt? Im nächsten Moment begann mein ganzer Körper zu zittern und doch konnte ich jetzt nicht einfach still schweigen.

„Wer sind sie? Was wollen sie von mir!?“, fragte ich ihn mit ernster Miene, aber die Gestalt vor mir sah mich lediglich an und sagte kein einziges Wort. Gerade als ich einen Schritt auf ihn zugehen wollte, hob er seinen Arm und im Leuchten der Laterne, die an der Straße stand, erkannte ich eine silberne Armbanduhr an seinem rechten Handgelenk, welche das Licht widerspiegelte. Darüber eine tiefschwarze Jacke mit einem weißen Hemd darunter.

Ich erstarrte als ich sah, was er in seinen Händen hielt. Eine Waffe, direkt auf mich gerichtet, keine 10 Zentimeter mehr von mir entfernt. Was geschah hier? Erst konnte er mich weder hören, noch sehen und jetzt stand ich hier, mit einer Waffe bedroht und doch sagte er weiterhin kein verdammtes Wort. Meine Beine wollten sich einfach nicht bewegen und somit blieb ich weiterhin stehen. Alles in mir schrie, dass ich weglaufen sollte, dennoch wurde ich gezwungen zu bleiben.

Ich konnte nicht um Hilfe rufen, niemand würde mich hören. Egal wie sehr ich mich wehren würde, es war hoffnungslos.

Angst erfüllte meinen ganzen Körper als ich lediglich zusehen konnte wie er den Abzug betätigte und ich im Angesicht meines sicheren Todes die Augen zusammenkniff. War es das?

„NEIN!“

Eine Stimme durchdrang das Dunkel und ich riss automatisch meine Augen wieder auf. Die Gestalt vor mir war verschwunden und alles um mich herum wurde schwarz. Verwirrt sah ich mich um, doch ich sah nichts und niemanden. Wie oft musste ich das noch durchmachen? Wie oft musste ich mir einen neuen Weg suchen? Ein neues Licht, eine neue Hoffnung? Nach und nach wurde mein Mut immer kleiner und Verzweiflung schlich sich in mein Herz. Ich hatte es versprochen. Ich musste hier heraus und zurück zu meiner Familie!

Kapitel 5

Ich klammerte mich an das letzte bisschen Hoffnung, welches noch in meinem Körper, in meinem Herzen verblieben war, mein Verstand allerdings schien meine Gedanken in eine ganz andere Richtung zu lenken. Nichts hielt mich davon ab einfach stehen zu bleiben und aufzugeben. Ich wusste nicht einmal wo ich war und wenn ich es schon nicht wusste, wer wusste es dann? Würde mich jemand suchen kommen?

Wenn ich keinen Ausgang fand, wie sollte dann jemand den Eingang finden, der scheinbar nicht zu

existieren schien? Ich wollte weinen. Schreien und alles an Wut herauslassen, doch ich bekam keinen Ton heraus. Widerwillig jeglicher Fragen schritt ich voran, darauf wartend, dass die nächste Erinnerung vor mir erschien.

 

Es dauerte nicht mehr lange und ich erreichte einen neuen Meilenstein in meinem Leben, die Erinnerung an mein 16. Lebensjahr.

Ich befand mich in der 10. Klasse und bereitete mich langsam auf meine Abschlussprüfungen vor, die in wenigen Tagen anstehen würden. Auch wenn ich viel lernte und wenig Freizeit hatte, schaffte ich es immer ein wenig Zeit für meine Freunde zu finden.

Wir waren meist den ganzen Tag unterwegs und entschieden spontan auf was wir gerade Lust hatten. Sei es Eisessen in der benachbarten Eisdiele oder Schwimmen im großen Schwimmbad der Stadt, welche zudem auch noch eine riesige Wasserrutsche besaß, auf der wir uns nur allzu gerne hinunter begaben.

Damals, allerdings, taten wir nichts dergleichen. Einer von uns kam auf die dumme Idee ein paar Leuten Streiche zu spielen also setzten wir uns in den nahe gelegenen Park, um ein paar witzige Sachen auszuhecken. Darunter waren Klingelstreiche, sowie Klassiker, die so ziemlich jedermann kannte. Natürlich wollten wir niemanden verletzen, weshalb es auch bei harmlosen Scherzen blieb.

Nachdem unsere Planung vollendet war und wir endlich losziehen konnten, begaben wir uns zu dem ersten Ort auf unserer Liste. Etwas weiter befand sich eine Straße, die ummauert war von Hochhäusern. Es fuhr nur selten ein Auto über den grauen Asphalt, weshalb es der perfekte Ort war um unsere Machenschaften fortzusetzen.

 

Es ging alles ganz schnell. Wir klingelten hier und da. Manche gingen dran und manche nicht und fast jeder der davon betroffen war, ärgerte sich schwarz. Währenddessen nutzten wir die Zeit, um uns aus dem Staub zu machen.

Gerade als wir bei dem letzten Haus angekommen waren, bekam ich ein mulmiges Gefühl im Magen, doch damals konnte ich nicht beschreiben weshalb. Wenn ich darauf zurückblickte, dann würde auch hier wieder dieser eine Mann stehen und mich aus seinem Versteck aus beobachten. Also ganz ab von dem Geschehen mit meinen Freunden, blickte ich mich erneut um und tatsächlich sah ich in einem der Fenster seinen Kopf.

Dieses Mal jedoch blickte er nicht auf mein Vergangenheits-Ich, sondern starr auf mich. Er bewegte sich keinen Millimeter und auch meine Augen waren auf ihn gerichtet. Er war mittlerweile komplett zu erkennen und wenn ich schätzen müsste, war es ein Mann Mitte 30. Seine eisblauen Augen schienen meinen Körper zu durchbohren, während seine braunen, kurzen Haare sein markantes Gesicht umrandeten.

 

Wir standen einfach nur da und starrten einander an. Ich spielte mit dem Gedanken zu dem Haus zu gehen und auf die Namensschilder zu schauen, doch ohne einen genauen Anhaltspunkt würde ich seinen Nachnamen nicht zuordnen können. Des Weiteren wusste ich nicht, was mir das bringen würde, denn zuerst müsste ich aus dieser Endlos-Schleife herauskommen. Der Weg war, wenn ich genau darüber nachdachte, nicht mehr weit, denn ich war immerhin erst 18.

Allerdings machte all das, was hier gerade passierte, keinen Sinn. Wieso wurden mir meine Erinnerungen gezeigt? Warum war ich an so einem Ort? Wie konnte ich ihm entkommen oder wie kam ich überhaupt her? Ich konnte mich an nichts dergleichen erinnern.

Ein plötzlicher Schrei riss mich aus meinen Gedanken und ich wandte mich sofortig zum Geschehen zurück, um zu sehen, dass mich jemand oder zumindest mein 16-jähriges Ich an den Haaren gepackt hatte und daran herumzerrte.

„Ihr kleinen Rotzlöffel! Euch muss man wohl Manieren beibringen!“

Er schrie uns immer weiter an und schien nicht daran interessiert mich bald wieder loszulassen. Die immer schlimmer werdenden Schmerzen waren mir noch immer im Hinterkopf geblieben und irgendwann schaffte ich es tatsächlich mich von ihm zu befreien. Wir konnten entkommen, doch seitdem machte ich nie wieder bei solchen Scherzen mit und auch meine Freunde sprachen mich nicht mehr darauf an. So war ein Tag voller Spaß zu einer Lektion für das Leben geworden.

Ich erzählte meinen Eltern und auch meiner Schwester nichts davon, denn sie brauchten es nicht zu wissen. Zu Hause tat ich so als sei nichts passiert, verschanzte mich so schnell es ging in mein Zimmer und versuchte mich irgendwie zu beruhigen, was mit der Zeit auch irgendwann klappte.

Diesen Tag allerdings würde ich nie wieder vergessen.

Kapitel 6

 Wie erwartet, wurde alles um mich herum in ein bekanntes Schwarz gehüllt. Es zeigte mir, dass die Erinnerung ab diesem Punkt nicht weiter von Bedeutung war. Zwei Jahre lagen nur noch vor mir und ich war gespannt, was mir noch gezeigt werden würde.

Wenn ich an die letzten Jahre zurückdachte, war nichts weiter Spannendes passiert. Ich lebte mein Leben - das war alles. Das Ende und somit der Ausgang, dürfte damit nicht mehr allzu lang auf sich warten lassen. Mit der Freude, dass das ganze hier endlich vorbei sein würde, schlich sich die Angst ein. Würde ich am Ende den Ausgang finden? Was, wenn ich den Grund für meinen Aufenthalt hier

erfuhr?

Zögernd blieb ich stehen und versuchte all diese Emotionen in mir zu unterdrücken, doch meine Beine hatten sich bereits dafür entschieden keinen Millimeter mehr nach vorne zu treten. Ich fluchte in mich hinein, fluchte meine Beine an, weil sie mir einfach nicht gehorchen wollten und im Großen und Ganzen wusste ich nicht mehr, was ich überhaupt wollte.

Ich wollte hier heraus, das stand fest, aber wenn das Ende hiervon noch schmerzhafter war, als hierzubleiben – lohnte es sich dann überhaupt weiterzumachen?

 

Die Entscheidung wurde mir allerdings nicht überlassen, denn obwohl ich nicht weiterging schien sich die Umgebung, um mich herum zu verändern und ohne, dass ich es wollte, befand ich mich an meinem nächsten Zielort.

Ich sah mich selbst am Schreibtisch. Vertieft in Unterlagen über verschiedene Firmen hier in der Nähe und tippte stundenlang am PC. Mein Abschluss stand kurz bevor, weshalb es für mich allerhöchste Zeit war Bewerbungen für verschiedene Berufe abzuschicken. Hier und da hatte ich ein Vorstellungsgespräch und vom Gefühl her hatte ich mich doch relativ gut angestellt.

Natürlich bekam ich ein paar Absagen, doch auf die meisten Antworten wartete ich noch.Zumindest soweit ich mich daran erinnern konnte.

Im nächsten Augenblick ging auch schon die Tür auf und meine Schwester trat herein. Ich hatte es nicht bemerkt. Sie starrte mich erst eine ganze Weile lang an, bevor sie mich ansprach.

„Schwesterherz...ist alles in Ordnung? Möchtest du nicht mal eine Pause machen?“, fragte sie besorgt und ließ sich dabei auf das Sofa fallen. Mit einem müden Lächeln drehte ich mich im Stuhl und rollte ein Stück näher an sie heran.

„Danke, aber mach dir keine Sorgen, okay? Ich schreibe die Bewerbungen nur schnell fertig. Das dauert nicht mehr lange.“ Ich strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und hinter das Ohr, sodass ihre smaragdgrünen Augen zu erkennen waren. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass sie gleich anfangen würde zu weinen.

„Immer sagst du, du musst noch das und das und das zu Ende machen! Wann hast du das letzte mal richtig geschlafen?“ Ihre Stimme wurde dabei immer lauter und lauter, sodass sie schon fast schrie.

„Du achtest nie auf dich selbst!“ Mit diesen Worten sprang sie auf und rannte aus dem Zimmer. Dabei knallte sie die Tür zu, die mit einem lauten Knacken ins Schloss fiel. Ich schaute ihr eine ganze Weile hinterher mit einem bereuenden, entschuldigendem Blick, bevor ich mich wieder dem Schreibtisch zuwandte.

Sie machte sich wahnsinnige Sorgen um mich und das wusste ich ganz genau. Allerdings wusste sie auch, dass das was ich tat, wichtig für meine Zukunft war, weshalb sie sich öfter zurückhielt und mich machen ließ. Früher hatte ich noch so viel mit ihr zusammen gemacht, doch seitdem ich in der Schule war und alles ernster wurde, hatte ich immer weniger Zeit für sie und begann sie zu vernachlässigen.

Erst jetzt realisierte ich, wie schlecht es ihr dadurch ging und wie sehr sie darunter litt, während ich nur an meine Zukunft dachte. Daran dachte, was morgen sein würde.

Es tat mir leid. So wahnsinnig leid und ich wünschte ich hätte es ihr irgendwie sagen können, doch ich fand nie den passenden Zeitpunkt dafür.

„Meine arme kleine Schwester...es tut mir wirklich leid. Wenn ich wieder bei dir bin, dann erzähle ich dir alle meine Gedanken und dann werden wir wieder mehr miteinander machen, versprochen! Dann gehen wir öfter zur Eisdiele oder machen Quatsch, reden über unsinniges Zeug und haben einfach Spaß.“, murmelte ich zu mir selbst, als eine kleine Botschaft an meine Schwester, wissend, dass sie mich nicht hören würde.

 

Voller Reue hatte ich ganz vergessen, dass der Mann, der mich schon mein ganzes Leben lang zu verfolgen schien, auch hier sein müsste. Ich schloss für einen Moment meine Augen, um mich wieder zu entspannen und um die Tränen zu unterdrücken.

Nachdem dies geschehen war, öffnete ich diese wieder und befand mich zu meinem Überraschen an einem völlig anderem Ort. Es fühlte sich so an, als sei es gar nicht so lange her, dass ich hier war.

„Wo bin ich..?“, fragte ich in mich hinein und doch fand ich keine Antwort darauf. Dann sah ich mich selbst die Straße entlang laufen, abgehetzt und schon komplett am Schwitzen. Ich war gerade auf dem Weg nach Hause und bog in eine Seitenstraße ein, plötzlich jedoch wurde alles schwarz.

Es war nicht wie sonst. Die Erinnerung war viel zu kurz und ich erinnerte mich auch an nichts danach. Auch der Mann war nicht erschienen und irgendwie verlief alles, im Gegensatz zu zuvor, so abgehackt. Moment, ich erinnerte mich an nichts danach? Unmöglich..bedeutete das..?

Kapitel 7

 Das war es, was mich realisieren ließ, dass es kein danach gab. Wie als würden Schuppen von meinen Augen fallen, erkannte ich den wahren Grund. Warum mir alle diese Erinnerungen aufgezeigt wurden. Ich erkannte, dass es keinen Ausweg gab. Es auch nie einen geben würde, egal was ich tat.

„Das kann nicht sein...Wieso..?“, begann ich zu stottern, während die Tränen sich ihren Weg hinunter bahnten.

„Julia, richtig?“

Eine Stimme drang von hinten an mein Ohr und verbittert biss ich mir auf die Unterlippe, bevor ich mich gänzlich umdrehte und einem Mann in einem schwarzen Anzug ins Gesicht blickte. Er sagte eine ganze Weile lang nichts, gab mir Zeit, mit meinen Emotionen fertig zu werden.

„Ich weiß wer sie sind.“, begann ich und kniff meine Augen ein wenig zusammen. Mit einem traurigen, qualvollen Lächeln auf den Lippen versuchte ich den Blickkontakt zu halten.

„Ich bin tot...? Bin ich deshalb hier? Darum konnte ich nicht zurück und niemand konnte mich sehen...?“

Er nickte. Das konnte nicht sein! Was war mit mir passiert!? Warum war ich...tot?

Ein Schwall aus Emotionen überkam mich und am liebsten wäre ich am Boden zusammengesackt. Ich wollte einfach nur weinen. All die Trauer aus mir herauslassen, aber was würde es mir bringen? Stattdessen fing ich mich wieder ein wenig und wandte mich ihm zu.

„Warum ich? Warum musste ich sterben?“

Er schwieg, mein Gesicht musternd. Für einen Augenblick schloss er seine Augen.

„Jedes Mal dieselbe Frage. Mir ist noch niemand untergekommen, der sich diese Frage nicht gestellt hat. 'Ich war doch komplett gesund!' , 'Ich bin kein schlechter Mensch.' , 'Ich habe es nicht verdient zu sterben.'“

Frustriert darüber, dass er so ziemlich meine Gedanken traf, spürte ich bereits, wie die Kraft aus meinem Körper schwand. War es das? War es vorbei?

„Ich kann dir keine Antwort darauf geben.“, fügte er stumpf hinzu. Mitgefühl hätte ich von ihm auch nicht wirklich erwartet. Ich bin immerhin nicht die erste Person, die den Tod gefunden hat. Auch wenn mein Körper bebte und ich mich nicht damit abfinden konnte, wie ungerecht das Ganze hier war, wurde ich urplötzlich ganz ruhig.

„Was ist mit meiner Schwester? Bitte sagen Sie mir, dass sie noch am Leben ist.“, fragte ich zögernd. Ich wusste nichts mehr mit mir anzufangen, wusste nicht wo vorne und wo hinten war. Er legte seine Hand auf meine Schulter.

„Sie ist am Leben. Und zu Hause bei euren Eltern.“

Erfreut über diese Tatsache schaffte ich es tatsächlich mich völlig zu beruhigen und atmete noch einmal tief ein und aus.

„Ich bin hier um dich mitzunehmen.“

Ich war ruhig, völlig ruhig. Den gesamten Weg hier hin suchte ich verzweifelt nach einem Ausgang, nur um zu realisieren, dass es den gar nicht gab. Irgendwer hat mir das angetan, doch der Gedanke, dass meine Schwester und meine Eltern in Sicherheit waren und nun ein ruhiges Leben führen würden, ließ in mir keine Rache aufkommen.

Ich will sie nicht alleine lassen. Nicht jetzt und dennoch weiß ich, dass es keinen Weg für mich zurück gab. „Verdammt...es tut mir so leid, dass wir nicht mehr zusammen spielen konnten...aber ich muss jetzt gehen. Pass auf dich auf, meine kleine Schwester. Egal was kommt, wie hart das Leben werden wird. Ich bin mir sicher, dass du das schaffst und ich will, dass du weißt, dass ich immer bei dir sein werde, tief in deinem Herzen.“

Es war schwer Worte herauszubekommen, wenn sie ständig vom Schluchzen unterbrochen wurden, doch ich musste es loswerden. Nun konnte ich gehen. Ich musste mich damit abfinden.

„Warum ich..? Dieser Mann...er hat mich ständig beobachtet. War er derjenige der mich getötet hat..?“

Darauf wusste der 'Tod' keine Antwort, weshalb diese Frage für mich auf ewig ungeklärt bleiben würde. Auch wenn ich es nicht mit Sicherheit wusste, nahm ich es nun einfach an, denn etwas anderes ergab für mich keinen Sinn.

 

Ich wandte mich also erneut zu ihm und nickte ihm zu.

„Ich bin bereit.“

Mit einem Lächeln legte er einen Arm um meine Schulter und wir gingen zusammen in das Licht. Der Ausgang nach dem ich verzweifelt gesucht hatte, nur dass dieser ganz woanders hinführte als ursprünglich geplant. Diese Erinnerungen, die mir gezeigt wurden, würde ich auf ewig im Gedächtnis behalten. Nichts könnte mich daran hindern, dies nicht zu tun.

Ich werde immer bei meiner Familie sein und für sie da sein, wenn sie mich brauchten. Komme, was wolle.

Das Letzte was ich noch mitbekam war, wie das helle Licht mich umhüllte und mein Herz sich plötzlich federleicht anfühlte. Ein Gefühl von Befreiung, von Reue und von Zufriedenheit stieg in mir auf und ließ mich in einen unendlichen Schlaf fallen.

 

Mama, Papa...und Liz, mein geliebtes kleines Schwesterchen. Ich werde euch vermissen. Ich danke euch für die schöne Zeit. Lebt wohl.

Epilog

Wie oft wurde einem erzählt, dass wenn man stirbt, das Leben noch einmal Revue vor seinen Augen abläuft? Ich hatte es immer für ein Märchen gehalten, doch dass ich eines Besseren belehrt werde und das so schnell, damit hatte ich ganz sicher nicht gerechnet. Man erzählt sich vieles über den Tod. Qualvoll, voller Schmerzen, traurig seine Liebsten zurückzulassen. Andere erzählten von Frieden, Erlösung, Befreiung und wünschten sich quasi einen friedlichen Tod.

Was ich darüber dachte? Nun...der Tod ist endgültig. Es gab kein Zurück aus dieser 'anderen Welt', dem Jenseits.

Dennoch glaube ich nicht, dass die Seelen der Menschen, die einst gestorben sind, für immer verschwunden sind. Sie wachen über uns, behüten ihre Liebsten, die Gedanken voll mit schönen Erinnerungen an ihre Zeit. Außerdem leben sie in unseren Herzen weiter und solange das der Fall ist, sind sie immer bei uns, auch wenn wir sie nicht sehen können. Sie sind da.

Man sollte das Leben genießen können und das Beste daraus machen. Nicht irgendeinem Ideal hinterher eifern, sondern sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.

Erinnerungen sammeln, Freundschaften schließen, Lieben, Lachen und einfach Leben. Jeder sollte mit einem Lächeln zurückblicken können und zu sich selbst sagen: „Ich habe gelebt.“

 

Hänge nicht an der Vergangenheit, lebe die Gegenwart und lass dich überraschen, was die Zukunft für dich bereithält!

Impressum

Texte: Aria
Bildmaterialien: Reiko
Cover: Reiko
Lektorat: Aria, Reiko
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2020

Alle Rechte vorbehalten

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